Patrick Schön (Hrsg.)

Schrecken der Vergangenheit

 

 

Horror 6

 


Patrick Schön (Hrsg.)

SCHRECKEN DER VERGANGENHEIT

 

Horror 6

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

© dieser Ausgabe: Februar 2017 p.machinery Michael Haitel

 

Titelbild: Andreas Schwietzke

Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda, Xlendi

Lektorat: Michael Haitel

Herstellung: global:epropaganda, Xlendi

 

Verlag: p.machinery Michael Haitel

Ammergauer Str. 11, 82418 Murnau am Staffelsee

www.pmachinery.de

für das Anthologieforum,

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ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 080 1

 


Rudolf Arlanov: Der verletzte Gefreite

 

 

Hätte er geahnt, dass sein Tun in einer schier endlosen Flucht enden würde, vielleicht hätte er sich damals seinem Schicksal ergeben. Aber die Angst gebiert bisweilen seltsame Entscheidungen. Er war vorbereitet zu sterben – mit welchem seiner unzähligen Gesichter ihn der Tod ereilen würde, wollte er sich nicht vorstellen –, aber er würde versuchen, so lange wie irgend möglich dem zu entkommen, was hinter ihm lag.

Es war der 17. September 1803. Über ihm tobte ein Unwetter, das das Kurfürstentum bereits den gesamten Monat über im Griff hielt. Er war bis auf die Knochen durchnässt, trotz des Dreispitzes und des Umhangs, die ihn vor dem Unwetter schützen sollten. Den Dreispitz hatte er tief ins Gesicht gezogen. In heftiger Folge entluden sich Blitze, als wollten sie ihn in seinem Fortkommen zu hindern versuchen. Er lief gekrümmt und hob schützend die Arme über sich, geleitet von einem einzigen Gedanken: Überleben.

Nach vorne blickend und schwer atmend, kämpfte er sich über eine schier endlose Wiesenlandschaft, ohne jegliche Möglichkeit sich unterzustellen. Er vernahm plötzlich tierisches Heulen. Wölfe. Er hielt kurz inne. Die Laute schienen aus weiter Ferne zu kommen. Er biss seine Zähne fest zusammen und lief unbeirrt weiter.

Er war müde und erschöpft. Seine Lungen brannten und seine linke Seite stach unerbittlich, als hätte ihm jemand ein Brenneisen in die Seite gerammt. Der Schmerz raubte ihm den Atem. Er spürte seinen Verfolger näherkommen. Aber nicht hier, dachte er, hier würde er mich nicht bekommen. Verden hatte er hinter sich gelassen, die Grafschaft Hoya erreicht und war seinem Ziel, Bremens Hafen, näher, als dass er jetzt aufgeben würde. Dann würde er … diese Gedanken verfolgend, stürzte er und brach völlig erschöpft im Gras zusammen. Gabriel Staehn hörte das Prasseln des Regens gegen seinen Dreispitz immer leiser werden, während er das Bewusstsein verlor.

 

Nachdem das Unwetter weiter gezogen war, durfte Charlotte mit ihren Lämmern hinausgehen. Begleitet von Achilles, ihrem Hirtenhund, der vorausgeeilt war und in einem unsichtbaren, großen Kreis um sie rannte, genoss die Bauerntochter das Laufen auf der Weide zwischen ihren verspielten Lämmern. Sie spürte ihr weiches Fell an sich und blökte mit ihnen. Plötzlich wurde sie von Achilles’ Knurren und Fletschen aus dem verträumten Spiel gerissen. Ihre Lämmer begaben sich instinktiv in sichere Entfernung, während sich Charlotte vorsichtig ihrem Hund näherte. Sie fand einen Fremden auf ihrem Land liegen – ob er schlief oder gar tot war, wollte sie nicht allein herausfinden – und eilte sofort zu ihrem Vater Johann Brenner. Jener befand sich im Stall, saß auf einem Schemel und molk gerade eine Kuh.

»Vater, komm schnell!«, rief Charlotte außer Atem.

»Was ist los, Lotta?«, fragte er besorgt.

»Da liegt ein Mann auf der Weide. Ich glaube, er ist tot.«

Er bewaffnete sich mit einem Knüppel und ließ sich von ihr zu diesem Fremden führen.

Der Mann im Gras war von einem schwarzen Umhang zugedeckt und seine weiße Hose mit schwarzen Halbschuhen trat hervor. Mit einer Handbewegung deutete Brenner seiner Tochter Charlotte zurückzubleiben, während er sich, seinen Knüppel fest im Griff, dem Mann näherte. Mit seiner Stiefelspitze stieß er kräftig an dessen Beine.

»Heda …«, rief er nach unten.

Der Mann lag bäuchlings vom Mantel bedeckt und rührte sich nicht. Vorsichtig schob Brenner den Umhang mit dem Knüppel zur Seite und sah erstaunt einen blauen Rock darunter zum Vorschein kommen. Ein preußischer Soldat! Was machte ein Soldat so weit entfernt von seinem Trupp hier?, dachte er. War er vielleicht ein Späher? Oder nur ein feiger Deserteur!

Brenner kniete nieder und berührte den Soldaten. Dessen Kleidung war triefend nass und haftete an ihm wie eine zweite Haut. Er drehte den Soldaten vorsichtig auf den Rücken. Dessen Brustkorb hob und senkte sich schwach. Besorgt bemerkte der Landwirt, dass die komplette linke Seite der weißen Weste, die sich unter dem mit Schmutz und Schlamm bedeckten Rock des Soldaten befand, blutrot getränkt war.

»Verfluchte Banditen!«, fluchte Brenner. »Lotta, lauf schnell heim, berichte deiner Mutter und lass heißes Wasser und Tücher richten. Ich werde nachkommen … lauf schon«, befahl er seiner Tochter.

»Na, dann komm mal mit, du verdammter preußischer Nebelspalter!«, sprach Brenner zum Bewusstlosen, lud ihn über seine breite Schulter und machte sich auf dem Weg zurück.

 

Wie in einem Nebel wandelte er jenseits eines entfernten Ortes, den er zu kennen schien, aber nicht zu greifen bekam, sondern in seinen Händen wie einen schmerzhaften Traum zerrinnen lassen musste. Verschwommen konnte er seine Frau und Tochter sehen, die auf ihn warteten. Seitdem er beide verlassen musste, war eine Ewigkeit vergangen. Er vermisste sie und schritt wie durch einen endlosen Schleier auf beide zu. Anna, seine Frau, eine grazile Schönheit, gekleidet in einem weißen Spitzenkleid und mit schwarzen Locken, die ihre Schultern bedeckten, lächelte ihn an. Gleichzeitig löste sich seine Tochter Emma von ihr. Ihre langen, brauen Strähnen flatterten auf und ab und ihre nackten Füße schimmerten am Kleidrand, während Emma freudig auf ihn zulief. Sie rief ihm etwas durch den Schleier zu, aber außer einem Rauschen, das sich in ein Summen verstärkte, konnte er nichts hören.

Voll Freude breitete er seine Arme aus, als sich das unangenehme Summen markerschütternd verdichtete und er seine schreiende Frau Anna hinter Emma erkannte, die diese plötzlich packte und von ihm wegzog. Das Summen wurde zu einem ohrenbetäubenden Kreischen. Schmerzerfüllt griff er sich schützend an die Ohren und erhaschte den Blick, den seine Frau ihm zuwarf: Voll Panik zog sie ihre gemeinsame Tochter immer weiter fort. Verwirrt versuchte er ihnen nachzulaufen, doch der lähmende Schmerz drückte ihn nieder. Während seine Frau und seine Tochter zu unwirklichen Konturen verblassten, umgab ihn im nächsten Moment absolute Stille, und sein Schmerz wie auch seine Lähmung waren wie ausgelöscht. Er richtete sich auf und erschrak, als er in seiner linken Hand etwas Warmes, Weiches, Pulsierendes hielt, aus dem eine dunkle Flüssigkeit entwich. Es war ein schlagendes Herz.

Plötzlich keimte in ihm ein vertrautes Gefühl auf, ein Verlangen, gefolgt von einem unbändigen Hunger. Er biss genussvoll in das Herz und ein vertrauter metallisch-süßer Geschmack breitete sich in seinem Mund und seiner Nase aus. Gierig biss er weitere schmackhafte Stücke heraus und spürte, wie allmählich eine Verwandlung in ihm vorging.

 

Gabriel Staehn erwachte aus einem immer wiederkehrenden Albtraum. Als er sich vorsichtig bewegte, durchzog ihn ein durchgehendes Stechen, vor allem in seinem Oberkörper. Er bemerkte, nur in seiner Unterwäsche gekleidet, einen großen Verband um seinen Bauch. Wer auch immer ihn aufgenommen hatte, hatte seine Wunde versorgt. Er versuchte, sich aufzurichten und zwang sich, den Schmerz zu unterdrücken.

Verdammt, dachte er besorgt, wie lange liege ich schon hier? Er wollte schleunigst seine Sachen packen und von hier flüchten und suchte den Raum nach seiner Kleidung ab – vergeblich. Er fand einen aus dunklem Holz gefertigten Schrank, einen kleinen Holztisch mit Tonkrug, Becher und geschnitztem Kerzenhalter samt Hocker vor. Beim Versuch aufzustehen, raubte ihm der Schmerz den klaren Blick und nur mit einem kräftigen Griff am Bett gelang es ihm, dem Taumel zu entgehen und sich aufzurichten.

Über dem Bett hing ein Holzkreuz mit dem gepeinigten Jesu, der ihn strafend anblickte. Staehn schlich schmerzerfüllt zur Eingangstüre, öffnete sie einen Spalt und lauschte. Er konnte Stimmen hören; eine tiefe, männliche Stimme sprach zu einer weiblichen Person.

»So ein verfluchter Mist! Ich denke, er wird die Nacht nicht überleben!«, hörte er den Mann sagen.

»Ich hab’s satt, Johann! Wir müssen endlich handeln, sonst sind wir die nächsten!«, forderte die Frau energisch.

»Zunächst muss ich mich um ihn kümmern. Er hat zu viel Blut verloren und ich denke, wir sollten sein Leiden beenden. Danach …«

Aufgrund des Stechens an seiner Seite verlagerte Staehn vorsichtig sein Gewicht. Ein plötzliches Ächzen der Bodenbretter unterbrach den Mann in seinen Worten.

Verdammt, fluchte Staehn innerlich und konnte sich nähernde, stampfende Schritte hören. Schnell schnappte er sich den Hocker und lauerte hinter verschlossener Türe. Er war noch nicht tot und würde in diesem unbekannten Haus auch nicht sterben. Dafür würde er sorgen, auch wenn ihm sein vor Schmerzen brennender Körper anderes sagte.

 

Brenner näherte sich dem Raum, in dem sein Gast lag, öffnete vorsichtig die Türe und lugte hinein. Das Bett war leer, bemerkte er, als er im gleichen Augenblick fast neben sich ein angestrengtes Stöhnen hörte, seinen Kopf schnell zurückzog und einen Hocker um Haaresbreite vorbeisausen sah. Der Angreifer ließ dabei den Hocker krachend zu Boden fallen. Brenner riss nun die Türe ganz auf und stellte sich seinem Angreifer entgegen, der schwer atmend und unter starken Schmerzen auf ihn losging. Mit einem kräftigen, befreienden Schlag stieß er den Mann nach hinten.

»Nanana, nicht so hastig, der Herr!«, spottete Brenner, der einen Kopf größer und stämmiger war.

»Johann, was ist das für ein Lärm?«, rief von hinten eine besorgte Frauenstimme.

»Alles in Ordnung. Unser Gast ist wach und hat sich mir vorgestellt«, rief er zurück und wandte sich sogleich wieder seinem Gast zu.

»Wir helfen dir und so dankst du es uns!«

»Ich habe euch gehört und ich bin noch sehr lebendig!«, spie jener mit gefletschten Zähnen und irrem Blick und startete einen weiteren Angriff. Brenner bekam ihn zu packen, drückte ihn zu Boden und ließ sodann mit einem Lächeln von ihm ab.

»Mann, wir sprachen von unserem Bullen, der letzte Nacht von einem Wolf schwer verletzt worden ist. Nicht von dir … beruhig dich, sonst verletzt du dich noch mehr und ruinierst die Verbände, die wir dir angelegt haben.«

»Verzeihen Sie meinen tätlichen Angriff, aber man weiß nie, wo man in diesen stürmischen Zeiten landet«, versuchte sich Staehn zu entschuldigen.

»Schwamm drüber«, antwortete Brenner, reichte Staehn hilfreich die Hand und führte ihn zum Bett. Daraufhin ging er zum großen Schrank und öffnete ihn.

»Deine Kleidung habe ich hier. Meine Frau hat versucht, sie so gut es ging zu säubern und zu flicken. Wenn dir der gröbere Stoff zusagt, so kannst du eines von meinen Hemden haben.«

»Vielen Dank. Wie lange bin ich bereits hier?«, fragte Staehn.

»Zwei Tage. Wir dachten, du würdest gar nicht mehr aufwachen wollen.«

In Gabriel Staehn stieg Panik auf, die er zu verbergen versuchte. Zwei lange Tage hatte er verloren, die es seinem Verfolger ermöglicht hätten, ihn jederzeit zu finden. Er spürte das verstärkte, leichte Kribbeln der sich nähernden Präsenz. Sie war näher, als ihm lieb war, und wahrscheinlich war es ihr gelungen, wieder seine Fährte aufzunehmen. Seine Gedanken verfinsterten sich und rasten, auf der Suche nach einem Ausweg.

»Was ist geschehen?«, entriss ihn Brenner aus seinen Gedanken.

Bevor Staehn eine Antwort finden konnte, antwortete indes ein heftiges Knurren seines leeren Magens.

»Sobald du die Sachen angezogen hast, komm in die Küche. Meine Frau Gita wird für dich etwas vorbereiten«, sagte Brenner und verließ den Raum.

Während Staehn langsam in das ihm zu große Hemd schlüpfte, dabei den Schmerz verfluchte, nahm er seinen Gedanken wieder auf. In einem weit verborgenen Teil seines Inneren deutete sich ihm der Weg der Verwandlung an, den er bereits oft gegangen war und nun wieder gehen musste, wollte er überleben.

 

Kopfschüttelnd kam Brenner in die Küche zurück.

»Richte das Essen für unseren Dauerschläfer. Sobald er kann, soll er hier verschwinden! Der Krieg hat ihn wirr im Kopf gemacht, Gita. Er hat versucht mich mit dem Hocker zu erschlagen, weil er uns belauscht hatte und glaubte, wir wollten ihn töten.«

Charlotte erschrak ob dieser Worte. Der Mann machte ihr Angst.

»Ihn töten? Pah, hätten wir ihm sonst seine Wunden versorgt und ihn gebettet? Ich hoffe, dieser Kriegswahnsinn findet bald sein Ende!«, schimpfte seine Frau Brigita, die mit zwei Tellern Suppe an den Tisch kam. Charlotte nahm einen Holzlöffel und wollte anfangen.

»Warte noch, Lotta. Die Suppe ist noch heiß und unser Gast kommt gleich«, ermahnte sie ihre Mutter. Wohlriechender Dampf fand den Weg in Brenners Nase.

»Gita, wenn deine Suppe ein Hexenwerk wäre, ich würde mich bezaubern lassen und dich nicht mehr fortgeben.«

»Zu spät, Johann, wir sind schon aneinandergekettet, dem Pfarrer sei Dank«, scherzte sie und trug zwei weitere Teller zum Tisch. Im gleichen Augenblick betrat der Soldat den Raum. Charlotte erschrak ob seines Blickes, der sie fixierte und zu durchbohren schien. Sodann löste sich sein Blick von ihr, wanderte blitzschnell im Raum umher, als ob er nach etwas suchen würde, beruhigte sich und sah zuerst ihre Mutter Brigita und anschließend ihren Vater Johann an und lächelte.

»Setz dich und lass es dir schmecken.«

Der Teller vor Staehn roch angenehm, er fing an, die Suppe zu löffeln, aber sein Appetit verlangte nach einer anderen Mahlzeit. Seinen Blick auf Johann Brenner richtend, sprach er: »Ich habe mich Ihnen noch nicht vorgestellt. Ich bin Gefreiter Gabriel Staehn.«

»Ich bin Johann Brenner, das sind meine Frau Brigita und meine Tochter Lotta.«

Erneut sah er zu Charlotte rüber, die sich immer unwohler fühlte, seinen gehetzten, abgründigen Augen ausgesetzt zu sein. Staehn versuchte sein Starren mit einem Lächeln zu überspielen und die Kälte in seinen Augen wich einem kurzen Leuchten.

»Lotta für Charlotte, welch schöner Name. Du erinnerst mich an meine verstorbene Tochter Emma … sie wäre in deinem Alter und ihr wärt bestimmt gute Freundinnen geworden.«

»Was ist geschehen?«, fragte Brenner.

»Sie wurden Opfer des Krieges«, log er und wob geschickt ein wenig Wahrheit mit hinein. »Hannover ist gefallen. Bei dessen Verteidigung verlor ich meine Frau und meine Tochter und wurde selbst schwer verletzt. Es war schrecklich. Ich konnte fliehen. Leider war mein Regiment versprengt. Die Franzosen formierten sich erneut und machten sich auf gen Norden. Ich verlor mein Ross auf dem Weg nach Bremen, um dort Bericht zu erstatten und mich dem dortigen Regiment anzuschließen. Wo bin ich hier?«

»Bei Verden. Etwa dreißig Kilometer bis Bremen.«

Verden? Verdammt!, fluchte er innerlich. Er dachte, er hätte es bereits hinter sich gelassen. Noch dreißig Kilometer! Und zwei verlorene Tage. Er spürte ein intensiver werdendes Kribbeln im Nacken. Die Präsenz näherte sich unaufhaltsam. Staehn musste handeln. Schnell.

»Ihr spracht von einem verletzten Tier, um dass ihr euch kümmern wolltet. Vielleicht kann ich euch helfen?«, fragte er.

»Gerne«, antwortete Brenner.

 

Charlotte blickte ihrem Vater besorgt hinterher, als die beiden Männer den Raum in Richtung Stallung verließen. Der Mann machte ihr große Angst.

Im Stall fanden Brenner und Staehn einen schwach atmenden Bullen auf dem Boden liegen. Tiefe Bisswunden waren am Hals des Tieres zu sehen.

»Verdammtes Wolfspack!«, fluchte Brenner. »Schade um dich, alter Junge«, kniete er sich zu ihm und meinte zu Staehn: »Das Beste wird sein, ihn mit einem Halsschnitt ausbluten zulassen.«

»Ich denke genauso. Womit?«, fragte Staehn und Brenner deutete auf eine der Stallwände, wo Werkzeuge und Messer hingen. Staehn nahm ein geeignetes Messer und kam zurück.

»Wahrlich eine Verschwendung an Leben …«

»Das ist es«, stimmte ihm Brenner zu.

»… aber es ist notwendig«, sprach Staehn ruhig weiter und stach blitzschnell tief in Brenners Hals, durchtrennte gekonnt die Halsschlagader und ließ beim Herausziehen des Messers dem Blut freien Lauf. Brenner griff sich an den Hals und versuchte zu schreien und sich aufzurichten, aber nur gurgelnde Laute entwichen seiner Kehle. Mit einem Tritt warf Staehn ihn zu Boden und sah zu, wie sich Brenner nach Luft ringend in seinem Todeskampf wand. Kurz darauf erschlaffte Brenners Körper.

Staehn handelte schnell. Er beugte sich ächzend hinab zu Brenner, schnitt dessen Hemd auf und stach mit einem kräftigen Hieb in dessen Brustmitte. Er zertrennte gekonnt Haut, Muskeln und Gewebe, welche den Brustkorb zusammenhielten. Mit einem gierigen Blick und schier übermenschlichem Willen ließ er seine Finger in den geschaffenen Spalt gleiten und riss die beiden Hälften auseinander. Vor ihm tat sich die Kostbarkeit auf, nach der er verlangte: das Herz. Seine Augen leuchteten bei diesem Anblick. Binnen Augenblicken zerschnitt er wie von Sinnen Adern und Gewebe und legte das Herz frei. Er ergriff es mit beiden Händen, biss genüsslich hinein und verspeiste die saftigen Stücke.

Erleichtert ließ er von der Leiche Brenners ab, als er eine Wärme in sich aufsteigen und eine vertraute Kraft – die einverleibte Seele Brenners – durch seinen Körper strömen spürte, die seine Verwandlung begann. Er würde nicht mehr Gabriel Staehn sein, sondern konnte sich aufgrund des verzehrten Herzens in einen neuen Körper verwandeln, den Körper Johann Brenners, und dank dessen Seele unauffindbar durch die ihn jagende Präsenz sein.

Soweit er gesehen hatte, lebte die Familie Brenner allein auf dem Landgut. Die Leiche würde er am nächsten Tag entsorgen, dachte er. Anstatt kostbare Zeit zu vergeuden, wollte er so schnell wie möglich zurück.

Anna und Emma, nein, Brigita und Charlotte erwarten mich, dachte er.

Nachdem er sich in einem Trog gewaschen und Hose und Schuhe mit seinem Opfer gewechselt hatte, ging er zurück ins Haus: zu seiner neuen Familie.

 

Charlotte räumte gerade die Teller in den Schrank, als ihr Vater fluchend die Küche betrat: »Dieser preußische Mistkerl! Er hat mich im Stall wieder angegriffen.«

»Was ist passiert?«, fragte seine Frau besorgt, als sie sich ihm zudrehte.

»Wir wollten den Bullen ausbluten lassen. Als er mich mit dem Messer sah, ging er auf mich los. So was Verrücktes!«, erklärte er.

»Wo ist er jetzt?«

»Ich habe diesem Sauhund einen kräftigen Tritt versetzt und ihn mit der Mistgabel zum Teufel gejagt! Der kommt nicht mehr wieder, Gita«, antwortete er, ging auf seine Frau zu, nahm sie in den Arm und küsste sie.

Sie fühlte sich gut an in seinen Armen. Er genoss ihre weichen Rundungen und ihr Kuss schmeckte süß. Danach sah er zu Charlotte rüber, lächelte sie an und zerzauste frech ihr Haar.

»Es ist alles in Ordnung, Emm…«, er hielt kurz inne, seinen Fehler bemerkend, und sprach unbeirrt weiter »… Lotta. Der böse Mann ist fort, für immer.«

Er löste sich von seiner Frau und setzte sich an den Tisch, wo er beiden mit einem Lächeln dabei zusah, wie sie in der Küche arbeiteten.

Er fühlte sich schmerzlich an sein früheres Leben als Veith Wollitz erinnert, als er vor über zehn Jahren in die Landwehr eingetreten war, um sein Land vor den einfallenden Franzosen zu beschützen. Wer hätte gedacht, dass er von Tod, Hunger und Krankheit getrieben menschliches Fleisch kosten würde. Beim Verzehren des Herzens hatte er entsetzt festgestellt, dass er die Fähigkeit erlangt hatte, sich in sein Opfer zu verwandeln. Er zerbrach innerlich und verfiel völlig dem Wahnsinn. Dem Verlangen nach dem süßen Geschmack des köstlichen Fleisches hatte er seitdem nicht widerstehen können.

Ein menschlicher Funke brannte noch in ihm. Wer hätte gedacht, dass er seine Frau Anna und sein Töchterchen Emma verlassen musste, um sie stattdessen vor ihm zu schützen? Er war seitdem heimatlos, mit dem steten Verlangen nach menschlichem Fleisch. Ein Gehetzter, der seine Spur vor seinem ewigen Verfolger, Tod, der seine Seele und all die verschlungenen, gestohlenen Seelen eintreiben wollte, verbarg.

»Johann, was ist mit dir?«, entriss ihn Brigita seinen Gedanken.

»Ich musste daran denken, dass ich der glücklichste Mensch auf der Welt bin, gesegnet mit dir und Lotta«, antwortete er voll Erleichterung. Ehrlicher, als in diesem Moment, hatte er sich seit Jahren nicht mehr gefühlt.

Brigita Brenner lächelte und warf ihrem Mann einen Kuss zu. Er fragte sich, ob es ihm gelingen könnte, als Johann Brenner ein guter Familienvater zu sein. Tod würde ihn nicht finden können, wobei es darauf ankommen würde, wie lange die Lebensuhr von Johann Brenner gewesen wäre, bevor er ihn töten musste. Hätte er Jahre oder Jahrzehnte als Brenner?, fragte er sich.

»Es wird Zeit fürs Bett, Lotta«, sagte Brigita.

»Darf ich noch meinen Lämmern Gutnacht sagen, Mutter?«

»Ja, aber mach schnell«, antwortete Brigita, bevor Johann noch verneinen konnte, um diese wahnsinnige Irrfahrt des Schicksals zu beeinflussen. Charlotte eilte in Richtung Stallung hinaus.

Charlotte Brenner lief direkt zu ihren Lämmern im kleinen Teil der Stallung, öffnete das Gatter und lächelte, als einige Lämmer auf sie zuliefen und sie blökend begrüßten. Die Schlafenden öffneten ihre Augen und richteten sich auf.

»Ja, da bin ich, ihr Lieben. Ohne euch Gutnacht zu sagen, lasse ich euch doch nicht allein«, sprach sie liebevoll, betrat den kleinen Raum und mischte sich unter ihre Schafe, die sich um sie drängten. Sie kraulte ihr weiches Fell, sprach dabei leise mit ihnen und erfreute sich an ihren Mählauten. Charlotte spürte nicht, dass sich von außen ein Augenpaar genähert und auf sie gerichtet hatte und sie beobachtete.

»Ich muss gehen, meine Lieben, aber wir sehen uns morgen. Schlaft gut«, sprach Charlotte, die beinahe die Zeit vergessen zu haben schien.

Sie kam am Raum des schwer atmenden Bullen vorbei und erhaschte neben dem Bullen einen Blick auf einen halb nackten, blutverschmierten Körper. Ungläubig schreckte sie einige Schritte zurück, als sie ihren toten Vater erkannte, und stieß plötzlich auf ein Hindernis hinter sich. Sie drehte sich erschrocken um und sah hinauf in das entspannte Gesicht ihres Vaters.

Doch etwas an ihm ließ sie in panischer Angst zurückschrecken. Seine Augen. Die gleichen Augen des Soldaten. Durchbohrend und abgründig. Sie setzte zu einem schrillen Schrei an, doch dieser blieb in ihrer Kehle stecken, als ihr Brenner mit einer blitzschnellen Bewegung das Genick brach. Der Kindskörper sackte zusammen. Brenner zückte sein Messer.

 

Nachdem der Landwirt die beiden Leichen sicher im Brunnen an der Stallung entsorgt hatte, betrat er das gemeinsame Schlafzimmer und versuchte, sich nichts anmerken zu lassen.

»Was ist mit dir, Johann? Geht es um unseren Bullen oder macht dir der Preuße Sorgen?«

»Ja, der Bulle«, log er und versuchte, seiner Stimme die nötige Wut zu geben. »Er war ein gutes Tier und es ist eine verdammte Schande, dass er so sterben musste.«

»Wir werden einen neuen Bullen kaufen. Sobald die Landwehr die Wölfe ausgerottet hat, werden unsere Tiere und wir wieder sicher sein«, tröstete sie ihn. »Hast du nach Lotta geschaut?«

»Ja, sie hat sich schlafen gelegt und schlummert tief und fest«, antwortete er nachdenklich.

Das Glück als Johann Brenner währte nur kurze Zeit. Er musste akzeptieren, dass er seinem Fluch nicht entkommen konnte. Charlotte war ihm zum Opfer gefallen und auch Brigita würde diese Nacht nicht überleben.

Er sah Brigita an, die sich zur Nachtruhe richtete, und folgte ihren weiblichen Rundungen. Er spürte eine Begierde in sich aufsteigen, begann sich zu entkleiden und kroch ins Bett. Sie löschte die Kerze und wurde von Brenners Arm auf ihrem Kopfkissen begrüßt. Er drückte sich enger an sie.

»Johann …«

»Schhhhh …«, flüsterte er und küsste sie zärtlich. Sie roch verlockend und schmeckte noch besser. Er spürte das bekannte Gefühl des hungrigen Verlangens in ihm aufsteigen. Sein zärtlicher Kuss wurde intensiver und sie spürte seine Erregung an ihrem Schenkel. So leidenschaftlich war er seit Langem nicht mehr, wunderte sie sich.

»Johann, was …«, wollte sie fragen, doch er presste lustvoll seine Lippen fester auf die ihren, während seine Hände sie mit einer wilden Rauheit packten, die sie erschreckte. Sie versuchte, ihn von sich zu drücken, doch er lag schwer auf ihr, biss ihr beinahe auf die Lippen und zerrte mit seinen Händen an ihrem Stoff.

Sie sah in seine durchdringenden Augen. Diese Augen. Diese Augen kannte sie nicht. Das waren nicht die Augen ihres liebevollen Mannes. Sie schrie, wehrte sich kratzend und fing an, mit ihren Armen und Beinen um sich zu schlagen. Er drückte sie mit seinem Gewicht nieder, packte ihren Hals mit beiden Händen und drückte fest gegen ihren Kehlkopf. Ihr Schrei wurde zu einem Röcheln. Sie versuchte, sich mit aller Kraft gegen seinen Würgegriff zu wehren. Vergeblich. Ihre Kräfte schwanden, ihr Blick trübte sich, und absolute Finsternis übermannte sie.

Brenner streckte sich sofort nach dem Messer, das er versteckt hielt, und begann sein blutiges Werk. Danach schlief er zufrieden und erschöpft ein, während sich ein Unwetter mit Donnern und Blitzen ankündigte.

 

Zur Mitternachtsstunde wurde Brenner durch ein Klopfen an der Eingangstüre aus seinem Schlaf gerissen. Er behielt dennoch die Ruhe, denn die sich seit Tagen nähernde Präsenz, die er befürchtet hatte, spürte er nicht mehr. Das Klopfen wurde wiederholt, diesmal kräftiger.

»Öffnen Sie die Türe, im Namen Ihrer preußischen Majestät, König Friedrich Wilhelm des Dritten«, befahl eine resolute, kommandierende Stimme.

Preußische Soldaten! Ach ja, da war ja was. Brenner musste sich ein Schmunzeln verkneifen. Er ging mit einer brennenden Kerze zur Eingangstüre und setzte ein erschrockenes Gesicht auf, als er diese öffnete.

»Verzeihen Sie die späte Störung«, entschuldigte sich ein durchnässter, junger Leutnant, der Brenner in disziplinierter, akkurat-preußischer Haltung begrüßte.

»Tretet ein, Herr, bevor Ihr Euch noch den Tod holt«, deutete Brenner einladend ins Innere.

»Danke. Wir sind auf der Suche nach einem flüchtigen Gefreiten.«

»Hier war niemand, Herr«, antwortete Brenner so aufrichtig wie möglich.

»Ich muss Sie bitten, mich umsehen zu dürfen.«

»Natürlich, Herr. Aber außer meiner Tochter Emma und meiner Frau Anna ist hier niemand.«

Der Leutnant schenkte ihm ein breites Lächeln. Dann öffnete er die Eingangstür, brüllte in die Dunkelheit: »Durchsucht den gesamten Hof und schaut in den Ställen nach! Staehn muss hier irgendwo sein!«, und wandte sich erneut Brenner zu. »Gabriel Staehn, ein gemeiner Mörder und Deserteur«, hörte ihm Brenner zu, während er sich den Leutnant genauer ansah.

Ja, so ein Leutnant würde mir auch gut stehen, dachte er und lachte innerlich.

»Wecken Sie ihre Frau und ihre Tochter! Das Haus muss gleichsam gründlich durchsucht werden!«, befahl der junge Leutnant.

»Sofort, Herr«, erwiderte Brenner. Ein Plan nahm in ihm Form an, als er ins Innere des Hauses ging, während der junge Leutnant wartete.

Brenner sah Brigitas ausgeweidete Leiche auf einer Seite des Bettes liegen, dessen Laken mit Blut vollgesogen waren. Das dürfte ihn ablenken, dachte er. Er ergriff das Messer und verbarg die blutige Klinge unter seinem Ärmel. Dann stellte er sich, den Blick ins Schlafzimmer gerichtet, in den Türrahmen und ließ einen lauten, erschreckten Schrei los. Wie zu erwarten, hörte er schnelle Schritte herbeieilen.

»Was ist geschehen, Mann?«, rief der junge Leutnant und versuchte, einen Blick ins Schlafzimmer zu erhaschen.

»Nichts, Herr …«, antwortete Brenner ruhig, der sich blitzschnell umdrehte und dem Leutnant sein Messer tief in den Hals rammte. »… ich wollte Euch hier töten, statt im Hauseingang.« Er blickte dem Leutnant dabei tief in die überraschten Augen, zog das Messer heraus und stach ein weiteres Mal zu.

Statt vor Schmerzen aufzuschreien oder in sich zusammenzusacken, stand der junge Soldat weiterhin vor Brenner, durchdrang ihn mit seinen kalten Augen und warf ihm ein spöttisches Lachen entgegen. Verwirrt wollte Brenner ein drittes Mal zustechen, als ihm der Soldat das Messer aus der Hand schlug.

»DENKST DU, NUR DU WÄRST DER MASKERADE FÄHIG?«

Diese tiefe, markerschütternde Stimme traf ihn wie ein Faustschlag in den Magen und ein heftiger, eiskalter Schauer zog plötzlich von seinem Nacken seinen Rücken hinab. Tod. Nein, das kann nicht sein! Wie hat er mich finden können? Panik breitete sich in ihm aus, aber noch war er nicht besiegt. Er stolperte zurück und ließ sein lächelndes Gegenüber nicht aus den Augen.

»ES WIRD ZEIT, VEITH. DEINE FLUCHT UND DEIN VERSTECKSPIEL SIND ZU ENDE!«

»Nein!«, schrie dieser, suchte und fand das Messer.

»DUMMER NARR! DU KANNST MIR NICHT ENTKOMMEN! NIEMAND KANN MIR ENTKOMMEN!«

Brenner setzte zum verzweifelten Angriff an und stürmte los. Der Arm des jungen Leutnants schnellte vor, seine Hand legte sich wie eine Schlinge um Brenners Hals und hob ihn gegen die Zimmerdecke.

»SIEH DICH AN, VEITH. DU BIST EIN MONSTRUM, EIN MÖRDER UND EIN DIEB! DU HAST DEINE MENSCHLICHKEIT VERLOREN. DAS EINZIG MENSCHLICHE AN DIR IST DEINE SINNLOSE FLUCHT. UND ZU WELCHEM PREIS? EWIGE FLUCHT VOR DEM UNFLIEHBAREN«, lachte der junge Leutnant.

»Du kannst mich nicht töten, denn ich bin Johann Brenner. Meine Zeit ist noch nicht abgelaufen!«, keuchte jener und versuchte, sich aus dem Griff zu befreien.

»MIR GEBÜHRT, WAS DU GERAUBT HAST!«

Der freie Arm des jungen Leutnants schnellte vor und drang in Brenners Brust ein. Ein brennender Schmerz raubte ihm den Atem und ein Feuer schien sein Inneres zu verzehren. Er schrie auf, wand sich und versuchte, den Arm wegzuschlagen. Vergeblich. Die Hand umklammerte das Herz. Brenner spürte seine Kräfte schwinden und sah sich von allen Seiten von einer Düsternis verschlungen. Als sein Herz seinen Körper verließ, verstummten seine Schreie und der leblose Körper stürzte auf den Schlafzimmerboden.

Der junge Leutnant entnahm von dem Herzen kleine, leuchtende Sphären, die Seelen. Wie zum Abschied, erhaschte Veith Wollitz für einen kurzen Augenblick einen letzten Blick auf seinen eigenen Körper, den er vor über zehn Jahren gehabt hatte, auf dem Schlafzimmerboden liegend.

 


Elisa Bergmann: Die Linde

 

 

Schön, dich zu sehen, alter Freund! Du siehst alt aus, die vielen Jahre sind auch an dir nicht spurlos vorübergegangen. Die wenigen Haare, die dir geblieben sind, sind grau und da sind auch schon so einige Falten in deinem Gesicht. Du siehst müde aus, und dein Gang ist langsam und zögernd, als hättest du einen langen Marsch hinter dir und als würde dich dein Weg zu einem ungeliebten Ziel führen, das zu erreichen es möglichst lange rauszuzögern gilt. Ist es wirklich schon vierzig Jahre her, seit wir als Studenten der Kunstakademie von Dresden in dieses schöne, kleine Städtchen an der Neiße gekommen sind? Weißt du noch, wie wir den Sommer über am Neptunbrunnen saßen und die Damen beim Flanieren zeichneten? Überall dort, wo Leben war, waren auch wir Studenten zu finden und skizzierten und malten Häuser, Menschen, einfach das Leben! Das wollten wir auf das Papier oder die Leinwand bannen! Wir waren so unbeschwert und frei, nichts hielt uns auf!

Auch hier, auf dem kühlen Nikolaikirchhof, haben wir unter den Bäumen gesessen, geschützt vor der Hitze der Sonne und die großen, imposanten Grabmäler der reichen und einflussreichsten Familien der Stadt gezeichnet. Du schüttelst den Kopf? Aber ich erinnere mich genau! Dort drüben hast du gesessen, den Gehrock neben dir ins Gras gelegt, die Hemdärmel hochgekrempelt und eifrig die Gruften der Fröhlichs und Emmerichs mit Kohle auf das Papier gezeichnet!

Was für eine Stadt! Nicht nur zum Leben, auch zum Lieben! Neben unseren zahlreichen Zechgelagen machten wir auch den schönsten Mädchen der Stadt den Hof. Ach, sag jetzt nichts! Jede Woche ein anderes Liebchen! Die Anne, die Katharina und die Marie, ja, das war ein Frauenzimmer, bei dem wohlgeformten Leib wäre ja wohl ein Heiliger schwach geworden! Der Weg über den Friedhof war der schnellste zu ihrem Haus, ich bin hier oft in der Dämmerung hinübergeschlichen und habe sie heimlich getroffen, denn ihr Vater hätte mir wohl schon eher den Hals umgedreht, wenn er mich mit ihr erwischt hätte. Ein armer Student, der war nicht gut genug für seine schöne Tochter! Ach, ist das alles lange her! Ab und zu sehe ich sie heute noch. Sie ist längst kein rotwangiges, kicherndes Mädchen mehr. Ein kleines, graues Mütterchen ist aus ihr geworden und längst ist ihre Schönheit verblüht, bin ich froh, dass ich sie damals nicht genommen habe!

Nun lauf doch nicht so schnell, alter Freund! Wir haben doch Zeit und wir sehen uns so selten, oder langweile ich dich mit meinem Geschwätz von der Vergangenheit? Komm, lass uns noch ein bisschen auf dieser Bank ausruhen, bevor wir weitergehen. Warum seufzt du denn so schwer? Ich habe dir nie erzählt, was in der Nacht damals eigentlich passiert ist. Das war schon eine unheimliche Sache. Du magst doch Schauergeschichten?

 

Ich war auf dem Weg zu einem Stelldichein mit meiner Marie, natürlich habe ich wie immer diese Abkürzung genommen. Es war ein ziemlich kalter Abend, der Sommer war längst vorbei und ich hätte schon lange zu dir nach Dresden zurückkehren sollen, aber die Liebe hielt mich hier. Mein Sommergehrock schützte mich nicht länger vor der Kälte, und es fror mich erbärmlich, aber es fehlte mir das Geld für einen Winterpelz. Ich war gerade über das Tor geklettert und mein Blick wanderte an der Kirche entlang. Sind dir je die Totenköpfe an den Ecken aufgefallen? Wir waren so oft hier, aber ich bemerkte sie erst an jenem Abend. Ich muss schon oft an ihnen vorbeigegangen sein, und habe sie jedes Mal übersehen, jedenfalls grinsten sie mich plötzlich in der Dämmerung an, hab ich mich erschrocken! So oft wie ich bei Nacht den Kirchhof überquert hatte, ohne dass es mir je etwas ausgemacht hätte, zwischen den Häusern der Toten umherzugehen, war es das erste Mal, dass es mich auf dem Kirchhof gruselte. Kurz überlegte ich, zurückzuklettern, doch dann schalt ich mich selbst einen Hasenfuß und dachte daran, dass ich mit dem Umweg, den ich gehen müsste, zu spät zu meiner Verabredung kommen würde.

»Einen guten Abend, junger Herr«, sagte da plötzlich eine Stimme. Ich glaube, mein Herz setzte kurz aus, als ich so plötzlich angesprochen wurde, und ich wäre beinahe vor Schreck gestorben. Da saß ein alter Mann, vielleicht sechzig Jahre alt, genau auf dieser Bank, auf der wir jetzt sitzen, und hatte den Kopf der Linde dort drüben zugewandt. Ich hatte ihn nicht bemerkt. Er saß dort in der Kälte und trug die, nebenbei gesagt, viel zu dünne Tracht eines Geistlichen, ich nahm also an, dass ich es mit dem Pastor der Nikolaikirche zu tun hatte. Er musste mich beobachtet haben, wie ich zu so später Abendstunde wie ein Dieb über das Tor geklettert war und auch, wie ich einen Narren aus mir machte, als ich vor den steinernen Totenköpfen zurückschreckte, als wäre mir der Leibhaftige persönlich begegnet.

Ich war peinlich berührt und erwartete natürlich, eine scharfe Zurechtweisung wegen des unerlaubten Eindringens. »Guten Abend, Hochwürden«, stammelte ich.

Zu meiner Überraschung fragte er, nicht unfreundlich klingend: »Könntet Ihr so nett sein, mein junger Freund, und mich ein Stück führen? Ich bin blind und kann den Weg nicht allein finden.«