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Gunther Neumann

Über allem
und nichts

Roman

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Wir danken für die Unterstützung

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© 2020 Residenz Verlag GmbH

Salzburg – Wien

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

www.residenzverlag.at

Alle Rechte, insbesondere das des auszugsweisen Abdrucks und das der fotomechanischen Wiedergabe, vorbehalten.

Umschlaggestaltung: BoutiqueBrutal.com

Umschlagfoto: jkokij, photocase.de

Lektorat: Jessica Beer

ISBN eBook 978 3 7017 4631 6

ISBN Print 978 3 7017 1726 2

Inhalt

Clara

Wolkenmädchen

Verlangen

Himmel

Wassermann

Surya

Sinkflug

Mahilan

Kupferstunde

Clara

Schattentauchen

Atempause

Trudeln

Anmerkung

Wenn der geworfene Stein Bewusstsein hätte, würde er sagen, ich fliege, weil ich will.

BLAISE PASCAL

Clara

»Fahren Sie nach Hause? Nach Deutschland?« Der Taxifahrer klopfte auf das Lenkrad.

Die Wischerblätter quälten sich über die Windschutzscheibe. Sie hatte sich mit den Motorrad-Satteltaschen nicht in die U-Bahn zwängen wollen und ein Taxi gerufen, ohne daran zu denken, dass der Abendverkehr in Madrid bei Regen zum Stillstand kam.

»Nein. Entschuldigen Sie. Ich bin müde.« Sie wich dem Blick im Rückspiegel aus, sah aus dem Fenster, auf den nassen Asphalt. Der Stau löste sich auf.

»Lufthansa?«

»British Airways.«

Bei der Ankunft am Flughafen gab sie dem Fahrer den aufgerundeten Fahrpreis, nahm die Taschen, lief durch die Abfertigungshalle, fuhr mit dem Shuttlezug zum Terminal, dann mit der Rolltreppe hinauf, schob ihre Taschen in das Röntgengerät und ging an den Menschenschlangen vorbei direkt zur Crew-Passkontrolle. Selbst die Besatzungen wurden zunehmend penibel überprüft. Sie trug Jeans und einen blauen Pullover, keine Uniform.

Wie lange war das her, dachte sie, ein Abschied am Münchner Bahnhof, ihre Hände an der Glasscheibe. Auf Flughäfen öffneten sich die Türen lautlos, zwischen Abschied und Abflug lag das Labyrinth glatter Perfektion. Weder Gabrio noch Matthias würden sie bei ihrer Landung erwarten.

Die Abendmaschine nach London war voll. Sie hatte einen Platz am Gang, nahm kaum wahr, wer links von ihr saß. Sie horchte auf das Rumpeln beim Laden des Gepäcks, das Anlassen der Triebwerke, den Schub, den dumpfen Schlag beim Einziehen des Fahrwerks. Sie war es nicht mehr gewohnt, die über Jahre fast körperlich gespeicherten Geräusche passiv aus der Kabine mitzuverfolgen.

»Nein, danke, kein Sandwich.«

Sie schob sich Lärmstopper in die Ohren, blätterte durch das Bordmagazin, vergrub dann die Hände in den Ärmeln ihres Pullovers und schloss die Augen. Es war Nacht, als die Maschine zum Landeanflug ansetzte.

Heathrow. Sie suchte an den Anzeigetafeln Colombo, hatte kaum eine Stunde zum Umsteigen, machte sich auf den Weg. Menschenströme kreuzten den Transitbereich, ein Sari raschelte, Rollkoffer surrten, Männer in Businessanzügen am Telefon.

Als am Gate das Licht neben der Colombo-Anzeige zu blinken begann, wurde ihr schlecht. Sie ging zur Toilette, kühlte das Gesicht mit Wasser, den Nacken, fühlte sich etwas besser. Die ineinandergeschobenen Tage, Monate lauerten ihr im Spiegel auf. Kümmerliche Reste ihrer dank der vielen Sommersprossen lange erhaltenen Kindlichkeit schimmerten durch. Sie sah eingefallen aus, nur ihr Hirn fühlte sich geschwollen an. Sie kniff die Augen zusammen, zog die Mundwinkel hoch, um die Gesichtsmuskeln zu beleben.

Wann hatte sie sich zuletzt bewusst im Spiegel gesehen? Ohne an sich vorbeizuschauen. Um das Ziel nicht aus den Augen zu verlieren.

Jetzt sah sie winzige Falten auf teigiger Haut, das Resultat von auf 18 Stunden ausgebeulten Tagen, auf drei Stunden zusammengepressten Nächten, 165 000 Meilen in wenigen Wochen, Flugstrecken, imaginäre Linien. Sie fügten sich zu keinem Ganzen, blieben Gitterwerk zwischen ihren Fluchtpunkten. Mein Gesicht – auch Gitterwerk, dachte sie. Das Grün der Augen leuchtete nicht. Sie war nicht mehr schlank, sondern mager.

Vor Monaten war sie noch schön gewesen. Vielleicht. Matthias stand an die Glastür der Duschkabine seiner Münchner Wohnung gelehnt. Sein Blick hatte sie gestreichelt, war unter ihre Haut gegangen, wo er nicht hingehörte, hatte sie zur Abhängigen gemacht. Seine Komplimente über ihren Körper, die Linien ihrer Wangenknochen, ihre Art, sich zu bewegen, wie ein perfekt gespannter Bogen, und der Pfeil hat mich getroffen, schmeckten wie die Zuckerwatte auf dem Volksfest am Staffelsee, verführerisch und klebrig. Sie konnte als Kind nicht genug davon bekommen, bis sie sich übergab.

Ihre Haare waren glatt, sahen jetzt aber stumpf aus, obwohl sie sich letzte Woche einen Pagenkopf hatte schneiden lassen. Sie frisierte sich mit den Fingern, trug etwas Rouge auf, ging zurück zum Gate, setzte sich, unterdrückte ihre Übelkeit, schlang die Hände um die Oberarme, um ein Zittern ohne Zittern. Mit ihrem Stand-by-Ticket musste sie bis zum Schluss warten, beobachtete Briten, Singhalesen beim Boarding, alle in einer ordentlichen Schlange, nach den jüngsten Anschlägen waren keine Touristen darunter. Ihre eigene Fluglinie flog in die Karibik und nach Südamerika, kaum nach Asien. Elf Jahre lang hatte sie Sri Lanka gemieden.

Manchmal gab es für Kollegen anderer Airlines einen Platz in der Businessclass; heute nicht. Das Bodenpersonal am Gate versuchte bloß, Paare mit getrennten Plätzen zusammenzusetzen, eine Familie mit Kindern in der ersten Reihe der Economyclass unterzubringen. Die Kabinenchefin setzte wenige Minuten später auf Claras nochmalige Frage nach einem Upgrade ein unverbindliches Lächeln auf.

»Sind Sie Flugbegleiterin, Ms. Fink?«

»Pilotin.«

»Dann tut es mir besonders leid. Ich darf das nicht.«

Männerrivalität ist wenigstens offen.

Du bist ungerecht, dachte sie Momente später, und übermüdet. Wahrscheinlich bekäme die Purserin wirklich einen Rüffel. Die Regeln waren strenger geworden.

Die Maschine war nicht ausgebucht, aber der Sitz neben ihr war besetzt, ein älterer Herr, der nach kurzem Gruß noch vor dem Start hinter einer lachsfarbenen Zeitung versank. Es gab keine zwei freien Plätze nebeneinander, auf die sie hätte ausweichen können. Immerhin hatte sie jetzt einen Fensterplatz. Sie schaltete das Unterhaltungsprogramm ein, zappte, schaltete aus, fand im Turbinenlärm keinen Schlaf, nur einen Dämmerzustand.

Wenn sie im Cockpit saß, schätzte sie die Flüge westwärts mit der Nacht in summender Stille, sah sich als postmoderne Nomadin im Schutz einer kaum beleuchteten Höhle, am digitalen Lagerfeuer über schwimmenden Zeitzonen. Zwei, drei Becher Kaffee, ihr Körper durchtauchte mehrere Stadien der Müdigkeit. Die Sterne verblassten, Himmel und Meer begannen sich zu unterscheiden, Schwarz wurde zu Dunkelblau, wechselte zu Violett-Rötlich, wie aus Tintengläsern ausgelaufen, bis die Sonne von unten aufging.

Jetzt sah sie ihr Spiegelbild im Fensteroval, dahinter blinkte der Flügel gleichmütig. Vor ihr fand ein Kopf eine Schulter. Sie zog die dünne Decke hoch bis zum Kinn und war froh, dass es diesmal in den Osten ging und der Morgen schnell kam.

Colombo, früher Vormittag, Zollkontrolle, Geldwechsel. Ihre Augen suchten unwillkürlich den Zigarettenverkäufer, der ihr bei ihrer überstürzten Abreise vor elf Jahren die vergessene Tasche nachgetragen und keine Rupie dafür angenommen hatte. Der Ankunftsterminal war neu, der Fliesenboden gebohnert, Verkaufsstände von Mobilfunkbetreibern und Autovermietern spiegelten sich darin. Nichts erinnerte an damals. An einer Stehbar trank sie einen Cappuccino. Der Kaffee und ein Schwall feuchtschwüler Luft durch die offenen Türen trieben ihr den ersten Schweiß auf die Stirn.

»Madam, need hotel, Madam?«

»Hello Madam – Taxi? Tuk tuk?«

Sie bahnte sich einen Weg, kaufte eine Straßenkarte, quetschte sich mit ihren Satteltaschen in den öffentlichen Bus Richtung Stadt und machte sich anschließend in einer dreirädrigen Moped-Rikscha auf die Suche nach einem geeigneten Motorrad.

Der Verleiher im dritten Wellblechladen taxierte ihre Proportionen. Er wischte seine Hände am verschmierten Drillich ab und führte sie langsam durch die Garage. Er war so groß wie sie, drahtig, hinkte leicht, hatte eine lange Narbe auf der Wange. Der chaotische Laden roch nach Schwüle und Altöl.

»Für zwölf Tage? Waren Sie schon einmal hier?«

Dann, nach einer Pause: »Können Sie überhaupt …?«

»Ja. Beides. Keine Sorge.« Eine 500er, die Größte hier, kam ihr im Vergleich zu ihrer einstigen 900er-Kawa bescheiden vor.

»Wo wollen Sie hin? Warum bleiben Sie nicht …?«

Sie schüttelte den Kopf. Ihr war nicht nach Erklärungen. Auch nicht nach Großstadt, Abgasen, Geruch von Frittierfett aus fahrbaren Garküchen, nach flanierenden Familien am Feierabend, nicht nach Strand. Nur raus aus der Stadt, in die Berge. Allein sein.

»Nicht in den Norden, hoffe ich. Da haftet die Versicherung nicht. Gibt ohnehin nichts zu sehen da. Die Leute dort – lümmeln nur herum.«

Sie brauchte keinen Rat. Mit einem Smartphone lichtete er erst ihren Pass und dann sie selbst ab. Den Helm verweigerte sie. Gegen die Sonne begnügte sie sich mit Creme und einem Batik-Tuch um Stirn und Ohren, darüber eine Baseballkappe, den kurzen Pferdeschwanz hinten durchgezogen. Sie band die Taschen fest, überprüfte Kupplung, Gänge, Bremsen, Öl. Der Scheinwerfer ließ sich nicht geradestellen, aber sie hatte nicht vor, nachts zu fahren. Nach einigem Hin und Her gab sich der Verleiher mit einem Blanko-Kreditkartenbeleg statt der anfangs verlangten 1500 Dollar Kaution zufrieden.

Sie tankte voll; dann steckte sie im mittäglichen Hauptstadtverkehr. Der Schweiß von Hitze und Anspannung, dazu die Rußschwaden schlecht eingestellter Motoren sogen sich in ihr T-Shirt. An den Linksverkehr mit ständigem Hupen musste sie sich erst wieder gewöhnen. Ihre Arme schmerzten; sie war schwach geworden. Bei einem Überholmanöver rammte sie fast einen Kleinlaster, der, ohne ein Zeichen zu geben, plötzlich nach rechts abbog. Als sie die Vororte hinter sich gelassen hatte, wurde sie ruhiger.

Das ehemalige Herrenhaus einer aufgelassenen Teeplantage verbreitete den Charme kolonialer Langeweile. Bei ihrer Ankunft am frühen Nachmittag hatte eine Brise die Schwüle gemildert. Jetzt bauten sich Wolken über den Bergen auf, wälzten sich über die Hügelkette hinter dem See, nahmen bald den Blick auf das Wasser. Die moosigen Platten vor dem Backsteinbau bekamen einen graugrünen Glanz. Ein Windstoß rieb die Kronen der Bäume aneinander, dann begann es unvermittelt und heftig zu regnen.

Die beiden Glühbirnen am Eingang flackerten und erloschen. Es war noch nicht fünf, aber schon so dunkel, dass sie in der Lobby nicht mehr lesen konnte. Wenn sich mit dem Ende der Trockenzeit Anfang Mai Fieberglut über die Insel legte und selbst die Aktivitäten der Einheimischen bremste, verirrten sich auch ohne Terror kaum noch Touristen in das Landesinnere Sri Lankas. Sie war der einzige Gast in dem abgelegenen Guesthouse oberhalb von Kandy. Das Restaurant war nur zur Frühstückszeit geöffnet.

Sie setzte sich auf der Holzveranda in einen Flechtwerkstuhl, der sich anfühlte, als hätten darin schon vor einem halben Jahrhundert Alec Guinness oder David Lean gesessen. In der Lobby hingen angegilbte Zeitungsausschnitte und wellige, braunstichige Fotos. Die Filmcrew der »Brücke am Kwai« hatte sich nach den Dreharbeiten im Tiefland hier oben erholt. Eine Weile lauschte sie dem Prasseln des Regens, bis es durch das Dach zu tropfen begann.

Sie überlegte, in die Stadt hinunterzufahren, um etwas zu essen, ein scharfes vegetarisches Thali in einem südindischen Lokal, das in einer Seitengasse gleich beim See lag, soweit sie sich erinnerte. Beim Gedanken, mit dem Motorrad durch den Regen zu fahren, fröstelte sie. Sie hatte auch keine Lust, den Portier zu bitten, ihr ein Taxi zu rufen. Er hatte bei ihrer Ankunft das Meldebuch nur ein paar Zentimeter in ihre Richtung geschoben und mit Blicken gesagt, wie fehl am Platz er die Alleinreisende in Jeans und T-Shirt fand. Und sie scheute sich, einen der wenigen Bekannten zu kontaktieren, vor allem Surya nicht, der ihr damals das Land gezeigt hatte. Sie wollte sich keinen Fragen aussetzen. Nach der kurzen Nacht im Flugzeug war sie ohnehin schlafbedürftig.

Der Regen ging in geräuschloses Nieseln über. Sie tastete sich die knarrende Treppe hinauf. Im Dunkel ihres Zimmers suchte sie vergeblich nach ihrer Taschenlampe. Auf dem Nachttisch ertastete sie eine Kerze, daneben eine Schachtel Zündhölzer. Ein Schwefelkopf glomm auf und verpuffte. Erst mit dem vierten Streichholz gelang es ihr, den Stumpen anzuzünden. Feuchtigkeit hatte sich bis in den Docht gesogen. Die knisternde Flamme reichte nicht aus, das Zimmer auszuleuchten. Das Flackern warf zittrige Schatten auf die schweren Holzmöbel, die rissige Längswand neben einem der Schränke erinnerte für Momente an eine bewegte Kalligrafie, dann an eine archaische Höhlenzeichnung.

Sie aß ein paar Kekse, wanderte dann zähneputzend durch den Raum, beobachtete ihre Silhouette, eine Figur wie aus einem malaiischen Schattentheater. Matthias war der Einzige, der die Gewohnheit des ruheloses Zähneputzens mit ihr geteilt hatte. Sein Brief steckte ungeöffnet zwischen ihren Sachen.

Sie kramte in ihrer Tasche, nahm nur eine halbe Tablette, knotete das Moskitonetz auf, das an mehreren Stellen notdürftig geflickt war. Drei Löcher klebte sie mit Leukoplast ab.

Die Kakerlaken bleiben draußen, immerhin, dachte sie beschwörend, als sie unter einem der Schränke ein Geräusch hörte. Sie hatte keine Lust, sich mit der Kerze in der einen und einem Schuh in der anderen Hand als Kammerjägerin zu betätigen.

In dem überbreiten Holzbett hing die Matratze durch. Die Bezüge rochen modrig, schienen aber sauber zu sein. Frösteln drang bis in ihre Knochen und in Traumfetzen, kalte Flammen, Schatten. Mehrmals tastete sie schweißgebadet nach dem Moskitonetz. Der flimmernde Schlaf brachte kaum Erholung, und erst der Morgen Erleichterung.

Es gab heißes Wasser. Sie seifte sich mit Orangenshampoo ein, spülte sich ab, hielt den schwachen Strahl der Brause ans Gesicht, bis das Wasser kalt wurde und sich Gänsehaut von den Schultern herab ausbreitete.

Mit dem muffig riechenden Handtuch tupfte sie sich halbwegs trocken. In der immerfeuchten Luft hatten sich von den Rändern her Rostflecken in den Badenischenspiegel gefressen und gaben ihm ein fleckiges Passepartout. Ein passender Rahmen für dein Gesicht, dachte sie. Mit 36, was du verdienst. Knapp 37.

»Können wir einen Tisch hinausstellen?«

»Natürlich, Madam! Kein Problem.«

Der rundliche Kellner war froh, als sie ihn ermunterte, die Jacke seiner abgewetzten, schlechtsitzenden Uniform abzulegen. Heute Morgen brauchte sie die direkte Sonne, um die Nacht loszuwerden.

Gemeinsam schleppten sie einen Holztisch aus dem Frühstücksraum in den Garten, wo die Nachtfeuchte wie Rauch aus dem Rasen aufstieg. Unter der Veranda hielt ein grüner Käfigpapagei eine knarrende Ansprache, krächzte den Anfang des River-Kwai-Marsches, blieb dann stumm. Der Kellner brachte tänzelnd Kaffee und String Hoppers, dazu Ahornsirup. Die Kombination aus weichen Reisteigfäden und amerikanischem Sirup hatte sie selbst kreiert bei ihren früheren, damals noch mehrtägigen, manchmal sogar einwöchigen Aufenthalten als Flugbegleiterin.

»Tut mir leid, Madam. Noch keine frische Milch heute Morgen.« Der Kellner entschuldigte sich mehrmals mit Verbeugung. Die Kondensmilch lehnte sie ab, schmeckte dem Kaffee nach. Ceylon war einmal eine Kaffeeinsel gewesen; eine Krankheit hatte die Plantagen vernichtet, und die Briten hatten Teesträucher und tamilische Pflücker aus Indien in die nebeligen Berge gebracht. Surya hatte ihr das vor elf Jahren erzählt, ihr damaliger Führer und väterlicher Freund. Den rauchigen, fast lehmigen Geschmack des hiesigen Kaffees hatte sie erst verabscheut, dann geschätzt. Den Satz einfach absinken lassen, nicht wieder aufrühren.

Das Koffein brachte ihre Unruhe zurück. Sie zog die Sandalen aus und ging mit der Tasse in der Hand über den feuchten, britisch gepflegten Rasen zur Eisenbrüstung. Leichter Wind kam auf, hob die letzten Nebelreste vom schattigen Seeufer. Die Wolkenschleier zerrissen an lianenbehangenen Baumriesen, die den Ostrand des Talkessels säumten. Ab und zu das Knattern eines Busses, Fetzen von Stadtlärm. Auf den Hängen lagen weiße Villen, halb versteckt hinter fedrigen Flammenbäumen und Fluten von magentaroten Bougainvilleen. Mehr hätte sie nicht benennen können. Doch, Oleander, den gab es auch in Matthias’ Garten. Und Bambus, zitternde Blätter im Wind; zäh, biegsam, schwer zu knicken. Botanik hatte nie zu ihren Stärken gezählt. Im Cockpit kannte sie hunderte Displays, Instrumente, Funktionen auf Englisch, oft auch auf Deutsch, manchmal Spanisch. Alles war kategorisiert, funktional.

Sie schaute lange auf die Grünschattierungen des Sees. Sie hatte immer nahe am Wasser wohnen wollen. Als Erstes war es der Staffelsee in Oberbayern gewesen, Sommer, Großmutters Holzkate bei Seehausen. Nach dem Frühstückskakao auf der Veranda ging es dort vier Stufen hinunter in den Garten, barfuß durch das taunasse Gras, zu den Spielen mit den Nachbarsjungen, dem Aufstöbern eines Marders im Holzdach, dem Ausräuchern eines Hornissennestes, Entdeckungen im Moor: Feuersalamander, Ringelnattern unter Steinen, einmal eine Kreuzotter. Jedes Mal war sie die Erste gewesen, die das ungeliebte Dirndl abstreifte, noch bevor die Jungs ihre Lederhosen ausgezogen hatten. Sie rannten ins Wasser, ließen Regenbogenfontänen aufspritzen. Einen Sommer lang – sie hatte als Jüngste ihrer Klasse das Schwimmabzeichen in Bronze bekommen – war sie am See die Königin, die ein Regiment von Freibeutern durch den Weidendschungel schickte. Der Erfolg beflügelte sie beim Wettschwimmen vom Steg zum Graden-Eiland, das zum Piratenatoll in der Südsee wurde. Sie gewann Seeschlachten, eroberte mit rot bemaltem Gesicht von der Kommandohöhe am Uferfelsen aus Traumreiche; Geschichten vom Meer, und alle waren wahr.

Beim Doktorspielen verteilte sie die Rollen, bis sie genug gesehen hatte und die willfährigen Spielgefährten wieder ins Staffelseewasser trieb. Ein feiner Junge mit scheuen Augen war ihr besonders ergeben. Sie gab ihm Mutproben auf, er musste sich auf Ameisenhaufen legen. Erst im Herbst bereute sie es, und im nächsten Sommer war er nicht mehr da. Puppen und Papa-Mama-Kind-Spiele hatten sie nie interessiert. Sie las »Wo die wilden Kerle wohnen«, und im Münchner Kinderfasching ging sie lieber mit Zorros schwarzer Maske statt im Kleid der Märchenfee.

Damals am Staffelsee paddelten sie, schleckten Erdbeereis, und als dann noch ihre um zwei Jahre jüngere Schwester Vera mit den Eltern aus München für zwei Wochen kam, war es perfekt; Tage, an denen sie oder zumindest die Familie glücklich und sich selbst genug schien. Die Oma schimpfte weniger, der Imker ließ sich nicht blicken, und Clara empfand so etwas wie Geborgenheit. An den Abenden wurde gegrillt; sie saßen am Holztisch, der schon aufgebogen war – gerade deshalb gefiel er ihr und Vera. Sommer um Sommer hatten Oma und die Eltern davon geredet, neue Gartenmöbel anzuschaffen. Passiert war es nie.

Ein paar Fotos gab es bei Vera im Familienalbum, geschützt durch Spinnwebzellophan, erinnerte sie sich jetzt. Auf diesen Fotos hockt sie in jenem Sommer, der alles verändern sollte, mit ihrer Schwester auf den Stufen der Veranda. Veras helle Augen zwischen den dunkelblonden Pippi-Langstrumpf-Zöpfen und den abstehenden Ohren wirken auf einem Bild offen, auf einem anderen erschrocken, während Claras Augen auf keinem der Fotos zu sehen sind. Einmal ist sie abgewandt, nur ein zartes Profil ist zu erkennen, nicht mehr ganz kindlich. Auf einem anderen – die Schwestern sprangen gerade von den Stufen ins Gras – fallen ihr die kastanienbraunen Haare ins verwischte Gesicht, nur die schmalen Nasenflügel schauen heraus. »Mein Schmetterling« hatte Papa sie bis zu dem Sommer gerufen, sie hochgehoben, herumgewirbelt, der Schwerkraft enthoben. Auf einem dritten Bild versteckt sie sich unter einem Kirmeshut, der ihr bis über die Nase reicht. Den Lippen über einem feinen Kinn ist nicht anzusehen, ob sie schmollte, den Blick in die Kamera verweigerte. An die Momente, als die Fotos gemacht wurden, konnte sie sich kaum erinnern, wie an ganze Wochen jenes Sommers. Das Album lag bei Vera. Clara hatte es seit Vaters Tod nicht mehr angerührt.

Die Lodge hatte sie wegen der Aussicht gewählt, und wegen der großen Zimmer. Sie ging zum Frühstückstisch zurück, warf einen Blick auf die String Hoppers, die inzwischen in der Sonne mit dem Sirup zu einer Masse verschmolzen waren. Sie hinterließ ein großzügiges Trinkgeld, schenkte dem Kellner ein Lächeln, ging an dem Papagei, der sich unter dem Dach der Terrasse lautlos aufplusterte, vorbei auf ihr Zimmer und nahm die Motorradschlüssel.

Das Umklammern der Lenkstange gab ihr etwas Sicherheit. Sie fuhr die engen Kurven des Talkessels hinunter in die Stadt, vorbei an Villen, Gärten, an Pyramiden von Ananas, bis sie die Straße zum Markt erreichte. Der Asphalt war glitschig vom Nachtregen, von Gemüseresten und Bananenschalen. Sie hatte vergessen, dass der Markt in Kandy kein offener Platz war, sondern ein zweistöckiges Betongebäude, aber an die Orgie von Farben und Gerüchen erinnerte sie sich: Obst, Chili, Kräuter für Küche und Medizin. Selbst Suryas Ayurvedasätze kamen zurück, Mangos gäben Lebenslust, Vanille entspanne nach dem zähesten Tag, Zimt schenke Geborgenheit. Irgendetwas sollte Schlaf bringen, Koriander den Blick klären, Sandelholz die Erinnerung verblassen lassen – aber jetzt bewirkten die Gerüche gerade das Gegenteil.

Fischgeruch schwappte über die Gewürze, sie sah grob zerhacktes Fleisch unter Fliegengittern, wendete sich ab, ging über die Betonstufen in das obere Stockwerk des Marktes.

»Was suchen Sie, Madam?«

»Nichts, nur schauen«, keine Schnitzerei, keinen Sarong, keine Bluse. Oder doch. »Einen Sarong. Ja, den blauen. Nein, danke, einer genügt.« Sie fühlte sich zu ausgelaugt, um auch nur zu lächeln.

Als sie die Serpentinen zurückfuhr, schwebte ein einzelner Raubvogel über dem Seeufer im wolkenlosen Himmel. Ein knappes Jahr lang hatte sie von ihrer Wohnung an den Hängen über Barcelona Sicht bis zum Mittelmeer gehabt, wenn auch nur vom äußersten Eck ihres Balkons aus. Dann, bevor ihr Leben aus dem Gleichgewicht geraten war, hatte sie sich in eine Wohnung bei Sitges südlich von Barcelona verliebt, mit einer weinumrankten Pergola und einer Terrasse über der Garage. Die Wohnung gehörte argentinischen Freunden, er Pilot, sie Flugbegleiterin, eine klassische Verbindung. Die beiden übersiedelten nach Buenos Aires und verkauften günstig. Jedes Zimmer war ein Gewölbe mit hölzernen Fensterläden, von denen die grüne Farbe abblätterte. Eine gemauerte Freitreppe führte in den Garten voller Mandel- und Olivenbäume.

Sie hatte den Sommer so oft wie möglich bei den argentinischen Freunden verbracht gehabt. Improvisierte Abende mit Tapas hatten mit Einladungen abgewechselt, zu denen Freunde aus einem Dutzend Ländern etwas mitbrachten, Kollegen und solche, die nicht Piloten waren und doch die nomadische Lebensweise teilten, Reiseleiterinnen, Musiker auf Konzertreise, Saisonniers, bis zu jenem Abend im Oktober. Damals war sie in das polyglotte Stimmengewirr eingetaucht, hatte getanzt, zweimal mit demselben, langsam, nur wegen der Musik, hatte Gabrio verstohlen beobachtet, der sie nicht aus den Augen ließ.

»Was wollt ihr trinken?«, unterbrach er, als sei er der Gastgeber. Er war kontaktfreudig, warf Clara ihre scheuen Phasen vor und reagierte gereizt, wenn sie Fäden zu Menschen spann, die feiner waren als seine.

Sie ging auf die Terrasse. Die Landschaft verdämmerte unter Zikadenschnarren und Marihuanageruch. Im Dunkel des Gartens hüpften noch immer Kinder. Eine vielleicht Achtjährige trottete die Stiege herauf, schwang sich zu einem Erwachsenen in die Hängematte unter dem Baldachin von Weinblättern. Zwei weitere Mädchen legten sich dazu. Ein aus der Matte heraushängender Fuß des unsichtbaren Mannes stieß sie am Boden ab, schaukelte sich und das kichernde Trio. Jemand zupfte im Halbdunkel auf einer Gitarre.

Gabrio kam auf die Terrasse, schien Clara zu übersehen, er nahm die Gitarre an sich, schlug auf sie ein. Wenn er trank, legte er sich gerne mit Leuten an, viel Feind, viel Ehr’. Sie hatten bei der Herfahrt gestritten, sie wollte nicht mehr mit ihm gemeinsam zu Rotationen eingeteilt werden.

Sie duckte sich weg und ging zurück ins Wohnzimmer, wo der Abend mit Gläserklirren und lautem Gelächter seinen Fortgang nahm. Ihre Firmenkollegin Simona begann gerade mit einer lasziven Einlage. Die Spaghettiträger ihres roten Kleides und des schwarzen BHs rutschten offenkundig nicht ungewollt von ihren Schultern und entblößten erst halb die eine, dann beinahe ihre beiden üppigen Brüste. Sie schob die Träger zurück und zog die Schuhe aus, trommelte mit den Sohlen auf das Parkett. Einige Männer klatschten, die Frauen in der Runde ignorierten Simona oder lachten, »ein hübsches Kleid«, meinte eine.

Gabrio war wieder im Raum und machte neben Clara als einziger eine obszöne Bemerkung, lachte, bevor andere lachten. Die ihr fremde Frivolität hatte sie vor Jahren angezogen.

Später, im Auto zurück nach Barcelona, schlief er auf dem Beifahrersitz, während sie am Steuer das Ende der Beziehung roch, in ihrer rechten Körperseite spürte, aber noch nicht sah, wie sie sich seinem Besitzanspruch, seiner geilen Wut entwinden würde. Zumindest heute Nacht, dachte sie. Wenn du erst in Madrid bist, dann löst du dich.

Gabrios Prügel hatte sie über sich ergehen lassen. Matthias dagegen hatte sich im letzten Jahr mehr und mehr in ihre Gedanken eingeknüpft. Zuletzt war es wie ein Weckerpiepsen, das sie selbst im Cockpit nicht abstellen konnte. Er behinderte sie bei simplen Manövern, füllte die Winkel der engen Kanzel, jede Leerstelle ihrer knappen Erholungszeit. Inmitten der Instrumente im Pendler-Nirwana West-Ost-West hatten sich abwechselnd er und ihre eigenen Konturen im Cockpitglas gespiegelt, sie sah sich, von der Uniform in Fassung gehalten, mit Bügelfalte, Krawatte, Kappe; mit den Kopfhörern, die sie lange von den Stimmen der Vergangenheit abgeschirmt hatten. Dann, ein Nachtflug vor zehn Tagen, der dritte in einer Woche, sie sah sich selbst von oben, ihre ruhigen Hände, sah einen fast bewegungslosen Roboter: Conditional Route Availability Message, Automatic Dependent Surveillance, Auto Thrust, Enroute Alternate, auf zehntausend Metern drohte sie am ansteigenden Pegelstand der Fachtermini zu ersticken. Sie spürte wieder die Faust im Magen, hatte kurz und wortlos Blickkontakt mit dem Kapitän, stand auf, die meisten Businessclass-Passagiere schliefen, sie lächelte an den wenigen wachen vorbei, argwöhnte Blicke im Rücken, fühlte sich als Betrunkene unter Nüchternen. Wenn sich jetzt die Außentür öffnete, sie das Nichts hinauszog?

Mit einer Hand stützte sie sich am zitternden Plastik des Kabinenklos ab, mit der anderen hielt sie ihr Haar, während sie kotzte. Sie starrte sich im Spiegel an, weiß wie die Uniformbluse, trug dann Rouge auf.

Inneres Geschwätz. Dein Körper gehört gewartet. Wie die Maschine. Du hast Verantwortung; auch als Copilotin. Fassung bewahren. Denk wie ein Kapitän.

Sie fischte sich aus ihrer Erinnerung, band ihr Haar wieder zusammen, gab sich einen Ruck, stay the course, bis zum Kapitänskurs. Sie konnte sich keinen auch nur verzögerten Blick leisten. Menschen, Tiere, Fahrzeuge konnten zurückweichen. Flieger nicht. Man schaute nicht mal zurück. Anzeigen bestimmten, was Vorrang hatte. Leerlauf gab es nicht.

Sie dachte nicht, sie rechnete, Gewinn- und Verlustrechnungen. Gefühle zählten nicht als Stimmungen, sondern als Aufträge an ihr Handeln. Im Cockpit, der Hirnkammer des Fliegers, ließ sich alles auf ein Betriebssystem, ein Rechenexempel, Plus oder Minus zurückführen. Zahlen hatte sie immer gemocht, das klare Ordnungssystem. Zwischen null und eins war kein Platz für Gefühlsduselei. Sorgen galten den Turbinengeräuschen, nicht ihr. Ursachenanalyse, Management von Effekten. Erhöhte Strömungsgeschwindigkeit; nichts als ein paar Turbulenzen.

Die Brise, die ihren Aufstieg getragen hatte, hatte sich zu einem virtuellen Sturm gesteigert. Die Tage reihten sich aneinander, ohne zusammenzufinden, ihr verlorener Schlaf brachte ihr nötige Meilen für den Kapitän. Der selbsternannte Großkonzern Big Spirit wuchs in atemraubendem Tempo, das hieß Einsatz rund um die Uhr, deren Zeiger ständig zu verstellen waren, »all you can fly« war der neueste Werbespruch der Firma. Eine Rotation folgte auf die nächste, die 777, noch im Probeflug auf der Mittelstrecke, Gran Canaria retour, mit Minimum Rest, der rechtlich kürzestmöglichen Pilotenpause. Der Strand war nah und unerreichbar zugleich, stattdessen Coffee-to-go, ein Sandwich, zwei Lidstriche, Papierkram; die Beladung, Sprit und Wetterinfo checken, die Flugroute programmieren, das sah kein Passagier, und wieder retour. Viermal Las Palmas, zweimal Sharm-el-Sheik, Hurghada, letzte Woche drei neue Flughäfen, dann wieder Dubai, sie war bei knappsten Standzeiten zugedonnert von den Starts und Landungen anderer Maschinen.

Nach dem Verstummen der Turbinen vibrierte ihr elektrischer Körper für Stunden weiter, aus Andockraupen pulsierten Menschenschwärme in den Terminal, die Rolltreppe zog ihre Hand davon, ihrem Puls voraus oder hinterher, ein weiterer gestriger Tag, Aufbruch ohne Ankunft, sie war übererregt, abgestumpft, zugedröhnt im Lärmkraftwerk jenseits der Erschöpfung, bis es keinen Unterschied zwischen aus dem Takt geratenen Codes und sinnfreiem Rauschen mehr gab. Die Besatzungen der Billigflieger erblickten die Statussphäre der Vielflieger-, gar Senator-Lounges nur im Vorbeigehen, durch kurz geöffnete Milchglasscheiben, hinter denen alle nervigen Geräusche von Teppichen und Noblesse geschluckt werden. Die Crewcafeterien waren wenig glamourös, die Flughafengänge Korridorfluchten ohne Menschengeruch zwischen Clara und einer abstrakten Fremde. Wiederaufbereitete Atemluft, von Klimaanlagen zerhackt, Sortierung des Passagiermaterials, Sicherheitsschleusen, dann ein neuer Körperscanner, sie können dir nicht ins Hirn schauen, nein, nein.

Flughäfen ohne Logbucheintrag, Start, Beschleunigung, sie war Teil der Täuschung vom Unterwegssein, flog einmal 3200 Meilen, dann 6200, dann 5800 zwischen schwimmenden Zeitzonen, ohne etwas von der Welt zu sehen, verbrachte heimatlose Nächte zwischen ihm und ihm. Gabrio war in Amerika, Matthias in München, von beiden kamen WhatsApp-Messages, E-Mails, Priorität hoch, sehr hoch, öffnen, ungelesen löschen, antworten, nein, aus.

Ihr Zeitempfinden war perforiert, immer mehr Tage verschwammen, verschwanden. Innehalten, inne-halten innehalten hallten Matthias’ therapeutische Worte in ihrem Schädel. 271 Starts in acht Monaten, kaum eine ordentliche Zwischenlandung, sie hatte sieben Kilo verloren in der Zeit, das Gegenteil von schwanger, dachte sie, lachte, in welcher Zukunft werden wir unsere verdammte körperliche Hülle ablegen und nur mehr Impulse in einem weltumspannenden Nervensystem sein. Die Erde drehte sich im schnellen Vorlauf, ihre Erinnerung spulte zurück, ein Morgen in Madrid traf auf einen Abend in den Emiraten. Sie bekam stundenweise die Instrumente in Griff, nicht die Geister. Wer log, brauchte einen kühlen Kopf und ein gutes Gedächtnis. Ihr fehlte beides. Was waren Lügen, wenn sie die Wahrheit über sich kaum kannte; sich ein gelungenes Leben vorlog, wie Matthias im letzten Streit behauptet hatte. Dein neuer Status, deine alten Geschichten, nichts im Griff.

Sie war Pilotin geworden, um die Welt zu sehen, und jetzt war sie eingesperrt. Ein Flugzeug bringt nur Geld, wenn es fliegt, lautete die Devise, in optimaler Auslastung der Flotte. In Firmenrundschreiben wurde von Umstrukturierung, von den Herausforderungen der Expansion, von Firmenkultur gepredigt und an den Teamgeist der Galeerensklaven unter dem grenzenlosen Himmel appelliert. Einige knurrten, keiner muckte auf. Piloten staatlicher Luftlinien flogen nicht halb so viel, bei doppeltem Gehalt, und die hatten den Mut, zu streiken.

Als die Unaufmerksamkeiten in der Apparaturenhöhle anfingen, über sie hinauszuwachsen, hatte sie zwei Wochen Urlaub erbeten und bekommen. Nach Ostern und vor der flugintensiven Sommersaison war es etwas ruhiger. Das spanische Fluggeschäft lahmte seit der Krise, außer im Sommer. Aus dem Angebot sofort verfügbarer Billigtickets hatte sie Sri Lanka gewählt, einst ihre erste Tropendestination als Flugbegleiterin. Nach den letzten Attentaten flog kaum jemand hin.

Sie lenkte das Motorrad Kurve um Kurve höher. Ihre Augen folgten den Kreisen des Raubvogels über dem Talkessel, dem See. Derselbe Blick wie damals, den sie nie auf ein Foto gebannt und der sich doch eingegraben hatte. Sie spürte wieder die Weite und einen Abgrund, in den nur Bruchstücke ihrer Erinnerung ragten; als sie ihr Denken abgestellt hatte, Nightmail, eine schwarze Fahrt vor elf Jahren. Stille wie in einem Vakuum; keine Worte, kaum ein Bild, nur ein Schatten war geblieben, den ihr Unbehagen warf, ein nicht entwickeltes inneres Negativ. Es war der anderen Clara passiert, nicht der, die flog.

Ein Haus in Kandy? Hoch über dem See, mit ewigem Frühling, freiem Blick?

Alles hier war Erinnerung, selbst die Bougainvilleen erinnerten sie an Barcelona und der Oleander an Matthias’ Münchner Garten. Sie hatte Matthias belächelt und doch um seinen scheinbaren Einklang mit der Natur beneidet, den er nach einem Tag in der Anwaltskanzlei, mit Gießkanne und Gartenschlauch von Pflanze zu Pflanze gehend, herstellte und selbst die widerspenstigsten unter ihnen zum Blühen brachte. Sie bekam einen feuchten Hauch ab, bis er bereit war, das Wasser abzustellen und sich ihr zuzuwenden. »Wer zum Spaten greift, fasst nicht zum Revolver.« Matthias’ Sprüche.

Ihr fehlte die Gelassenheit zur Pflege, zum Geschehenlassen. Pflanzen brauchten das. Beziehungen wohl auch. Sie hatte immer ironisch reagiert, wenn Flugbegleiter-Kolleginnen von der Kinder-oder-Karriere-Frage gequält wurden. Sie war lange sicher gewesen, beides zu schaffen, wenn es denn so weit sein sollte. Handfeste Entscheidungen im Cockpit konnte sie längst treffen, in trainierter Präzision. Als verständnisvolle Freundin war sie ungeeignet.

Schwer ertrug sie zwei Tage am selben Platz. Nach den Jahren zwischen Asien, der Karibik und Lateinamerika betrachtete sie jeden Ort wie eine Fremde auf der Durchreise, auch Barcelona, Madrid, sogar München. Am Staffelsee war ihr die kühle Distanz nie gelungen. Aber in die unbeweglichen Berge hinter dem Bootshaus fuhr sie seit Jahren nicht mehr. Die Akteure des Staffelsees waren tot. Auch das Klarchen, das sie damals war. Nicht über die Kindheit lamentieren, als Ausrede für die eigenen Unzulänglichkeiten. Copyright Gabrio.

Erst im letzten Jahr hatte sie angefangen, in ein Panoptikum von Spukgestalten zu blicken, und jetzt war sie von Kandys üppigen Gärten umzingelt. Schon die erste Nacht hatte Reservisten des Zombietheaters zurückgebracht. Sie verspürte wenig Lust auf ein Maskenspiel im Fackelschein, das ihr der Hotelportier bei der Ankunft als Abendveranstaltung verkaufen wollte, Schattenspiele mit den Archetypen menschlicher Abgründe, von denen ihr schon Surya damals erzählt hatte.

Warum war ihre Wahl wieder auf Sri Lanka gefallen? Die nächstbeste Destination mit Kollegenrabatt? Sie hätte wählerischer sein können. Oder mit Simona nach Rom fahren, auf einer Treppe sitzen, sich von Simonas spitzer Zunge und Offenheit anstecken lassen, wenn diese betrunken kichernd Frauen küsste, einmal auch Clara, was diese zu ihrer eigenen Überraschung nicht ganz unerwidert ließ, um später doch in den Armen eines Mannes zu landen.

Sie war wieder bei der Lodge angekommen und parkte das Motorrad vor den Stufen zur Lobby. Sie wollte weiter, packte im Zimmer das noch feuchte T-Shirt, ihre Toiletteutensilien, die Medikamente in die Satteltaschen. Aus den Augenwinkeln sah sie einen Trupp roter Ameisen eine tote Kakerlake über den abgetretenen Holzboden unter den Schrank schleppen. In einem kindlichen Anfall von Mordlust hob sie den Fuß und warf dabei die Satteltasche um. Ameisen betasteten die alte Mappe, die herausschaute, bogen dann ab, um eine neue Duftspur zu suchen. Clara nahm die Mappe. Notizen ihrer damaligen Reise fielen heraus, Bilder schwebender Tänzerinnen. Sigiriya. Die Sonne kroch durch die Lamellen und erinnerte sie daran, dass nur noch wenige Stunden bis zur größten Hitze fehlten. Sie steckte die Aufzeichnungen zurück.

Der übergewichtige Rezeptionist auf seinem Teakholzthron schreckte aus seinem Schlummer auf, kniff die Augen zusammen, würdigte sie beim Erstellen der einfachen Rechnung keines Blickes, er schien froh, gleich wieder seine Ruhe zu haben.

Unten in der Stadt bog sie, noch immer ungelenk im Linksverkehr, im Gewirr von Fahrrädern, Mopeds und Handkarren falsch ab, fand schließlich aus Kandy hinaus, Richtung Norden, als die ersten Nebelschwaden an den Berghängen auftauchten. Sie überholte einen Dieselschwaden fauchenden Laster, dessen Fahrer sie nach einer Überraschungssekunde anhupte, aufs Gas stieg und ihr mit aufheulendem Motor nachpreschen wollte.

Im Fahrtwind begannen sich ihre Schultern zu lockern. Über die ausgedörrte Vegetation glitten andere Bilder, geruchlos, ein halb kaputtes Kaleidoskop aus Kindertagen, Madrid, München, Barcelona, Varadero. Landebahnen, Positionen, auf dem Weg zur Kapitänsprüfung die Trennung von einem Mann überlebt, den anderen verloren; ungekittete Sprünge, Scherben von Spiegelglas.

An einem Aussichtspunkt machte sie halt. Trockener Wind ließ dürre Blätter in einem Busch klappern, das einzige Geräusch. Sie ging ein paar Schritte bis zu den verbogenen Resten eines Geländers, sah in die flimmernde Landschaft, die an die ostafrikanische Savanne erinnerte, gefärbt wie angestaubtes Löwenfell. Die schwachen Farben verloren sich in einer Ferne ohne Horizont, der Himmel weiß vor Hitze, wie von der Ebene abgestoßen. Die schweigende Landschaft, die Leere im Licht erlaubte ihr eine Ahnung von Freiheit.

Sie blinzelte sich den Staub aus den Augen, band ein Tuch um die Stirn und fuhr weiter. In der Ebene schlierte die Hitze über den Asphalt. Bei der ersten Gelegenheit bog sie von der Hauptstraße nach rechts in eine Schotterpiste ab, mied die touristischen Sehenswürdigkeiten, obwohl in der Aprilschwüle selbst am Wallfahrtsort Dambulla kaum zu erwarten war, dass sie die goldenen Buddhas mit einer Touristengruppe teilen würde müssen. Weniger der steile Aufstieg als vielmehr das Höhlenheiligtum hielt sie ab, mit seinen feuchten Mauern, die zusammenrückten, wenn man stehen blieb.