Michael Haitel (Hrsg.)

Das Kreuz der Mlteser

Story Center

 

 

AndroSF 59

 


Michael Haitel (Hrsg.)

DAS KREUZ DER MLTESER

Story Center

 

AndroSF 59

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

© dieser Ausgabe: Februar 2017 p.machinery Michael Haitel

 

Titelbild: Uli Bendick

Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda, Xlendi

Lektorat: Michael Haitel

Herstellung: global:epropaganda, Xlendi

 

Verlag: p.machinery Michael Haitel

Ammergauer Str. 11, 82418 Murnau am Staffelsee

www.pmachinery.de

für den Science Fiction Club Deutschland e. V., www.sfcd.eu

 

ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 082 5

 


Vorwrt

 

 

Als ich 1994 das erste Mal Malta besuchen durfte, geschah es – es war Liebe auf den ersten Blick. Der kleine Inselarchipel mit einer Landfläche, die etwa dem Landkreis München entspricht, mit gut vierhunderttausend Einwohnern, mit Englisch als Amtssprache – nebst Malti, der einzigen auf dem Phönizischen basierenden Sprache, die heute mit lateinischen Schriftzeichen geschrieben wird –, mit Linksverkehr und einer deutlich von arabischen und italienischen Einflüssen beeinflussten Küche, fasziniert jeden Europäer, der sich von vielfältiger Kultur beeindrucken lässt: Neben den ältesten Megalithbauten Europas beanspruchen arabische und italienische Architektureinflüsse ebenso die Aufmerksamkeit des Besuchers, wie die historischen Hinterlassenschaften des Malteser Ritterordens.

Es war für mich zwangsläufig, irgendwann ein Kurzgeschichtenprojekt ins Leben zu rufen, das irgendetwas mit Malta oder den Maltesern zu tun hat. Die Aufgabe für die Autoren sah demzufolge so aus:

 

Die Johanniter oder Malteser, vollständig »The Sovereign Military Hospitaller Order of Saint John of Jerusalem of Rhodes and of Malta«, ist ein Ritterorden und ein souveränes Völkerrechtssubjekt, ein Staat ohne Territorium. Seinen Sitz hat der Ritterorden in Rom; er unterhält zu zahlreichen Staaten der Erde diplomatische Beziehungen.

Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts waren die Johanniter von vielfältigen geschichtsträchtigen Ereignissen umgeben. 1099 waren sie an der Eroberung Jerusalems beteiligt. 1522 wurden sie von den Osmanen von Rhodos vertrieben. 1530 siedelten sie sich auf Malta an. 1565 besiegten sie die Osmanen in der Großen Belagerung (Great Siege). 1798 musste der einzige deutsche Großmeister, Ferdinand von Hompesch, gegenüber Napoleon Bonaparte kapitulieren und Malta mit seinen Rittern verlassen.

Vor allem in der Zeit nach 1565 wurden die Johanniterritter als Retter Europas betrachtet. Die Große Belagerung Maltas galt als einer der Wendepunkte in der Geschichte der Eroberung Europas durch die Osmanen.

 

Ein beliebiges geschichtliches Ereignis – auch über die o. g. Beispiele hinaus gehend –, das mit den Johanniterrittern in Zusammenhang steht, sollte den Ausgangspunkt einer Parallelweltgeschichte bilden, in der die Geschichte durch eine Änderung im Ablauf des Ereignisses einen anderen Verlauf genommen hat. Dabei sollte es darum gehen, dass die Johanniterritter eine andere Rolle spielen, als sie in unserer Realität gespielt haben.

Was hätte sich anders entwickelt, wenn die Johanniter in Palästina geblieben wären? Was, wenn sie Rhodos gehalten hätten? Und was, wenn von Hompesch nicht hätte kapitulieren müssen?

 

Wichtig war, dass die Geschichten bzgl. ihrer realhistorischen Grundlagen gut recherchiert sein sollten. Ein einfaches Buch über die Geschichte der Johanniter reicht aus, um den »Kristallisationspunkt« – das geschichtliche Ereignis – herauszufinden und auszuwählen. Die Handlung der Geschichte sollte im 20. Jahrhundert oder später spielen. Die Johanniterritter sollten eine (größere) Rolle in Politik und Gesellschaft spielen, als sie es heute tatsächlich tun (oder zu tun scheinen).

 

Zwölf Autoren haben die Herausforderung angenommen und haben dieser als »Story Center« geplanten Anthologie mit ihrer Geschichte zur Entstehung verholfen.

 

Michael Haitel

Murnau am Staffelsee

Februar 2017

 


Ann Eichinger: Memory

 

 

»So, so!« Michel de la Croix schüttelte den Kopf, als er Aouni von oben bis unten musterte. »Du warst es also wieder einmal nicht!«

»Ich habe das Fenster nicht eingeschlagen!« Stur starrte der Junge auf seine Zehenspitzen und konnte es immer noch nicht glauben, dass er schon wieder vor dem Vizerektor stand.

»Absichtlich eingeworfen! Nicht eingeschlagen!«, übertönte der Bass von de la Croix den dröhnenden Herzschlag des Jungen. »Drei Steine lagen im Zimmer des Rektors! Einer hätte ja noch als Missgeschick gelten können. Aber drei? Zusätzlich, und dies wiegt am schwersten, wurdest du von zwei Zeugen gesehen.«

Aouni zuckte zusammen. Er wusste, was jetzt kommen würde. Die Ausweglosigkeit seiner Situation drückte ihn schwerer als jede Strafe, die folgen würde.

»Jean und Gustave haben dich gesehen. Auch wenn ich dir gerne glauben würde, Junge! Aber dieses Mal muss ich eine Strafe verhängen. Zwei Stimmen gegen eine. Es tut mir leid, aber du darfst die nächsten drei Wochen in der Küche helfen. Und wenn du irgendwelche Schwierigkeiten hast, dann komm bitte vorher zu mir und sprich mit mir darüber! Verstanden?«

Aouni nickte und blickte das erste Mal in die Augen des Vizerektors.

»Abtreten!« Michel de la Croix winkte den Jungen zur Tür hinaus. Bevor er noch die Türklinke hinunterdrücken konnte, erinnerten ihn die Worte des Vizerektors, warum er immer noch an der Schule weilte und nicht schon längst hinausgeflogen war.

»Nächste Woche kommt unser hochgeschätzter Chevalier Ronoir auf Besuch. Vielleicht willst du ja mit ihm reden?«

Beide wussten, dass dem nicht so war. Doch Aouni blieb nichts anderes übrig, als wieder zu nicken.

»Merci, Monsieur!«, und so schnell er nur konnte, flüchtete er aus dem Büro des Vizerektors.

Es war das erste Mal in einer scheinbar endlosen Reihe, dass er den Weg zur Küche ging. Das höhnische Gelächter von Jean und Gustave begleitete ihn.

»Jetzt gehst du zurück an den Platz, an den du gehörst, Tellerwäscher!«

»Bleib dort, du gehörst nicht in unsere Reihen, sonst lassen wir uns noch einmal etwas einfallen!«

Aouni sah sich hoffnungsvoll um, doch niemand war in der Nähe, der die Worte der beiden bezeugen konnte. So gab er vor, unberührt von dem Gelächter und dem Spott zu sein.

Er öffnete die Tür im Untergeschoss und blieb wie angewurzelt stehen. Er war noch nie in der Küche gewesen und so starrte er auf die vielen Leute, die hin und her liefen, geschäftig rührten, schnitten und putzten, umhüllt von Dampfschwaden und Unmengen an Gerüchen.

»Steh nicht so herum. Hol mir die Filets!«, rief eine Frau in weißer Schürze zu ihm herüber.

Aouni blieb vor Schreck stehen. »Filets?«, murmelte er.

»Ich sehe schon, du wirst uns eine große Hilfe sein.« Die Köchin blickte kurz auf einen Schrank, der von seltsamen Zahnrädern, Rohren und Schnallen umgeben war. Ein dicker Schacht führte durch das Fenster ins Freie. Unheilvoller Rauch qualmte hervor und ließ das Fenster anlaufen.

»Wir nennen es Kühlschrank. Neumodisches Ding! Ich verstehe nicht, wie Wasser und Dampf den Schrank kühl halten, aber es funktioniert. Und jetzt hol die Filets. Sei aber vorsichtig beim Öffnen!«, kommandierte Madame Batier.

Aouni ging klopfenden Herzens auf das Ding zu und begann Schnallen und Riegel zu öffnen. Tatsächlich ging die Tür ohne Probleme auf. Kühle Luft strömte ihm entgegen. Aouni staunte die riesigen Mengen Fleisch und Gemüse an, die sich vor ihm auftürmten.

»Nimm endlich die Filets raus. Sonst taut alles auf!« Die Stimme der Köchin klang schon ziemlich ungehalten.

Aounis Verzweiflung wuchs, als er die Unmengen an Lebensmitteln vor sich anstarrte. Noch vor ein paar Monaten hätte dies das reinste Glück bedeutet, all das Essen hätte seiner Mutter vielleicht das Leben gerettet. Nun stand er hilflos davor und wusste nicht, was er tun sollte.

Madame Batier stapfte herbei, schob ihn auf die Seite und holte ein blutiges Paket hervor.

»Das wollte ich haben! Ganz einfache Filets! Oder hast du noch nie welche gesehen?«

Aouni brachte kein Wort hervor. Mühsam schüttelte er den Kopf.

»Du hast noch nie Filets gesehen?« Die Köchin schaute entsetzt drein, als stünde der Weltuntergang direkt vor ihr.

Die sonst so geschäftige Küche wurde mucksmäuschenstill.

Aouni hätte sich am liebsten verkrochen oder selbst in ein Filet verwandelt. Alle starrten ihn an und so schüttelte er noch mal den Kopf.

»Mon dieu!«, seufzte die Köchin. »Los, alle wieder an die Arbeit. Hier gibt es nichts zu glotzen!«

Das hektische Treiben setzte schlagartig wieder ein.

»Also stimmt es doch. Chevalier Ronoir soll ihn aus den Slums gerettet haben, als er seine sterbende Mutter verteidigt hat«, hörte Aouni Stimmen flüstern. Bewusst konzentrierte er sich auf die Worte von Madam Batier und drängte damit Erinnerungen und aufkeimende Tränen weg.

Aouni konnte es sich nicht erklären, aber die Köchin erzählte ihm von dem Moment an alles ausführlich, schien sich über sein Staunen über die einfachsten Sachen sogar zu freuen und lobte sein Interesse und seine Auffassungsgabe.

Kurz bevor er müde und abgearbeitet in sein Zimmer zurückkehrte, um noch die Hausaufgaben zu erledigen, steckte ihm die Köchin einen Apfel zu.

»Weißt du, als Chevalier Ronoir noch hier zur Schule ging, kam er auch immer wieder in die Küche herunter und stibitzte einen Apfel oder ein paar Nüsse. Ein Fenster, ein Apfel – was soll’s! Sonst lässt sich von den feinen Herren hier ja niemand blicken!«

Sofort beschlich Aouni ein schlechtes Gewissen. Er war ja nicht aus freien Stücken hier, auch wenn es die Köchin vergessen zu haben schien, und nahm sich vor, seine Aufgaben hier umso gründlicher zu erledigen.

 

Aouni schüttelte den Kopf, um die Erinnerung zu verscheuchen. Er hatte fast soviel Zeit in der Küche wie auf dem Übungsplatz verbracht. Heimlich dachte er sich, dass seine Kochkünste seine Kampfkünste bei Weitem übertrafen. Und so war es das Küchenpersonal, von dem er sich am schwersten verabschiedet hatte, als die Schulzeit endlich zu Ende war. Madame Batier hatte ihm tränenreich einen ganzen Sack Äpfel in die Hand gedrückt.

»Was ist los?«, fragte von Hompesch. Die Blicke des gleichaltrigen Ritters folgten seinen rhythmischen Bewegungen. Aouni fügte die letzten Kräuter hinzu und rührte geschäftig seinen Kochtopf um.

»Ach, Erinnerungen, an unsere Küche in Malta!« Mit fließender Handbewegung rührte er den Topf noch einmal um und goss dann beiden eine Schüssel Eintopf ein, legte Stücke frischen Fladenbrots hinzu und stellte jedem einen Becher voll Wasser dazu hin.

»Ach ja, ich hörte, du pflegtest intensiven Umgang mit der Küche.« Von Hompesch nahm einen Bissen von dem Eintopf. »Gar nicht so schlecht. Sag mal, was hat dir eigentlich die Memorymaschine bei deinem Abschluss über deine Vorfahren erzählt?«

Der junge Ritter sah sein Gegenüber erstaunt an. Zum ersten Mal wirkte sein Besuch aufrichtig interessiert und fast schon sympathisch. Er überlegte krampfhaft, was er über die gespeicherten Erinnerungen seiner Vorfahren in seinem Gehirn erzählen konnte. Seine Ahnen waren einfache Menschen und der tägliche Kampf ums Überleben war nun wirklich kein Thema, das man gemütlich während eines gemeinsamen Essens besprach.

»Also, nichts Interessantes, wie ich mir gedacht habe.« Von Hompesch hatte wieder die verschlossene arrogante Miene aufgesetzt und der Moment der Freundlichkeit war spurlos verschwunden.

Aouni ignorierte von Hompesch und aß seinen Eintopf auf. Er war schon gespannt, wie »Seine Hochwohlgeboren« in den Slums hier zurechtkommen würde.

Aouni legte seine Armschienen an. Er hatte sie selber modifiziert und verbessert. Zusätzlich steckte er sich noch seine Wurfmesser in die Stiefel, bevor er die Pistolen in die Halfter steckte.

Von Hompesch sah ihm aus seinen stahlblauen Augen zu, die blonden, wie lackierten Haare standen auf den Millimeter genau dort, wo sie sein sollten.

Aouni wischte eine schwarze Strähne aus seinem Gesicht, wusste aber, dass sie gleich wieder dorthin zurückfallen würde.

»Warum nimmst du das ganze Arsenal mit? Wäre es nicht besser in einem Museum aufgehoben?«, fragte von Hompesch prompt.

Aouni hatte schon immer eine Vorliebe für Hieb- und Stichwaffen gehabt. Stundenlang hatte er auf dem Übungsplatz damit geübt. Viel präziser als jede Pistole war die Kunst mit dem »Arsenal«, wie von Hompesch seine Waffen bezeichnete. Wie üblich ignorierte er die Sticheleien und ging zur Tür.

»Du kannst gerne in ein Museum gehen, wenn du dorthin lieber willst.«

Aouni ging voran und schaute sich nicht um, ob von Hompesch ihm nachfolgte. Er hörte die Tür ins Schloss fallen und gab die Hoffnung auf, dass Seine Hochwohlgeboren hier bleiben würde. Wütend stampfte er durch die Gassen.

Nach der Schule hatte jeder eine Priorei zugeteilt bekommen. Ihn hatte man natürlich in die am weitesten entfernte geschickt. Nun hatte Michel de la Croix auch noch von Hompesch geschickt, weil es hier angeblich seltsame Maschinen gab, die die Leute erschreckten. Doch Aouni hatte nichts davon bemerkt und glaubte auch nicht, dass es sie gab. Von Hompesch war hier, um seine Arbeit zu kontrollieren. Zumindest waren Jean und Gustav nicht in der Nähe, um irgendwelchen Unfug anzustellen.

»Hallo, Aouni. Meiner Hand geht es schon besser!«, grüßte ihn eine alte Frau im Vorbeigehen, die sich aber schnell verzog, als sie von Hompesch auftauchen sah.

Aounis Laune besserte sich immer mehr. Hier stank es zwar, und die Armut kroch aus allen Fenstern und Türen, aber zwischen all den einfachen Leuten und primitiven Hütten hatte er sich heimischer gefühlt, als er es je in der Burg von Malta getan hatte.

»Danke für das Brot! Gott segne dich!«, begrüßte ihn ein Mann. Sobald Goldhaar erschien, verschwand er aber auch.

»Läufst du deshalb so bourgeoise herum, um dich adäquat der Umgebung anzupassen?«, fragte von Hompesch.

Aouni blieb ruckartig stehen.

»Hör mir mal zu, Euer Hochwohlgeboren! Wenn man die Leute erreichen will, dann kann man nicht ausstaffiert wie ein Gockel durch die Gegend stolzieren. Und ob du es glaubst oder nicht. Diese Priorei hat das wenigste Geld, obwohl es die Leute hier am dringendsten brauchen würden. Also lass bitte deine Kommentare! – Wir fangen im Krankenhaus an. Dort kannst du deine Ungetüme suchen.«

Aouni drehte sich um und ging weiter. Er hoffte inständig, dass von Hompesch beleidigt abziehen würde, aber leider nahm der Chevalier seinen Auftrag ernst und folgte ihm erhobenen Hauptes.

Eine Baracke tauchte vor ihnen auf und Aouni ging zielstrebig darauf zu. Er öffnete die Tür und hielt sie von Hompesch auf. Er wollte das Gesicht des Ritters sehen, wenn er ins Krankenhaus eintrat. Belustigt grinste er, als von Hompesch nach Luft schnappte und es gleich wieder bereute. Der Gestank drang in Nase und Mund und Aouni sah, wie der Ritter würgte, aber es gerade noch schaffte, den Mageninhalt bei sich zu behalten.

»Nicht nach Eurem erlesenen Geschmack?«, grinste Aouni und ging an von Hompesch vorbei. »Jani, bring sofort die Schüsseln hinaus. Und bring mir das ausgekochte Verbandszeug. Unser Gast kann gleich seiner zweiten Berufung nachgehen und Eni die Wunden reinigen.«

Von Hompesch stapfte an Aouni vorbei und machte sich daran, dem alten Eni die Wunde zu säubern und einen neuen Verband anzulegen. So sehr er die arrogante Art von Seiner Hochwohlgeboren verabscheute, so sehr sah er mit Bewunderung zu, wie gleichmütig die eitrige Wunde gesäubert und mit flinken Fingern der neue Verband angelegt wurde.

»Nichts von außergewöhnlichen Maschinen.« Von Hompesch war wieder zu Aouni gekommen. »Gibt es noch andere Orte als diesen, wo sich Eigenartiges abspielen könnte?«

Aouni wollte die Augen verdrehen, aber er ging zur Tür. »Machen wir eine Tour durch die Stadt. Oben am Hügel haben wir voriges Jahr ein Wasserreservoir angelegt. Es ist der ganze Stolz der Stadt.«

Sie marschierten durch einige Gassen und ausgetretene Pfade, gesäumt von Wellblechhüten, manchmal unterbrochen von richtigen kleinen Häusern. Kurz bevor sie das Wasserreservoir erreichten, begann ein dumpfes Dröhnen, die Steine vor ihnen begannen zu hüpfen.

»Ein Erdbeben?«, fragte von Hompesch, als noch zusätzlich Schreie den Lärmpegel steigerten und kreischende Menschen an ihnen vorbei liefen.

»Wäre äußerst ungewöhnlich.« Aouni drehte sich herum und erstarrte. Hoch über die Wellblechhütten erhob sich ein Koloss aus Eisen, der zwar zwei Arme und Beine hatte, aber sonst nicht sehr menschlich wirkte. Sein viel zu kleiner Kopf hatte nur ein Auge und statt Haaren drangen dichte Rauchschwaden aus ihm.

»Du suchst etwas Ungewöhnliches? Jetzt kann ich es dir bieten. Und glaube mir, nun haben es auch alle gesehen!«, meinte Aouni, der immer noch nicht glauben konnte, was da auf sie zu kam.

»Ein Golem?«, fragte von Hompesch und zog seine Pistolen.

Das Ungetüm ließ sich nicht abschrecken und kam immer näher. Es streckte seine Hand aus und versuchte, von Hompesch einfach wie eine Blume zu pflücken.

Der Chevalier sprang zur Seite, rollte sich ab und schrie: »Bleib stehen, oder ich schieße!«

Entweder war der Golem taub, oder es interessierte ihn nicht, was von Hompesch zu sagen hatte. Er bückte sich noch einmal und von Hompesch feuerte. Eine Kugel prallte ab, die andere schlug tief in den Arm des Golems ein. Unbeeindruckt griff dieser wieder zu. Aber von Hompesch war schneller und hechtete weg.

»Lass das!«, rief Aouni und schoss ebenfalls, aber auch seine Kugeln zeigten nicht die geringste Wirkung.

»Wo hat dieses Ungetüm nur seine Schwachstelle?«, rief von Hompesch außer Atem, da das Nachladen durch das ständige Ausweichen erheblich erschwert wurde.

»Los, lauf zum Reservoir!« Aouni wollte schon loslaufen, aber von Hompesch rührte sich nicht.

»Ich bin ein Chevalier. Ich laufe nicht weg!«, rief von Hompesch, was den Ritter aber nicht davon abhielt, zur Seite zu springen.

»Wasser! Denk doch mal nach! Wasser!«, rief Aouni ärgerlich. »Und ich dachte, du bist für deine Intelligenz bekannt!«

»Oh, Wasser! Natürlich!«

Nach einer Ewigkeit, wie es Aouni schien, drehte sich von Hompesch endlich um und lief los. Und der Golem mit krachenden Schritten hinterher.

»Hey, ich bin auch noch da!«, rief Aouni, aber weder von Hompesch noch der Golem reagierten auf ihn.

So sprintete er hinter den beiden her. Von Hompesch lief zielstrebig auf den schmalen Steg zu, der über das tiefe Wasserloch führte. Der Golem machte einen riesigen Satz und schloss seine enormen Finger um den Chevalier. In diesem Moment krachte und knirschte es fürchterlich und der Steg begann, unter dem eisernen Gewicht des Golems nachzugeben. Von Hompesch sprang in letzter Sekunde los, bevor der Golem seine Faust ganz schließen konnte.

Aouni streckte seinen Arm aus, bekam von Hompesch zu fassen und mit einer Drehung riss er den Chevalier in Richtung Ufer. Aus dem Gleichgewicht gekommen ruderte er mit den Armen und bemerkte nicht, dass der Golem seine Faust wieder geöffnet hatte und Aounis Stiefel zu fassen bekam. Dann ging er unter. Das Wasser schlug über Aouni zusammen, bevor er noch richtig Luft holen konnte. Das Gewicht der eisernen Maschine zog ihn nach unten. Er bückte sich und versuchte, der Faust zu entkommen. Seinen Lungen begannen, sich wie Steine anzufühlen. Verzweifelt riss er an der Faust, doch sie öffnete sich nicht. Auch die rauchende Haarpracht war verschwunden. Ungeschickt begann er, seinen Stiefel zu öffnen. Dumpfes Dröhnen lenkte ihn kurz ab. An etwas denken, nur nicht atmen, an etwas denken! Seine Lungen krampften sich zusammen und er hatte das Gefühl, die Luftröhre würde ihm entgegenkommen. Denken. Ablenken. Er dachte an den Golem und fingerte verzweifelt an den Schnüren seiner Stiefel. Es wurde immer dunkler. Die Stadtväter würden nicht sehr glücklich sein. Das einzige Wasserreservoir weit und breit und er hatte darin eine riesige Maschine versenkt. Zumindest würde niemand an Eisenmangel leiden. Endlich, der Stiefel ging auf. Er stemmte sich mit dem zweiten Bein gegen die Faust des Golems und quetschte seinen Fuß heraus. Mit aller Kraft stieß er sich von der Hand des Golems ab und sauste durch das Wasser auf das Licht zu. Sein Kopf zischte aus dem Reservoir und Luft strömte schmerzhaft und zugleich wunderbar in seine Lungen. Wieder das Dröhnen, wie ein Erdbeben. Verzweifelt öffnete Aouni seine Augen und wollte nicht glauben, was er sah.

»Hast du endlich deine Hygiene beendet?«, keuchte von Hompesch. »Ich könnte etwas Unterstützung gebrauchen!«

»Besser Waschen als nur Puder und Parfum!«, keuchte Aouni und kletterte aus dem Wasser. Wackelig auf den Beinen und immer noch mit stechenden Lungen kämpfend, zog er seine Pistolen und starrte sie entsetzt an. Wasser rann aus den Läufen. Frustriert steckte er sie wieder ein.

»Sie drängen mich vom Wasser weg. Sie haben dazugelernt!« Zwei Golems standen vor dem Chevalier und drängten ihn erfolgreich immer weiter weg vom Reservoir.

»Hey, hier bin ich! Versucht es doch mal mit mir, ihr Monster!« Doch die Golems interessierten sich überhaupt nicht für Aouni.

In dem Moment sah er eine Stange am Boden liegen. Er sprintete hin, warf sie mit seiner Fußspitze in die Luft und fing sie geschickt auf.

»Willst du jetzt Speerwerfen, Stammeskrieger?«, rief von Hompesch verzweifelt, der große Mühe hatte, zwei Golems auszuweichen und keinen Angriff erkannte, der wirkte.

»Genau das.« Aouni holte aus und freute sich, dass die Stange gerade war und noch dazu sich recht gut ausbalanciert anfühlte. Ein paar Schritte, ein kräftiger Stoß und die Stange flog sausend durch die Luft. Der Golem drehte sich irritiert um. In dem Moment krachte die Eisenstange genau in die Augenöffnung. Ein fürchterliches Röhren entsprang dem Golem. Seine riesigen Arme fassten nach der Stange. Aber es war zu spät. Er kippte um. Im nächsten Moment krachte es ohrenbetäubend und Aouni fühlte, wie er in die Luft gehoben und hart gegen den Boden geschleudert wurde. Als er sich aufrappelte, lagen überall Teile des Golems herum. Ein Grinsen überzog sein Gesicht, das sich im nächsten Moment wieder in Luft auflöste. Von Hompesch war ebenfalls zu Boden geschleudert worden. Nur der letzte Golem, dank seines enormen Gewichts, stand immer noch und ging einfach auf den Chevalier zu. Er bückte sich und hob den benommenen Ritter auf und ging seelenruhig von dannen.

»Bleib stehen!«, rief Aouni verzweifelt. Er lief zu dem explodierten Golem, aber seine Stange hatte sich in Einzelteile zerlegt. Nichts war da, was er als Waffe verwenden konnte. Und so lief er dem Golem hinterher. Doch mit seinen riesigen Füßen war er schon fast außer Sicht, bevor Aouni noch loslaufen konnte. Das Dröhnen war noch eine Weile zu hören, auch das Schimpfen von Hompeschs.

»Charlotte! Charlotte, gib nicht auf.« Aouni rief verzweifelt seiner ehemalige Mitschülerin nach. Doch ihre Stimme wurde immer undeutlicher. Aouni folgte dem Dröhnen und dann den Fußspuren. Als die Dunkelheit anbrach, musste er sich eingestehen, dass er Charlotte von Hompesch verloren hatte, mitsamt des riesigen Golems.

Humpelnd trat Aouni den Rückweg an. Sein Fuß schmerzte und laut verfluchte er den ersten Golem, der immer noch seinen Stiefel in seiner eisernen Faust hielt. Schließlich zog er auch den zweiten aus, da er eher die Steine und die stechenden Grasbüschel aushielt, als den unnatürlichen Rhythmus, den man automatisch annimmt, sobald man nur ein Schuhwerk trägt.

Endlich konnte er die Öllampen hoch oben am Wasserreservoir sehen, die ihm den Weg leuchteten. Unsicher, ob er nicht in der Wildnis übernachten hätte sollen, oder lieber zurückkehren und Hilfe suchen, hatte sich Aouni für zweiteres entschieden, und kam sich wie ein Verräter an Charlotte vor. Wo war sie nur? Und wie ging es ihr?

Seine Füße brannten, als Aouni sich müde auf den Hügel kämpfte. Einen Moment später ging die Hoffnung wie die helle Morgensonne auf. Bei dem Wasserreservoir stand eine große Gestalt mit breiten Schultern und wallendem braunen Haar. Die grauen Strähnen leuchteten wie Silber im Licht der Öllampen. Das achtspitzige Kreuz der Malteser prangte auf dem Überwurf des Ritters.

»Chevalier Ronoir!« Aouni vergaß die Schmerzen und lief los.

»Aouni! Gott sei Dank, du lebst!« Chevalier Ronoir breitete seine riesigen Arme aus und umschlang den jungen Ritter wie ein Krake. Aouni wusste, peinlich berührt, nicht wohin mit seinem einzigen Stiefel und ließ sich einfach drücken.

»Und sei nicht so förmlich. Wir sind ja nicht mehr in Malta und du bist der Schule längst entwachsen. Nenne mich doch Victor!«

»Gerne!« Aouni atmete erleichtert auf, als er den Ritter vor sich sah, der die Teile des Golems musterte. Aber nun musste er ihm beichten, dass er Charlotte verloren hatte.

Krampfhaft versuchte er, einen Anfang zu finden.

»Ich sehe schon, ich komme zu spät. Tut mir leid, Aouni.« Victor seufzte tief und musterte besorgt die herumliegenden Teile.

Alles hatte Aouni erwartet, nur das nicht. »Er hat Charlotte mitgenommen! Wir müssen sie retten!«, platzte es aus ihm heraus.

Der Ritter legte seine Hand auf die Schulter des Jungen, lächelte beruhigend und meinte schließlich: »Wir werden unser Bestes tun und sie zurückholen. Das verspreche ich dir. Ich komme gerade aus Paris. An der Sorbonne wurde Werner von Crivit entführt. Der führende Wissenschaftler an der Universität für Zukunftstechnologie. Zeugen beschrieben ein Monster aus Metall, das enorme Ausmaße gehabt haben soll. Ich hielt es für Übertreibungen, bis ich die Überreste dieses Monsters hier gesehen habe. Als ich hörte, dass Charlotte von Hompesch hierher unterwegs ist, habe ich mich sofort auf dem Weg gemacht. Sie soll ja schon in der Schule überdurchschnittliche Leistungen erbracht haben, nicht wahr?«

Aouni nickte. Er konnte sich wieder vor der Tafel sehen, wie er krampfhaft versuchte, die Gleichung zu lösen, die ihm der Mathematiklehrer Chineé gestellt hatte. Aber so sehr er auch rechnete, er kam zu keinem Ergebnis.

Da hörte er die Stimme von Charlotte hinter sich.

»Monsieur le Prof! Zu dieser Gleichung gibt es keine …!«

»Ich habe Sie nicht um Ihre Meinung gebeten!«

»Aber Monsieur! Da gibt es …«

Und wieder fuhr der Mathematiklehrer dazwischen. »Madame. Eine der wichtigsten Ritterregeln ist Gehorsam. Also schweigen Sie, wenn ich es sage!«

Als Aouni sich geschlagen gab und ohne Lösung an seinen Platz zurückkehrte, saß Charlotte von Hompesch grimmig an ihrem Tisch und starrte nur noch vor sich. Erst später fand Aouni heraus, dass es zu dieser Gleichung keine Lösung gab. Nur Charlotte hatte dies durchschaut.

»Sie ist der intelligenteste Mensch, den ich kenne«, gab Aouni zu.

»Was hast du eigentlich mit deinem zweiten Stiefel getan?«

»Den hat der Golem.« Aouni hätte sich am liebsten verkrochen.

»Er ist mit dem Golem explodiert?« Victor Ronoir sah mehr als zweifelnd drein. »Und was wollte der Golem mit deinem Stiefel?«

»Nein, nein, der andere Golem am Grunde des Wasserreservoirs hat meinen Stiefel!« Aouni hörte seine Worte und wusste, wie seltsam sie klangen. Er hätte gleich von vorne anfangen sollen.

»Ein zweiter Golem ist mit deinem Stiefel baden gegangen?« Victor brach in Gelächter aus. »Ich glaube, du musst mir alles genau erzählen. Dann schicken wir eine Nachricht zu de la Croix nach Malta. Diese Vorkommnisse werden ihn sicher brennend interessieren.« Er schob Aouni in Richtung der Unterkunft, als er plötzlich wie angewurzelt stehen blieb. Er bückte sich und Aouni konnte ein Stück Metall erkennen, an dem ein Zeichen eines Mammutbaumes eingebrannt war. Er starrte entsetzt darauf.

»Hatten die anderen Golems auch dieses Zeichen?« Victor sah plötzlich vollkommen verändert drein. Grimmig verzog er seinen Mund und sah Aouni an.

»Ich weiß es nicht. Ich hatte keine Zeit nach einem Zeichen zu suchen. Es ging alles so schnell.«

»Los, gehen wir zurück und unterwegs erzählst du mir alles.«

Aouni redete sich alles vom Herzen, auch um von seinen schmerzenden Füßen abzulenken. Endlich kritzelte Victor eine Nachricht auf einen Zettel und legte sie in eine seltsame Konstruktion, die aussah wie eine riesige Fliege. Er warf das Ding in die Luft und die mechanische Fliege schwirrte in Richtung Norden davon.

»Können wir nicht noch etwas unternehmen, um Charlotte zu helfen?« Aouni fühlte sich so schrecklich untätig, während seine ehemalige Klassenkollegin in Gefahr schwebte.

»Morgen brechen wir auf. Ich habe uns Boote bestellt. Du kennst das Zeichen des Mammutbaums?« Victor sah neugierig zu Aouni.

Der junge Chevalier kramte in seinem Gedächtnis und begann aus seiner Schulzeit zu rezitieren: »Als der große Napoleon Bonaparte auf Malta eintraf und der damalige Großmeister von Hompesch, ein Uronkel siebenten Grades unserer Charlotte von Hompesch, wie sie nicht ruhte zu betonen, einen Korsen und somit Landsmann Napoleons mit einem rituellen Glas Wasser zu ihm schickte, um ihn zu begrüßen, war der Napoleon Bonaparte so geehrt, dass er die Malteserritter bat, ihre Flotte und Kampfkraft in seine Dienste zu stellen und ihnen ausgedehnte Ländereien versprach. Mit vereinter Kraft schafften sie es, ganz Afrika und die meisten Teile Asien einzunehmen. Nur waren nicht alle mit dieser Großtat einverstanden. Es bildeten sich Kräfte, die sowohl die Herrschaft der Bonapartes als auch die Errungenschaften des Ritterordens schmälern wollten. Sie benutzten das Symbol des Mammutbaums, als Zeichen der Stärke und Beständigkeit. Napoleon und seine Nachfahren übertrugen zahlreiche Ländereien an die Malteserritter, meist in sehr umstrittenen Gebieten, und hofften auf die Kampfkraft der Ritter einerseits und andererseits darauf, dass die Wohltätigkeit und Pflege der Kranken die Güter halten und Frieden bringen würde.«

Aouni atmete nach dem langen Monolog tief durch und sah erwartungsvoll Victor an.

»Du hast gut aufgepasst. In letzter Zeit sind allerdings gehäuft seltsame Wesen wie Golems und mechanische Monster aufgetaucht. Im Osten von Afrika sprach man sogar von Zeppelinen mit dem Zeichen des Mammutbaums. Und nun dies.« Müde rieb sich der Chevalier die Augen und nahm einen Schluck von dem Glas Wasser, das Aouni ihm vorher gereicht hatte.

»Wir vermuten einen Mann namens Rorres dahinter. Er wurde gehäuft auf Madagaskar gesehen. Also reisen wir morgen dorthin.«

»Aber Madagaskar liegt nicht im Hoheitsgebiet der Grand Nation?« Aouni war überrascht und fühlte sich genau so, wie Victor aussah. Wie sollten sie Charlotte von feindlichem Gebiet zurück bekommen?

»Wir werden nicht mit vollen Insignien reisen, so viel ist sicher!«, versprach der Ritter und legte sich einfach hin und schlief augenblicklich ein. Aouni holte eine Decke und breitete sie über ihm aus. Die Sorbonne lag weit weg, und wer weiß, wann Victor den letzten Schlaf bekommen hatte.

Aouni war sagenhaft müde, doch obwohl er versuchte einzuschlafen, musste er immer wieder an die Geschehnisse des Tages denken. Jetzt tat es ihm leid, dass er von Hompesch so abweisend behandelt hatte. Immerhin war sie die Einzige gewesen, die versucht hatte, ihn in der Schule von dem Mathematiklehrer Chineé in Schutz zu nehmen.

 

Knirschender Sand am Boden holte Aouni wieder in die Wirklichkeit zurück. Als er die dampfenden Tröge gesehen hatte, die Victor als Boote bezeichnete, wäre er am liebsten wieder umgekehrt. Aber er gab sich immer noch die Schuld am Verschwinden von Charlotte und so war er eingestiegen, als wäre es das normalste der Welt, und über Wellen und Wassermassen gedüst. Nun endlich hatten sie den Strand erreicht. Victor war schon knöcheltief im Sand und zog das Boot ins Trockene und bedeckte es mit Blättern.

»Los, Aouni, beeile dich!« Victor stand bereits neben ihm und zog am Boot. Endlich bewegte es sich und schon verschwand auch Aounis Boot unter Grünzeug.

Geduckt liefen sie hinter Büschen und Bäumen bis zu den großen Anwesen. Wachen patrouillierten in regelmäßigen Abständen an den Häusern vorbei.

»Wo könnten Charlotte und Werner von Crivit nur sein?«, murmelte Victor, während er die Häuser studierte.

»Dort!« Aouni zeigte auf ein Haus, aus dem besonders viel Rauch drang. »Der viele Dampf wird für die Experimente gebraucht. Und da ist noch eine enorme Entlüftungsanlage. Wenn, dann sind sie dort drinnen.«

»Gut, komm mit!« Victor lief weiter an den Büschen entlang, bis sie so nahe wie möglich an das Haus gekommen waren. Sie warteten geduldig, bis die Wachen vorbeigingen und liefen dann los. Aouni schlug das Herz bis zum Hals. Hier waren sie komplett schutzlos und er hoffte inständig, dass sich keine der Wachen umdrehte.

Der junge Chevalier knallte fast gegen die Mauer, so froh war er, dass er endlich etwas Deckung hatte. Nur Victor sah ihn warnend an. Sie hörten die Schritte der nächsten Wache näherkommen. Schnell spähte Victor ums Eck und zeigte zu einer Mülltonne. Beide liefen los und hechteten hinter die Tonne. Die Wachen kamen in Sicht und gingen seelenruhig an den beiden vorbei. Aouni traute sich kaum zu atmen und dachte schon, sein Herzschlag wäre meilenweit zu hören.

Wieder lief Victor los und drückte sich an eine Tür.

»Nicht gut! Sie ist versperrt. Vielleicht kommen wir durch ein Fenster hinein?« Victor sah sich suchend um.

»Lass mich mal ran.« Aouni spannte sein Handgelenk an und hielt plötzlich einen Schraubenschlüssel und einen Dietrich in der Hand. Flink begann er, zu arbeiten. Wieder Schritte. Sie kamen näher und deutlich waren die Stimmen der Wachen zu hören. Nur noch wenige Meter und sie würden um die Ecke biegen. Die Tür sprang auf und Victor und Aouni schlüpften hinein. Die Schritte der Wachen gingen direkt an ihnen vorbei und verklangen in der Ferne.

»Solche Armschienen möchte ich auch haben. Praktische Dinger!« Sie standen in einer riesigen Halle, die Regale waren mit Geräten, Schrauben und Flaschen mit Chemikalien gefüllt.

Von dem Stockwerk darüber hörten sie Stimmen.

»Wann wird die Maschine endlich fertig? Das gibt es doch nicht. Jetzt sind die zwei klügsten Köpfe der Welt beisammen und nichts tut sich, außer endlosen Diskussionen. Wenn nicht in den nächsten Tagen Resultate zu sehen sind, dann gibt es für euch nichts mehr zu essen. Ich lasse mich nicht zum Narren halten.« Rorres holte aus und warf ein Reagenzglas zu Boden. Es rauchte und dampfte und ein beißender Geruch breitete sich aus.

Als sich der Dampf verzog, sah man zwei Gestalten dahinter auftauchen.

»Na, na, na! Das ist aber nicht die feine französische Art, Rorres!« Victor verbeugte sich leicht zur Begrüßung.

»Nicht du schon wieder. Geh wieder auf dein Inselchen und plantsche dort herum. Ich habe dich gewarnt, mir noch einmal unter die Augen zu treten, Ronoir! Und das Opferlämmchen, dem man alles in die Schuhe schieben kann, hast du auch gleich mitgebracht. Er ist es ja gewohnt, für andere den Kopf hinzuhalten, also wird es ihn dieses Mal ja auch nicht stören!«

Victor wirkte etwas verwirrt, schaute zu Aouni hinüber und überging die lange Rede von Rorres einfach.

»Eine Runde auf unserer Insel zu schwimmen, das habe ich wohl vor! Ich wollte mir nur die paar Gäste dort hinten mitnehmen. Von Hompesch, Crivit, darf ich bitten?« Victor zog die Pistole schneller als Aouni auch nur schauen konnte und hielt sie genau unter Rorres Nase.

»Das ist aber nun sehr unhöflich, werter Chevalier. Das sind meine Gäste und du kannst doch wohl nicht glauben, dass ich sie so einfach gehen lasse. Ich weiß schon längst, dass du hierher unterwegs bist. Die Halle unten ist voll mit meinen Soldaten. Weder du noch meine illustren Gäste werden irgendwohin gehen.«

Victor gab Aouni ein Zeichen in Richtung Treppe und der junge Chevalier verschwand kurz und kam mit einem entsetzten Gesichtsausdruck wieder.

»Du traust meinem Wort nicht. Ich bin zutiefst gekränkt. Und nun lege endlich die Waffen nieder!« Rorres holte eine Zigarre hervor und steckte sie an.

»In einem Labor raucht man nicht!«, erklang die helle Stimme von Charlotte von Hompesch. Rorres starrte sie böse an, ob so viel Impertinenz, fand aber keine Worte.

»Das kann ungeahnte Folgen haben!«, fuhr Charlotte unbeeindruckt fort. »Darf ich die zwei Herren nun bitten, zu mir zu kommen. Ich habe diese bedauerliche Gastfreundschaft schon zu lange erduldet und würde nun gerne gehen.«

»Ha, der ist gut! Lass dir von deinem dunklen Freund erzählen, wie viele Soldaten unten in der Halle stehen. Ihr kommt nie durch diese Tür hinaus.«