Cover

Kurzbeschreibung:

Der dritte Band der Biker-Tales-Reihe!

Emma fühlt sich bei den Advocates zuhause und ist glücklich mit ihrer Rolle als gute Freundin des Clubs. Das dachte sie zumindest, bis sie mit ihrem früheren Leben konfrontiert wird, sich ihrer Herkunftsfamilie stellen muss und dabei alte Wunden wieder aufreißen. Glücklicherweise ist Scar in dieser schweren Zeit für sie da. Während der Prospect eisern an ihrer platonischen Freundschaft festhält, bemerkt Emma immer tiefere Gefühle für ihn. Doch je näher sie ihm kommt, desto heftiger stößt er sie von sich. Der schweigsame Outlaw scheint ein gefährliches Geheimnis zu haben. Emma ist fest entschlossen, dieses zu ergründen und ihm zur Seite zu stehen, so wie er für sie eingestanden ist. Allerdings hat Scar ganz andere Pläne …

Sandra Binder

Schatten der Seele

Biker Tales Band 3





Edel Elements

Inhaltsverzeichnis

Prologue – Emma

Chapter One – Blood And Water

Chapter Two – Back To The Roots

Interlude – Just Stay Out Of It

Chapter Three – One More Brother

Chapter Four – Changes

Chapter Five – Under His Patches

Chapter Six – Losing Grip

Interlude – Which Side

Chapter Seven – No More Trust

Interlude – When Did That Happen?

Chapter Eight – A Groupie’s Destiny

Glossar

Prologue – Emma

Schon komisch, wie sich Träume im Laufe des Lebens verändern. Oder sollte ich besser sagen: tragikomisch? Ich denke, das trifft es eher. Denn lachen konnte ich darüber eine lange Zeit nicht.

Als ich ein kleines Mädchen war, hatte ich genaue Vorstellungen von meinem Erwachsenenleben. Ich habe es sogar oft mit meinen Puppen durchgespielt: Barbie arbeitete im Krankenhaus und half vielen Menschen, gesund zu werden. Nach Feierabend ging sie in ihr Traumhaus, wo sie mit Ken lebte, der sie natürlich vergötterte und ihr jeden Wunsch von den Augen ablas ...

Meine Mutter fand dieses Spiel albern und wurde niemals müde, mich daran zu erinnern, dass ich weder klug noch ehrgeizig genug war, um Ärztin zu werden. Eine solche Karriere war meinem Bruder Tyler vorbehalten, dem Super-Genie. Und wenn ich wenigstens einen anständigen Ehemann haben wollte, so meinte sie, müsse ich mich ohnehin mehr anstrengen und an meinem Äußeren und vor allem an meinem ›katastrophalen‹ Benehmen arbeiten.

Als Kind merkte ich bereits, dass sie mit ihrer Ansicht richtig lag. Ich quälte mich jahrelang durch die Schule, ohne reelle Hoffnung auf eine Arztkarriere. Oder einen Ken. Die Jungs standen eben nicht auf dürre Mädchen mit Zahnspange, die sich – erfolglos – in ihren Büchern vergruben. Ich habe es versucht, ernsthaft, aber irgendwann sah ich ein, dass ich einen neuen Weg für mich finden musste.

Allerdings macht es einem eine Familie wie meine schier unmöglich, man selbst zu werden, und das wäre sowieso nicht gut genug für eine Bennett. Daher verließ ich die Menschen, die nur eine Versagerin in mir sahen, zog nach Vegas und begann, mir etwas nur für mich aufzubauen. Niemand redete mir mehr rein oder drängte mich in eine Schublade.

Exakt das hatte ich gewollt – dennoch war ich nicht ausgefüllt. Ich konnte nicht genau benennen, was fehlte, und dachte schon, ich sehnte mich wieder nach meinem Kindheitstraum, bis ich Stu kennenlernte. Stu war Stammkunde in dem Diner, in dem ich arbeitete, und ein Mitglied des Vegas-Chapters der Advocates. Wir verstanden uns auf Anhieb, freundeten uns an, und schließlich stellte er mir seine Familie, das Chapter, vor.

Ich weiß nicht mehr, ab wann ich dazugehörte oder wie es überhaupt zu diesem Punkt kam, aber mit einem Mal hatte ich eine neue Familie. Brüder und Schwestern, die mich nicht nur akzeptierten, wie ich war, sondern auch genau so mochten. Für sie zählte nicht, wo ich herkam, welche Noten ich in der Schule gehabt hatte oder welchem Beruf ich nachging. Bei den Advocates war ich einfach nur Emma. Und diese neue Emma brauchte ihren Klein-Mädchen-Traum nicht mehr, denn sie hatte etwas Besseres gefunden: Eine große Familie, zu der sie nach Hause kommen konnte, und die sie bedingungslos liebte.

Vor allem die zwei Prospects, Blaze und Chick, wuchsen mir ans Herz. Wir verstanden uns wortlos, unternahmen viel zusammen, waren füreinander da. Und als sie dann Members wurden und Buddha, der Pres der Advocates, sie fragte, ob sie ein eigenes Chapter in Wolfville eröffnen wollten, war für mich sofort klar, dass ich mit ihnen gehen würde. Immerhin waren wir die besten Freunde, unzertrennlich, Seelenverwandte.

Es war Billy Crystal in dem Film »Harry und Sally«, der sagte, dass Frauen und Männer keine Freunde sein könnten, weil ihnen immer der Sex dazwischenkommt. Das habe ich nie so gesehen. Ich konnte Gefühle und Sex hervorragend voneinander trennen. Für mich war der körperliche Teil einer Freundschaft ein Extra, das ich genoss, aber mehr erwartete oder erhoffte ich nicht. Meinen perfekten Ken hatte ich wie die Arztkarriere inzwischen ohnehin aus meinen Lebenszielen gestrichen. Und ich war mir, was den Sex betraf, mit jedem meiner Freunde einig. Nie gab es deswegen komische Momente oder Unstimmigkeiten.

Bis auf dieses eine blöde Missverständnis, das mir die Hoffnung auf Liebe endgültig nahm ...

Chick war mein Freund. Ich wusste das. Er hatte nie etwas anderes gesagt oder Anspielungen gemacht, doch an diesem einen Abend, da schien es plötzlich zwischen uns zu knistern. Er war ziemlich betrunken, ja, aber ich hatte keinen Zweifel daran, dass seine Worte von ganzem Herzen kamen: »Emma, du bist die beste Frau, die sich ein Kerl nur vorstellen kann. Du bist schön, klug, immer für uns da ... Du bist etwas ganz Besonderes.«

Es waren jedoch nicht nur seine Worte, sein Blick hatte sich ebenfalls verändert. Er schaute mich an, als sehe er mich zum ersten Mal und strahlte dabei solche Wärme und Zuneigung aus, dass mir die Knie weich wurden. Wir schliefen in dieser Nacht miteinander. Das war nicht neu für uns, aber es war anders als sonst.

Daraufhin hatten wir eine großartige Woche zusammen – wir machten Ausfahrten, gingen essen, verbrachten jede Nacht in seinem Bett ... es war herrlich. Wie der Anfang einer wundervollen Beziehung. Er gab mir das Gefühl, die Eine für ihn sein zu können. Das kleine Mädchen in mir erwachte, und trotz aller Erfahrung und obwohl ich die Liebe bereits aus meinem Leben gestrichen hatte, begann ich einmal mehr zu hoffen.

Doch dann kam der Morgen, an dem ich aus mehr als nur dem Schlaf erwachte. Die Sonne schien durch die dünnen Vorhänge seiner Wohnung, und ein vorwitziger Strahl zielte direkt auf mein Gesicht. Blinzelnd öffnete ich die Augen und musterte Chick, der schlafend neben mir lag. Dieser umwerfende, breitschultrige Footballspieler und Mädchenschwarm hätte sich in der Schule garantiert niemals für mich interessiert, aber jetzt lag er bei mir im Bett, das Laken nur zur Hälfte um seinen muskulösen Körper gewickelt, das Gesicht entspannt und eine Hand auf meinem Schenkel. Mein dummes Herz hüpfte vor Glück, denn es war sicher, dass dies der perfekte Moment wäre.

Sanft fuhr ich mit den Fingern über Chicks Brust, kuschelte mich an ihn und sog seinen herben Duft in meine Lungen, da entdeckte ich etwas neben der Kommode.

Eine prall gefüllte Reisetasche.

»Guten Morgen«, murmelte er verschlafen und legte den Arm um mich.

Ich lächelte, doch scheinbar hatte er mein Stirnrunzeln bemerkt, denn er hob den Kopf und beäugte mich skeptisch. »Was ist los?«

»Gehst du irgendwohin?«, fragte ich und sah zu der Reisetasche hinüber.

Er folgte meinem Blick und nickte. »Jap. Ich muss für eine Weile nach Provo. Morgen geht’s los.«

Ich blinzelte ihn ungläubig an, aber er sprach nicht weiter. Stattdessen vergrub er eine Hand in meinem Haar und versuchte, sich auf mich zu rollen. Ich drückte ihn weg und hob die Brauen.

War das sein Ernst? Er sagte mir einfach mal nebenbei, dass er auf unbestimmte Zeit wegging, und das war’s? Und dafür erwartete er auch noch Sex?

»Wann wolltest du mir das sagen?«, platzte ich heraus, bevor ich es verhindern konnte. Meine Stimme klang wacklig, und ich räusperte mich in dem Versuch, meinen Schock zu dämpfen. Ich hatte mich geirrt, das erkannte ich in diesem Moment schmerzlich, doch ich spürte bereits die Tränen in meinen Augen brennen. Auf einmal kam ich mir so blöd vor.

»Wieso, was ...?« Da fiel der Groschen bei ihm. Chick setzte sich auf, umfasste mein Gesicht mit beiden Händen und schaute mich mit großen Augen an. »Emma, ich wusste nicht, dass ... also, ich meine ...«

Er sprach nicht weiter, aber ich ahnte, was er sagen wollte: ›Oh, Emma, du dummes Ding, wie konntest du annehmen, dass etwas Ernstes zwischen uns läuft?‹

Ich keuchte, befreite mich aus seinem Griff und stieg aus dem Bett. Am liebsten wäre ich im Erdboden versunken. Es fühlte sich so schäbig an, wie ich nackt in seinem Schlafzimmer mein Zeug zusammenraffte, mit seinem mitleidigen Blick auf mir.

Er schien vollkommen sprachlos, und ich verstand ihn. Ich konnte ihm keinen Vorwurf machen. Chick hatte mir nie etwas versprochen; nie auch nur mit einem Wort erwähnt, dass ich mehr als eine Freundin für ihn war. Verdammt, ich wusste ja nicht einmal, was ich für ihn empfand.

»Em, jetzt warte doch mal.« Er setzte sich an den Bettrand und zog seine Shorts an. »Lass uns kurz darüber ...«

»Nein«, unterbrach ich ihn resoluter als geplant. »Ist nicht nötig. Ehrlich. Ich weiß nicht, warum ich das gesagt habe. Du hast dir nichts vorzuwerfen.« Es ist meine Schuld, fügte ich in Gedanken hinzu. Ich war so wütend auf mich, vor allem, weil ich die Tränen mit ganzer Kraft zurückhalten musste, während ich mich anzog und nach meiner Tasche griff. Wieso hatte ich mir wieder Hoffnungen gemacht? Ich wusste es doch besser, verdammt! Hatte ich ähnliche Situationen in meinem Leben denn nicht schon oft genug erlebt? Es war so lächerlich.

Bevor ich ging, drehte ich mich zu ihm um. Ich wollte ihm sagen, dass das nichts an unserer Freundschaft änderte, dass ich nichts von ihm erwartete, dass er sich deswegen nicht schlecht fühlen sollte, doch dann sah ich in sein Gesicht, und mein Herz brach in tausend Teile.

Chick wirkte völlig irritiert – offenbar fragte er sich, wie ich nur darauf kommen konnte, dass er sich ernsthaft für mich interessierte. Wie ich – ich, ein Club-Groupie und die ewige Versagerin – auch nur annehmen konnte, dass er mehr von mir wollte als Sex, dass er mich vielleicht sogar zu seiner old Lady machen würde.

Ich schluckte, straffte die Schultern und hob die Mundwinkel. »Viel Spaß in Provo. Meld dich doch mal.«

Daraufhin drehte ich mich um, verließ sein Schlafzimmer, rannte förmlich zur Wohnungstür und eilte nach Hause. Tränen liefen über meine Wangen, ich konnte sie weder aufhalten noch verstecken. Die Leute auf der Straße warfen mir mitleidige Blicke zu, und am liebsten hätte ich sie dafür angebrüllt.

»Ja, ich weiß! Ich hatte es längst kapiert«, wollte ich schreien. »Das war nur ein Rückfall. Ich will ja gar nicht mehr. Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist.«

Den gesamten Tag über habe ich geweint und mich für jede einzelne Träne geschämt. Denn keine von ihnen wäre nötig gewesen. Abends meldete ich mich zum ersten Mal in der Bar krank. Ich musste derart fertig geklungen haben, dass B später sogar vorbeikam. Aber ich ließ ihn nicht rein. Er sollte mich nicht so sehen. Außerdem konnte ich nicht über Chick reden, schon gar nicht mit ihm.

Ich kam mir so dumm und naiv vor.

An diesem Tag habe ich mir geschworen, mich nie mehr so zu fühlen. Ich hatte ein großartiges Leben, so wie es war, und ich würde es mir abgewöhnen, ständig mehr zu verlangen. Ich war nicht dieses gierige kleine Mädchen von damals, sondern längst erwachsen. Meine kindlichen Wunschträume musste ich ablegen. Sie waren für andere Leute bestimmt.

Ich schwor mir, nie wieder jemanden so nah an mich heran und in meine Seele zu lassen. Mein Herz wäre zum letzten Mal gebrochen worden.

Chapter One – Blood And Water

»Was genau ist denn nun ein Toy Run?« Bea nahm Emma den Karton ab, der prall mit Spielzeug gefüllt war.

»Das ist eine Wohltätigkeitsveranstaltung«, antwortete Emma, holte einen weiteren Karton aus dem Kofferraum ihres Civics und wies mit dem Kinn in Richtung des Platzes vor der Turnhalle, auf dem sich eine ganze Menge Leute tummelten. Sie marschierte los, und Bea folgte ihr auf dem Fuß. »Die Clubs sammeln regelmäßig Spenden und bringen sie dann bei Benefiz-Fahrten an ihren Bestimmungsort. Dieses Mal fahren die Bribons nach Henderson in ein Kinderheim.«

»Das ist nett.« Bea nickte und schaute sich skeptisch um.

Auf der Fahrt hatte Bea ihr erzählt, dass sie seit ihrer Entführung vor ein paar Monaten nicht mehr in Accaciafield gewesen war. Sie schien nervös zu sein, und Emma hoffte, sie mit ihrer Bitte, sie zu begleiten, nicht überfordert zu haben. Aber sie glaubte fest daran, dass man nur über etwas hinwegkommen konnte, wenn man es nicht verdrängte oder ignorierte. Bea sollte diese Stadt, die noch immer als bedrohlichster aller Orte in ihrem Kopf manifestiert war, lieber früher als später mit harmloseren Begebenheiten verbinden.

Emma wusste nicht genau, was Sonny und seine Männer mit ihr gemacht hatten, sie wollte Bea nicht ausfragen. Aber sie konnte es sich in etwa vorstellen. Sonny war immer ein kranker Perversling gewesen, mit dem keine Frau freiwillig ein zweites Mal ins Bett ging. Wenn dieser Typ, Bad Mike, der noch irgendwo da draußen frei herumlief, nur halb so ekelhaft war wie Sonny, konnte Emma die Angst ihrer Freundin nachvollziehen. Aber hier, im Herzen Accaciafields, vor der Turnhalle einer Grundschule und inmitten der Bribons, geschah Bea sicherlich nichts.

»Eins noch: Wieso bringen wir Spenden zu der Aktion eines anderen Clubs?«, hakte Bea nach.

»Man könnte es Politik nennen. Die Advocates zeigen ihren guten Willen, indem sie ihre mexikanischen Freunde unterstützen.«

»Die nicht immer Freunde sind ...«

Emma lächelte ihr zu. »Momentan sind sie es. Und wir alle wollen, dass das so bleibt.«

Irgendwann würde Bea verstehen, wie es in dieser Welt, ihrer neuen Welt, ablief. Emma erinnerte sich, wie kompliziert, ja beinahe surreal ihr die Eigenheiten des Clubs und dessen Politik anfangs vorgekommen waren, daher gab sie sich besonders viel Mühe, um Bea alles verständlich zu erklären und sie besser zu integrieren. Wenn sie ehrlich war, wollte sie verhindern, dass sie erneut auf die Idee kam, Blaze und das Chapter zu verlassen. Denn das würde nicht nur den VP zerstören, auch Emma verkraftete dieses Drama kein weiteres Mal. Ihr würde es das Herz zerreißen, wenn ihr selbstgewählter Bruder noch einmal so leiden müsste.

Sie schaute sich auf dem großen Platz vor der Turnhalle um und überlegte, wo sie ihre Kartons abgeben sollte. Es waren einige Tische aufgebaut, hinter denen die Frauen der Bribons Spenden annahmen, davor bildeten sich derartige Menschentrauben, dass sich Emma und Bea wohl ewig dort anstellen müssten. Unglaublich, wie viele Leute sich an der guten Sache beteiligten.

Als Emma aus dem lauten Gewirr eine vertraute Stimme heraushörte, hielt sie inne und drehte lächelnd den Kopf. Mitten auf dem Platz stand Isabella Ramirez, deutete in verschiedene Richtungen und gab einigen Bribons Anweisungen. Die junge Frau wollte für gewöhnlich nichts mit den Clubangelegenheiten ihres Bruders Fernando, dem President der Bribons, zu tun haben, aber sobald es um Spendenaktionen ging, stand sie parat und unterstützte den Club.

Isa scheuchte einen der Member mit einer Kiste in Richtung Turnhalle und schimpfte ihm etwas auf Spanisch hinterher, woraufhin der Kerl den Kopf einzog. Emma konnte sich ein Kichern nicht verkneifen. Diese Frau war gerade einmal knapp einen Meter sechzig groß, aber sie strahlte eine Stärke und Autorität aus, wie man sie selten sah. Emma hatte sie dafür schon immer bewundert.

»Komm«, sagte sie zu Bea, deutete vage mit dem Kinn auf Isa und marschierte los. »Du musst unbedingt jemanden kennenlernen.«

»Ay, Emma, buenos dias«, grüßte Isa schon von Weitem, als sie die beiden Frauen kommen sah. Sie ließ Emma gerade so viel Zeit, um den Karton auf dem Boden abzustellen, bevor sie sie in eine feste Umarmung zog. »Es freut mich, dich zu sehen.«

»Mich ebenfalls.« Emma löste sich von ihr und deutete auf Bea. »Das ist Beatrice Kramer, Bea, die old Lady unseres VP.« Daraufhin wandte sie sich an ihre Begleiterin, die ihren Karton gleichfalls abstellte: »Ich möchte dir Isabella Ramirez vorstellen, sie ist ...«

»Einfach nur Isa«, unterbrach die Mexikanerin und reichte Bea die Hand. »Ich organisiere diesen Toy Run. Es freut mich, dich wohlauf zu sehen.«

Bea nickte. »Ich kann dir nicht genug für das danken, was du ...«

»Ay, no.« Isa winkte ab, und wie immer, wenn sie verlegen wurde, brach ihr Akzent, das harte R und die langgezogenen Vokale, noch eine Spur deutlicher hervor. »Ich habe gar nichts gemacht, nur Emmas Vermutung bestätigt. Ein Dank ist nicht nötig.«

Emma warf ihr einen tadelnden Blick zu, ehe sie an Bea gewandt erklärte: »Isa ist immer so bescheiden, dabei ist sie ein richtiger Engel.« Sie ignorierte das Stöhnen der Mexikanerin. »Wir haben beide ehrenamtlich bei einer Organisation für die Zusammenführung unterschiedlicher Kulturen gearbeitet. Tja, ich habe schnell aufgegeben. Das ist vielleicht ein Aufwand ... Es ist gar nicht so leicht, etwas Gutes zu tun, kann ich dir sagen. Aber Isa unterstützt einen ganzen Katalog von Organisationen und Wohltätigkeitsaktionen. Ich weiß gar nicht, woher sie die Ausdauer nimmt.«

Bea nickte anerkennend. »Du sammelst wohl Karmapunkte für die ganze Nachbarschaft.«

»Dem Club können diese Punkte zumindest nicht schaden.« Isa zuckte mit den Schultern, dann deutete sie auf die Kartons. »Was habt ihr mitgebracht? Spielzeug?«

»Und einen Scheck.« Emma zog das Papier aus der Jackentasche und reichte es Isa. »Mit besten Grüßen von unserem Pres. Syd wünscht viel Erfolg bei der Aktion.« Sie machte eine allumfassende Geste. »Wie es aussieht, läuft es ja hervorragend.«

»Ich bin zufrieden.« Zwinkernd wedelte Isa mit dem Scheck. »Ich werde Nando die Grüße deines Presidents ausrichten.«

»Wir haben noch mehr Spielzeug im Auto.« Emma deutete mit dem Daumen über die Schulter. »Wir werden sie kurz ...«

»José«, rief Isa, ehe sie die Hand in Emmas Richtung ausstreckte. »Gib mir deine Wagenschlüssel, die Jungs können das erledigen.«

Ein attraktiver Kerl mit rabenschwarzem Haar kam diensteifrig angelaufen und lächelte Isa derart charmant an, dass sogar Emmas Knie weich wurden. Diese ignorierte den offensichtlichen Flirtversuch allerdings und warf ihm lediglich Emmas Schlüssel zu. »Es ist der rote Honda Civic. Bring die Kartons gleich zu Tony.«

»Geht klar«, antwortete José und marschierte los.

»Habt ihr noch Zeit für eine Tasse Kaffee?«, fragte Isa und deutete auf den Eingang der Turnhalle. »Ich könnte eine Pause vertragen.«

Emma und Bea stimmten unisono zu, woraufhin Isa voranging. Auf dem Weg wies sie zwei Bribons zurecht, die an der Wand lehnten und rauchten. Beide nickten ihr zu und machten sich sofort wieder an die Arbeit.

»Dieser kleinen Frau kann wohl niemand etwas abschlagen«, raunte Bea.

Emma lachte auf. »Es kommt eben doch auf die innere Größe an.«

Bewundernswert, dachte sie erneut und wünschte sich gleichzeitig, sich nur einmal selbst so durchsetzen zu können.

*

Seufzend schloss Emma die Wohnungstür hinter sich, warf ihre Schlüssel in die Schale auf der Kommode und schlurfte ins Wohnzimmer, wo sie sich auf der Couch niederließ und in die Luft starrte. Sie hasste Nachmittage. Jegliche Nachmittage. Sie waren wie endlos langgezogene Brücken zwischen zwei sinnvollen Beschäftigungen: Schlafen und Arbeit.

Bea wollte mit B zu Mittag essen, und Isa würde den gesamten Tag über mit dem Toy Run zu tun haben, von einem Eck ins andere springen und ihre Jungs herumkommandieren. Bei dem Gedanken musste Emma grinsen. Sie mochte diese kleine Mexikanerin einfach. Jedes Mal, wenn sie sich sahen, war es, als trafen sich altvertraute Freunde wieder. Auch heute hatte es wie immer viel Spaß gemacht, mit ihr und Bea zusammen zu sein, bei einer Tasse Kaffee zu tratschen und sich auszutauschen. Und es war noch schöner, weil zur Abwechslung kein Damoklesschwert über ihnen schwebte.

Endlich war ihre Welt wieder in der Bahn. Niemand wurde bedroht, angegriffen oder saß im Knast, alle waren wohlauf, Bea erholte sich, ebenso wie B, und auch Rosie machte sich gut in der Entzugsklinik, wie man hörte. Das Chapter durfte normal leben und seinen friedlichen Alltag genießen.

Es war perfekt, keine Frage. Doch während alle mit ihren Liebsten beschäftigt waren oder noch arbeiteten, war das Clubhaus leer, und Emma hatte nichts zu tun. Wie jeden Nachmittag überlegte sie, wie sie die Zeit rumkriegen sollte. Sie hatte es immer schon gehasst, allein zu sein und dabei untätig herumzusitzen. Sie fühlte sich nicht gerne nutzlos …

Gerade dachte sie darüber nach, was es in der Wohnung zu tun geben könnte – Staubsaugen vielleicht ... oder Fenster putzen? – da fiel ihr Blick auf das Festnetztelefon. Das unscheinbare schwarze Gerät stand in der Basisstation, an der ein kleines, rotes Lämpchen leuchtete, um sie darauf hinzuweisen, dass jemand versucht hatte, sie zu erreichen.

Emma erhob sich, ging zum Regal hinüber und griff nach dem Telefon. Nachdem sie die verpassten Anrufe angewählt hatte, erkannte sie als neuestes auf der Liste die Nummer ihrer Großeltern. Unwillkürlich lächelte sie. Bestimmt hatte sie mit der heutigen Spendenaktion ebenfalls ein paar Karmapunkte gesammelt und wurde jetzt mit der Nachricht belohnt, dass ihr Grandpa endlich aus dem Krankenhaus entlassen wurde und nach Hause durfte.

Mehr durch Zufall hatte sie vor einigen Wochen erfahren, dass ihr Großvater gestürzt und sich einen komplizierten Bruch zugezogen hatte. Ihr feiner Bruder, der sie eigentlich hätte informieren sollen, befand es wieder nicht für nötig, Emma Bescheid zu geben – sie wüsste heute noch nichts davon, wenn sie ihre Großmutter nicht einmal im Monat anrufen würde. Diese erzählte ihr bei ihrem Telefonat, dass Emmas Grandpa im Krankenhaus bleiben müsse, bis der Bruch so weit verheilt war, dass er wenigstens selbstständig gehen konnte. Denn ihrer Großmutter war es schlicht nicht möglich, den Mann zu Hause zu pflegen. Und Emmas Eltern ... nun ja, die waren wie immer zu beschäftigt ...

Emma drückte auf das grüne Hörersymbol am Telefon und lauschte dem Freizeichen in der Leitung. Nach einer Weile erklang ein Knacken, und lautes Atmen war zu hören. Das kannte sie von ihrer Großmutter. Sie war inzwischen über siebzig und recht füllig, die meisten Bewegungen strengten sie so sehr an, dass sie heftig schnaufen musste.

»Hallo?« Die Stimme der alten Frau klang ungewöhnlich rau.

»Grandma? Ich bin’s, Emma! Du hast mich angerufen?«

»Oh, meine Kleine, wie gut ... wie gut, dass du anrufst ...« Sie atmete einige Male schwer durch und klang, als hätte sie Schmerzen.

Emma blieb kerzengerade mitten im Wohnzimmer stehen. »Was ist denn los? Geht es dir nicht gut?«

»Nein. Es geht mir nicht gut. Es ist ...« Sie schluchzte. So laut und unvermittelt, dass Emmas Herz einen erschrockenen Satz machte. »Hat Tyler dich nicht angerufen, Liebes? Mein Henry ... dein Grandpa ... er ist gestorben.«

Emma klappte der Mund auf, und ihr Puls hämmerte derart heftig in ihren Ohren, dass sie die nächsten Worte ihrer Großmutter kaum verstand.

»Sie mussten seine Hüfte noch einmal operieren.« Ein weiteres schweres Schnaufen. »Sein Herz hat das nicht verkraftet.«

Emma wurden die Knie weich, sie sank zu Boden. Sie konnte nichts anderes tun, als die Hand auf den Mund zu drücken, gegen die Wand zu starren und sich zu zwingen, weiterzuatmen. Ein, aus. Und wieder von vorn. Sie wollte etwas sagen, aber sie wusste schlichtweg nicht was.

»Das sind diese Ärzte ... Halunken!«, schimpfte ihre Großmutter mit kehliger Stimme. »Immer wollen sie an den Leuten herumschneiden. Hätten sie Henry doch in Ruhe gelassen. Sie meinten, er würde sonst von nun an humpeln.« Sie schnaubte. »Dafür wäre er aber noch jahrelang durchs Leben gehumpelt. Was stellen die nur an mit unseren alten Herzen ... Für was halten die sich denn?«

»Es tut mir so leid, Grandma«, flüsterte Emma und wischte sich die heißen Tränen von den Wangen. »Es ... tut mir so leid.« Sie wusste einfach nicht, was sie sonst sagen sollte.

Unwillkürlich formte sich das Bild ihres Großvaters in ihrem Kopf. Er war ein kleiner, untersetzter Mann gewesen, mit einer dicken Knollennase und unzähligen Lachfalten um Augen und Mund. Draußen trug er stets seine geliebte dunkelkarierte Schiebermütze, und wenn er ging, dann verschränkte er die Hände hinter dem Rücken. Als Kind hatte er Emma oft zu Pferderennen und Footballspielen mitgenommen und kleinere Einsätze für sie getätigt. Das waren ihre geheimen Abenteuer gewesen, von denen sie ihrer Grandma nie erzählt hatten.

Sie erinnerte sich so genau an seine heisere Stimme, sein herzliches Lachen, das Blitzen in seinen dunklen Augen ... und jetzt war er einfach fort?

»Was kann ich tun?« Emma brachte nach wie vor nichts als ein Flüstern raus.

»Ist schon gut, Liebes. Tyler hat sich um alles gekümmert. Morgen ist die Beerdigung, und danach hilft mir dein Bruder, eine kleinere Wohnung zu finden.« Sie zögerte einen Moment. »Vielleicht ziehe ich sogar in ein Altenheim. Was soll ich denn so allein anfangen? Deshalb rufe ich an. Ich wollte dir sagen, dass du dich nicht verpflichtet fühlen musst, morgen zu kommen. Besuch mich ein anderes Mal. Dann backe ich uns einen schönen Kuchen.«

Emmas Herz verkrampfte sich so schmerzhaft, dass sie tief einatmen musste, um die Enge in ihrer Brust zu vertreiben. »Die Beerdigung ist schon morgen? Wieso so früh? Wann ist Grandpa denn ...?«

»Es war vergangenen Montag. Gegen Abend.«

Montag. Heute war Freitag. Das waren vier Tage. Ihr Großvater war vor vier Tagen gestorben, und keiner hatte Emma Bescheid gegeben. Sie biss sich auf die Lippen, um nicht ungehemmt loszuheulen.

Sie machte ihrer Großmutter keinen Vorwurf, aber ihren Eltern und ihrem Bruder umso mehr. Was diese Leute anging, gehörte Emma ganz offensichtlich nicht weiter zur Familie. Wenn überhaupt, war sie für die Bennetts nur noch eine entfernte Verwandte – ein Mädchen, das irgendwo abgestürzt war und aufgegeben wurde.

Sie hatte Tyler gebeten, sie auf dem Laufenden zu halten, aber anscheinend wollte er inzwischen gar nichts mehr mit ihr zu tun haben und sie aus Familienangelegenheiten raushalten. Hätte sie gewusst, dass ihr Großvater noch einmal operiert werden musste, wäre sie ihn doch besuchen gegangen. Erst vor wenigen Wochen hatte sie überlegt, nach Phoenix zu fahren, die Idee aber letztlich wieder verworfen. Aus Angst, sich diesen Leuten zu stellen, hatte sie die letzte Chance verpasst, ihren Großvater lebend zu sehen. Sie könnte sich ohrfeigen.

»Grandma, ich ... es tut mir so leid«, wiederholte sie.

»Ich weiß, Liebes. Ich muss jetzt Schluss machen. Tyler ist eben vorgefahren. Wir haben nachher ein Gespräch mit dem Pfarrer.«

»Okay. Wenn ich irgendetwas tun kann, melde dich bitte bei mir.«

»Schon gut, meine Kleine. Behalte deinen Großvater in lieber Erinnerung, das würde ihn freuen.«

Emma nickte, sie brachte kein weiteres Wort mehr raus, dann hörte sie ein Klicken in der Leitung. Noch immer auf dem Boden hockend, schweifte ihr Blick umher. Auf einmal kam ihr hier alles so fremd, unwirklich und unbedeutend vor. Sie war die ganze Zeit über hier gewesen, dachte sie. Sie hatte gelacht und gelebt, während ihr Großvater bereits tot gewesen war. Es war irrational, das wusste sie, aber Emma fühlte sich schuldig. Nach allem, was ihre Großeltern für sie getan hatten, nach allem, was sie für Emma gewesen waren, hatte sie nicht bemerkt, dass ihr Grandpa nicht mehr da war.

Sie war eher bei ihnen als bei ihren Eltern aufgewachsen, nachdem ihre Mutter eingesehen hatte, dass ihr Traum von einem Mini-me nicht in Erfüllung gehen würde. Emma hatte Constance Bennetts Ansprüchen nie genügt – dafür war ihr Haar nicht seidig genug, ihre Nägel zu brüchig und ihr Gesicht zu sommersprossig gewesen. Ganz zu schweigen von ihrem ›katastrophalen Benehmen‹, wie ihre Mutter es immer auszudrücken pflegte.

Aber Emma war insgeheim erleichtert, als ihre Mutter sie aufgab. Denn von da an durfte sie sehr viel Zeit mit ihren Großeltern verbringen, den Eltern ihrer Mutter. Sie fragte sich noch heute, wie ihre Mom von solch lieben, bodenständigen Menschen abstammen konnte. Was war nur mit ihr geschehen, dass sie derart kalt und berechnend geworden war?

Ihre Großeltern taten ihr Bestes, um Emma zu unterstützen und sie ihren eigenen Weg finden zu lassen. Sie erkannten natürlich ebenfalls, dass ihr nichts wirklich leicht von der Hand ging und wenig Potenzial in ihr steckte. Sie war eben nicht wie Tyler, der gefördert werden konnte, weil er die strahlende Zukunft der Familie war. Doch auch wenn Emma stets in Tylers Schatten stand, ließen ihre Großeltern nie einen Zweifel daran, wie lieb sie sie hatten und wie wertvoll sie als Mensch war. Von ihnen lernte Emma, dass es völlig in Ordnung war, ein einfaches Leben zu führen. Leider waren ihre Eltern nicht dieser Meinung.

Als Emma vor vier Jahren entschieden hatte, dass sie unbedingt fortmusste von diesen Snobs, die sich für etwas Besseres hielten, war es ihr schwergefallen, ihre Großeltern zu verlassen, aber sie musste es tun, um in der Welt ihrer Eltern nicht unterzugehen. Sie hatte geglaubt, ihre Familie wäre anständig genug, um sie weiterhin einzubeziehen, doch Tyler hatte das Ruder übernommen und sie einfach aus der Familie gestrichen. Es war, als hätte sie niemals dort gelebt. Selbst ihre beste Freundin aus Schultagen, Nancy, hatte den Kontakt zu Emma abgebrochen. Wie sie Tyler kannte, hatte er vermutlich wilde Geschichten über sie verbreitet. Wahrscheinlich war seine Versager-Schwester mit einem Junkie durchgebrannt, und wenn sie anrief, sollte lieber niemand ans Telefon gehen, da sie ohnehin nur Kohle schnorren wollte. Emma hatte keine Ahnung, wieso ihr Bruder sie so sehr verabscheute, aber er tat es nun einmal.

Sie blickte zu den Fotos in ihrem Regal auf. Die meisten zeigten Schnappschüsse von ihr mit Blaze, Chick, Bennie und anderen Membern oder Mädels der Advocates. Im obersten Fach jedoch stand ein Foto von Emma mit ihren Großeltern, in einem hübschen weißen Rahmen mit Rosenornamenten. Sie hatte akzeptiert, keine Bennett mehr zu sein, und investierte längst keine Gefühle mehr in ihre Familie, aber ihre Großeltern würden immer einen besonderen Platz in ihrem Herzen haben. Und sie war sicher, dass es umgekehrt ebenso war.

Ihre Grandma hatte ihr bestimmt nur gesagt, sie müsse nicht zur Beerdigung kommen, weil sie wusste, wie ungern sie ihren Eltern und ihrem Bruder begegnen würde. Diese wollten sie dort garantiert nicht sehen. Aber sollte sie sich deshalb nun aus der Ferne von ihrem Grandpa verabschieden? War das nicht etwas respektlos, dem Mann gegenüber, der sie quasi großgezogen hatte?