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Über das Buch

Vor fünfzig Jahren, am 1. März 1970 erzielte die SPÖ unter Bruno Kreisky bei der Nationalratswahl die relative Mehrheit. Kreisky bildete eine Minderheitsregierung. Damit begann eine Ära, die 13 Jahre dauern und Österreich tief verändern sollte. Als Kanzler ist er mehrfacher Rekordhalter: Keiner vor oder nach ihm wurde so spät im Leben Regierungschef, niemand blieb so lange im Amt, keiner gewann so viele Wahlen hintereinander. Vor dreißig Jahren, am 29. Juli 1990 starb Bruno Kreisky. Wer war dieser Mann? Worin bestand seine Macht, sein Mythos? Christoph Kotanko, der „Doyen des innenpolitischen Qualitätsjournalismus“ (so das Magazin „Trend“), hat zahlreiche Gespräche mit den engsten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern geführt und beschreibt informativ und kritisch die Kultfigur Kreisky.

Inhalt

Vorwort von Heinz Fischer

Kreisky forever?

Einleitung

1966 bis 1970: Von Klaus zu Kreisky

Gespräch mit Margit Schmidt

Mensch, Macht, Mythos

Gespräch mit Alfred Reiter

Die Minderheitsregierung 1970/71

Gespräch mit Ernst Braun

1971 bis 1983: Von A(ndrosch) bis Z(wentendorf)

Gespräch mit Hugo Portisch

Danksagung

Zeittafel

Quellen

Literatur

Personenregister

Vorwort von Heinz Fischer

In meinen Bücherregalen zu Hause sind fast zwei Laufmeter mit Büchern von und über Bruno Kreisky gefüllt. Und dennoch gibt es noch sehr viel über Kreisky zu erzählen und zu berichten.

Manchmal denke ich mir, dass das Bild Kreiskys durch den Abstand von 50 Jahren seit dem Beginn seiner Kanzlerschaft und von 30 Jahren seit seinem Tod nicht nur nicht verblasst, sondern sogar plastischer geworden ist und an Ausstrahlung gewonnen hat.

Daher begrüße ich es sehr, dass Dr. Christoph Kotanko den 50. Jahrestag der Ernennung Kreiskys zum österreichischen Bundeskanzler am 21. April 1970 und den 30. Todestag des Altkanzlers (gestorben am 29. Juli 1990) zum Anlass nimmt, ein Buch über Kreisky aus der heute schon bestehenden historischen Distanz zu schreiben. Immerhin sind vom Beginn der Kanzlerschaft Kreiskys bis heute schon mehr Jahre vergangen als vom Ende des Ersten Weltkriegs bis zur Wahl Kreiskys zum SPÖ-Vorsitzenden im Februar 1967.

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Für mich war Bruno Kreisky seit meiner Jugend ein Begriff. Als mein Vater 1954 zum Staatssekretär im Handelsministerium in der Regierung Raab/Schärf ernannt wurde, war auch Kreisky als Staatssekretär in dieser Regierung tätig, und zwar als Staatssekretär im Bundeskanzleramt, weil es damals noch kein eigenes Außenministerium in der österreichischen Bundesregierung gegeben hat – was erst 1959 geändert wurde.

Persönlich kennengelernt habe ich Bruno Kreisky Ende der 1950er-Jahre, als er bereits Außenminister war und – so wie Bruno Pittermann, Karl Waldbrunner oder Franz Olah – gelegentlich bereit war, mit Funktionären des Verbandes Sozialistischer Studenten zusammenzutreffen oder an Veranstaltungen des VSStÖ als Referent teilzunehmen. Das liegt jetzt 60 Jahre zurück und seine strenge damalige Büroleiterin Frau Chiari setzte solchen Begegnungen enge zeitliche Grenzen.

Meine Frau Margit kennt Bruno Kreisky und dessen Familie noch viel länger – praktisch von frühester Kindheit an –, da die Familien Kreisky und Binder zeitgleich in Stockholm als Flüchtlinge aus Österreich lebten und einander, so gut es ging, unterstützten.

Ab 1962, als bei sechsmonatigen Koalitionsverhandlungen der heftige Kampf zwischen SPÖ und ÖVP um das Außenministerium zugunsten der SPÖ entschieden wurde, begann die politische Bedeutung von Bruno Kreisky sichtbar zu steigen.

Und vier Jahre später, als die SPÖ unter Bruno Pittermann am 6. März 1966 eine schwere Wahlniederlage im politischen Wettbewerb gegen den neuen ÖVP-Bundesparteiobmann und Bundeskanzler Josef Klaus hinnehmen musste – wobei die ÖVP zum ersten Mal seit 1945 wieder eine absolute Mehrheit erhielt –, erschien vielen in der SPÖ ein Wechsel an der Spitze der Partei unvermeidbar. Aber vor dieser Personalfrage war noch eine Sachfrage zu klären, nämlich die Frage, ob man mit der ÖVP, die im Nationalrat nunmehr über eine absolute Mehrheit verfügte, überhaupt noch eine Koalition eingehen konnte oder nicht.

Die ÖVP bot damals der SPÖ im Prinzip eine Koalition ohne Koalitionspakt an, d. h. die SPÖ sollte zwar in der Bundesregierung vertreten sein und auch einige Ministerien leiten, aber es sollte keinen bindenden Pakt geben, der die ÖVP daran hindern würde, ihre absolute Mehrheit für Beschlüsse im Nationalrat nach ihrem Ermessen einzusetzen.

Die Mehrheit in der SPÖ-Führung hielt eine solche Rolle für unzumutbar, weil die SPÖ damit bloß ein politisches Feigenblatt für eine im Parlament allein entscheidende ÖVP gewesen wäre.

Kreisky aber kämpfte wie ein Löwe für eine Fortsetzung der Koalition und sein Argument wurzelte in der Geschichte der Ersten Republik: Das Unheil der Ersten Republik habe – so argumentierte Bruno Kreisky – mit dem Ende der Koalition zwischen Christlichsozialen und Sozialdemokraten im Sommer 1920 begonnen, daher dürfe man 46 Jahre später nicht den gleichen Fehler wiederholen.

Aber bei der Abstimmung im Parteivorstand blieb Kreisky mit seinem Standpunkt deutlich in der Minderheit: Die SPÖ ging in Opposition und Bundeskanzler Josef Klaus bildete eine ÖVP-Alleinregierung.

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Zehn Monate später, am 1. Februar 1967, wurde Bruno Kreisky nach einem stürmischen Parteitag zum SPÖ-Vorsitzenden gewählt. Er hatte einen guten Ruf in der Bevölkerung, war international gut vernetzt, brachte viele neue Ideen in die Politik ein und machte die SPÖ bei den Wahlen vom 1. März 1970 zur stärksten Partei im Parlament. Die endgültige Mandatsverteilung lautete (nach einer Nachwahl in einigen Wiener Wahlkreisen) 81 SPÖ zu 78 ÖVP zu 6 FPÖ.

Wenige Wochen später war Kreisky Bundeskanzler; und ich bin überzeugt, dass die SPÖ die Wahlen des Jahres 1970 nicht gewonnen hätte, wäre sie 1966 als Juniorpartner der ÖVP in die Regierung eingetreten. Man kann also sagen, dass die Niederlage, die Kreisky bei der Abstimmung im SPÖ-Parteivorstand im Frühjahr 1966 erlitten hat, die Weichen für seinen Wahlerfolg im Frühjahr 1970 gestellt hat.

Dabei unterschätzte Kreisky auch im Wahlkampf 1970 noch die Chancen der SPÖ und überschätzte jene von Josef Klaus, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil Kreisky lange Zeit fürchtete, dass seine jüdische Herkunft de facto ein großes Hindernis zur Erlangung der Funktion des Bundeskanzlers sein würde.

Kreiskys Büroleiter und enger Mitarbeiter im Wahlkampf 1970 war der spätere Botschafter und Außenminister Peter Jankowitsch, der Kreisky auch auf seinen ausgedehnten Wahlreisen im Jänner und Februar 1970 begleitete. Mitten im Wahlkampf fiel Peter Jankowitsch wegen einer starken Grippe für einige Zeit aus. Kreisky fragte mich (ich war damals Klubsekretär in der SPÖ-Parlamentsfraktion), ob ich ihn auf seinen Wahlreisen bis zur Wiederherstellung von Peter Jankowitsch begleiten könne und wolle.

Ich nahm diese Einladung des Parteivorsitzenden gerne an, saß also täglich stundenlang mit Kreisky im Auto, hörte im Zweistundentakt seine Wahlreden, redetet mit ihm über Gott und die Welt und lernte natürlich auch seine Einschätzung der Wahlchancen kennen.

Kreisky war damals 59 Jahre alt. Er schätzte die Lage so ein, dass die ÖVP am 1. März 1970 ihre absolute Mehrheit verlieren, aber stärkste Partei bleiben würde und es daher wieder zu einer Koalitionsregierung unter ÖVP Führung kommen werde. Bei der nächsten Wahl – also voraussichtlich 1974 – könnte die SPÖ dann den Sprung zur stärksten Partei schaffen und zum ersten Mal in der Zweiten Republik den Bundeskanzler stellen – so lautete die mittelfristige Perspektive in der Einschätzung von Bruno Kreisky. Und 1978 wäre dann auch eine absolute Mehrheit für die SPÖ möglich, fügte Kreisky noch hinzu.

Die Prognose war – wie sich bald darauf herausstellte – viel zu vorsichtig! Kreisky und seine Partei überholten die ÖVP schon im März 1970 sowohl an Stimmen als auch an Mandaten und bereits eineinhalb Jahre später, im Herbst 1971, erzielte Kreisky die absolute Mehrheit und blieb insgesamt 13 Jahre Bundeskanzler.

Als am 1. März 1970 das Wahlresultat vorlag, erhielt Bruno Kreisky von Bundespräsident Jonas zunächst den Auftrag zur Bildung einer Koalitionsregierung mit der ÖVP. Aber der glühende Koalitionsanhänger von 1966, der damals gefürchtet hatte, dass ein Ende der Koalition sehr unerfreuliche Entwicklungen (wie in der Ersten Republik) zur Folge haben könnte, hatte inzwischen seinen Standpunkt revidiert: Tatsächlich hatte sich in den Jahren zwischen 1966 und 1970 gezeigt, dass eine der beiden großen Parteien in Opposition die Demokratie nicht gefährdete, wenn man bestimmte geschriebene und ungeschriebene Regeln beachtete; und dazu waren damals sowohl die ÖVP als Regierungspartei als auch die SPÖ als Oppositionspartei eindeutig bereit.

Zwischen Klaus und Withalm einerseits sowie Kreisky und mehreren Exponenten der SPÖ andererseits gab es zahlreiche Kanäle und Kontakte zum Informations- und Meinungsaustausch. Die Sozialpartnerschaft wurde vernünftig praktiziert, die beiden Parteien bzw. die Parteiführungen wussten, was sie einander zumuten konnten und was nicht. Über größere legislative Projekte wurde oft monatelang und ausführlich in Ausschüssen und Unterausschüssen des Nationalrats verhandelt und wichtige Institutionen wie Nationalbank, Verfassungsgericht oder andere Einrichtungen von staatspolitischer Bedeutung wurden weiterhin einigermaßen ausgewogen und sachlich besetzt.

Auf der Basis dieser Erfahrungen strebte Kreisky nach seinem Wahlsieg im Jahr 1970 nicht eine Neuauflage der Großen Koalition unter seinem Vorsitz an (was er sich ursprünglich vom Jahr 1974 erhofft hatte), sondern legte den Auftrag des Bundespräsidenten zur Bildung einer Koalitionsregierung mit der ÖVP nach einigen Gesprächsrunden zurück und ersuchte den Bundespräsidenten – nach einer entsprechenden Absprache mit FPÖ-Klubobmann Friedrich Peter – um die Betrauung mit der Bildung einer SPÖ-Minderheitsregierung.

Friedrich Peter, der Bruno Kreisky sehr schätzte und ihm die „Tolerierung“ einer Minderheitsregierung für ein bis zwei Jahre in Aussicht stellte, war und bleibt für mich eine der am schwierigsten zu beurteilenden Persönlichkeiten der Zweiten Republik. Aber den Vorwurf, Kreisky habe sich die Tolerierung seiner Minderheitsregierung durch ein großes Wahlrechtsgeschenk an die FPÖ „erkauft“, halte ich in dieser Form nicht für die ganze Wahrheit.

Denn die Wahlrechtsreform des Jahres 1970 war nicht etwa eine sachlich unbegründete Privilegierung der FPÖ als Lohn für „politisches Wohlverhalten“, sondern es war eine demokratiepolitisch überfällige Maßnahme, über die schon diskutiert und verhandelt wurde, als die Koalition zwischen SPÖ und ÖVP noch stabil und unerschütterlich erschien. Denn das österreichische Verhältniswahlrecht aus den Zeiten der Ersten Republik war so konstruiert, dass die sogenannten Restmandate wesentlich „teurer“ waren als die Grundmandate.

Und da SPÖ und ÖVP zum Großteil Grundmandate erzielten, während die kleinen Parteien überwiegend nur Restmandate erhielten, bedeutete dies, dass SPÖ und ÖVP für ein Nationalratsmandat im Durchschnitt etwa 24.000 oder 25.000 Stimmen benötigten (die SPÖ geringfügig mehr als die ÖVP), während kleinere Parteien wie KPÖ und FPÖ für ein Mandat in der Regel 35.000 bis 40.000 Stimmen benötigen. Das Verhältniswahlrecht war also systembedingt ein „Unverhältniswahlrecht“.

Diese Ungerechtigkeit und dieses systematische Abweichen vom Prinzip der Wahlgerechtigkeit zu beseitigen, ist nichts, wofür man sich schämen musste – auch wenn der Anlass für diese gerechtfertigte und bis heute in Kraft befindliche Reform in Zusammenhang mit der Bildung einer Minderheitsregierung stand.

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An die erste Regierungserklärung, die ein sozialdemokratischer Bundeskanzler seit 1920 im österreichischen Nationalrat abgegeben hat, erinnere ich mich noch, als ob es gestern gewesen wäre. Es war eine knapp zweistündige Rede, die Kreisky am Montag den 27. April 1970 (übrigens am 25. Geburtstag der Zweiten Republik) um 15 Uhr im voll besetzten Sitzungssaal des Nationalrats vor voll besetzten Besuchergalerien hielt.

Und es war eine stürmische Debatte, die über diese Regierungserklärung zwei Tage später geführt wurde. Am weitesten entfernt von der tatsächlichen künftigen Entwicklung hat sich zweifellos der damalige ÖVP-Abgeordnete Dr. Franz Bauer, welcher der Regierung Kreisky prophezeite, sie werde „sehr bald am Misthaufen der Geschichte“ landen.

Die Zeit vom April 1970 bis zum Herbst 1971, also bis zur Erlangung der absoluten Mehrheit Kreiskys bei den Wahlen vom 10. Oktober 1971, war für mich eine der interessantesten Zeiten, die ich in der Politik erlebt habe.

Und auch das Zustandekommen der Regierungserklärung des nunmehr mit einer absoluten Mehrheit ausgestatteten Bundeskanzlers Kreisky ist mir in dauerhafter Erinnerung geblieben.

Kreisky wollte diese wichtige, ja historische Rede sorgfältig und zeitgerecht fertigstellen. Aber er war von früh bis spät mit so vielen anderen Themen beschäftigt, dass er die Erarbeitung der Rede immer weiter hinausschob. Schließlich kam der 4. November, also der letzte Tag vor der Regierungserklärung. Und da gab es dann kein Verschieben mehr. Kreisky lud einige enge Mitarbeiter, zu denen Peter Jankowitsch, Hannes Androsch, Karl Blecha, Heinz Fischer, Josef Staribacher, Heinz Brantl und vor allem auch seine junge Büroleiterin Margit Schmidt zählten, in seine Wohnung in der Armbrustergasse ein. Und dann begann er zu monologisieren und laut darüber nachzudenken, wie er Österreich verändern, modernisieren und gerechter machen wolle und was denn in dieser Rede alles drinnen stehen bzw. angesprochen und ausgedrückt werden müsse.

Auf allfällige Einwendungen oder Anregungen ging er – teils zustimmend, teils ablehnend – ein, spann den Faden weiter, stellte immer neue Zusammenhänge her und spätabends, nach vielen Stunden – und zwischendurch einer großen Portion Schinkenfleckerl aus der Küche –, meinte Kreisky, dass jetzt „das Wichtigste wohl gesagt“ sei.

Margit Schmidt hatte alles (oder zumindest vieles) mit großer Sorgfalt und Feinfühligkeit notiert, zog sich zurück, um das alles zu Papier zu bringen, und irgendwann in der Nacht muss Kreisky die endgültige Fassung dieser Rede finalisiert und autorisiert haben. Und es war eine große und ermutigende Regierungserklärung, die übrigens von viel weniger Zwischenrufen unterbrochen wurde als jene vom 27. April 1970. Für Bruno Kreisky war Politik das zentrale Thema seines Lebens. Er hatte viele Interessen, interessierte sich stark für Kunst und Kultur, las viel, hielt den Blick über die Grenzen unseres Landes und die Grenzen Europas hinaus für wichtig. Er war einer der wenigen österreichischen Politiker, die tragfähige Kontakte zu führenden Persönlichkeiten in den USA hatten, darunter auch zu John Foster Dulles, Harry S. Truman, Jimmy Carter oder Henry Kissinger, und er empfand – zumindest solange er gesund war – Politik nicht als Bürde und Belastung, sondern als Chance und Möglichkeit zur Gestaltung und Erweiterung des Freiheitsraums. Er hatte den Mut, Entscheidungen zu treffen, und ich denke, dass es ihm an den meisten Tagen des Jahres Freude machte, die Stiegen zu seinem Büro im 1. Stock des Bundeskanzleramtes emporzusteigen.

Warum das Publikum bei seinen vielen Reden so sehr an seinen Lippen hing und warum auch die sechste oder die zehnte Rede Kreiskys zu einem bestimmten Thema immer noch interessant und faszinierend war, erkläre ich mir damit, dass für Kreisky „reden“ in der Regel darin bestand, laut zu denken – wie ich es schon beim Entstehen der Regierungserklärung beschrieben habe.

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Ein Vorwort hat nicht die Aufgabe, den Inhalt eines Buches vorwegzunehmen, sondern in das Thema des Buches einzuführen. Und dazu ist es nicht erforderlich, auf die weiteren wichtigen Kapitel aus dem Leben und aus der Regierungszeit von Bruno Kreisky einzugehen. Ich mache daher einen großen Sprung zum Ende seiner Regierungszeit und muss in diesem Zusammenhang leider feststellen, dass seine letzten Kanzlerjahre – also vor allem die Periode von seinem höchsten Wahlsieg im Jahr 1979 bis zu seinem Ausscheiden aus der Bundesregierung im Jahr 1983 – nicht nur von gesundheitlichen Problemen, sondern auch von politischen Spannungen und zunehmenden Konflikten überschattet waren.

Der Abschied aus der Politik – die in seinem Leben eine so große und zentrale Rolle spielte – fiel ihm unendlich schwer.

Die SPÖ-Führung wollte ein sichtbares Zeichen des Dankes und der Anerkennung für den langjährigen Parteivorsitzenden und Bundeskanzler setzen und wählte ihn einstimmig zum Ehrenvorsitzenden der SPÖ. Aber damit wurde ein großes Missverständnis geschaffen: Von der neuen Parteiführung wurde Kreisky als EHRENvorsitzender – mit der Betonung auf EHREN – gesehen, während Kreisky sich als Ehren-VORSITZENDER – mit der Betonung auf VORSITZENDER – betrachtete. Dadurch ist es erst recht zu Missverständnissen und Spannungen gekommen.

Jedoch wusste jeder in der Sozialdemokratie, und es wussten auch sehr viele in der österreichischen Bevölkerung, wie wertvoll die 13 Jahre der Kanzlerschaft von Bruno Kreisky für Österreich waren und wie positiv sich Österreich in dieser Zeit entwickelt hat. Kluge Reformen im Interesse des Landes waren für Kreisky eine Herzensangelegenheit und nicht ein Thema, das in erster Linie unter dem Gesichtspunkt von Werbung und Propaganda gesehen wurde.

Noch im Jahr 1989, als ganz Europa im Banne der sich anbahnenden Veränderungen in den kommunistisch regierten Ländern stand, sagte Kreisky, der schon an einen Rollstuhl gebunden war: „Was könnte ich in Zeiten wie diesen alles tun, wenn ich nur zehn Jahre jünger wäre.“

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Kreisky starb im Juli 1990 und Willy Brandt sprach ihn in seiner Grabrede als „lieber, guter, schwieriger Freund“ an. Das war Kreisky ganz bestimmt.

Aber ich möchte abschließend auch eines der Lieblingszitate von Bruno Kreisky erwähnen, nämlich jenes Zitat, wo Conrad Ferdinand Meyer in seinem Buch über Ulrich von Hutten diesen über sich selbst sagen lässt: „Ich bin kein ausgeklügelt Buch, ich bin ein Mensch mit seinem Widerspruch.“

Auch das war Bruno Kreisky.

Ich wünsche diesem Buch viele, vor allem auch junge Leserinnen und Leser.

Heinz Fischer

Kreisky forever?

Bruno Kreisky ist nie wirklich aus dem kollektiven Gedächtnis verschwunden. Mensch und Mythos haben sich längst vermengt. Dem Kult-Kanzler gilt die Bewunderung von Sozialdemokraten und Christlichsozialen, Grünen und Blauen. In der Populärkultur hat er ebenfalls seinen festen Platz, als Name einer Band oder als Barschild in Wien und Berlin. Von Gerasdorf bis Ramallah tragen Plätze, Gassen, Schulen seinen Namen.

Kreisky stärkte das österreichische Nationalbewusstsein und war zugleich „der erste Kosmopolit der heimischen Politik“ (so nannte ihn der Publizist Werner A. Perger). Er steht mit dem Deutschen Willy Brandt und dem Schweden Olof Palme für das Goldene Zeitalter der europäischen Sozialdemokratie; „die drei Musketiere“ wurden sie genannt. Sie wollten tragfähige Ideen für die Zukunft des eigenen Landes, Europas und der Welt finden – was ihnen, trotz Rückschlägen, zum Teil gelang.

Ähnlich heroische Figuren sucht man heute fast vergeblich. Die gewaltige politische, ökonomische und mediale Beschleunigung lässt das Heranreifen so großer Persönlichkeiten kaum mehr zu. Die Elite ist diskreditiert, auch weil sie sich nur aus sich selbst erneuert; unkonventionelle, wagemutige Persönlichkeiten werden ferngehalten.

Ein Grundsatz Kreiskys scheint aus der Zeit gefallen: „Ich hab’ immer wieder gesagt, holt’s doch nicht immer dieselben Leute, sondern holt’s Leute herein, die sich entfalten können. Fördert’s diese Leute und lasst’s net immer dieselben alten Fadiane reden.“ Dass er mit seiner Personalauswahl manchmal falsch lag, nahm er in Kauf. („Ich bin Menschen gegenüber sehr vorurteilsfrei und hab’ daher auch hie und da draufgezahlt.“)

Den Luxus der Langfristigkeit will sich auch niemand mehr leisten. Kreisky gestattete es sich, in langen Zeiträumen zu denken („Ich bin der Meinung, innerhalb von zehn Jahren soll das und das verwirklicht werden“). Er hatte politische Visionen und den Willen dazu, „er wollte Österreich verändern und hat es auch getan“ (Hans Rauscher). Sein Geschäftsmodell war es, komplizierte Sachen einfach zu machen. Das trug ihm den Vorwurf ein, allzu pragmatisch vorzugehen. Den Vorhalt der Ent-Ideologisierung wollte er nicht gelten lassen: „Es war mein Bestreben, dass diese Programme im prinzipiellen Einklang mit unseren grundsätzlichen Überlegungen stehen müssen.“ Damit stillte er jedenfalls den Traditionsbedarf der Partei.

Was können heutige Politikerinnen und Politiker von Kreisky lernen? Er war eine Integrationsgestalt für verschiedenste Strömungen, zuerst in seiner Partei, dann im Volk – weit über die SPÖ-Klientel hinaus. Erst durch ihn wurde das österreichische Zweiparteiensystem „zum offenen Zweieinhalbparteiensystem“ (Anton Pelinka). Er verschaffte dem „dritten Lager“ die uneingeschränkte Bündnisfähigkeit.

Solidarität, Leistung und Gerechtigkeit waren in der Ära Kreisky zentrale Begriffe, die aus den 1970er-Jahren ins Heute übersetzt werden müssen. Die Rehabilitierung des inzwischen verpönten Leistungsbegriffs fehlt. Alfred Gusenbauers „solidarische Hochleistungsgesellschaft“ war nur eine Kopfgeburt. Unverändert gilt, was Kreisky bereits 1963 schrieb: Die innere Kraft der Demokratie ist abhängig von dem Maß an sozialer Gerechtigkeit, das in der modernen Industriegesellschaft verwirklicht werden kann.

Viel zu tun bleibt bei der Gleichberechtigung von Frauen in der Politik – trotz der Fortschritte, die mit Kreisky begannen. Als er Kanzler wurde, betrug der Frauenanteil im Nationalrat 4,8 Prozent; er wurde in seiner Amtszeit verdoppelt, heute sind es 39,3 Prozent. Von einer angemessenen Vertretung (es sind deutlich mehr Frauen als Männer wahlberechtigt) ist Österreich weit entfernt, obwohl die 2020 angelobte türkis-grüne Bundesregierung den höchsten Frauenanteil aller Regierungen der Zweiten Republik aufweist. Auch die Wirtschaft muss weiblicher werden, „Sheconomy“ ist nicht nur ein Schlagwort.

Viel wird heute von der gespaltenen Gesellschaft gesprochen, vom tiefer werdenden Graben zwischen Stadt und Land. Kreisky gelang es, beide zu erreichen. Er schaffte es, Widersprüchliches, bisweilen Gegensätzliches zu integrieren, zu harmonisieren. Dafür tat er viel, reiste unermüdlich in alle Regionen, zeigte authentisch seine Wertschätzung. Ein Affront wie Gusenbauers törichter Spruch „Und das wird heute was Ordentliches in Donawitz oder das übliche Gesudere?“ (2008 bei einer Regionalkonferenz) wäre Kreisky nie passiert.

Die Sozialdemokratie steht nun vor großen Herausforderungen. Sie hat eine lange Talfahrt hinter sich, die am 26. Jänner 2020 im Burgenland durch die absolute Mehrheit für Landeshauptmann Hans Peter Doskozil unterbrochen wurde. Ob das ein Sonderfall bei einer Landtagswahl ist oder ob eine Trendwende beginnt, ist offen.

Macht ist das Resultat von Wahlerfolgen; daher muss eine Partei, die regieren möchte, eine Politik betreiben, die mehrheitsfähig ist – wie es Kreisky tat. Was passiert mit einer Partei, die schon viele Jahre nur mehr von der Macht zusammengehalten wurde, wenn ihr diese Macht entglitten ist? Die SPÖ stellte seit 1945 acht Bundeskanzler; seit Kreisky gab es nur Schüssel und Kurz als ÖVP-Regierungschefs, alle anderen Koalitionen waren SPÖ-geführt.

Nach ihrer langen Niederlagenserie muss die SPÖ ihr Milieu wieder finden und den Übergang ins digitale Zeitalter schaffen. Ihre Zukunft liegt nicht in ihrer Vergangenheit, auch wenn die drei Pfeile im historischen Parteiemblem (gegen Faschismus, Klerikalismus, Kapitalismus) ihre Berechtigung behalten. Die Sozialdemokratie wird weder als linke NEOS-Fraktion noch durch aufgewärmte Kapitalismuskritik überleben. Vielmehr muss aus der Arbeiterpartei die Partei der Arbeit werden, die sich mutig der neuen Zeit stellt. Die dringlichen Themen sind Abstiegsängste, Sehnsucht nach Sicherheit, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zwischen Ausbeutung und Selbstverwirklichung, Robotik, künstliche Intelligenz, Demografie, Klimawandel, Energiekrise, Migration, Nationalismus, Terrorismus.

Doch die derzeitige Struktur der Partei „entspricht dem ausgehenden 19. Jahrhundert“, formuliert es der frühere Europa-Abgeordnete Josef Weidenholzer, der als auch langjähriger Volkshilfe-Präsident alle Verästelungen der Sozialdemokratie kennt. Jedes Unternehmen gebe sich unter veränderten Umständen neue Entscheidungsabläufe, jene der SPÖ „stammen aus einer Zeit, in der es noch nicht einmal ein Telefon gegeben hat“. Weidenholzer verweist darauf, dass in der Geschichte der SPÖ erst einmal eine Kampfabstimmung um den Parteivorsitz stattfand, eben jene, die Kreisky gewann – „und das hat der SPÖ sehr gutgetan“. Es sei überfällig, „mehr Demokratie zu wagen“, z. B. durch Urabstimmungen. Mehr Mitbestimmung würde die Bewegung beleben.

Diesen Optimismus teilt der Schriftsteller Franz Schuh nicht. Er führte seinerzeit lange Gespräche mit Kreisky und nennt dessen Regierungszeit heute „extrem historisch, eine nostalgische Utopie“. Von den Konzepten Kreiskys bleibe nur die Erinnerung daran, dass es einmal möglich war, eine relativ solidarische Gesellschaft zu schaffen. Der aktuelle Zustand der SPÖ (und vieler anderer sozialdemokratischen Parteien in Europa) spricht für Schuhs These.

Kreisky hätte dem düsteren Befund gewiss nicht zugestimmt. Sein Zukunftsglaube war unverrückbar: „Man muss sich bemühen. Wenn man alles nur an sich vorbeiziehen lässt oder selber an den Dingen so vorbeitänzelt, na dann ist halt nix.“ Durch Rückschläge dürfe man sich nicht entmutigen lassen: „Der Sinn des Lebens ist das Unvollendete.“

Einleitung

Es war 1970, unmittelbar nach der Angelobung der neuen Regierung durch Bundespräsident Franz Jonas, als Bruno Kreisky seine erste Pressekonferenz als Bundeskanzler gab. Kurt Vorhofer, der langjährige Wien-Korrespondent der Grazer Kleinen Zeitung, fragte den Regierungschef: „Herr Bundeskanzler, was erfüllt Sie eigentlich am heutigen Tag?“ Er erwartete, dass die Antwort ungefähr lauten würde: „Ja, ich trage gern Verantwortung. Die Verantwortung, das ist für mich das Schönste.“ Kreiskys Antwort war: „Mut und Lust.“ Mit diesen unverzichtbaren Eigenschaften aller Spitzenleute prägte Kreisky in den folgenden Jahren Österreich.

Mut bewies er etwa, als er das größte Volksbegehren der Zweiten Republik gegen das Wiener Konferenzzentrum links liegen ließ und Wien zum UNO-Standort machte – eine richtige, richtungweisende Entscheidung. Heute hat das Austria Center Vienna die Adresse Bruno-Kreisky-Platz 1.

Wie viel Lust er an der Politik hatte, verbarg er nie. Schon 1954, noch als Staatssekretär im Außenministerium, verkündete er bei einer Rede vor Diplomaten in Kleßheim: „Diese Formaldemokratie genügt ja nicht. Man muss die gesamte Gesellschaft mit Demokratie durchfluten lassen“ (eine ähnliche Formulierung wählte viel später der SPD-Politiker Willy Brandt).

Regieren, so sagt sein langjähriger Kabinettschef Alfred Reiter, war für ihn keine Management-Aufgabe, sondern ein künstlerischer Akt. „Es war ein Stück, an dem dauernd gearbeitet worden ist.“ Das ist einer der Unterschiede zwischen Bruno Kreisky und Sebastian Kurz: Der ÖVP-Obmann sieht nach eigener Aussage die Politik in erster Linie als Management-Handlung.

Auf Kreisky passte der Ausspruch des deutschen Staatsmannes Otto von Bismarck (1815–1898), der einst formuliert hatte: „Die Politik ist keine Wissenschaft, wie viele der Herren Professoren sich einbilden, sondern eine Kunst.“

Für den Chronisten Vorhofer war Kreisky „wie eine Laune der Natur. Von seiner Talentausstattung könnte ein halbes Dutzend tüchtiger Politiker bequem leben.“ 13 Jahre lang stand er an der Spitze einer Alleinregierung, wurde nach der relativen Mehrheit 1970 drei Mal mit absoluter Mehrheit wiedergewählt – ein auch im internationalen Vergleich rarer Vorgang. „Niemand außer ihm hätte es geschafft, in den 1970er-Jahren den noch stark und hauptsächlich im Arbeitermilieu verhafteten ‚Roten‘ jene geistige Hegemonie zu verschaffen, die sie heute wieder verloren haben“, schrieb Peter Pelinka in seinem Überblick über die österreichischen Bundeskanzler.

Die Rezession der 1970er-Jahre und den Ölpreisschock bekämpfte er mit dem „Austro-Keynesianismus“. Oberstes Ziel war die Vollbeschäftigung – auch wenn die Staatsverschuldung stieg (allerdings hätte Österreich in Kreiskys ersten Regierungsjahren locker die Maastricht-Kriterien erfüllt, von 1970 bis 1974 gab es noch gesamtstaatliche Budgetüberschüsse).

Ganz oben auf seiner Agenda standen die Bildungspolitik (Gratisschulbücher, Schülerfreifahrt), die Aussöhnung mit der katholischen Kirche und die Strafrechtsreform. Der Republik bescherte er die längst fällige Öffnung im Inneren, aber auch jene zur Außenwelt.

Das war natürlich nicht exklusiv seine Leistung. Die Strafrechtsreform war überwiegend Christian Brodas Werk, die zeitgemäße Universitätsorganisation wesentlich Herta Firnbergs Verdienst, die Finanzpolitik die Domäne von Hannes Androsch. Das Arbeitsverfassungsgesetz wurde von Anton Benya mit Rudolf Sallinger ausgehandelt; Kreisky hatte freilich rasch erkannt, dass der wichtigste Schritt zur industriellen Demokratie seit dem Betriebsrätegesetz jede Unterstützung verdiente und international ein Vorbild sein konnte. Seine geistige Geografie war beeindruckend. Bruno Kreisky ist heute für politisch Interessierte aus allen Lagern eine Art säkularer Heiliger. Er war ein Solitär, eigentlich zu groß für das Land.

US-Präsident Jimmy Carter zollte ihm 1975 „den höchsten Respekt“ und nannte ihn einen bedeutenden internationalen Staatsmann. Senator Edward Kennedy sagte: „Kreiskys Mut und seine Hingabe an die Sache der Humanität haben uns alle inspiriert.“ Für den ägyptischen Staatspräsidenten Anwar el-Sadat war er „der beste Mann für alles“. Und der populäre deutsche Sozialdemokrat Helmut Schmidt (der ihm nicht immer zugetan war) sagte über Kreisky: „Er hatte wahrscheinlich einen besseren Überblick über die Welt als De Gaulle oder dessen Nachfolger Pompidou und einen viel besseren als irgendeiner der amerikanischen Präsidenten, die ich gekannt habe. Denn Kreisky hatte immer die Geschichte sowohl der europäischen Staaten als auch der ganzen Welt im Hinterkopf.“

Er selbst gab sich bei diesem Thema bescheiden. Für Österreich wolle er keinesfalls eine Brückenfunktion zwischen Ost und West reklamieren, sagte er 1975. „Derartiges anzustreben hieße, außenpolitisch über unsere Verhältnisse leben zu wollen. Wir müssen unsere Begrenzung erkennen und uns vor jeder Romantisierung unserer Position in Mitteleuropa hüten.“

Über die Ära Kreisky, die von seiner Wahl zum SPÖ-Vorsitzenden 1967 bis zum Rücktritt als Bundeskanzler 1983 dauerte, wurde schon viel gesagt und geschrieben. Immer wieder werden Neuerscheinungen vorgelegt. Ab 1986 wurden seine Erinnerungen publiziert („Zwischen den Zeiten“, „Im Strom der Politik“, „Der Mensch im Mittelpunkt“); es gibt Biografien, Gesprächsaufzeichnungen, Sammelwerke, thematisch fokussierte Studien (z. B. „Kreisky und die Südtirol-Frage“, „Bruno Kreisky und die österreichische Automobilindustrie“), wirtschaftspolitische Abhandlungen, kommentierte Bildbände, Schallplatten, Videos, Witze- und Anekdotensammlungen, sein Gefängnistagebuch, Karikaturenbücher, Dokumentarfilme sowie publizistische Sammelklagen über angeblich fehlende Nachfolger.

Das vorliegende Buch, das zum 50. Jahrestag von Kreiskys Kanzlerschaft und zu seinem 30. Todestag erscheint, erhebt nicht den Anspruch, den „kompletten Kreisky“ abzubilden. Dazu gibt es etwa die Biografie von Wolfgang Petritsch, der in der zweiten Hälfte von Kreiskys Amtszeit (1977–1983) dessen Sekretär war, oder von Heinz Fischer „Die Kreisky-Jahre 1967–1983“.

Dieser Text ist eine Einladung, Kreisky wieder oder neu zu entdecken: Kreisky für die Mausklick-Generation. Das Buch richtet sich also nicht vorrangig an ein Fachpublikum von Zeithistorikerinnen und Zeithistorikern oder Politologinnen und Politologen, sondern vor allem an jene Bürgerinnen und Bürger, die Kreisky nicht oder kaum mehr in Erinnerung haben. Ihre Zahl wächst. Jüngere mögen mit ihm die Rockband assoziieren, die seinen Namen trägt.

Das Buch basiert auf sechs Grundgedanken:

Erstens: Kreisky ist der einzige Bundeskanzler, der in der Monarchie wurzelte, die Erste und die Zweite Republik miterlebte bzw. mitbestimmte und der durch sein Werk ins 21. Jahrhundert herüberragt. Mit 4781 Tagen Amtszeit ist er der längstdienende Kanzler der Zweiten Republik.

Zweitens: Kein Kreisky ohne Josef Klaus. Der ÖVP-Bundeskanzler hatte Österreichs Reformdefizite erkannt und für seinen Nachfolger eine tragfähige wirtschaftliche Basis gelegt; Klaus ist zu Unrecht vergessen, auch in seiner Partei.

Drittens: Kreisky machte sich 1967 selbst zum SPÖ-Vorsitzenden; seine größte Stärke war immer, dass er nie von der Partei abhing.

Viertens: Er war der klügste Regierungschef, den Österreich je hatte.

Fünftens: Er hatte und machte Fehler.

Sechstens: Dass heutige Spitzenpolitiker anderer Parteien ihn vereinnahmen, beweist seine zeitlose Wirkung.

Der Band schöpft auch aus mancher bisher vernachlässigten Quelle und zeigt die Feinmechanik von Kreiskys Führung nach der Übernahme des Parteivorsitzes und später der Kanzlerschaft. Die Gespräche mit engsten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die ihn viele Jahre lang begleiteten, können als Zeitdokumente gelten. Es sind naturgemäß subjektive Deutungen, doch sie geben eine bemerkenswerte Innensicht wieder.

Das Spektrum reicht von den Erinnerungen der persönlichen Assistentin Margit Schmidt über den Bericht des Kabinettschefs Alfred Reiter bis zu den Erzählungen von Ernst Braun, der in der Hausverwaltung des Bundeskanzleramts beschäftigt war und sich um die effektvollen Inszenierungen des Regierungschefs kümmerte. Der legendäre Journalist Hugo Portisch schildert die verschiedenen Facetten Kreiskys aus seiner Wahrnehmung.

Damit beschreibt das vorliegende Buch den Jahrhundertpolitiker auch von seiner menschlichen und allzu menschlichen Seite; das Anekdotische, Alltägliche gehört zum Bild des Staatsmanns und „Sonnenkönigs.“

Als Bruno Kreisky Bundeskanzler wurde, war ich 16 Jahre alt. Von seinen Reformen habe ich als Grundwehrdiener (Verkürzung des Präsenzdienstes von neun auf sechs plus zwei Monate ab 1971) und dann als junger Student profitiert. Als Journalist hatte ich mit ihm in der Spätphase seiner Regierungszeit oft zu tun. Ich hatte kein spezielles Vertrauensverhältnis zu ihm, erlebte ihn aber als faszinierende positive Persönlichkeit, freilich mit Schattenseiten: Beim Einsatz der Macht konnte er hemmungslos sein. Seine aggressive Auseinandersetzung mit Simon Wiesenthal ist ein bedrückendes Beispiel dafür. Zu seinen Fehlern gehörte auch der Glaube an staatliche Eingriffe in die Wirtschaftspolitik.

Wie sehr er die Nachwelt bis heute prägt, sieht man unter anderem am Ballhausplatz an der wechselnden Nutzung seines Dienstzimmers. Dass es als Wahrzeichen einer Ära, einer Kultfigur gezielt genutzt werden kann, begriff ausgerechnet der junge ÖVP-Kanzler Sebastian Kurz.

Kreisky arbeitete im „Zigarrenkistl“ – so nannte man das holzvertäfelte Kanzlerzimmer, weil der Architekt Oswald Haerdtl auch die Zigarettenpackungen für die Österreichische Tabakregie entworfen hatte. Kreiskys sozialdemokratische Nachfolger schätzten den düsteren Raum wenig. Als dann ÖVP-Chef Wolfgang Schüssel im Jahr 2000 Kanzler wurde, gab er das alte Büro ganz auf und übersiedelte in das ehemalige Metternich’sche Zimmer im Südflügel des Palais. Später diente das Kreisky-Zimmer manchem SPÖ-Kanzler nur mehr als Kulisse für banale Werbefotos. Christian Kern z. B. ließ sich dort mit dem britischen Thronfolger Prinz Charles abbilden.