Corinna Griesbach

Das Prinzip der Mittelmäßigkeit

Science-Fiction-Roman

 

 

AndroSF 63

 


Corinna Griesbach

DAS PRINZIP DER MITTELMÄSSIGKEIT

 

AndroSF 63

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

© dieser Ausgabe: Juni 2017

p.machinery Michael Haitel

 

Titelbild: Thomas Franke

Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda, Xlendi

Lektorat: Michael Haitel

Herstellung: global:epropaganda, Xlendi

 

Verlag: p.machinery Michael Haitel

Ammergauer Str. 11, 82418 Murnau am Staffelsee

www.pmachinery.de

für den Science Fiction Club Deutschland e. V., www.sfcd.eu

 

ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 094 8

 


Corinna Griesbach

Das Prinzip der Mittelmäßigkeit

Science-Fiction-Roman

 


1 Missglückte Reise

 

 

Die eigenen Kinder ertränkt.

 

London (dpa). Eine einunddreißigjährige Frau und Mutter von drei Kindern gestand gestern der Londoner Polizei, in einem Anfall von Wahnsinn ihren vier Jahre alten Sohn und ihre Tochter (zwei Jahre) ertränkt zu haben. Nachdem die beiden größeren Kinder tot waren, hatte sie zuletzt versucht, sich selbst und den wenige Tage alten Säugling zu ertränken. Der Ehemann und Vater der drei Kinder steht unter Schock. Die Frau befindet sich unter psychiatrischer Aufsicht.

 

Mutter sprang mit zwei Kindern in den Tod.

 

Karlsruhe (dpa). Eine zweiunddreißigjährige Frau ist gestern in Karlsruhe mit ihren beiden Kleinkindern von einem zehnstöckigen Hochhaus gesprungen. Die drei schlugen in dem gepflasterten Hinterhof auf und waren sofort tot. Das Wohn- und Geschäftshaus ist frei zugänglich, teilte die Polizei mit. Bei den Kindern handelt es sich um ein zweijähriges Mädchen und einen sechs Monate alten Jungen. Das Motiv für diese Tat ist völlig unklar. Die Frau und ihre Kinder konnten zudem erst nach Stunden identifiziert werden, da weder ein Abschiedsbrief gefunden wurde, noch die Frau irgendwelche Papiere bei sich trug. Dazu kommt, dass Mutter und Kinder völlig nackt waren. Ein Polizeisprecher: »Wir suchen mit Hochdruck nach den Hintergründen der Tat!«

Offensichtlich hat die Mutter zunächst das zweijährige Mädchen hinunter geworfen und dann einige Zeit gewartet, bis sie mit dem Jungen hinterher sprang. Die Kleidung der Toten wurde noch nicht gefunden.

 


2 Füchse in der Stadt

 

 

Der Fremde stand am Rande der Geisterstadt. Der Staub über der Landstraße, die zum Ort geführt hatte, war aufgewirbelt. Lastwagen und Kettenfahrzeuge pflügten sich über das, was von der Straße übrig war. Frischer Teer wurde aufgeschüttet, um Löcher und Risse zu stopfen. Maisyn lief unbehelligt den Fahrzeugen hinterher, ihm war übel vom Gestank. Es war nicht nur der Teer, es waren tote, verwesende Fische. Kot. Aufgebrochene Abwasserleitungen, verdorbenes, gärendes Essen. Er blieb vor einem eingestürzten Haus stehen und sah einem Mann zu, der mit einer beschädigten Gartenschaufel getrockneten Schlamm von seiner Hauswand schlug. Er würde ihm helfen. »Hast du noch eine Schaufel?«

»Ein Brett«, antwortete der Mann und trat beiseite.

H’Thüsos Maisyn nahm die Latte, auf der der Mann gestanden hatte. Der sank sofort ein wenig in die Erde, Matsch besudelte seine Knöchel und Maisyn sah, dass er nackte Füße hatte. Vorsichtig klopfte Maisyn die dünne Schicht Schmutz von der Wand. Eine nutzlose Arbeit.

»Wirst du bleiben?«, fragte er.

»Was sonst?«

Maisyn nickte. Es wäre umsonst gewesen, zu antworten. Er klopfte zwei Stunden an der Hauswand herum, versank tiefer im Matsch und legte irgendwann das Holz in den Schmutz. Als er ging, drehte der Mann sich nicht um.

 

Außer ihm war nun niemand mehr zu sehen. Er drang in das Innere der Stadt vor, dorthin, wo die Kettenfahrzeuge nicht kommen konnten, ohne die von Geröll verschütteten Straßen völlig zu zerstören. Vier Wochen war es her. Die Häuser waren unbewohnbar. Es würde Geld geben, viel Geld, diese Stadt würde wieder aufgebaut werden, die Sonne würde über den neu errichteten Dächern aufgehen.

Die Häuser, die äußerlich noch stabil wirkten, deren Fassade noch aufrecht stand, waren mit rotem Flatterband wie mit Geschenkband eingewickelt. Einmal herum um ein Zuhause: Betreten verboten.

Ein anderer Mann kam Maisyn entgegen, von weit her winkte er ihm zu. Bleib weg! Komm näher! Was immer es heißen sollte. Höflich winkte der Fremde zurück. In einer Nacht im September war die kleine Stadt von einer Flutwelle vernichtet worden, unglaubliche Wassermassen hatten Garagen, Steine, Felsen, Autos, Bäume und Menschen über den Ort gespült, Häuser einstürzen und Kinder in ihren Betten ertrinken lassen.

Hunderttausend Tonnen Schutt hatten die Überlebenden bereits aus der Stadt geschafft, kleine Bagger, Schubkarren, private Fahrzeuge waren eingesetzt worden, bevor das Militär mit Räumfahrzeugen eine Schneise bis zum Stadtrand gefräst hatte. Die meisten Häuser waren mit wenigen Schlägen abgerissen worden, wenige standen noch aufrecht, noch weniger waren in ihrem jetzigen Zustand bewohnbar.

Die Abwasserkanäle waren geborsten, es gab weder Strom noch Frischwasser.

Der Katastrophenschutz hatte fast alle Menschen evakuiert; denen, die bleiben wollten, lieferten sie mit Hubschraubern Wasser, Nahrung, Campingtoiletten und Generatoren.

Es wurde alles getan, was die Hochwasseropfer wollten. Keine Diskussion über Sinn und Unsinn. Keine Umsiedlungspläne. Keine Grundsatzdebatten. Und alle, die evakuiert worden waren, würden zurückkommen. Aufräumen, anpacken, neu bauen. Egal, um welchen Preis.

Maisyn blickte in den Himmel. Regen zog herauf.

Er verlangsamte den Schritt und blieb schließlich stehen. Er hatte eine Mission zu bestehen.

 

Wenn er fremd war in einer der Städte, die er bereiste, suchte er oftmals lange nach den wahren Zentren der Macht. So hatte er viele Stunden lang an den Nachmittagen in dieser vielversprechenden Mediathek zugebracht. Er hatte im Schein des künstlichen Lichts dort, das ihn so verwirrte, die Meinung der unterschiedlichsten Menschen eingeholt und alles hatte darauf hingewiesen, dass genau hier ein verstecktes Machtzentrum liegen mochte: zwischen den von Plakaten verhangenen Fenstern, im Dämmerlicht flackernder Neonröhren.

An diesem dunklen, windigen Morgen stand er nun frierend vor der geschlossenen Tür der Mediathek, sein schwarzer Mantel flog im kalten Morgenwind um seine Hüfte. Der Fremde fror fürchterlich, er spürte die Kälte bei jedem Anflug des Windes, mit jedem Atemzug.

Ihm war niemals klar, wann welche Tür sich ihm öffnen würde und ahnte nicht, warum diese jetzt geschlossen war und er allein vor ihr stand. Hier wollte er Cordelia treffen. Wie so oft war sie nicht da, und wahrscheinlich war das wie meistens seine Schuld. Richtiger Ort, falsche Zeit. Er lugte durch eine Lücke zwischen den Plakaten ins Innere. Dort hatte er DVDs geliehen, über Kriegsführung und das Raumfahrtprogramm der Russen gesprochen und die Ahnungen und Annahmen der Menschen in sich aufgenommen. Sie waren wertvoll für ihn, die verschiedenen Menschen. Männer, Frauen, angeschwemmt von der nahen Straße. Ihm waren ihre Meinungen zum Zustand der Welt wichtig.

Jetzt war niemand hier außer ihm selbst.

Einer, dessen Worte aus dem Brei der Anschauungen herausragte, einer, der sich Sam nannte, war zum Beginn ihrer Bekanntschaft begeistert gewesen, dass er dem Fremden hier begegnet war. Sam hatten die Fragen und die Zeit, die der Fremde ihm widmete, begeistert. So hatte er sich einmal zu ihm hinüber gebeugt, hatte bewundernd und zufrieden in dessen dunkles Gesicht gesehen und euphorisch gesagt: »Dass ich dich hier kennengelernt habe, mein Junge!« Und hatte ihm anvertraut: »Kaum noch jemand nimmt doch die Russen wirklich ernst!«

Mit Sam zusammen hatte Maisyn auch all die Nachrichten über die Dürre in Australien verfolgt. Sam liebte Australien mehr, als er die Russen je gefürchtet hatte, erfuhr Maisyn. Die Flammenfronten im Süden Australiens hatten deshalb auch Sams Herz verzehrt. Tausende von Feuerwehrleuten hatten Brandsperren errichtet und waren verglüht. Pro Tag waren zweihunderttausend Hektar Busch verbrannt, der Norden Australiens war bereits lange vorher in der größten Dürreperiode des Landes verwüstet worden: jeder Blitzschlag ein Feuer. Canberra gab es nicht mehr. Auch mehrere andere Städte waren nicht mehr zu finden, Sam vermutete, Landkarten würden neu geschrieben werden müssen. Maisyn bestätigte Sams Meinung traurig.

Er hatte während dieser vielversprechenden Unterhaltungen mit zwei Männern verbotenerweise regelmäßig ein klein wenig Bier getrunken und Skat gespielt. Das Spiel und seine Regeln hatte er bald verstanden. Das war gut, denn über das Spiel hatte er Cordelia kennengelernt. »Erwarte nicht zu viel«, hatte sie gesagt. »Ich bin eine mittelmäßige Spielerin!«

»Ich erwarte nicht zu viel«, hatte er fassungslos geantwortet. »Ich bin hier, um das Mittelmäßige in dir zu finden.«

Geraucht hatte er nicht. Cordelia hatte erklärt, sie habe vor Jahren eine Zigarette geraucht und sei verurteilt worden. »Jugendstrafe. Das hat mir gereicht.«

Georgia, eine große Frau, die ihm zu Beginn ihrer Gespräche erklärt hatte, sie suche einen Weg aus der Mittelmäßigkeit ihres Daseins heraus, rauchte immer. »Frag nicht nach Abendrot, Jungchen«, sagte sie gern und rauchte eine. »Und frag mich nicht, was für eine!«, bedeutete sie ihm und so fragte er nicht. Georgia gehörte der Gesellschaft zur Entdeckung der Langsamkeit an und das hatte ihn eine Weile gehalten, aber dieser Verein zur Verzögerung der Zeit war eine falsche Spur gewesen. Georgia war so falsch gewesen, wie ihr Name, es hätte ihn nicht gewundert, wenn sie eine Frau im Körper eines Mannes gewesen wäre.

Er war dennoch lange Zeit immer wieder hier hergekommen. Wollte Cordelia nicht aus den Augen verlieren. Hatte abgewartet. Es waren so oft die kleinen Orte, sagte er sich, die er suchte und wo er schließlich auch fand.

Doch er sah nun ein: Das Zentrum der Macht war diese Mediathek, in der er mit Georgia und Sam so lange herumgelungert hatte, wo er die angeblichen Raumfahrtexperten über den dunklen grünen Teppichboden hatte schlurfen sehen, wohl doch nicht gewesen. Gestrandete, Betrunkene, sinnlos Redende hatten ihm nicht weiter geholfen. Und so nahm er heute Morgen den Laden von seiner inneren Liste.

Der Wind wurde heftiger, seine Hoffnung, Cordelia hier zu treffen, schwand, Papier schleuderte über die Gehwege, ein letztes Mal stellte er sich an die dunkle Säule vor der schmutzigen Eingangstür und betrachtete das Waffenarsenal auf dem durch die Glastür dargebotenen Plakat. Die Säule, neben der er stand, war unten nass von Hundepisse. Der Marmor glänzte nur an den Stellen, die in der Nacht übermäßig mit Fuchsurin beschmutzt worden waren. Der Fremde war, gemessen am Rest dieser Welt, von nur mittelgroßer Gestalt, die Spur der höchsten Pinkelfontäne reichte bis an seine Hüfte. Der Wind, ständiger Sturm und Wind, machten ihn auch heute Morgen nervös. Er war darauf vorbereitet gewesen, aber es machte ihn verrückt. Es war fast so schlimm wie das Rückwärtssitzen in Bussen. Schrecklich. Alles war entsetzlich: Busse und das Rückwärtssitzen darin, Bier und seine sofortige Wirkung, die Bilder der Waffen in den Schaufenstern, die so fassbar und echt wirkten, Vereine zur Verlangsamung der Zeit, die ohne Wirkung blieben. Ein letzter Blick um die Ecke, die Straße entlang in die Richtung, aus der er Cordelia erwartete, dann verließ er den Ort.

 

Regen wich dem Nebel und der Fremde meinte eine Füchsin zu sehen, die streifte einige Meter entfernt von ihm einen Baum, zog bedächtig um einen Hauseingang und begann dort, aus einer zerrissenen Tüte zu fressen.

Die Füchse hatten die Stadt vor vier Jahren endgültig erobert, sie hatten diesen Siegeszug lange vorbereitet. Vor fünfzehn Jahren waren sie bereits vereinzelt aufgetaucht, waren auf der Suche nach Nahrung aus den Wäldern gekommen, waren leise in die Städte eingefallen. Es war verboten, Füchse in der Stadt zu jagen oder aus der Stadt zu vertreiben. Sie gehörten zum Projekt Tiere in der Stadt und wurden von etlichen Tierschützern beobachtet und erforscht. Die Wege, die sie suchten, durch die Nacht, durch die nun oft unbeleuchteten Straßen der Menschen, wurden aufgezeichnet. Ihr Kot wurde gesammelt und auseinander gezupft. Untersucht. Man wollte wissen, was sie aßen und was sie verschmähten, die Füchse in den Städten. Ihre Fellspuren wurden untersucht. Man war zu dem Schluss gekommen, dass die Stadt nun ihrem ursprünglichen, natürlichen Lebensraum mehr glich, als der Wald in seinem aktuellen Zustand. Füchse waren zudem hübscher und aufregender als Ratten. Aufgerissene Mülltüten, ausgegrabene Blumenbeete, stinkende Reviermarken waren der Preis für die neue Nachbarschaft.

Der Fremde beachtete das Tier nicht weiter und nahm jetzt auf das Geratewohl einen Papierfetzen auf, der sich wie ein Kreisel im Rinnstein drehte. Das Stück Papier war einigermaßen sauber und entstammte einer Zeitung. Montagsausgabe. Er versuchte, die Überschrift zu entziffern. Lo – … Lobgesänge vielleicht. Lokal. Er las, was Gott Zufall ihm vor die Füße gespült hatte und ihn überwältigte das Gefühl, am Ziel zu sein: Er hielt ein Bild in Händen, das zeigte einen gekrönten, mit Federn geschmückten Mann. Der Fremde kannte ähnliche Bilder aus anderen Erdteilen, die er kurz, atemlos, delirierend bereist hatte. Es waren immer die mit dem Federschmuck, die ihn verstanden und ihm weiter geholfen hatten. Dies hier war ein Mann aus dem Jetzt, lebendig, alt, mit Brille, gold- und ordengeschmückt, der ihn ansah.

 

Lokales. Ezbach. Am ersten Mai ist es wieder soweit. Der Schützenkönig Wilhelm Spatzek wird gekrönt! Hier zu sehen sein Vater, Wilhelm Spatzek senior, dreimaliger Schützenkönig. Auch Großvater Johann Spatzek, hier auf dem Foto links, war Schützenkönig von Ezbach. Nun soll der vierhundertfünfzigste Geburtstag der Schützenbruderschaft Oberezbach gefeiert werden! Ohne eine Unterbrechung seit vierhundertfünfzig Jahren zu bestehen, das ist schon was, äußert sich der Fahnenträger (nicht im Bild), vor Rührung und Stolz zittert seine Stimme ein wenig. Mit Pauken und Trompeten, Pfeifen und Trommeln soll der Festzug rund um Oberezbach ziehen, dann das Dorf diagonal durchqueren bis zum Dorfplatz (auf dem angeblich die einzig verbürgte Hexe des ganzen Landkreises vor neunhundert Jahren gesteinigt worden sein soll) und dort der Krönung beiwohnen.

Speisen und Getränke werden im Sportheim Sankt Johanna eingenommen. Um Punkt zweiundzwanzig Uhr wird die Feuerwehr des Ortes mit den Freiwilligen des Roten Kreuzes und der Schützenbruderschaft einen Fackelmarsch zum Festzelt organisieren.

Beendet wird der Festakt mit dem Zapfenstreich.

 

Maisyn las den Text mit Ehrfurcht. Ja. Es waren die kleinen Dinge! Er fummelte in der Innentasche seines Mantels herum und lenkte dann sein Drittes Auge durch den Stoff auf den Zeitungsausschnitt, ließ das dünne Papier alsdann ohne Hast zu Boden fallen und lächelte.

Es war wirklich nicht leicht, es war ein gigantisches Puzzle mit echten Schluchten und Gefahren, aber jedes Teil fügte sich irgendwann ein und würde ein Gesamtbild schaffen.

Er richtete seine kleine Gestalt hoch auf: »Ein König. In dritter Generation. Dazu Kreuze, Hexen und Kronen!« Der alte König, der Großvater, ein unscharfes Bild eines lächelnden Mannes, bärtig. Auf dem Bild ungekrönt. Dazu der Vater mit weißer Blume am Kragen, streng nach rechts blickend. Sicher ein gerechter Herrscher. »In einem Reich«, flüsterte Maisyn, »in dem sich Gerechtigkeit und Herrschaft nicht ausschließen. Und dann der Junge: Prachtvoll fotografiert!« Er lachte leise, er liebte seinen Beruf, ja, manchmal ruhte er ganz und gar in sich selbst und liebte, was er tat.

Der Ruf in immer neue, fremde Städte führte ihn oft in Sackgassen und er machte unentwegt Fehler um Fehler. Aber nun: Die Sache gedieh! Er würde erfolgreich sein und er würde – zurückkehren. Zwei Dinge musste er nun tun: »Ich muss herausfinden«, redete er sich selbst gut zu, »wo Oberezbach liegt und Vladimir fragen, wie weit es noch hin ist bis zum ersten Mai.«

 


3 Titanwurz und Kaffee

 

 

Vladimir würde ihm nicht nur mit dem ersten Mai weiter helfen, er wüsste vielleicht auch, wo Cordelia sich versteckte. Maisyn machte sich auf den Weg ins Sei gegrüßt, Fremder, das Café mit dem täglichen, großen Frühstücksbuffet bis vierzehn Uhr.

Er war nicht wirklich sicher, was Cordelia betraf. War es ein Verlust, dass sie verschwunden war? Oder eine Gnade? Er durfte die Entscheidung nicht übereilen. Er hatte lange nach ihr gesucht.

Rubrik: Hybride. Gottesform: monotheistisch-jenseitsgläubig. Der Glaube an ein Leben danach schien eine wertvolle Hilfe zu sein. Fortpflanzungserfolg: zwei Kinder. (Beide Mädchen!)

Sie hatten bis zum heutigen Tag so schöne, vielversprechende Nachmittage gehabt!

»Was möchtest du heute tun?«, hatte er sie vor einigen Tagen gefragt und sich noch weiter vorgewagt: »Es muss hier eine Art Museum für Blumen geben, ich habe gehört, wie Leute darüber gesprochen haben.«

Diese mit allem gesegneten Menschen! Auf dem stinkenden Haufen Müll, auf dem sie lebten, wuchsen wie bunte Schimmelpilze die großartigsten Dinge. Museen zum Beispiel. Er hatte gehört, es sei unmöglich, im Laufe eines Menschenlebens jedes existierende Museum zu besuchen. Unfassbar! Allerdings gab es Unterschiede. Gravierende. Es gab welche, in denen wurde Unerhörtes gezeigt. Die Mutter mit dem Kind. Immer wieder die Mutter mit dem Kind. Als wüssten sie es bereits. Andererseits gab es zusammengeklebten Müll, nicht anders als der, der sowieso auf den Straßen lag. Und Badewannen, wie sie in jedem Haus zu finden waren. Ab und zu wurden sie geputzt.

»Meinst du den Botanischen Garten?«, hatte Cordelia geantwortet.

»Einen Garten? Ich weiß nicht. Ich möchte die Titanwurz blühen sehen.«

»So!« Sie hatte sich damals sehr gefreut. »Du möchtest die Titanwurz blühen sehen!« Lachend war sie mit ihm, auf seinen Wunsch hin zu Fuß, zum Botanischen Garten gegangen. Und tatsächlich: Er hatte ihre Knospe gesehen! Der purpurfarbene Gigant maß fast drei Meter, und während Maisyn eine Stunde lang um die ihm so bekannte und geliebte Pflanze herumgelaufen war, hatte Cordelia ihn fester in ihr Herz geschlossen.

Bei ihren anderen Treffen hatte sie Kaffee trinken wollen und er hatte sie ins Sei gegrüßt, Fremder gebracht. Das war etwas, hatte er gelernt, was alle mittelmäßigen Frauen unbedingt von ihm wollten, und was er verabscheute: Kaffee. Aber er hatte gelernt zu tun, was nötig war. Er hatte begonnen, seinen empfindlichen Körper an das Gebräu zu gewöhnen, Kaffee mit den Frauen zu trinken und sich dabei an ihrer Mittelmäßigkeit zu ergötzen. Er trank von nun an Kaffee aus Kännchen und Tasse, Milchkaffee aus handgroßen, runden Wannen und übergab sich regelmäßig nach einer Portion Kaffee mit Schuss. Der Schuss schmeckte nach Gift. Er musste Kaffee à la Mocca trinken, der in vorgewärmten Kannen serviert und in winzige Tassen gefüllt wurde. Im Schwarz schwammen dann Kaffeekrümel, in seinem Mund nachher auch. Er lernte marokkanischen Kaffee kennen und Kaffee mit Kokosgeschmack. Kaffee mit Schaum und kalten Kaffee. Es war furchtbar.

Aber bei einem dieser Kaffees hatte Cordelia begonnen, zu sprechen. Sie redete über die Emanzipation von Konsum, über Selbstbestimmtheit und wie süß er, Maisyn, neben der Titanwurz ausgesehen hatte.

»Wenn du mehr Titanwurz sehen willst«, hatte er angefangen.

»Das ist wirklich nicht nötig, Maisyn«, hatte sie gesagt, aber dabei hatte sie gelacht.

Sie wollte etwas Neues, etwas Eigenes, etwas erreichen, erzählte sie und wollte wissen, ob er ihr helfen könne.

Das hätte er gern getan! Doch nun war sein Werben womöglich vergeblich gewesen.

Nun, es hatte verschiedene Pannen gegeben in letzter Zeit. Zum einen war es hier und jetzt schwierig, eine mittelmäßige Frau zu finden. Es gab einige untrügliche Hinweise. Kaffee. Kinder. Dieser besondere Blick. Der Nimm-mich-mit-Blick. Was dann kam, war seinem Instinkt überlassen. Manche Frauen hatten beim Abfragen zu vieler Details beim ersten Treffen mehr als abweisend reagiert. Er war deshalb dazu übergegangen, ihnen seine Zeit zu schenken. Zeit war immerhin kein Problem. Und das schien ihnen zu gefallen: »Lass dir Zeit …«, sagte er zu ihnen. Jedes Mal wieder.

Was Cordelia betraf, sie schien nicht bereit zu sein, ihm ohne ihre Kinder zu folgen. Manchmal schien es, als hinge sie sogar an ihrem Mann. Ihre Tränen hatten es bewiesen, als sie ihm anvertraut hatte, dass er ihre Freundin geschwängert hatte. Maisyn gab dazu keinen Kommentar ab, aber er beneidete den Mann. Es war umsonst, was er getan hatte, aber er hatte es versucht. Er hatte es eben nicht besser gewusst.

Andere Frauen vor Cordelia hatten es kategorisch ausgeschlossen, ohne ihre Kinder zu gehen, was Maisyn rätselhaft fand. Er konnte diese Laune nicht deuten. Niemand konnte doch vorhersagen, ob diese Kinder das gesunde Maß an Durchschnittlichkeit und Mittelmäßigkeit entwickeln würden, wie ihre aufgrund dessen eigens ausgesuchten Mütter. Es war menschenkundlich betrachtet wahrscheinlich, dass ein unerwartetes, besonderes Erlebnis im Kindesalter, vielleicht verbunden mit einem Schockzustand, nicht zu einer Entwicklung zur Mittelmäßigkeit beitrug. Eins komma sechs Kinder geboren zu haben war aber nun einmal das Merkmal einer Mittelmäßigen. Und ihre Annahme, besser gesagt, ihr bedingungsloser Glaube daran, das Beste für ihre Kinder seien unter Ausschluss von Alternativen sie selbst, die Mütter, gehörte ebenfalls zum Wesenszug der mittelmäßigen Frau. Ein Paradoxon, das er seiner Suchmaske unlängst beigefügt hatte. »Wohin mit diesen so bedingungslos geliebten Kindern?«, rätselte er und traf auf dem Weg ins Café auf ein unerwartetes Hindernis.

Er war sich der Uhrzeit, nach der sich hier von der Jagdzeit der Füchse bis zum Öffnen und Schließen der Läden und Restaurants alles richtete, nie sicher. Deshalb war er nur langsam den bekannten Weg zum Sei gegrüßt, Fremder geschlendert, um ein wenig Zeit verstreichen zu lassen. Was Vladimirs Café anging, das er regelmäßig besuchte, hatte er sich sofort gefragt, ob nur ein Zufall die Namensgebung bestimmt hatte. Der Inhalt des Buffets, neben allerlei beinah Ungenießbarem doch offensichtlich beherrscht von ungezuckerten Früchten, frisch, und nicht mit Konservierungsstoffen behandeltem Brot, ließ ihn allerdings annehmen, dass jemand dort einen Stützpunkt errichtet hatte. Ob derjenige allerdings noch da war, blieb ihm verborgen.

Maisyn blieb entsetzt stehen, als er bemerkte, dass sich der Weg zum Eingang des Cafés verändert hatte, beinahe blind war er in etwas hinein gestolpert, das er hassen gelernt hatte, das man Markt nannte. Markt war etwas, das ohne Muster immer und beinahe überall auftauchen konnte. Unberechenbar. Wie ein Pilz. Aber ein großer und von Menschen betriebener Pilz. Ein Pilz mit Musik. Bis zur Ohnmacht hatte ihn der Gestank der Käsetheke beim ersten Mal getrieben und sein Kontakt mit dem Notarzt hatte ihn in äußerste Bedrängnis gebracht.

Schnell verstopfte er sich jetzt die Nasenlöcher mit frischem Mull, den er vorsorglich immer bei sich trug, und beschleunigte den Schritt.

Blumen, Obst, die so begehrten synthetischen Huhneier, die raren, kostbaren XXL-Huhneier, die Enteneier, die eigentlich nicht existieren sollten, Milch, Fisch, KÄSE.

Dies, die Farbe und die Geschwindigkeit der arbeitenden, schreienden, hin und her rennenden Menschen, die pure Masse der Leute, machten ihn schwindelig. Es war eine irre Raserei immer herum um diesen plötzlich aufgetauchten Markt, der nur für ein paar Stunden lebendig sein sollte.

H’Thüsos Maisyn war sicher, dass das Marktwesen sterben würde, nach einer gewissen Zeit, denn er hatte nun mehrere davon gesehen und sie alle überlebt.

Jetzt aber rannten Menschen um ihn herum und ließen sich dann hineinsaugen, nicht wissend, ob und wie sie jemals wieder herausfinden sollten. Und ob sie noch dieselben wären, wenn es ihnen gelänge. Einmal darin, rafften sie stinkende Waren an sich, schrien und näherten sich Lautsprechern und Maschinen, die künstliche Düfte ausstießen.

Es gab Mittel und Wege, sich vor all dem zu schützen, aber diese Menschen auf ihren Plätzen schienen nicht danach Ausschau zu halten, sie ließen sich beinahe freudig oder mit heiterem Ernst, mit einer gewissen Wichtigkeit in ihrem Ausdruck in das hineintreiben, was der Fremde so fürchtete. Die Menge. Das Gewühl. Die Masse, ein Getümmel und Gewimmel von Menschen, Essensüberangebot, dessen einzelne Bestandteile nicht zusammenzupassen schienen, und das niemals aufgegessen werden konnte, oder doch? Und Maisyn inmitten all des Geschreis und der Stänkerei, Ausdünstung, Absonderung der Käsesorten, die doch nicht natürlich sein konnten, nicht wohlmeinend und nicht menschenwürdig. Im Inneren angekommen, auf halber Strecke zum Ziel, umgab ihn sofort Musik und heiß herausgeblasene Luft, die Würstchen und Kakao versprach, wo keines davon zu sehen war. Und ganz anders schmecken würde, als vom Duft angekündigt.

Vor dem Café angekommen, blies er die verseuchte Luft aus den Lungen und schlüpfte erleichtert durch die angelehnte Tür. Dankbar trat er ins heilsame Dunkel des Sei gegrüßt, Fremder, wo ihn Vladimir empfing.

»Bist du es, H’Thüsos?«, rief seine Stimme ihn willkommen.

Oh, Gefühl der Heimat! Dies war der Ort, an dem er, wenn er auch nicht hier wohnte, sich nicht statisch seinen Aufenthalt dort gewählt hatte, seine wirksame Zugehörigkeit doch deutlich spürte.

»Ja! Ja, Vladimir!« Wie viel Glück lag in seiner Antwort. Ja, er war es, hier und jetzt, und er war glücklich. Hier würde er bleiben, bis Cordelia ihn fand. Tage, Nächte, Jahre. Wann, ob und wohin sie kommen würde, hatte mit der Schicht ihres Mannes zu tun, mit der Uhrzeit, der Reihenfolge von Feiertagen und anderen nebulösen Umständen.

Alle Tische waren noch frei, die verbotenen Wachskerzen noch nicht angesteckt, der lange Buffettisch in der Mitte des halbrunden Raumes noch nicht befüllt.

»Welcher Tisch, H’Thüsos?«, lächelte Vladimir gutmütig. Er lud ihn mit einer Handbewegung ein, weiter hinein in den ansonsten menschenleeren Raum zu kommen. H’Thüsos blickte vertrauensvoll in das volle, unrasierte Gesicht des Mannes, der hier sein Beschützer war. Die Stoffbahnen schlossen sich, der schwere Samtvorhang schleifte mit dicken Troddeln hinter ihm über den Boden. Es roch nach altem Rauch, der sich seit Jahrzehnten hier verfangen hatte, nach Zigaretten und Räucherstäbchen und Hasch.

»Ich suche einen Tisch für zwei, allerdings weiß ich nicht, ob sie heute schon kommen wird.«

»Die dunkle Schöne?« Vladimir lachte wissend und gab ihm einen Tisch seitlich vom Fenster, vor einem großen, alten Spiegel, der die Bilder aus einem kleineren Spiegel auf der gegenüberliegenden Wand auffing. Je nachdem, wohin Maisyn blickte, konnte er in den vielen Spiegeln bis in jede Ecke des Raumes sehen. Er beobachtete die Ecke mit den roten Sesseln, die auf einem breiten Podest ruhten und auf Gäste warteten, die auch heute sicher kommen würden.

Den Rest des Morgens verbrachte Maisyn mit dem Lesen von statistischem Material, das er aus verschiedenen Zeitschriften für Wissenschaftler, Politiker, Sportler und Gebärfreudigen herausfischte. Sein Drittes Auge huschte über Berge von Zeitungsartikeln. Ab und zu brummte er überrascht. Die Arbeit schien ihn nicht zu ermüden und er ließ nicht locker. Alles war wichtig, jedes Ding hatte seine Bedeutung. Und es gab hier tatsächlich eine Spur zu einem seiner wichtigsten Forschungsthemen: Die Lebensdauer des Menschen. Er suchte nach Alten. Als Geschichtsschreiber wollte er alle relevanten Texte zum Thema zusammenfassen, bevor er weiter reiste. Er hatte bereits einige griechische Abhandlungen entschlüsselt und Stammestafeln aus der sogenannten Urzeit. Nun, diese willkürlichen Zeiteinteilungen ließen ihn lächeln. Zahlen waren ihm lieber.

Er hatte unlängst die Altersangaben in der Bibel gelesen und verglich diese nun mit den neuen Daten, auf die er gestoßen war. Es war lange kein zweihundertvierzig Jahre alter Mensch mehr aufgetaucht. Oder ein hundertzwanzig Jahre alter. Das war doch recht aufschlussreich. Aus verständlichen Gründen war er mit dem geschriebenen Wort etwas vorsichtig, die ganze Übersetzerei tat ihr Übriges. Glücklicherweise war er nicht darauf angewiesen. Er reiste selbst!

 

1963 hatte er Shirali Mushimov aus Aserbaidschan getroffen, der seinen hundertachtundfünfzigsten Geburtstag feierte. Shirali hatte damals dreiundzwanzig Kinder gehabt und natürlich noch mehr Enkel und Urenkel. Dieser enteilende Punkt in der Weite der Zeit, den H'Thüsos Maisyn berührt hatte, hätte beinahe heldenmäßig mit dem Blut eines Einzelnen, gewaltsam für die Sache der Gemeinschaft geopfert, bezahlt werden müssen. Denn H'Thüsos Maisyn war damals bei seiner Begegnung mit Shirali Mushimov entdeckt und fast gelyncht worden.

Ein Held war er dennoch nicht und war es nie gewesen, ein solcher gebärdet sich und stirbt letztlich wie ein solcher, und das stand einem wie Maisyn nicht zu. Die Gelehrten, die ihn ausgesandt hatten, stritten noch immer darüber, ob die Historiker, die sich zahlreichen Gefahren aussetzten, nicht auch eine Art Heldentum in sich trugen, ähnlich dem der Frauen.

Doch Maisyn, der nun die Füße vom dunkel gebeizten Fischgrätparkett hob, damit sein Freund und Cafébesitzer unter seinem Tisch auffegen konnte, hatte sich nicht heldenmäßig gebärdet, sondern war vor dem Clan des Shirali geflohen und hatte keine Lanze und kein Schwert in die Höhe gehalten. Augenblicks war er von der Bildfläche verschwunden, hatte sich zurückgezogen und sich und sein Material gerettet. In dieser Reihenfolge.

Und das hatte ihn zum Antihelden gemacht, zum einfachen Menschen.

 

1986 war er dann bei dem Tod von Shijechio Izmuij zugegen gewesen, dieser hatte hundertzwanzig Jahre, sieben Monate und dreiundzwanzig Tage gelebt. Dieser Fall wurde allgemein etwas bekannter.

Später war Maisyn das Verzeichnis der Freien Forschergemeinde in die Hände gefallen, die unabhängig von Regierungen und fächerübergreifend die Geschichte der ältesten Menschen weltweit und aller Zeiten registrierte. Sie untersuchten sogenannte unbelegte Fälle.

Die Auswertung der statistischen Auffälligkeiten, Links und Literaturhinweise, Enzyklopädieeinträge und Geschichtsbücher, die herangezogen wurden, faszinierte Maisyn. Die Abschriften der Geburts- und Sterbeurkunden und die seitenlangen Tabellen, die sich mit den blassen Fotografien abwechselten, hatten ihn gleichermaßen berührt und überzeugt. Das Wort Authentizität wiederholte sich in jedem Kapitel der Abhandlung und hatte sich ihm eingebrannt.

Lange hatte er auf seinen verschiedenen Reisen Gräber betrachtet, die oft schon von den Spuren der Zeit überlagert und mit den Insignien neuen Lebens überbaut worden waren. »Unter diesem Supermarkt ruhen die Überreste des Marius Carmus«, hatte ihm ein Mitglied der freien Forschergemeinde erklärt und ihn zum Eingang eines der ersten SB-Märkte geführt.

»Carmus«, hatte der kleine, innerlich bewegte Mann Maisyn damals ehrfürchtig erzählt, »ist ein unbelegter Fall hohen Alters, begraben unter den Trümmern seines einstürzenden Hauses, das er in letzten dreißig Jahren seines Lebens nicht verlassen wollte.«

Maisyn hatte dem Kleinen geglaubt und er war aus Pietätsgründen niemals in dem SB-Markt einkaufen gegangen.

Wehmütig erinnerte er sich nun an Carmus’ Geschichte, die sich weit entfernt und vor langer Zeit zugetragen hatte: Geboren wurde Carmus 1880 in Spanien. Im Alter von zehn Jahren wanderte er mit seinen Eltern nach Amerika aus, er wurde dort reich und verarmte im Alter wieder. Er verlor all sein Geld, seine Familie starb, und ohne dass eine Geburtsurkunde seine Existenz beglaubigte, war von ihm nur noch bekannt, dass er im ersten Drittel des einundzwanzigsten Jahrhunderts immer noch lebte. Er lebte, um gegen den Bau des genannten Supermarktes zu protestieren, denn er wollte sein Haus, das seine Eltern mit eigenen Händen gebaut hatten, nicht verlassen. Eines Nachts war es bis in den Keller hinein eingestürzt und hatte ihn unter sich begraben. Die Behörden bezweifelten seine Geschichte, man hatte das Haus längst für unbewohnbar erklärt und das Grundstück, das dem Staat zugefallen war, wurde planiert, ohne dass nach Carmus’ Überresten gesucht wurde.

Maisyn hatte festgestellt, dass Frauen durchweg älter wurden als die ältesten Männer und er wusste, dies war ihr Schicksal im glücklichen Europa in den Zeiten, in denen es aufblühte und bevor es erlosch.

Die Insel der Jugend fand er nicht. Was hätte so eine Entdeckung … ach, was hätte sie bedeutet! Er lächelte. Shangri-La!

Und jemand im Sei gegrüßt, Fremder, der nicht gemeint war, lächelte zurück.

So ist das Leben.

Nichts ist umsonst.

Alles fließt.

Nun, was die Alten, die auf Izumij, Mushimov und ihre Zeitgenossen folgten, anging: Tatsache war, nicht die mit der Zeit in Fetzen gerissene Ozonschicht, kaum noch ultraviolette Strahlung absorbierend, hatte das Leben der Frauen und Männer so lange geschützt. Die gefährliche Sonne hatte Männer und Frauen erreicht, doch sie hatten ihr getrotzt.

Die Sonne würde mit ihrem ultravioletten Licht irgendwann alles Plankton im Meer zerstören. Nur wenige Menschen würde sie leben lassen, fünfzig, hundert, hundertzwanzig Jahre lang.

Nach ihnen suchte Maisyn.

Was er heute in den ausgelegten Zeitungen fand, war die Werbung für fluorchlorkohlenwasserstofffreie Spraydosen und sich selbst auflösende Kühlschränke. »Zu spät, viel zu spät«, wusste er.

Über ihm surrte eine Klimaanlage. Er blätterte weiter. Regen, der tötete, wenn er mit Giftstoffen vermischt auf Korn traf, das auf Böden wuchs, die von altem Dünger troffen.

Schwefel und Salpetersäure fielen vom Himmel.

Bäume und Steine lösten sich auf.

Es gab neue Hightechhütchenmode für Kinder, ein Schutz vor Hautkrebs.

Übergangslösungen.

H’Thüsos Maisyn aß nun die ersten Früchte. Er hatte den Preis für das Frühstücksmenü All you can eat entrichtet und presste sich mit der bereitstehenden manuellen Presse verschiedene Säfte.

Mit Tees hatte er Pech gehabt, einige waren köstlich gewesen, andere hatten ihn unnatürlich aufgeputscht.

Allerdings war er in dieser Hinsicht empfindlich.

 


4 Das Mädchen

 

 

Inzwischen beobachtete er seit Stunden, vor Langeweile beinahe paralysiert, das immer gleiche Geschehen im Raum. Es hatte lange aufgehört, ihn zu beruhigen, als ihm ein braunhaariges Mädchen in den Blickpunkt geriet. Ihr Haar trug sie ungewöhnlich lang für eine Hier-und-jetzt. Sie sah ebenfalls etwas gelangweilt aus und hatte vor einiger Zeit an ihrem Tisch einen blassen, schlanken Jungen begrüßt.

›Zweifellos will er noch in dieser Dekade mit ihr Kinder zeugen‹, dachte Maisyn, ›zumindest wird er es versuchen.‹

Die Braunhaarige bot dem Jungen die Wange, ließ sich küssen, lächelte kaum und begann ein Gespräch über Wahlergebnisse, Prüfungen und Ferien.

Selbst nachdem der junge Mann, eigentlich noch ein Junge, auf alles eingegangen war, ihr scheinbar gleich oft nach dem Mund geredet und ihr widersprochen hatte, wurde ihr Blick nicht milder.

Maisyns Schuhe scharrten über das Bodenholz. Sie machte ihn nervös. Er beobachtete, wie sie, die er so genau studierte, mit verkniffenen Lippen in einen der Spiegel schaute und hatte das Gefühl, dass sie ihren Blick auf ihn richtete.

Doch sie betrachtete nicht ihn, sondern sich selbst.

›Vielleicht ist es ihr unerträglich‹, dachte er, ›nicht schön, aber fast schön zu sein. Ohne auch jemals unwiderstehlich werden zu können. Ohne die Möglichkeit, ihren jetzigen Zustand noch sehr viel länger aufrechterhalten zu können.‹ Er verstand ihre Ungeduld. Womöglich schmiss sie sich dem Jungen mit zusammengepressten Lippen noch heute Nacht entgegen, um wenigsten ihn glücklich zu machen.

 

Der Fremde sah die Welt in völlig falschem Licht. In von Abgasen und Rauch und Kohlenmonoxid verdunkeltem Licht, wie er sehr gut selber wusste. Und er hatte in den Anzeigen für Schönheitszauber jeder Art nicht das erkannt, was jeder sonst wusste: Die abgebildeten Frauen zeigten keinen Makel, der zum Kauf der Wasser, Pasten und Schäume anregen sollten. Gerade ihre Makellosigkeit und Schönheit sollten die Bilder preisen. Und das Mädchen sah aus wie eins dieser Wesen aus der Zeitung. Vielleicht etwas lebendiger.

Doch wer sollte ihm das erklären? Maisyn suchte in den Gesichtern der Hier-und-jetzt-Frauenbilder, unter den schattigen Busen, im Haar, zwischen endlos langen und glatten Beinen, zwischen den Brauen und der Form der Lippen nach Fehlern. Und wer sucht, der findet, nach diesem Prinzip war er über lange Zeit hier hergekommen.

Das Mädchen glich diesen in seinen Augen unvollkommenen Frauen, die diverse Mittel benötigten, um ihrer Gestalt eine andere Farbe, einen anderen Duft oder andere Formen zu geben, so sehr, dass er sie verschmähte. Andererseits hob sie sich von ihnen ab, und wenn sie sich im Spiegel nach vorne beugte, war sie fast schön. Er konnte unmöglich die Farbe ihrer Augen bestimmen, hoffte aber für einen kurzen Moment, dass sie blaue Augen hätte, ein Blau, das er hier und jetzt nicht oft genug sehen konnte, das ihn immer entzücken würde.

Seine eigenen Augen waren natürlich-braun, ein helles Braun. Auch seine Haut war braun, hellbraun, mit dunkler Behaarung, fast überall, nur nicht im kahl rasierten Gesicht. Er nahm die Barbarei der Rasur täglich auf sich, damit er nicht bei seiner Wiederkehr zu Hause wie andere Historikerkollegen das völlige Fehlen der Gesichtshaare auf immer bereuen müsste. Natürlich hätte es eine kurze, schmerzhafte, ewige Lösung gegeben und es gab in seinem Leben keine Frau, die ihn sehnsuchtsvoll angeschrien hätte, aus dem Dämmer gerissen, um ihn anzuflehen, es nicht zu tun, »nicht, nicht!« – trotzdem hatte er verzichtet.

Vielleicht würde es nie eine solche Frau für ihn geben? Kurz durchfuhr ihn dieser Gedanke. Diese Möglichkeit war immer gegenwärtig. Er war noch längst nicht vorne in der Reihe der Erwählten!

Aber wenn er zurückkehrte und seine Ergebnisse präsentierte, womöglich die Eine, die perfekte Mittelmäßige mitbrächte, das würde ihn doch wohl in der Warteliste nach vorne katapultieren? Oder nicht?

Wieder spürte er den Blick im Spiegel, auf ihn gerichtet. Er starrte, gebannt von diesem selbstsüchtigen Gedanken, auf seine Hände. Sie waren ineinander verkrallt. Seine Hände waren von Anfang an ungewöhnlich zart behaart gewesen, kaum sichtbar das dunkle Haar, dünn, kurz und weich, sodass es hier nichts zu korrigieren gegeben hatte.

Er sah an sich herab. Ein Baumwollhemd mit langem Arm, grau, ein breiter Gürtel, braun, eine Jeans. Feste, klobige Schuhe. Niemand beachtete ihn in diesem Aufzug. Er versuchte, sich zu beruhigen. Nein, keiner achtete auf ihn, T’Hüsos Maisyn.

Allerdings, und das würde er zum Unterthema in seinem Ankunftsvortrag machen, in keiner wie auch immer gearteten Kleidung hätte man ihn mehr beachtet.

So war das hier.

Und jetzt.

 

Er starrte das Mädchen an, abwechselnd direkt und über den Umweg der Spiegel. Achtete auf die Bewegungen ihrer Schultern. Ihr Körper lag unter tiefrotem Stoff verborgen: ein Rot, das keinerlei zweite Bedeutung hatte als eben Rot.

Diese Glücklichen! Naiven! Unwissenden.

Oder waren sie Halbwissende, Ahnende, halb bewusst Verstehende? Zu oft hatte er dieses Rot gesehen, bei anderen, gehütet, seltener als hier.

Er machte dem langhaarigen Mädchen keinen Vorwurf, sie meinte es nicht böse. Er beneidete sie. Rot.

Das Mädchen bestellte mehr Kaffee. Wahrscheinlich wollte sie in den kommenden Nächten auf Schlaf ganz verzichten.

Maisyn versuchte, ihr zuzuhören. Der Junge sprach von Arbeit, die getan werden musste und sie hörte ihm jetzt zu.

 


5 Falsche Hoffnung

 

 

Dann endlich kam Cordelia. Wie sehnsüchtig hatte er auf sie gewartet!

Sie setzte sich ihm gegenüber, grußlos, stumm wie eine Ehebrecherin rückte sie den Stuhl vor dem Spiegel zurecht, dem sie ihren Rücken zuwandte, und sah sich erst dann hastig im Raum nach bekannten Gesichtern um.

»Du konntest ohne die Kinder kommen?«, leitete er höflich die letzte Fragestunde ein.

Sie nickte.

»Geht es dir gut dabei?«

Sie sah ihn misstrauisch an. Er war so eigenartig wie immer. Er war nicht zur verabredeten Zeit am Treffpunkt gewesen, auf gut Glück war sie ins Café gekommen.

Etwas war verloren gegangen zwischen ihnen. Sie lächelte nicht.

»H’Thüsos Maisyn, du hast gesagt, egal wie viel Zeit du mir schenkst – so hast du dich ausgedrückt –, ich müsste am Ende nicht Ja sagen.«

»Richtig.« Die einzig mögliche Antwort. Müdigkeit dämpfte sein Bewusstsein. Er hatte immer ein schlechtes Gefühl bei ihr gehabt. Sie würde es nicht tun. Sie würde bleiben. Dazu hatte sie jedes Recht. Er hatte sie um das Geschenk gebeten, sie war so gnädig gewesen, darüber nachzudenken, hatte aus dem übervollen Kelch seiner Zeit getrunken, schnell, durstig, und würde heute ablehnen.

»Cordelia –«

»H’Thüsos Maisyn, ich möchte wissen, was jetzt passiert!«

Er sah sie fassungslos an. Dann brachte er hervor: »Das weiß ich nicht!« Wie konnte sie nach all den Gesprächen, tief und wahr, zweier Wissenschaftler würdig, so etwas fragen? Sie kränkte ihn, indem sie ihm eine der wenigen Fragen stellte, auf die er ebenso wenig wie sie eine Antwort wissen konnte. Ärgerlich sah er sie an.

»Ich frage mich –« Sie sah ängstlich an ihm vorbei zu Boden.

Seine Arbeit hier war getan und so schweifte sein Blick ab, in den Spiegel. Er sah darin immer noch das rot gekleidete Mädchen, eigentlich eine Frau, und den Jungen ihr gegenüber, dessen Gesicht er nur würde sehen können, wenn er sich jetzt selbst etwas wegdrehte. Aber das wäre extrem unhöflich gewesen.

Die Aboriginemusik klang aus, Cordelia nahm ihren Mut zusammen und fragte: »… wirst du mich jetzt töten?« Sie sprach laut und deutlich, ihre Worte klangen im Raum, wie mit Absicht etwas zu laut und er hatte das Gefühl, einige Leute drehten sich zwar nicht nach ihm um, hatten ihn aber auf die eine oder andere Art gut im Blick.

»Oder kann ich hier rausgehen? Für immer? Einfach so?« Cordelia sah ihm ängstlich in die braunen Augen.

Hatte ihn die rot gekleidete junge Frau jetzt ebenfalls angesehen? Er wagte es nicht, ihren Blick im Spiegel zu suchen, nicht jetzt.

»Cordelia! Was fragst du mich da? Ob ich dich töte? Wozu?«

Diese Rückfrage schien die junge spanischstämmige Deutsche nicht im Mindesten zu beruhigen. Ihr Gesicht war blutleer, ihre Finger waren ineinander verschränkt und sie führte ihre sicherlich kalten Hände vom Tisch zum Schoß und zurück.

Oh, ihr Schoß! Der Anblick weckte Begierde in ihm und kurz seufzte der Fremde unbeherrscht auf, um sich dann aber sofort auf seine Mission zu besinnen. Dieser Schoß war nicht für ihn bestimmt, egal ob Cordelia ihm nun folgte oder nicht!