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Nr. 3054

 

Die letzte Welt der Vecuia

 

Sie suchen das Verlies einer Superintelligenz – auf dem Planeten der Dovoin

 

Dennis Mathiak

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

 

Cover

Vorspann

Die Hauptpersonen des Romans

1. Shukkner

2. Pen Assid

3. Shukkner

4. Pen Assid

5. Shukkner

6. Pen Assid

7. Shukkner

8. Pen Assid

9. Shukkner

10. Pen Assid

11. Shukkner

12. Pen Assid

13. Shukkner

14. Pen Assid

15. Pen Assid

16. Gry O'Shannon

17. Pen Assid

Epilog: Jashol Zhaushun

Stellaris 73

Vorwort

»Die Runde machen« von Ulf Fildebrandt

Leserkontaktseite

Glossar

Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

 

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Mehr als 3000 Jahre in der Zukunft: Längst verstehen sich die Menschen als Terraner, die ihre Erde und das Sonnensystem hinter sich gelassen haben. In der Unendlichkeit des Alls treffen sie auf Außerirdische aller Art. Ihre Nachkommen haben Tausende von Welten besiedelt, zahlreiche Raumschiffe fliegen bis zu den entlegensten Sternen.

Perry Rhodan ist der Mensch, der von Anfang an mit den Erdbewohnern ins All vorgestoßen ist. Nun steht er vor seiner vielleicht größten Herausforderung: Er wurde vorwärts durch die Zeit katapultiert und findet sich in einem Umfeld, das nicht nur Terra vergessen zu haben scheint, sondern in dem eine sogenannte Datensintflut fast alle historischen Dokumente entwertet hat.

Mit seinem Raumschiff RAS TSCHUBAI ist Perry Rhodan einer Fährte gefolgt, die ihn ins Galaxien-Geviert der Superintelligenz VECU geführt hat. Dort haben aber die Mächte des Chaos, repräsentiert durch die Kandidatin Phaatom und ihr Hilfsvolk, die Phersunen, die VECU ausgeschaltet und ihr Reich zertrümmert. Während Rhodan sich mit einem Beiboot aufmacht, die verschollene Erde wiederzufinden, muss die Besatzung der RAS TSCHUBAI ein Versprechen erfüllen. Schauplatz ist DIE LETZTE WELT DER VECUIA ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Shukkner – Ein Henker geht auf Reisen.

Penelope Assid – Die Xenolinguistin und -semiotikerin nutzt ihre Paragabe und ihr diplomatisches Geschick.

Icho Tolot – Der Haluter erkundet eine Welt.

Gry O'Shannon – Seit der Abyssalen Dispersion verfügt die Materialwissenschaftlerin über ein besonderes Gespür.

Jalland Betazou – Der Grau-Späher führt ein vertrauliches Gespräch.

Bru Shaupaard – Der Splitterträger weist den Weg zur letzten Welt.

1.

Shukkner

 

Shukkner stoppte den Wagen. Die Kolben hielten in ihrer Bewegung inne, die Blockbremsen auf den Reifen quietschten. Dampf zischte links und rechts des Gefährts aus den Ventilen.

Der Dovoin drehte die Luftzufuhr zum Kessel ab. Die Dampfproduktion versiegte, das Bollern verstummte nach und nach.

Vor Shukkner lagen die Hügel der Morgennebel. Die Schwaden hatten sich unter den Mittagsstrahlen Suznys aufgelöst, so wie der spätherbstliche Wind die Dampfwolken des Wagens verwehte. Gräser schimmerten blaugrün im Sonnenlicht.

Doch immer noch glänzten die Wiesen vom Tau. Tropfen perlten von den langen dunkelblauen Zitterhalmen. Da und dort schoss eine Maulblüte aus den Pflanzen und schnappte sich einen umherschwirrenden Silberkäfer.

Shukkners Luftmund entwich ein bellender Seufzer. Er kramte frisches Halmkraut aus einer Kitteltasche und stopfte sich die weiche, sauerwürzige Masse in den Nährmund. Nach einigen Kaubewegungen nahm sein Speichel Geschmack an. Der Dovoin sammelte die piksenden Blattadern mit der Zunge und spie sie aus.

»Klurn!«, rief er. »Komm raus!«

Sie mussten die Räder wechseln. Die Straße, die durch die Niederungen zwischen den Hügeln führte, war nicht gepflastert, denn der ewig feuchte Morast erschwerte die Bauarbeiten derart, dass sie nicht lohnten.

Die meisten Dovoin umfuhren die Hügellandschaft. Sie fürchteten stecken zu bleiben und dadurch mehr Zeit zu verlieren, als der Umweg sie kostete. Und die Fremden aus den Himmelssplittern blieben überwiegend in den Siedlungen, die sie rings um die Trümmer erbaut hatten.

»Klurn! Bei den stinkenden Gedärmen meiner verstorbenen Ahnen, wo bleibst du?«

»Ich bezweifle«, erklang es dumpf aus dem Wohnraum Klurns, der direkt hinter der höher gelegenen Fahrerkabine lag, »dass noch irgendetwas an deinen Ahnen stinken könnte.«

Shukkner schnaubte. Ohne Zweifel hatte der Sklave recht. Das letzte Mitglied seiner Familie hatte er vor dreizehn Sonnenumläufen in den Sümpfen der Heimat versenkt. Ein Jahr mehr, als er an den Fingern abzählen konnte. Es hatte ihn lukrative Aufenthalte in einer Handvoll Städten gekostet, die Reise zur Totenversenkung auf sich zu nehmen.

Aber hätte er dies nicht getan, hätte es seinen Ruin bedeutet. Ein Henker, der die Toten nicht ehrte, war untragbar. Seine Konzession, Leib- und Todesstrafen zu vollstrecken, wäre ihm von den Oberen seiner Geburtsstadt entzogen worden. Die Kunde hätte sich in Windeseile in alle Städte Baans verbreitet. Shukkner wäre nur die gefährliche Überfahrt nach Duuns, den Landen hinter dem Meer, geblieben, um sich eine neue Existenz aufzubauen.

Und das, obwohl es kaum noch Henker wie ihn gab. Alte Traditionen schwanden dahin, leider.

Er spie erneut aus, bevor der Sud des Halmkrauts so stark wurde, dass er die Schleimhäute des Nährmunds auflöste.

Im Wohn- und Geschäftsbereich des Laderaums war ein Rumpeln zu hören, ein Krachen und Scheppern. Endlich machte sich Klurn daran, die Räder auszuladen. Quietschend öffnete sich die Seitentür. Der Sklave fuhr die Rampe aus.

Shukkner drückte die Fahrertür auf und verließ die Kabine über den zweistufigen Tritt. Er umrundete den Anhänger, um nach den Blyuden zu sehen, die ihnen an Seilen angebunden hinterherliefen. Die ausdauernden Tiere mussten den Wagen antreiben, denn die Leistung der Dampfmaschine würde die Schlammräder nur tiefer in den Morast graben. Die Blyuden vereinten Kraft und Feinfühligkeit, um das schwere Gefährt sicher durch die Niederungen der Hügel zu ziehen.

Shukkner legte den Kopf in den Nacken, reckte den Hals und streckte den runden Rücken. Er nahm die Schmerzen der unnatürlichen Bewegung in Kauf, um in den wolkenlosen Himmel zu sehen, und blickte zum Horizont. Oft trieben Meereswinde aus Nordwesten überraschend Wolken ins Landesinnere. Über den Hügeln der Morgennebel gingen sie zum ersten Mal nieder.

Suzny verließ bereits den Zenit. Sie könnten es mit Glück schaffen, die Hügellandschaft vor Anbruch der Dunkelheit hinter sich zu lassen, falls es nicht regnete. Die Stadt Bossonu wartete auf sie. Dort galten Traditionen noch etwas, dort hatte Shukkner bisher immer Klienten gefunden.

Doch dies war nicht die einzige Verheißung, der er entgegenfieberte.

 

*

 

Shukkner strich den Blyuden über die oberen Gelenke ihrer sechs Beine. Das ungestüme Jungtier bebte, denn der frische Winterflaum ließ den Blyuden jede Berührung doppelt intensiv erleben. Das zweite Tier hatte sich vor drei Tagen bei einem Steinsturz in der Glasschlucht verletzt. Unter den Federresten sah man den Gelenkpanzer, der an einigen Stellen gebrochen war.

Shukkner spie Schachtelhalmsud in die Hand, vermischte ihn mit Tau, den er vom Grasboden aufnahm, und rieb die Mixtur auf die Verletzung. Er schwor auf die entzündungshemmende Wirkung des Hausmittels.

Der Blyude zischte dankbar. Shukkner klopfte ihm auf die sensible Stelle zwischen den sechs Facettenaugen. Das Tier war alt. Die Vorderläufe mussten nicht zusammengebunden werden, weil sie längst verkümmert waren. Trotzdem leistete das Tier ihm gute Dienste.

Ganz anders verhielt es sich mit Klurn. Der mürrische Kerl war altersschwach und als Sklave kaum mehr zu gebrauchen.

Shukkner stapfte am Dampfwagen vorbei und lehnte sich gegen die abgerundete Strebe der rechten Hecksäule. Nachdenklich rieb er sich über die Kopfrinne. Er benetzte die Riechschwämmchen mit den Überresten des Schachtelhalmsuds, um nicht die modrig-säuerlichen Ausdünstungen ertragen zu müssen. Selbst der alte Blyude roch angenehmer als der Sklave.

»Beeile mich ja schon, Herr«, murmelte Klurn, als er ihn bemerkte. Shukkner kannte keinen zweiten Dovoin, der so lethargisch war.

Der Gruzz mochte wissen, warum Klurn bei ihm blieb. Shukkner schonte ihn niemals. Dabei hätte der Sklave die Wege freier Dovoin gehen können, seitdem er vor zehn Sonnenumläufen oder mehr zu den Feuerbekämpfern der Stadt Zakulkis gehört hatte.

In Zakulkis hatten Shukkner und Klurn die besten Jahre ihres Lebens verbracht. Die Gesetze waren so strikt und die Bewohner so verdorben gewesen, dass ein Henker kaum mit der Vollstreckung der Urteile hinterherkam. Doch im zweiten Jahr ihres Aufenthalts war eine Feuersbrunst ausgebrochen. Klurn hatte zehn freie Dovoin vor dem sicheren Tod gerettet und dafür die Freiheit erhalten.

Shukkner hatte die Stadt verlassen. Der Blutzoll der Flammen war so hoch ausgefallen, dass die Stadtoberen kaum ein Verbrechen mehr mit dem Tod oder der Verstümmelung bestrafen konnten.

Seltsamerweise hatte Klurn sich ihm wie selbstverständlich angeschlossen, statt seiner eigenen Wege zu gehen. Er hatte auf Shukkners Fragen nach dem Grund nie geantwortet.

»Bin bald fertig mit den Rädern, Herr«, versicherte Klurn, als Shukkner keine Anstalten machte sich wieder in die Fahrerkabine zu setzen. »Dann lege ich den Blyuden das Geschirr an und spanne sie vor den Wagen.«

Der freie Sklave griff unter die hölzerne Halskrause und kratzte sich. Shukkner hatte in das Sklavenzeichen zumindest Symbole eingeritzt, die erklärten, dass Klurn frei war und weshalb. Vielleicht erbarmte sich irgendwann einmal eine alte Witwe und nahm ihn zu sich.

Dann konnte Shukkner sich endlich einen neuen Sklaven anschaffen, denn zwei schickten sich nicht für einen Henker wie ihn.

2.

Pen Assid

9. November 2046 NGZ

 

Penelope Assid kniff die Augen zusammen. Im Observatorium war es dunkel, nur die Sterne hinter dem Teleskop spendeten Licht.

»Zunächst ist der Weitwinkel wichtig, Pen«, erläuterte Jalland Betazou. Die RAS TSCHUBAI beendete die Linearetappe und kehrte aus der Librationszone in den Einsteinraum zurück.

Pen suchte nach einem bestimmten Objekt. Zugleich scheute sie sich davor, es zu finden. Dabei war ohnehin unwahrscheinlich, dass sie die grauen Schleier der Vektormaterie entdeckte, bevor Betazou seine Warnung aussprach. Es war schwierig, sich nicht auf die Sicherheit moderner Technologie, sondern auf reine Sicht und simple Teleskope verlassen zu müssen.

»Warum der Weitwinkel?«, fragte Pen.

Der Onryone saß neben ihr und sah angestrengt ins All. Sein Emot glomm orangefarben, Zeichen seiner Konzentration. Hin und wieder verstellte er die Brennweite des Teleskops.

»Es kann sein, dass wir kurz nach dem Wiedereintauchen in den Einsteinraum auf Vektormaterie stoßen«, antwortete Betazou.

Von anderen Stellen der RAS TSCHUBAI aus spähten weitere Besatzungsmitglieder ins All, die sensibel auf Vektormaterie reagierten.

Grau-Späher.

Die Emotionauten der RAS TSCHUBAI würden ohne merklichen Zeitverlust auf Warnungen der Grau-Späher reagieren und den Kurs des Raumschiffs ändern. Zögern bedeutete den Tod für die Besatzung.

Die Annihilation.

Pen fuhr sich durchs Haar; die Finger zitterten.

Nachdem Betazou das direkte Umfeld der RAS TSCHUBAI überprüft hatte, konzentrierte er sich auf die höhere Brennweite. Er sah in Flugrichtung in die Ferne. »Wir müssen selbst beim Orientierungsstopp im Leerraum zwischen den Sonnensystemen wachsam sein. Irrläufer, Dunkelwelten, Asteroiden oder kosmischer Staub könnten dort annihiliert worden sein.«

Annihiliert hörte sich für Pens Geschmack zu harmlos an. Es bedeutete, aufgelöst zu werden, zu existieren aufzuhören, jegliche Masse zu verlieren, um als grauer Schleier zu bestimmten Koordinaten der Galaxis Ancaisin zu streben.

Dorthin, wo von den Phersunen die Abyssalen Triumphbögen errichtet worden waren.

Dorthin, wo diese Vektormaterie zur Kandidatin Phaatom weitergeleitet wurde, um sie zu nähren.

Die Kandidatin Phaatom: Herrin der Phersunen, Feindin und Verderberin der VECU, persönlicher Gegenspieler einer Kosmokratin; selbst eine Macht des Chaos, die sich anschickte, ihre bisherige Existenzebene zu verlassen – vermutlich die einer Materiesenke – und die einer Chaotarchin zu erklimmen. Die Galaktiker wussten zu wenig Gesichertes, konnten die wenigen Informationen nur auf Basis bisheriger Erfahrungen mit den Hohen Mächten extrapolieren.

Selbst die Graue Materie – die Vektormaterie oder Phaatom-Nahrung oder welche Namen sonst noch kursierten – war nur näherungsweise analysiert und in begreifbare Gedankenmodelle gefasst worden. Die Wissenschaftler, allen voran Sichu Dorksteiger und Gry O'Shannon, hatten zwei Theorien entwickelt. Ihnen gemeinsam war, dass sie an eine Manipulation der Higgs-Teilchen durch die Phersunen glaubten. Grob gesagt: Dadurch verlor Materie ihre Masse, und ihre Photonen degenerierten – die grauen Schleier entstanden.

Pen hatte insbesondere einen Teil der beiden Annahmen verinnerlicht: Vektormaterie war unnatürlich, ein fremdes Element in diesem Universum. So fühlte es sich auch an, wenn man sie zu sehen bekam.

»Achtung, Vektormaterie auf ...« Betazou rasselte Koordinaten herunter und nannte die Entfernung, in der die grauen Schleier sich mit bis zu Lichtgeschwindigkeit durchs All bewegten.

Die Horchhaut der Quantam an Betazous Schläfen und Nacken zitterte. Das schmutzig grüne moosähnliche Pflanzengeflecht war dem Habitat-Biologen der RAS TSCHUBAI implantiert worden, um es zu erforschen. Ein unverhoffter Nebeneffekt war, dass er dadurch Vektormaterie besser wahrnehmen konnte.

Wie es sich wohl in dem Moment anfühlte, in dem er sie tatsächlich erspähte?

Pen folgte Betazous Blick zu den Koordinaten, die der Onryone genannt hatte. Ihre Augen weiteten sich, als sie tatsächlich den grauen Schleier entdeckte. Langsam wanderte er aus ihrem Blickfeld, während die Librotron-Triebwerke die RAS TSCHUBAI umlenkten.

Eine Gänsehaut lief Pen über den Rücken, vom Nacken bis zum Gesäß. Sie spürte ein Zupfen unter der Schädeldecke, einen Sog, als stünde sie am Rand einer Klippe und starrte in den wellenumtosten Abgrund. Es kostete Pen mehr Willensstärke als erwartet, den Schritt zurück zu machen und sich von der Klippe zu entfernen. Endlich gelang es ihr, die Augen zu schließen.

»Ausweichmanöver erfolgreich«, meldete Betazou.

Pen zwang den Blick fort vom All und sah nun wieder den Onryonen an. Schweiß perlte ihm vom dichten Kopfhaar über die Horchhaut an den Schläfen die lackschwarzen Wangen hinab. Seine Hände hatten sich um die Armlehnen des Kontursessels gekrallt und lösten sich zögerlich davon.

Eine halbe Stunde saß Pen schweigend neben Betazou, der weiterhin konzentriert ins All spähte, und wartete auf sein Schichtende. In Gedanken bereitete sie sich auf das kommende Gespräch vor.

Pen hatte viele Unterhaltungen mit den Galaktikern der neuen Zeit geführt. Sie selbst stammte aus dem 16. Jahrhundert NGZ; für sie war der Sprung ins 21. wie im Schlaf vergangen, einem traumreichen Schlaf.

Wirr. Beunruhigend. Suspensionsschlaf.

Die gesamte Besatzung der RAS TSCHUBAI hatte in den Suspensionsalkoven gelegen, entstofflicht, aber nicht abgestrahlt. Sie waren im immateriellen Zustand stationär gebunden gewesen, um den Auswirkungen des Chaotemporalen Gezeitenfeldes zu entgehen, das sie hatten durchfliegen müssen.

Als Pen neben ihren Kollegen erwacht und aus dem Alkoven gestiegen war, hatte sie fast 500 Jahre verschlafen. Sie befand sich nun zunächst in einer Milchstraße, die fremd für sie war. Eine ferne Galaxis wie Ancaisin konnte sich kaum fremder anfühlen wie eine Heimat, in der so viel Vertrautes nicht mehr dasselbe oder sogar völlig verschwunden war; so wie Terra.

Pen spürte beim Gedanken daran einen Stich in der Herzgegend. Tränen füllten ihre Augenwinkel und liefen ihr die Wangen hinab. Die Trauer zuzulassen, wenn sie allein war und der Schmerz nach ihr griff, hatte sich als heilsam erwiesen. Die Psychologen hatten recht behalten.

Und in diesem Moment war sie allein. Betazou ging derart in seiner Aufgabe auf, dass er nicht als Gesellschaft zählte, solange er ins All spähte.

Pens Verwandte, ihre Freunde und Bekannten waren alle längst tot. Selbst ihre Heimatwelt Terra war verschwunden. Terra war zum Mythos geworden. Gemeinsam mit Luna war die Wiege der Menschheit beim Raptus-Ereignis durch zwei andere Himmelskörper ersetzt worden. Fast identische. Fast.

Das Schott an der Rückwand öffnete sich mit einem leisen Zischen. Ein Rechteck aus Licht stanzte sich ins Dunkel des Observatoriums.

Der Grau-Späher, der Betazous Stelle übernahm, war Terraner. Er räusperte sich und tippte dem Onryonen auf die Schulter. Zögerlich löste der sich vom Anblick der Sterne und machte Platz. Seine Ablösung erhöhte die Helligkeit des Raums ein bisschen und ließ sich leise arkonidische Kristallmusik einspielen. Die Grau-Späher bevorzugten offenbar unterschiedliche Umgebungen, um konzentriert nach Vektormaterie zu suchen.

Pen sah sich um. Der Raum war für ihre Absichten gut geeignet. Die Sitzmöbel, die an der halbrunden Wand verteilt standen, waren unbesetzt und die holografischen Arbeitsstationen desaktiviert. Nichts, was Betazou von ihrem Gespräch ablenken würde.

»Stört es dich, wenn wir einen Moment hier sitzen bleiben?«, fragte Pen den diensthabenden Grau-Späher. Der Terraner schüttelte stumm den Kopf, ohne sie anzublicken. Seine Aufmerksamkeit galt dem Weltraum.

Betazou winkte einen weiteren Kontursessel herbei. Pen positionierte ihren schräg versetzt zu dem Betazous und aktivierte ein akustisches Dämpfungsfeld.

»Ich habe schon mit vielen unserer Neuzugänge gesprochen, die auf Rudyn zu uns gestoßen sind«, begann sie.

»Ich weiß«, sagte Betazou. »Wir beide hatten bereits das Vergnügen.«

Pen lächelte. Sie beugte sich dem Onryonen entgegen. »Genau, wir haben uns noch vor der Ankunft in Ancaisin unterhalten. Col Tschubai hatte mich darum gebeten, ein wenig mehr über die Neuankömmlinge zu erfahren, eine Vertrauensbasis zu schaffen und sie besser ins Bordleben zu integrieren.«

Col Tschubai war der Sprecher des von den Besatzungsmitgliedern gewählten Bordrats. Dieser beriet die Schiffsführung und verfügte über Einspruchsrecht, solange die RAS TSCHUBAI sich nicht in einem akuten militärischen Einsatz befand.

»Dabei habe ich von Anfang an keinen Hehl daraus gemacht, bei Bedarf meine leichte Paragabe des suggestiven Zuhörens anzuwenden«, sagte Pen. »Schließlich bin ich nur wegen dieser Begabung für die Aufgabe ausgewählt worden. Normalerweise kommuniziere ich als Mitglied des Diplomatischen Corps mit Fremdwesen.«

»Ich bin ein Fremdwesen.« Betazou grinste, doch es geriet schief. Die Erschöpfung, die eine Schicht Grau-Spähen unweigerlich mit sich brachte, war ihm ins Gesicht geschrieben.

Pen schmunzelte. »Nun ja, in gewisser Weise schon. In der Zeit, aus der ich stamme, waren Onryonen noch kritisch beäugte Neuankömmlinge in der galaktischen Gemeinschaft. Aber das ist fast 500 Jahre her.«

»Wie dem auch sei; falls du darauf hinaus möchtest, ob ich etwas dagegen habe, dass du deine Gabe bei mir einsetzt, lautet meine Antwort immer noch: nein. Obwohl es unnötig ist, ich vertraue dir bereits. Aber wenn du dich ohne deine Gabe unzulänglich vertrauenswürdig fühlst, tu dir keinen Zwang an.«

Einen Augenblick lang fühlte Pen sich herabgewürdigt. So hatte sie über ihre Parafähigkeit und sich selbst nie gedacht. Es war auch nicht ganz zutreffend, wie der Onryone es beschrieben hatte: Sie übte auf jeden Gesprächspartner diese Wirkung aus.

»Hat sich bisher jemand dagegen ausgesprochen, unter diesen Umständen mit dir zu reden?«, fragte Betazou.

»Wenige. Ganz im Gegenteil suchen viele Besatzungsmitglieder regelrecht den Kontakt, auch die altgedienten. Es tut ihnen gut, sich ihre Sorgen von der Seele zu reden. In den meisten Fällen habe ich nicht einmal von meiner Gabe Gebrauch machen müssen.«

»Erinnerst du dich bei all den Gesprächen noch daran, worüber wir gesprochen haben?«

»Meist über dein Fachgebiet als Habitat-Botaniker – Blumen hier, Bäume da, Sträucher dort.«

»Ich scheine einen bleibenden Eindruck hinterlassen zu haben.«

»Heute interessiert mich etwas anderes, von dem ich glaube, dass es dich belastet. Col Tschubai und die Schiffsführung baten mich deshalb darum, das Gespräch mit dir zu suchen.«

»Die Vektormaterie.« Betazou nickte in menschlicher Manier. »Ich bin zu wichtig, um ausfallen zu dürfen.«

Pen zuckte die Achseln. »Das sicher auch. Mir liegt in erster Linie daran, dir zuzuhören. Das ist mein Talent, wie du weißt.«

»Ich rede nicht gerne darüber.« Betazou knetete eine Hand mit der anderen. Sein Emot auf der Stirn leuchtete in einem unangenehm berührten Ockerton. »Die Horchhaut der Quantam hilft mir, die Vektormaterie besser wahrzunehmen. Das ist ein Gefühl, das ich niemandem wünsche. Ich glaube nicht, dass es mir hilft, mit einer Unbeteiligten darüber zu reden.«

»Gibt es keine anderen Grau-Späher, mit denen du deine Sorgen teilen kannst?«

»Die anderen Grau-Späher nehmen die Vektormaterie nicht so wahr wie ich. Die einzige Person, mit der ich mich tatsächlich auf einer ähnlichen Ebene unterhalten konnte, war Gry O'Shannon. Erst recht, nachdem sie die Abyssale Dispersion durchlaufen hatte.«

»Und Gry ist unerreichbar.«

Betazou lächelte traurig. »Genau.«

 

*

 

»Die Frau in Lila«, begrüßte Bru Shaupaard sie im Suspensionssaal auf Deck 16-01, nahe der Zentrale. Der Cairaner stand vor der Doppelreihe mit zwei Dutzend Suspensionskammern. »Hast du es noch immer nicht aufgegeben, mehr über mich erfahren zu wollen?«

Shaupaard spielte auf Pen Assids Vorliebe für die Farbe Lila an, die sich nicht nur in der Kleidung, sondern auch an den Haaren, Kontaktlinsen und Fingernägeln manifestierte. Und auf ihre Hartnäckigkeit.

»Ich neige nicht dazu aufzugeben«, antwortete sie leichthin. »Das liegt nicht in meinem Naturell.«

»Und in meinem liegt es nicht, sich anderen Wesen anzuvertrauen, geschweige denn, mich für sie zu interessieren. Also lass mich in Ruhe.«

Pen lächelte säuerlich. Sie hatte sich vor ihrem ersten Aufeinandertreffen mit Shaupaard vorgenommen, nichts auf die Vorurteile zu geben, die über ihn kursierten. Aber es hatte sich bestätigt, dass er tatsächlich eigenbrötlerisch und selbstherrlich war.

»Zumindest scheinst du dich für Gry O'Shannon zu interessieren.« Pen deutete auf den Tank, vor dem er stand und in dem die terranische Wissenschaftlerin in Suspension lag. »Wir würden allerdings gern allein sein.«

Es hatte keinen Sinn, diplomatisch mit dem Cairaner umzugehen. Das zumindest galt als gesichertes Wissen über ihn.

Neben Pen räusperte sich Jalland Betazou. »Wir können ja später wiederkommen.«

Sie hatte dem Onryonen vorgeschlagen, sich seine Sorgen im Suspensionssaal von der Seele zu reden. Nirgendwo sonst konnte er O'Shannon näher sein. Es war zumindest einen Versuch wert. Stattdessen machte dieses goldhäutige, vierhändige Ekel keine Anstalten zu verschwinden!

»Tatsächlich interessiere ich mich für O'Shannon«, sagte Shaupaard. »Sie hat die Abyssale Dispersion durchlaufen und dadurch eine ganz besondere Beziehung zur Vektormaterie entwickelt.«

Pen starrte auf die segmentierte Röhre der Kammer, in der die Suspensionsbank eingefahren war, auf der O'Shannon lag. »Ich will gar nicht daran denken.«

Perry Rhodan hatte davon berichtet, wie es ausgesehen hatte, als die Wissenschaftlerin im Abyssalen Schauraum von der Vektormaterie getroffen worden war. Sie war zerwürfelt. Pen hatte holografische Rekonstruktionen des Geschehens gesehen. Ein Netz von Linien hatte sich vom Boden aufsteigend über O'Shannons Körper gezogen und Trennstellen definiert, entlang derer sich die Teile verschoben hatten.

»Ich könnte auch auf die Erinnerungen verzichten«, murmelte Betazou. Sein Emot leuchtete safrangelb. Er verströmte einen süßlichen Geruch nach faulem Obst – Anspannung und Unbehagen.

Der Onryone war leibhaftig dabei gewesen, zusammen mit Perry Rhodan und Donn Yaradua. Er war durch den Abyssalen Triumphbogen gelangt, zwei kreisförmige, nebeneinander angeordnete schwarze Strukturen, jeweils umgeben von rötlich-silbrigen Halos. Die Kreise schwärten wie Wunden im Universum und bildeten die Grundflächen der Säulen aus Vektormaterie, die in unmessbare Tiefen reichten. Unablässig strömten graue Wolken, endlos scheinende Fäden und durchsichtige Würfel in den Abgrund.

Der Triumphbogen diente erkennbar als eine Art Transmitter für Vektormaterie.

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Illustration: Swen Papenbrock