Michael J. Awe, Andreas Fieberg,

Joachim Pack (Hrsg.)

GEGEN UNENDLICH

Phantastische Geschichten

 

 

AndroSF 56

 


Michael J. Awe, Andreas Fieberg, Joachim Pack (Hrsg.)

GEGEN UNENDLICH

Phantastische Geschichten

 

AndroSF 56

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

© dieser Ausgabe: Januar 2017

p.machinery Michael Haitel

 

Titelbild: Stefan Böttcher, »Intergalaktischer Bergbau auf Onostro IV«

Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda, Xlendi

Lektorat: Michael Haitel

Herstellung: global:epropaganda, Xlendi

 

Verlag: p.machinery Michael Haitel

Ammergauer Str. 11, 82418 Murnau am Staffelsee

www.pmachinery.de

für den Science Fiction Club Deutschland e. V., www.sfcd.eu

 

ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 079 5

 


Vorwort

 

 

»GEGEN UNENDLICH. Phantastische Geschichten« ist eine E-Book-Reihe, die es mittlerweile auf zehn Ausgaben gebracht hat. Anlass genug, eine Auswahl daraus als gedrucktes Buch herauszubringen. Von Science-Fiction bis hin zur Geistergeschichte zeigen die Stücke, die wir Ihnen präsentieren, die Vielfalt unseres Lieblingsgenres und sind, unabhängig vom Entstehungsjahr, von zeitloser Faszination.

Das Herausgebertrio von »GEGEN UNENDLICH. Phantastische Geschichten« – Michael J. Awe (ehemals Michael Blasius), Andreas Fieberg und Joachim Pack – treibt es schon seit einiger Zeit im Bereich der Science-Fiction und Fantastik um. Für die kurze Form hatten sie schon immer ein Faible, umso mehr freut es sie, dass die Kurzgeschichte seit einiger Zeit in der Lesergunst aufholt. Den Zuspruch, den sie findet, nur mit moderner Schnelllebigkeit und mundgerechter Portionierung zu erklären, greift allerdings zu kurz. Eine Kurzgeschichte ist kein Miniroman. Sie unterliegt anderen Gestaltungsprinzipien, die ihren eigenen Reiz und ihren Charme ausmachen.

Im angelsächsischen Sprachraum, der gerade im Bereich der Science-Fiction und Fantastik prägend war (und ist), steht die »short story« als Gattung gleichwertig neben der »novel«. Zahllose Magazine, die die Kurzgeschichte verbreiten, ermutigen dort die Autoren, ihr Glück in dieser Sparte zu versuchen. Auch in dieser Hinsicht wird im deutschen Sprachraum bisher Vernachlässigtes nachgeholt – heute sind neben den Anthologien die Erzählbände einzelner Autoren keine Seltenheit mehr, von einschlägigen Periodika, in denen ein Roman schon aus formalen Gründen keinen Platz hätte, ganz zu schweigen. Es hat sich viel getan, viel ist in Bewegung geraten.

Mustergültige Belege, die zeigen, wie lebendig die Gattung ist, lieferten unsere Autoren mit glänzenden neuen Geschichten, aber auch mit neu veröffentlichten Texten. Unter all diesen Beiträgen waren für uns – und unsere Leser – echte Entdeckungen: Beispielhaft möchten wir Ute Dietrich, Uwe Durst, Silke Jahn-Awe, Peter Nathschläger und Christian Weis nennen. Unter den alten Hasen, von denen wir Bewährtes, zum Teil lange Vergriffenes neu zugänglich gemacht haben, befinden sich einschlägige Namen wie Jörg Isenberg, Hubert Katzmarz †, Monika Niehaus, Marc-Ivo Schubert, Malte S. Sembten † und Michael Siefener. Erwähnung verdienen auch Fernando Sorrentino, Norbert Golluch und Uwe Hermann, die alle eine – in dem Genre seltene – humorvolle Spielart vertreten. Klassiker des Genres, vergessene Perlen und Übersetzungen ergänzten die Palette.

Den individuellen Neigungen der Herausgeber folgend, gehen jeweils Geschichten unterschiedlicher Ausrichtung in die einzelnen Ausgaben der Reihe ein. Dabei liegt der Schwerpunkt eher auf jener Sparte, in der sich das Unglaubliche und das Wunderbare verhalten zu Wort melden, daneben gibt es auch immer wieder willkommene Ausflüge in Horror und Science-Fiction.

So macht der Leser Bekanntschaft mit umtriebigen Gespenstern, boshaften Erscheinungen, mit Freaks, Sonderlingen und Außenseitern, aber auch mit dem Schicksal, das an die Tür klopft, und mit Visionen von einer Zukunft, von der man sich wünscht, sie wäre schon Vergangenheit. Er wird von magischen Welten erfahren, von fernen Planeten, auf denen man alte Bekannte trifft, von Experimenten, die schiefgehen, von Hoffnungen, um die die Helden betrogen werden, vom Kampf gegen die eigenen Dämonen, von einer Technik, die sich gegen ihre Schöpfer wendet, von einem Fortschritt, der erst seinen Nutzen auffrisst und dann seine Nutzer auslöscht, und von der manchmal zweifelhaften Suche nach dem Heil zwischen den Sternen.

Abgerundet werden die Ausgaben gelegentlich von einem Essay, der den Verästelungen des Genres nachspürt. Alle Nummern der Reihe sind im Kindle Shop verfügbar; eine komplette Liste findet sich im Anhang.

Begleiten Sie uns auf eine fantastische Reise, die gleichermaßen in vertraute und unbekannte Regionen führt, ganz nach dem Motto: »Das Wissen ist endlich, die Fantasie nicht.«

Lassen Sie sich gut unterhalten!

 

Die Herausgeber

Awe, Fieberg, Pack

Bonn, Januar 2017

 


Uwe Durst: Maleks Versteck

 

 

Als sein Vater starb, war Thomas Malek dreißig Jahre alt. Er erbte das Lebensmittelgeschäft und blieb ohne Verwandtschaft auf der Welt zurück. Nur eine Vetterin war am Leben, Lidia Paulina, die gleichfalls ein Zwerg war, und sie heirateten einander.

Paulina hatte schwarze Augen, trug ihr dunkles Haar fast immer zu einem Zopf geflochten und war, anders als die meisten Zwerge, durchaus nicht häßlich. Überdies läßt sich selbst in den Umarmungen einer winzigen Frau viel Vergnügen finden.

Malek liebte Paulina. Wenn er nachts im Bett lag und auf ihren ruhigen Atem horchte, überkam ihn fast schmerzlich das Bewußtsein seines Glücks; und der Gedanke quälte ihn, daß es nicht von Dauer sein werde. Jede Lust, wußte der Händler, findet ihr Ende, und die Erinnerung an die verlorene Seligkeit gebärt die Pein. Das Glück ist für jedermann nur das Vorspiel der Marter. Doch um wieviel mehr bedrückt es eines Zwergen Kinderherz!

Malek hütete seine Frau, die er am Tag nicht aus den Augen ließ; und ging er abends außer Haus, um sich zu betrinken – denn der Alkohol beschwichtigte seine Furcht –, band er sie mit einem Strick ans Bett, um ihr keine Gelegenheit zum Ehebruch zu geben. Solcherart hoffte er, der Vergänglichkeit des Glücks ein Schnippchen zu schlagen.

Der Händler arbeitete fleißig, feilschte unbarmherzig, wenn er auf dem Großmarkt frische Lebensmittel erwarb, und sein Geschäft hatte viele treue Kunden, zumal sich diese bei jedem Besuch des Ladens der dreifachen Freude hingeben konnten, billig einzukaufen, mißgestalteten Menschen ein Auskommen zu geben und die eigentümliche und zum Lachen reizende Geschäftigkeit der Zwerge zu beobachten.

Es versteht sich, daß der Laden für normal Gewachsene eingerichtet war; die Wohnung jedoch, die sich im ersten Stock befand und vom Laden aus über eine Wendeltreppe erreichen ließ, ähnelte einer Puppenstube.

Niemals empfing das Ehepaar Besuch, denn es war dem Gatten zuwider, jemanden über die Bedingungen seines Daseins zu unterrichten. Weder hatte er die Absicht, sich zum Gespött der Leute zu machen noch Neider herbeizuziehen. Kein Schimmer seines Glücks sollte nach außen dringen, und da alle Frauen zur Geschwätzigkeit neigen, wurde er nicht müde, Paulina mit strengem Blick anzusehen und sich den Zeigefinger auf den Mund zu legen.

Jahre vergingen auf diese Weise, und noch viele derartige Jahre wären gefolgt, hätte der Händler nicht eines Abends seinen Geldbeutel unter der Ladentheke vergessen. Er kam zurück, schloß das Geschäft auf, trat ein und erstarrte; denn aus der Wohnung war ein Schrei zu hören, der sich endlos wiederholte, als dränge ein Messer ein ums andere Mal in Paulinas Fleisch.

Der Zwerg lauschte minutenlang.

Dann verließ er das Geschäft, während die Schreie noch immer fortdauerten. Er schloß die Ladentür ab und ging davon, um, wie üblich, erst tief in der Nacht heimzukehren.

Gegen Morgen ergriffen ihn Schüttelfrost und Fieber.

Der Arzt trat an sein Bett, Malek glaubte zu erfrieren. Er sah, wie der Doktor die Stirn runzelte und Paulina beiseite nahm, und er hörte, daß der Mediziner leise mit ihr sprach. Er erkannte, daß es schlecht um ihn stand, und der Gedanke erbitterte ihn, als ein Gedemütigter aus dem Leben zu scheiden.

»Lieber Gott«, flüsterte Malek, »laß mich gesund werden, damit ich mich rächen kann.« Er spitzte die Lippen, als beugte sich der Herr an seinen Mund, und er schmeichelte und bettelte, daß der Tod ihn verschonen möge.

Über einen Monat dauerte die Krankheit; Maleks Augen glitzerten wie die eines Verrückten, und er sprach irr. Schließlich aber erholte er sich: das Fieber sank, die Wangen röteten sich neu; allein die Kälte verblieb, die in ihn eingedrungen war, und Malek begann, sich mit Schnäpsen zu wärmen, die er über den Tag hinweg in steigender Zahl zu sich nahm. Jeden Abend besuchte er die Kneipe, um Paulina zu entgehen, an der er häufig, nun, da er darauf achtete, einen schwachen, lauwarmen, faulig-süßlichen Geruch bemerkte, der seiner Aufmerksamkeit bislang entgangen war und auch dem Bettzeug anhaftete. Was soll ich jetzt tun? überlegte er.

Sobald morgens der Wecker schellte, beschäftigte sich Malek mit dieser Frage; während des Tags dauerte die Grübelei fort, die nur durch die lästigen Gespräche mit Paulina oder der Kundschaft unterbrochen wurde; jeden Bissen, den er aß, begleiteten die gewagtesten Gedanken; und am Abend, wenn er sich betrunken die Bettdecke über die Schultern zog, folgten sie ihm hinein in seine Träume.

Wie ungerecht, meinte er, war doch die Welt eingerichtet. Jedermann, der ein Verbrechen beging, konnte anschließend in eine andere Stadt oder ein fremdes Land flüchten. Er legte sich einen neuen Namen zu und falsche Papiere, änderte vielleicht seine Frisur oder ließ sich einen Bart wachsen, und schon war er im Getümmel der Menschen verschwunden. Nur ein Zwerg konnte sich nirgendwo verstecken, er blieb immer ein Zwerg, den man begaffte. Hing sein Steckbrief erst an allen Litfaßsäulen, dauerte es nicht lang, bis man den Verbrecher ergriff.

Je eingehender Malek darüber nachdachte, desto hoffnungsloser erschien ihm seine Lage. Nicht nur war es ihm unmöglich, eine Untat zu verüben, wie er sie zu vollbringen wünschte. Es blieb ihm auch, sofern er sich einen kläglichen Rest seiner Würde bewahren wollte, nichts anderes übrig, als seine Frau gewähren zu lassen und sich unwissend zu stellen. Freilich konnte er plötzlich zur Tür hereinkommen und das unzüchtige Paar überraschen; doch der Gedanke war absurd, daß Paulina und ihr Liebhaber ihre Sünde darum bereuen und ihn um Verzeihung bitten würden. Weit eher lachten sie ihn aus. Es bestand sogar die Möglichkeit, daß sie ihr Liebesspiel fortsetzten, so als sei er gar nicht vorhanden oder unbedeutender als eine Spinne an der Wand.

Die Vorstellung, wie sich Herrn Kakuschkes fettes Gesicht vor Gier entstellte, ließ Malek, der sehr bald herausgefunden hatte, wer der Liebhaber war, vor Abscheu erzittern: Hinter Mülltonnen versteckt, hatte er im Schutz der Dunkelheit auf ihn gewartet. Mit breitem Schritt stieg Kakuschke die Außentreppe hinauf, zog einen Schlüssel aus der Hosentasche und betrat die Wohnung, in der ihn Paulina, ans Bett gefesselt und liebestoll, erwartete. Wann und wie es ihr gelungen war, ihm den Schlüssel zu geben, blieb dem Zwerg ebenso ein Rätsel wie die Frage, auf welchem Wege das Verhältnis zwischen ihnen entstanden war. Kakuschke spießte Paulina auf wie ein Insekt; sie strahlte, alles Scheue und Furchtsame war aus ihrem Gesicht verschwunden. Ihr zarter Körper bäumte sich und streckte und verrenkte seine Glieder unter der Gewalt des Ungetüms. Malek brach in Tränen aus.

Sein Kopf reichte kaum über den Tresen, er war betrunken und rief Unverständliches, um den Wirt zum Nachschenken aufzufordern. Die Eingangstür sprang auf, Kakuschke entleerte sich in Paulinas Leib, und eine schwangere Frau trat herein. Schon in der Tür erhob sie lautes Geschrei. »Dacht’ ich’s mir doch, daß ich dich hier finden werd’«, rief sie. »Du Lump! Du Taugenichts!«

Der so Angeredete erhob sich schuldbewußt und nicht ohne Zeichen echter Furcht von seinem Stuhl.

»Du Schwein!« brüllte die Frau. Sie durchquerte den Raum und packte den Sünder wie einen kleinen Jungen am linken Ohr. Offenbar verfügte sie über erstaunliche Kraft, denn sie riß ihren Mann halb zu Boden und zerrte ihn hinter sich her. »Dir werd’ ich helfen, unser Geld zu versaufen!« schrie sie, während er ihr winselnd zur Tür hinaus folgte. Die übrigen Gäste lachten schadenfroh.

Malek hatte mit glasigem Blick die Szene beobachtet, und als die Frau, in deren Bauch ein ganzer Mensch sich verbarg, das Lokal verließ, fiel die Trunkenheit von ihm ab.

Ein außergewöhnlicher Gedanke hatte sich seiner bemächtigt. Es war ihm, als hätte sich in seinem Geist eine versperrte Tür ruckartig geöffnet, durch die er in ein bisher unbekanntes Zimmer blickte. Er legte einen Geldschein auf den Tresen und ging; und während er nach Hause schlich, ersann er jenen Plan, der ein für allemal bewies, daß selbst im Herzen eines Zwergs genügend Raum für Ehrgefühl und Kühnheit zu finden ist.

Am nächsten Tag mietete er in aller Heimlichkeit einen kleinen Lagerraum, an dessen Wände er mehrere große Spiegel hängte. Fortan übte er jeden Abend einige Stunden, bevor er sich in die Spelunke begab, um zu trinken und seinem Haar wie seiner Kleidung den Geruch von Zigarettenqualm und Bratfett zu verleihen. Paulina durfte nicht mißtrauisch werden.

Malek stahl eines ihrer Kleider und ging nach der schaukelnden Art der Zwergin vor den Spiegeln auf und ab. Die größten Schwierigkeiten bereitete es ihm, die Stimme seiner Gattin und die Ängstlichkeit in ihren Augen nachzuahmen. Letzteres gelang ihm schließlich, indem er die Lider ein wenig zusammenkniff. In den Winkeln entstanden hierdurch dünne Fältchen, wie man sie auch bei Kurzsichtigen sieht; und er spannte die Muskeln hinter den Ohren an, was seine Züge feiner und weiblicher erscheinen ließ.

Die Eheleute waren von gleicher Größe und Augenfarbe, und ob der Verwandtschaft ähnelten sich ihre Gesichter. Dennoch war ein volles Jahr vonnöten, bis sich Malek seiner Frau ganz bemächtigt hatte und es vermochte, sich in ihre Gestalt zu kleiden wie in einen Mantel.

In diesem Gewand spazierte er durch fremde Stadtteile, wo er hoffen durfte, keinem Bekannten zu begegnen, setzte sich in Cafés und betrat Drogerien, in denen er vorgab, sich für Parfums und duftende Seifen zu interessieren. Niemand schien an seiner Weiblichkeit zu zweifeln, obschon viele die Zwergin bestaunten und über sie witzelten.

Schließlich glaubte Malek, alle Gesten seiner Frau gelernt zu haben, und wagte es, selbst jenen unter die Augen zu treten, die sie kannten. Er brach einen Streit vom Zaun, dreier schwarzer Haare wegen, die Paulina im Waschbecken hinterlassen hatte. Er ohrfeigte die Zwergin, packte sie am Schopf und zerrte sie ins Bett, wo er ihr, wie üblich, Arme und Beine an die Pfosten fesselte und ihr einen Nachttopf unter den Hintern schob.

Hierauf eilte er ins Lager, verwandelte sich und lief ins Geschäft, das er pünktlich aufsperrte: Keiner der Kunden bemerkte einen Unterschied, der Versuch war ein herrlicher Erfolg. Maleks Freude hierüber kannte keine Grenzen.

Nach Feierabend ging er wiederum ins Lager, um sich der falschen Hülle zu entledigen. Anschließend kehrte er heim zu seiner Frau und befreite sie, nicht ohne ihr zuvor das Versprechen abgefordert zu haben, der Sauberkeit seiner Wohnung künftig die gebotene Aufmerksamkeit zu widmen. Zudem habe sie darauf zu achten, ihre Hand- und Fußgelenke nicht an den Fesseln blutig zu reiben, da dies die Bettwäsche beflecke.

Oft hatte Malek gefürchtet, er könnte sich an den lauen Dunst des Ehebruchs gewöhnen, der den Laken entstieg, und sich schließlich mit allem abfinden, was ihm geschah. Manch einer, der getreten wird, findet es allmählich ganz in Ordnung, gequält und getreten zu werden, und die Demütigung ist ihm bald Lust und Zärtlichkeit. Sooft Malek aber in seine Frau eindrang und die Geräusche ihrer Geilheit vernahm, kam er nicht umhin, daran zu denken, daß sie ebensolche Laute, und gewiß noch schönere, erst vor wenigen Stunden in den Armen ihres Liebhabers ausgestoßen hatte. Er begriff, daß sie seine eigenen Liebkosungen nur mit gespielter Leidenschaft ertrug, und der Zorn stieg ihm den Hals hinauf, und er haßte sie noch hundertmal mehr.

Als Tag der Vergeltung bestimmte Malek Paulinas fünfunddreißigsten Geburtstag. Wie immer kaufte er Apfelkuchen, mit dem er sie gabelweise fütterte, nachdem er jeden Bissen in frisch geschlagene Sahne getaucht hatte. Wie immer war das Wohnzimmer festlich geschmückt, wenngleich nur er selbst und seine Frau deren Geburtstag feierten, und wie immer brannten Kerzen. Unentwegt kündigte Malek das Geschenk an, das er ihr machen werde, um ihre Vorfreude anzustacheln.

Sobald es dunkel wurde, faßte er Paulina bei der Hand und führte sie ins Schlafzimmer. Er zog eine große Pappschachtel unter dem Bett hervor, die er in Geschenkpapier eingeschlagen und mit einer Schleife versehen hatte. Paulina packte sie aus, öffnete den Deckel und erblickte das Kostüm. Sie vermochte sich keinen Reim auf die Perücke zu machen, und auf die falschen Schönheitsflecke und die aus Gummi gefertigten, rosaroten Brüste.

Malek lächelte. Er streichelte ihr Gesicht.

»Ich will ein Verbrechen begehen«, erläuterte er.

Damit drückte er seine Gattin auf die Matratze, griff ein Kissen und preßte es fest auf ihr Gesicht, bis sie sich nicht mehr regte und gestorben war. Anschließend machte er sich daran, ihren Leichnam zu beseitigen.

Lange hatte er über die hierfür geeignetste Methode nachgedacht und zunächst geplant, den Körper mittels einer starken Säure aufzulösen, die er im Keller bereitstellen wollte. Aber die Idee hatte er verworfen, da für seinen Zweck eine große Menge Säure vonnöten gewesen wäre, die er weder unauffällig zu beschaffen noch hernach loszuwerden wußte. So hatte er beschlossen, Paulina in der Badewanne zu zersägen.

Ihre Knochen bereiteten Mühe, da von allem, besonders aber dem Schädel, dem Kiefer und den gleichfalls verräterischen Oberschenkelknochen nur winzigste Stücke zurückbleiben durften, die niemandes Mißtrauen erregen konnten. Er zertrümmerte die vom Fleisch befreiten Knochen mit einem Hammer. Die schwarzen Augen schnitt er entzwei. Das Blut, das sich in der Wanne gesammelt hatte, nahm er mit Wollappen auf, die er trocknete und anschließend im Ofen verbrannte. Auch seine Kleidung verbrannte er, die über und über blutig geworden war.

Die Nacht ging vorbei, und das Geschäft mußte geöffnet werden. Malek säuberte sich, zog eines der Kleider an, die Paulina ihm vererbt hatte, setzte die Perücke auf den Kopf und sprach mit der leisen, schüchternen Stimme seiner Frau. In der Mittagspause kehrte er die restlichen Knochensplitter und Fleischstückchen zusammen und wischte das Blut fort, das auf Boden und Wände und an die Decke des Bads gespritzt war.

Gewissenhaft vermischte er nun die Überreste seiner Frau mit faulem Gemüse und schüttete die Kübel in die Mülltonne, die schon am folgenden Tag geleert wurde: Durch die Schaufensterscheibe verfolgte der Zwerg, wie der Wagen den Abfall verschlang. Der Fahrer streckte sein rotes Gesicht aus dem Kabinenfenster; er winkte der Händlerin zu und zwinkerte mit den Augen. Sie machte ein Zeichen, daß sie ihn gesehen habe, und nickte freundlich.

Am folgenden Tag ging Malek zur Polizei, denn es wäre verdächtig gewesen, hätte er das Verschwinden des Ehemanns nicht zur Anzeige gebracht. Auf dem Revier tat er halb verrückt vor Sorge, was ihm um so besser gelang, als er noch in der Nacht mit der Vernichtung kleinster Blutspuren beschäftigt gewesen war und kaum eine Minute geschlafen hatte.

Ja, man habe sich oft gestritten, gab Paulina zu, und die kleine Weisheit der Polizisten war zufrieden. Sie glaubten, Malek habe seine Frau verlassen, ein banales, nicht nennenswertes Vorkommnis, das kaum die Aufnahme eines Protokolls rechtfertigte. Als der Mörder vom Revier nach Hause ging, lachte ihn die Sonne an. Das Herz hüpfte ihm in der Brust, und es schien ihm, als sei er in den warmen Leib seiner Frau geschlüpft, wie er es einst voll Liebe getan hatte.

Nun ist nicht mehr viel zu tun, dachte der Händler. Nur den Liebhaber mußte er noch loswerden.

Dieser hatte Paulina stets mittwochs besucht, und Malek erwartete nicht, ihm früher zu begegnen. Doch die Nachricht vom rätselhaften Verschwinden des Zwergs machte schnell die Runde. Unversehens trat der Müllfahrer in den Laden, sah sich um, ob tatsächlich kein Kunde zugegen sei, und begann, als er sich hiervon überzeugt hatte, laut zu lachen.

Er war bald fünfzig, fleischig und blutvoll, und eine Unmenge geplatzter Äderchen röteten sein Gesicht. Er hob Malek empor, küßte ihn auf den Mund, steckte ihm die Zunge zwischen die Lippen und drückte ihn anschließend fest an seine Brust.

»Wir haben Glück!« rief Kakuschke. »Ich wette, dein Mann ist in den Fluß gefallen und ersoffen. In ein, zwei Tagen zieht man ihn aus dem Wasser!«

Er tanzte vor Freude, wobei er den Händler wie ein Kind in die Luft warf.

Malek ekelte sich wegen des Kusses und des fauligen, leicht süßlichen Geruchs, der Kakuschkes Haut entströmte. Zudem fürchtete er, die Perücke könnte ihm vom Kopf fallen. Um sich der Zudringlichkeit des Müllfahrers zu erwehren, fing er zu weinen an, wie er es bei zahlreichen Gelegenheiten seiner Frau abgeschaut hatte.

Kakuschke hielt inne.

»Was hast du, mein Täubchen?« fragte er erschrocken und stellte Malek auf den Boden zurück.

Unter Heulen und Schluchzen erklärte Paulina, was für ein herzensguter Mann ihr Thomas sei. Kakuschke sperrte Mund und Nase auf.

Was wird sie ihm nicht alles erzählt haben! empörte sich der Zwerg. Was für Märchen hat ihm die kleine Lügnerin aufgetischt? fragte er sich.

»Wenn er doch wiederkäm’!« jammerte Paulina.

Kakuschke wich unwillkürlich einen Schritt zurück.

»Wenn er nur wiederkäm’, ich würd’ alles für ihn tun!«

»Dein Mann ist keineswegs herzensgut gewesen«, erwiderte Kakuschke mit Bestimmtheit, »sondern ein Tyrann, vor dem du dich für jede Kleinigkeit hast rechtfertigen müssen.«

Das also hat sie ihm weisgemacht, dachte Malek.

»Hast du vergessen, daß dein ganzer Leib voller Narben ist?«

Was sind ein paar Hiebe gegen das, was sie mir angetan hat? entgegnete der Händler.

»Ich hab’ ihn betrogen!« rief Paulina, zermalmt von der Last ihrer Schuld, und wischte die Tränen fort, die ihr über das Gesicht rollten. »Wenn er nur wiederkäm’. Ich wär’ ihm eine treue Frau. Das schwör’ ich.«

»Gib mir den Schlüssel zurück«, verlangte Malek.

Kakuschke tat sein Bestes, um die Geliebte zur Vernunft zu bringen, hatte aber keinen Erfolg und begriff, daß heute nichts zu erreichen war. Widerwillig händigte er ihr den Schlüssel aus und verabschiedete sich, beschloß aber, in einigen Tagen erneut vorbeizukommen, denn das weibliche Geschlecht neigt zur Hysterie und ist anfällig für Verrücktheiten aller Art. Was eine Frau heute sagt, hat sie morgen vergessen, und demjenigen, den sie am Samstag fortjagt, rennt sie sonntags hinterher.

Durch den Tränenschleier schaute Paulina dem Müllfahrer nach, der aus dem Laden trat, sich ein letztes Mal umblickte und davonging. Malek grinste höhnisch.

Die Widrigkeiten, die ihm die Ehe beschert hatte, waren ausgemerzt, und in die Freude, die er hierüber empfand, mischten sich verständlicherweise Stolz und Triumphgefühl. Malek beglückwünschte sich zu seiner großen Sorgfalt. Sein Verlangen nach Tabak unterdrückte er ebenso wie seine Lust auf Alkohol, um sich nicht selbst zu verraten. Immerhin konnte es der Müllmann bemerken, wenn der Abfall nicht den Bedürfnissen Paulinas entsprach, und mit einer Spritze saugte sich der Zwerg jeden Monat einige Kubikzentimeter seines Bluts aus der Armbeuge und träufelte es auf Damenbinden, die er gut sichtbar in der Tonne plazierte. Er war ein großer Schauspieler, dessen Kunst sich nicht im Nachäffen erfüllte, sondern darin bestand, sich mit Haut und Haar in den gezeigten Menschen zu verwandeln.

Sehr leicht richtete er sich in seinem veränderten Dasein ein, und umso rascher gewöhnte er sich an die Verstellung, als er wegen der Nachbarn, deren Blicke bisweilen durch ein Fenster eindringen mochten, auch in der Wohnung Paulinas Aussehen trug.

Morgens zog er einen der Schlüpfer an, die seine Frau ihm hinterlassen hatte, legte einen ihrer Büstenhalter um seine Brüste und frühstückte im rosa Morgenmantel. Er trank schwarzen Tee mit Zucker und Zitronensaft und aß mit Himbeermarmelade bestrichene Butterbrote, die er stets ebenso dünn schnitt, wie es Paulina getan hatte.

Die Händlerin genoß das Frühstück, jetzt da sie niemand mehr zur Eile trieb. Anschließend warf sie ein schlichtes, für die Arbeit bestimmtes Kleid über, schminkte sich, so daß ihre Augen ausdrucksvoller und ihre Lippen schwellender erschienen, band sich eine grüne Schürze um und öffnete den Laden mit einiger Verspätung, an der jedermann erkennen konnte, daß Malek nicht mehr die Herrschaft über das Geschäft führte.

Die Kundschaft veränderte sich ebenfalls. Viele kamen, um ihr Erstaunen oder ihre Bestürzung über Maleks Verschwinden zu äußern, Fragen an die Händlerin zu richten und allerlei Vermutungen anzustellen. Ein alter Religionslehrer, der den Zwerg schon als Jungen gekannt hatte und jeden Morgen ein Tütchen saure Drops erwarb, fragte Paulina ganz offen, ob ihr Mann sie wegen einer anderen Frau verlassen habe, denn die Wollust der Zwerge amüsierte ihn. Andere wurden nicht müde, die Händlerin ihres Mitgefühls zu versichern.

»So ein Schuft«, meinte eine vierzigjährige Frau, die im Nebenhaus wohnte und schon zwei Männer unter die Erde gebracht hatte. Sie schüttelte den Kopf, und dicke, braun gefärbte Locken umschlenkerten ihr Gesicht.

»Womöglich ist er von jetzt auf nachher verrückt geworden«, mutmaßte eine Krankenschwester, die in einem Sanatorium arbeitete. »Ich kenne solche Fälle.«

»Erst gestern sind zwei Polizisten bei mir gewesen«, berichtete Paulina.

»Und? Was haben die gesagt?«

»Sie haben mir einen Haufen Fragen gestellt. Ob ich Malek zutrau’, auf und davon zu gehen. Ob er dafür einen Grund gehabt hat. Ob die Ehe glücklich ist. Ich sag’: ›Nicht unglücklicher als andere.‹ Da lacht der Kommissar.«

Auch eine Kundin lachte, aber nur ein bißchen. Paulina hatte sie nie zuvor gesehen.

»›Gibt es finanzielle Probleme?‹ fragt er. ›Ich weiß nicht. Ums Geld hat sich mein Mann gekümmert. Aber er hat oft darüber gestöhnt, wie klein der Umsatz geworden ist. Kleiner von Jahr zu Jahr, hat er gesagt. Und das Geschäftskonto ist leer. Auf der Bank hieß es, daß er erst neulich alles abgehoben hat.‹«

»Das muß man sich vorstellen«, rief die Vierzigjährige. »Läßt seine Frau, die jeden Tag für ihn gekocht und geputzt hat, ohne einen roten Pfennig zurück!«

»›Was ist mit seinen Papieren?‹ fragt der andere Polizist. ›Sind seine persönlichen Sachen noch da?‹«

»Ich habe immer vermutet, daß er ein hinterhältiger Mensch ist«, verriet die Krankenschwester. »Er hat sowas in den Augen. So was Gemeines, Niederträchtiges.«

»Der Kommissar will mit den Bekannten meines Mannes reden, und sein Kollege verlangt, daß ich ihnen eine Liste schreib’.«

»Na, ich glaube nicht, daß man viel unternehmen wird«, erwiderte eine alte Frau mit gelbem Hut. »Ich selbst habe eine Bekannte, die in der gleichen Lage gewesen ist. Die Polizei hat keinen Finger gerührt. Und was war? Nach einem Monat stand der feine Herr von selbst wieder vor der Tür. Das ganze Sparbuch hatte er inzwischen zu einer Rothaarigen getragen.«

»Gott, die Männer! Und die, denen man’s nicht zutraut, sind die schlimmsten!«

Unterdessen war Kakuschke unbemerkt in das Geschäft getreten und hatte sich hinter dem Regal mit den Zuckerpaketen und Süßmitteln versteckt. Dort wartete er darauf, mit Paulina allein zu sein. Es war fast Mittag: Sobald die anderen Kunden gegangen waren und die Zwergin ihre Ladentür verschlossen hatte, kam er hervor.

Er hatte sich feingemacht, war frisch rasiert, trug einen hellen Anzug und hielt einen Strauß Rosen in der Hand.

»Die sind für dich, Liddi«, sagte Kakuschke.

Die Aufregung, die Malek in den ersten Tagen nach dem Mord befallen hatte, war vergangen. Er machte sich keine Sorgen, entdeckt und bestraft zu werden. Dergleichen war ausgeschlossen. Viel zu geschickt hatte er sein Verbrechen ins Werk gesetzt. Niemand konnte ihn finden, weil niemand ahnte, was geschehen war. Verborgen in seiner Frau, erblickte er eine Welt, die sich, als wäre er gestorben, ohne ihn weiterdrehte, während für Paulina ein neues Leben begann.

Sie entdeckte, daß ihr Mann die wirtschaftliche Lage des Geschäfts falsch dargestellt und der Laden allezeit einen ordentlichen Gewinn erwirtschaftet hatte, in den Büchern stand es schwarz auf weiß. Die Händlerin erbleichte, als sie sah, welchen Betrag der Zwerg an sich gebracht hatte.

Dennoch geriet das Geschäft in keine ernsthaften Schwierigkeiten. Zwar war Paulina gezwungen, einen Kredit aufnehmen, um den Nachschub an Waren sicherzustellen, doch schneller als erhofft vermochte sie es, das Darlehen zurückzuzahlen. Die Neugier der Menschen hatte den Umsatz nämlich um mehr als ein Drittel ansteigen lassen, und viele der Frauen, die ringsum wohnten und ihre Einkäufe ungern bei Malek erledigt hatten, schlossen Freundschaft mit der possierlichen Händlerin, von der niemand geahnt hatte, was für ein zutrauliches Wesen sie sei.

Allein für Kakuschke, dessen Beharrlichkeit anfing, lästig zu fallen, mußte eine Lösung gefunden werden. Einige Male verschloß Paulina die Ladentür, wenn sie den unerfreulichen Menschen kommen sah; doch dann klopfte er so lang gegen die Glasscheibe, bis sie ihm aufsperrte und er ihr ein kleines Geschenk überreichen konnte. Kakuschke versuchte, Paulina zu streicheln, erging sich in plumpen Beschreibungen ihrer Schönheit und band ihr ein Schmuckkettchen um den Hals, indessen Malek darüber nachdachte, auf welche Weise der Müllmann zu beseitigen sei.

»Ich kann nicht glauben, daß du das jahrelang ausgehalten hast«, sagte die Krankenschwester und nippte an ihrem Kaffee.

»Ein Tyrann!« stimmte die Vierzigjährige zu, die im Nebenhaus wohnte und lieber von den Vorbereitungen zu ihrer dritten Hochzeit erzählt hätte. Sie spielte mit einer prallen Locke, die ihr ins Gesicht hing. »Du solltest die Scheidung einreichen.«

»Geht das überhaupt«, fragte Paulina, »wenn der Gatte verschollen ist?«

»Auf jeden Fall mußt du dich von einem Anwalt beraten lassen.«

»Und Vorbereitungen treffen, falls Malek wieder auftaucht. Der käm’ mir nicht mehr ins Haus«, rief die Schwester und riet Paulina, umgehend sämtliche Türschlösser ersetzen zu lassen.

»Mag jemand noch ein Stück Kuchen? Es ist auch noch Schlagsahne im Kühlschrank.«

»Ich kenne einen Anwalt, den ich dir empfehlen kann«, sagte eine weitere, sehr junge Frau und kramte in ihrer Handtasche.

»Zwetschgenkuchen? Oder Torte?«

»Ich habe seine Nummer sicher dabei.«

»Danke, ich muß auf meine Linie achten. Mein Zukünftiger hat schon angefangen, sich zu beschweren.«

»Der soll mal ganz still sein. Der hätte selbst allen Grund, sich zurückzuhalten.«

»Hier, da ist sie. Da rufst du an und läßt dir einen Termin geben.«

Paulina betrachtete den Zettel, auf dem ein mit Doktortitel geschmückter Name und eine Telephonnummer notiert waren.

Der Gedanke war ihr entsetzlich, daß Malek zurückkehren könnte, um aufs neue alle Rechte einzufordern, die er besaß. Dergleichen war ihm zuzutrauen. Sie stellte sich vor, wie er, als sei nichts geschehen, wiederum im Laden stand. Mit seinen kurzen Fingern tippte er Beträge in die Kasse ein, und das Geldfach fuhr ihm ein ums andere Mal gegen den Bauch.

»Ich werde anrufen«, versprach Paulina. Sie schob den Zettel sorgfältig, als handelte es sich um einen Schatz, in ihre Handtasche, während Malek mit sich zu Rate ging, ob ein so früher Besuch bei einem Scheidungsanwalt verdächtig sei. Wie leicht konnte es jemandem einfallen, daß hinter dem Verschwinden des Gatten mehr verborgen liege als eine der üblichen Grausamkeiten, die die Institution der Ehe nun einmal mit sich bringt.

Eine Scheidung, grübelte er, unterstreicht Paulinas Identität, und auch wenn niemand den geringsten Zweifel daran hegt, wer sie ist, tut man doch klug daran, den Anschein immer aufs neue zu bestätigen.

Andererseits fand Malek, daß seine Frau in letzter Zeit zu übermütig aufgetreten sei und eine Vergnügtheit an den Tag gelegt habe, die seinen Wünschen und den Geboten der Vorsicht widersprach. Die Freundschaften, die sie mit allen möglichen Nachbarsweibern geschlossen hatte, waren ihm ein Dorn im Auge, und er überlegte, wie er sie von der Notwendigkeit überzeugen könne, zu dem scheuen Leben zurückzukehren, das er für sie vorgesehen hatte.

Zudem verletzte es ihn, wie leicht Paulina über den Verlust ihres Ehemanns hinweggekommen war. Kaum einen Monat war er vermißt gewesen, da hatte sie bereits zum ersten Mal gelacht, als ob sie keinen Anlaß gehabt hätte, verzweifelt zu sein. Malek war über das ihm ganz unbekannte Geräusch dermaßen erschrocken, das stoßweise und laut urplötzlich aus ihrem Mund gekommen war, daß er sich instinktiv zur Rückwand des Ladens geflüchtet und hinter den Getränkekisten Schutz gesucht hatte. Paulina allerdings hatte nur noch mehr gelacht.

Worüber eigentlich? fragte sich Malek. Er strengte sein Gedächtnis an, konnte sich aber nicht darauf besinnen. Nur an den Anblick von Paulinas weit geöffnetem Mund erinnerte er sich, und wie ihre rosa Zunge darin umhergehüpft war.

»Reiß dich zusammen«, zischelte Malek ins Ohr seiner Frau. »Es macht keinen guten Eindruck, wenn du so glücklich bist, kaum daß dich die Liebe deines Lebens verlassen hat. Die Leute werden sich darüber wundern und zu reden anfangen«, prophezeite er.

Aber die Zwergin hörte nicht auf ihn. Sie hatte inzwischen eine lustige Unterhaltung über das Eheleben begonnen, und schon wieder lachte sie.

»Bist du still, du Irrsinnige!« wisperte Malek aufgeregt. »Das geht niemanden etwas an!«

Genüßlich breitete Paulina die Erbärmlichkeit des Händlers vor ihren Freundinnen aus, die bei jeder Pointe ein lautes Wiehern begannen. Wie kleinlich und eifersüchtig er gewesen war, rief großes Erstaunen hervor, und obwohl die Geschehnisse, als sie sich zugetragen, alles andere als witzig gewesen waren, gelang es der Händlerin doch, deren komische Seite zum Glänzen zu bringen. Ihre Imitation des Gatten, dessen ständigen Gesichtsausdruck und typische Bewegungen sie vollkommen beherrschte, ließ die übrigen Kuchenesserinnen vor Fröhlichkeit nahezu ersticken.

»Was fällt dir ein!« keuchte Malek entrüstet.

Seine Frau beachtete ihn nicht.

»Warte nur!« drohte er. »Warte nur, bis wir zu Hause sind. Dann werde ich mich rächen und dich deine Unverschämtheiten hundertfach büßen lassen. Du weißt, ich spaße nicht!«

Es schien jedoch, als hätte die Zwergin vergessen, wozu er fähig war. Ihr Gesicht rötete sich vom Lachen, ihre Augen funkelten, und sooft sie über ihren Mann eine weitere Häßlichkeit mitgeteilt hatte, schüttelte sich ihr Körperchen vor Heiterkeit.

Malek geriet in Verwirrung. Er konnte nicht begreifen, was in sie gefahren war. Ihm wurde angst, und wiederum überkam ihn große Kälte.

»An deiner Stelle hätte ich ihn umgebracht«, verriet das Lockenhaar, und die Schwester schob der Zwergin ein weiteres Kuchenstück auf den Teller.

Es läutete an Paulinas Tür.

»Treten Sie ein«, sagte die Händlerin und führte die beiden Polizisten ins Wohnzimmer.

Sie nahm in einem der Zwergensessel Platz, während sich der Kommissar, wie bei seinem ersten Besuch, auf einer Stuhllehne niederließ. Sein Kollege plazierte sich vorsichtig auf dem Kindersofa.

»Haben Sie meinen Mann gefunden?« fragte Paulina.

Der Kommissar verneinte.

»Wir haben sehr umfangreiche Ermittlungen durchgeführt«, versicherte er, »und die Nachbarn und Bekannten Ihres Mannes befragt. Alles spricht dafür, daß er freiwillig verschwunden ist.« Vor allem der Umstand, daß er Tage zuvor das Konto geleert und seine Papiere mitgenommen habe, weise darauf hin. »Für ein Verbrechen gibt es nicht den geringsten Anhaltspunkt.«

»Ihr Mann«, erläuterte der andere Polizist, »hat das Recht zu gehen, wohin er will. Wir werden ihn zwar zur Fahndung ausschreiben, aber nur, um zu erfahren, wo er sich aufhält. Wir können ihn nicht zwingen, zu Ihnen zurückzukehren.«

Ohne Zweifel, dachte Paulina, hat er seine Flucht sorgfältig geplant.

Wochen-, vielleicht monatelang, hatte der Gatte seine Pläne vorangetrieben und sich an ihrer Arglosigkeit erfreut.

»Es tut mir leid«, sagte der Kommissar.

»Haben Sie vielen Dank für Ihre Mühe«, antwortete Paulina. »Sie haben bestimmt getan, was Sie konnten.«

Die Polizisten verabschiedeten sich.

Natürlich hatte die Händlerin von Anfang an nicht daran geglaubt, daß der Zwerg einem Verbrechen oder Unfall zum Opfer gefallen sei. Nach Lage der Dinge war nie eine andere Schlußfolgerung in Frage gekommen, als daß Malek sie verlassen hatte. Dennoch zitterte sie jetzt, da durch die Polizei ein amtlicher Stempel unter ihre Gedankengänge gesetzt worden war, am ganzen Leib.

»Das Schwein!« rief Paulina und ballte die Faust, so daß sich ihre Fingernägel ins Fleisch des Handtellers gruben. Auch sich selbst belegte sie mit Ausdrücken, weil sie für den Händler allezeit Entschuldigungen erfunden und die Narben, die ihren Körper bedeckten, als Ausdruck seiner Liebe angesehen hatte. War seine Eifersucht denn nicht eine seelische Entstellung, wie sie zwangsläufig auftreten muß, wenn der Geist eines Mannes im Leib eines Kinds gefangen sitzt? Und hatte irgend jemand das Recht, ihm deshalb Vorwürfe zu machen? Müßte man dann nicht auch die entsetzlichen Prothesen eines Krüppels mißbilligen? Dergleichen hatte sie sich weisgemacht. »Du Närrin! Du Schaf!«

Sollte Malek eines schönen Morgens vor ihrer Tür stehen, heruntergekommen und elend und ohne einen roten Pfennig in der Hosentasche, und sie anflehen, ihn wieder bei sich aufzunehmen, trotz allem, was er ihr angetan hatte, würde sie ihm die Tür vor der Nase zuschlagen.

Paulina gab sich gern diesem Traume hin, von dem sie hoffte, daß er einmal wahr werde. Sooft sie sich die Szene ausmalte, desto schlechter war es um Malek bestellt, der stets Lumpen trug, Hunger hatte, stank und an einer Krankheit litt, die ihm jeden Atemzug zur Qual werden ließ. Immer unterwürfiger bettelte er sie um ihre Hilfe an, küßte er den Saum ihres Kleids. Manchmal brachte er einen Rohrstock mit, auf daß sie ihn ebenso verprügle, wie er es getan hatte. Aber alles Wimmern nutzte nichts.

Gegen Abend erschien Kakuschke im Geschäft. Wie üblich wartete er, bis die Kundschaft gegangen war, und schlenderte einstweilen zwischen den Regalen hin und her, als interessierte er sich für Falschen Hasen und Kaffeersatz. Sobald er aber mit Paulina allein war, trat er zu ihr und liebkoste die Zwergin. Etwas hatte sich verändert. Er war, das fühlte er, Paulina nicht mehr zuwider, und indem er ihr Haar berührte, schmiegte sie ihr Gesicht in seine Hand.

Draußen war es dunkel geworden. Die Zwergin schloß den Laden ab, schaltete das Licht aus und stieg die Wendeltreppe hinauf. Kakuschke folgte ihr auf dem Fuß, und die eisernen Stufen dröhnten unter seinem feisten Schritt.

 

Rechtschreibung und Zeichensetzung basieren auf dem ausdrücklichen Wunsch des Autors.

 


Michael J. Awe: Der Geisterfotograf

 

 

»Was für ein Wetter«, sagte Wilhelm Hoff und schloss die Ladentür hinter sich. Auf seinem Zylinder lag eine zentimeterhohe Schneeschicht und die Schultern seines Gehrocks waren wie mit Puderzucker bestäubt. »An der Ecke Kaiserstraße hat sich ein Droschkengaul das Bein gebrochen, armes Vieh. Naja, den Abdecker freut’s.«