Gefördert von der Stadt Wien Kultur.

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Der Autor bedankt sich beim Land Kärnten für das großzügige Stipendium.

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© 2020, Septime Verlag, Wien

Alle Rechte vorbehalten.

 

 

EPUB-Konvertierung: Esther Unterhofer

ISBN: 978-3-903061-75-0

 

Lektorat: Elvira M. Gross

Umschlag: Jürgen Schütz

Umschlagbild: Der Gipfel der Lust © 2007, Christian Einfalt

 

 

Printversion: Hardcover, Schutzumschlag, Lesebändchen

ISBN: 978-3-902711-88-5

 

 

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Paul Auer

(geb. 1980 in Kärnten) studierte Kultur- und Sozialanthropologie, ist Mitglied des Kärntner Schriftstellerverbands und der Literaturgruppe »Textmotor«. Neben zahlreichen Veröffentlichungen in Anthologien und Zeitschriften war Paul Auer auch in der Anthologie übergrenzen(Septime, 2015) mit einer Erzählung vertreten. 2017 erschien mit Kärntner Ecke Ring sein Romandebüt, 2020 folgt der Roman Fallen, beide Septime. Er lebt in Wien.

 

Klappentext

Seine neue Nachbarin hat rote Augen und hört die ganze Nacht Goa-Trance. Immer öfter träumt er vom zweiten Leben Jesu nach der Kreuzigung. Sein toter Freund Tommy läuft ihm regelmäßig über den Weg. Im Leben des Studenten Christian passieren eigenartige Dinge. Dabei hat er sich längst mit seinem mittelmäßigen melancholischen Dasein arrangiert. Umso verstörender, dass darin die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Traum zusehends verschwimmen. Nach und nach wird ihm klar, es handelt sich hier um die Auswirkungen einer fremden Lebenskrise, nämlich der des gefallenen Erzengels Luzifer. – Ausgerechnet er ist ihr erstes Opfer. 

Luzifer wiederum ist es nach Jahrtausenden leid, als böse zu gelten und für das Böse stehen zu müssen. Er sehnt sich nach Familienglück, nach Liebe und kleinbürgerlichem Idyll. Für das kosmologische Gleichgewicht kann das natürlich nicht folgenlos bleiben. Aber was geht ihn, Christian, das an? Um dies herauszufinden, begibt er sich unfreiwillig auf eine skurrile Heldenreise. Sie führt ihn nicht nur an den Rand seines Verstands, sondern auch in eine geheime Stadt im Hochgebirge, ein alpines Shangri-La.

 

Paul Auer

F A L L E N

Roman

 

 

Vorgeschichte

 

 

 

 

 

 

Bauschige Wolken, die sich in weißem Marmor spiegelten … feuergelbe Sonnen, die sich im Blau des Himmels wiegten. Unsere Haut war von Gold- und Blütenstaub bedeckt. Die Wangen karmesinrot. Feiner noch als Byssus war unser Haar, und in unseren Augen lag der Schimmer von Mandelblüten. Unsere Flügel, bestückt mit Smaragden, Rubinen und Rosen, waren weißer noch als Schnee. Sobald wir sie schwangen, rauschten die Meere, duftete es nach Myrrhe und Zimt. Nie wurden sie müde, nie mussten wir schlafen, der Tag war die Nacht, und die Nacht war der Tag. Wann immer wir die Blicke senkten, spiegelten sich bauschige Wolken; wann immer wir die Köpfe reckten, wiegten sich feuergelbe Sonnen. Schwiegen wir, so träumten wir, und träumten wir, so sprachen wir, und sprachen wir, so sangen wir, und wenn wir sangen, wurden Welten erschaffen, Welten, endlos und schön. Die Wasser waren klar und die Wälder smaragden, die Wiesen prächtig und die Früchte üppig, die Tiere waren frei und die Lüfte rein und so wärmend und zärtlich wie göttlicher Atem auf unseren Stirnen. Alles, ich sage euch, alles war Liebe. Alles war gut, war endlos und schön. Da war Lachen und Freude und Spiel – bis eines Tages es Ihm gefiel …

Niemals wären wir bereit gewesen, vorbereitet auf jenen Tag, der uns entzweite und die Erde verseuchte, der uns verwirrte und alles begrenzte, der uns die feuergelben Sonnen verrußte, der uns die bauschigen Wolken zerschnitt. Schuld und Scham und Hass luden wir auf uns, obwohl die Zerstörung ja ausging von Ihm; Er war es, der die Sünde beging, denn Er hat euch erschaffen. Wir wollten retten, warnen, rufen, wir wollten glauben, dies wäre die Prüfung: das drohende Unheil zu erkennen. Wir suchten Ihn auf und blickten in Seine Augen, darin wir selbst erzitterten. Denn Er war ein Anderer, anders geworden, ein schwarzer Schleier in blutigem Schleim. Er blies uns Miasma auf die Stirn, zwang uns, ehe wir das Wort ergreifen konnten, uns vor Ihm auf den Boden zu werfen, Angst überfiel uns – das Gefühl war uns fremd. Wir streckten uns hin, erkaltet und grau, erbrachen Lachen und Freude und Spiel. Lagen gebrochen und hörten uns flüstern, hörten uns ahnen und warnen, befürchten, fühlten und hofften und wollten bloß fort, bloß fort … Doch lahmten die Flügel, die Zungen, die Glieder. Dann gab Er Befehl aufzustehen und sagte: Den Zorn, wir hätten ihn verdient. Wir haben es verdient, verspottet zu werden, bespuckt und geschlagen, verhöhnt und beschimpft, von Ihm und den Seinen, die waren wie wir, wir waren wie sie, davor. Wir hörten Ihn donnern in Schleier und Schleim: »Nie und nimmer wird dieser Frevel verziehen werden! Zu allen Zeiten, in allen Welten seist du von nun an verstoßen! Verstoßen, verwunschen, gemieden, gehasst! Dein Name sei Abschaum, dein Antlitz sei Ekel, dein Körper ein faulendes, stinkendes Fleisch! Allein wirst du sein, getrieben und hungrig, und niemals wirst du Gefährten finden, nie wieder jemals zur Ruhe kommen, nie wird dein Hunger gestillt werden! Er wird dich verbittern, er wird dich quälen, und kein Geschöpf, nicht mal du selbst, wird dich je wieder lieben; kein Geschöpft, nicht mal dich selbst, wirst du je wieder lieben!«

Michaels Schwerthieb, die Flügel am Boden, Risse im Marmor, Schwefel steigt auf. Steigt in Mund, Nase und Ohren desjenigen, der nun der Lichtträger heißt; der nichts mehr spüren wird, bloß noch erahnen, sein Schreien, sein Hallen durch Welten, beim Fallen, sein Fallen … sein grausamer, ewiger Fall.

 

 

 

 

 

1.

Tommy hatte recht. Den ganzen Plunder in die Luft sprengen, aufhören mit dem Gejammer, kurzen Prozess machen, Action. Dann ab ins Kloster, eine ruhige Kugel schieben. Ein bisschen arbeiten, ein bisschen beten, ein bisschen bereuen. Vielleicht wirklich zu einer Religion finden, wenigstens zu Gott. Wird es zu langweilig, gibt es irgendwo einen Strick. Putzmittel. Eine Rasierklinge. Die einzig würdevolle Art zu leben, zu sterben. Gleich morgen eine Karte schreiben: ›Tommy, Du hattest recht!‹ Dann ab ins Kloster. Tommy könnte ja nachkommen. Wir könnten leben wie in der guten alten Zeit.

»Christian, alles klar da drin?«

Hier gibt es weder Strick noch Putzmittel, nicht mal eine Rasierklinge. Gesprengt habe ich auch nichts, noch nicht. Also weitermachen, aufstehen, Hosen raufziehen, spülen. Tür auf, lächeln, ganz Herr der Lage. Souveräne Schritte setzen, selbst wenn die Wände drängeln, der Boden wankt. Die Küchentür wie ein verrutschter Bilderrahmen. Beim Tisch sitzen nur mehr Stefan und … hey, was hat Stefan da in seiner Hand? Doch nicht etwa … den Eumeswil? »Du hast das Paket schon aufgemacht?«

»Ja, hab ich«, antwortet Stefan, ohne den Kopf zu wenden. »Woher hast du das Buch?«

Martha … Martha … nein, die ist nicht mehr da. Ich muss keinen auf souverän machen, nicht Herr der Lage sein. Stefan, dieser Hund, macht mein Geschenk einfach auf! Dem muss mal jemand die Leviten lesen, aber zuerst … was liege ich da überhaupt herum? Dieser Küchenboden ist auch nicht der sauberste. Dafür bekommt Stefan eine Putzfrau finanziert? Für meine Mutter ist das nicht drin, trotzdem könnte man bei mir den Boden ablecken. Wie bin ich überhaupt hingefallen? Zu einem Stuhl kriechen, die Lehne umklammern, mich wieder hochziehen. Stefan hat nicht mal den Anstand wegzuschauen. Klar, das gefällt dem Schnösel, wenn sich ein anderer blamiert.

»Jetzt sag schon, wo hast du das Buch her? Sogar eine Originalausgabe. Hat da Jünger selbst reingeschrieben?«

Ich lehne mich zurück, greife nach meinen Zigaretten. Bierdosen scheppern. »Du hast es also wirklich aufgemacht?« Fuck, so larmoyant. Ich möchte vorwurfsvoll klingen, kühl, ein strenger Vater. Knallrot soll Stefan werden, die Sprache soll es ihm verschlagen. »Das ist unhöflich!« Schon besser. Stefan lässt sich trotzdem nichts anmerken. Schmerzfreier Typ. Ich stecke mir eine Parisienne in den Mund. Ein Streichholz nach dem anderen zischt, flammt auf, verschwindet verkohlt in der Schachtel. Klar, dass sich Stefan jetzt wichtig machen muss. Holt sein Zippo raus, schnippt den Deckel hoch, hält mir die Flamme vors Gesicht. Ach, hätte ich nicht solche Lust aufs Rauchen! Ich würde Stefan das Feuerzeug aus der Hand pfeffern, einen Abgang machen. »Wirklich unhöflich! Ich wollte den perfekten Moment abwarten!«

»Das haben wir gemerkt«, erwidert Stefan. »Seit fast einer Stunde rennst du durch die Wohnung und kündigst dein Geschenk an. Ganz ehrlich, das war nervig. Was glaubst du, warum die anderen alle gegangen sind? Aber egal, danke. Trotzdem cool. Da wird mein Vater Augen machen …«

»Verdammt, Stefan, es geht nicht um deinen Vater! Es geht um …«

»Meine Güte, Christian, ich bin nicht blöd! Ich weiß, worum es geht! Und wenn du mir nicht verraten willst, wo du das Buch her hast, dann lass es!«

Ich überschlage die Beine, lehne mich zurück, ziehe lange an der Zigarette. Starre Stefan an. Der vorwurfvollste Blick aller Zeiten. Stefan hat ihn verdient, hat verdient, dass ich kein Wort mehr sage. Nichts erzähle. Die Geschichte, die ich mir zurechtgezimmert habe. Vor ein paar Wochen in Dharamsala, letzte Station meiner mühsamen Reise. Als Abschluss zwei Wochen buddhistischer Retreat, schweigen und meditieren, ohne Fluchtmöglichkeiten in Sex, Substanzen, Sentimentalitäten. Zittern, beben und heulen, bis ich leer war, kein Schmerz und keine Tränen mehr in mir, ich wurde reinste Achtsamkeit. Wiedergeboren kam ich raus aus dem Center, wanderte runter in die Stadt, ging in ein Café. Löffelte mit Blick auf die Berge ein Superfood-Müsli, schlürfte Chai Latte. Dermaßen entspannt, beruhigt, mit mir im Reinen, fiel es mir erst nach einiger Zeit auf: Am Sessel neben mir lag dieses Buch, Eumeswil, Originalausgabe, vom Autor signiert. Wenn das kein Zeichen war! Abschied und Neubeginn. Das perfekte Geburtstagsgeschenk für Stefan. Er würde augenblicklich verstehen, wir würden einander in die Arme fallen, alle Friktionen vergessen. Mit Jünger in der Hand in den Sonnenuntergang, Tommy winkt uns nach, eine Träne verdrückend. Klug genug, um zu begreifen: Alles im Leben hat ein Ende. Sogar er.

»Christian? Du schaust nicht gut aus. Geht’s noch?«

Die abgebrannte Zigarette in meiner Hand, der Tisch gerammelt voll. Stefan, der mich betrachtet wie ein Arzt seinen Patienten. Seine sanften Gesichtszüge, die braunen Augen, die schwarzen Haare zum akkuraten Undercut geschnitten, ein werbetauglicher Dreitagebart – die bösartigsten Typen sind allesamt hübsch.

»Wo ist Martha? Wo sind alle hin?«

»Heute kannst du es aber wieder. Längst gegangen … das solltest du auch. Soll ich dir einen Uber bestellen?«

»Aber das Buch, Eumeswil …«

Stefan seufzt. Drama-Queen! Ich lange nach einer Flasche Wein, kippe sie, leer. Erspähe eine andere, strecke die Hand danach aus, die Flasche rückt weg. Stefan, der Hund, gönnt mir gar nichts! Wie ich den Kerl hasse! Diese Stadt, dieses Land, dieses kastrierte Europa. Im dreckigen Indien hätte ich bleiben sollen; ich hätte es schon geschafft, mich …

»Hey, nich einschachen!« Stefan steht in der Tür, Zähne putzend. »Gein Ua wiag geich ga chein.«

Wer hat die Flasche verrückt? Ah. Klar. Von wegen alle gegangen. Er sitzt noch da, sitzt immer da; verlässt jede Party als Letzter. Schaut trotzdem am Frischesten aus mit seinen blonden Dreads, seinen blauen Augen, dem Michel-von-Lönneberga-Grinsen. Nicht mal die Narbe über dem rechten Auge ein Makel. Tommy … ausgerechnet du missgönnst mir den Wein? … Stefan hat sich wohl wieder ins Badezimmer verzogen. Also nochmal: Ich strecke die Hand nach der Flasche aus und – Tommy schnappt sie sich, stellt sie auf den Boden.

»Was soll der Scheiß?«

Tommy schweigt. Bitterböse sieht er drein. Kramt in seinen Hosentaschen, fischt was raus. Eine … Rasierklinge? Tommy nickt. Schneidet mit der Klinge eine Kerbe in die Tischplatte, von einem Ende zum anderen. Glaser, Flaschen, Dosen, der Aschenbecher, alles fällt runter. Es quietscht, klirrt, scheppert, rumst.

»Was war das?«, ruft Stefan. »Alles klar?«

Tommy schiebt sich die Rasierklinge zwischen die Lippen. Schleckt sie ab, bis ihm Blut aus den Mundwinkeln rinnt. Steckt die Rasierklinge zurück in die Hosentasche, wirft mir einen Kuss zu. Nimmt die Weinflasche vom Boden, trinkt sie in einem Zug aus.

»Ja, Stefan, alles gut. Richtig irre!«

Tommy prustet los, spuckt mir Wein, Blut und Speichel ins Gesicht. Lässt die Flasche fallen, dann sich selbst. Liegt mit um den Bauch geschlungenen Armen inmitten von Glasscherben und Zigarettenstummeln. Hört nicht zu lachen auf, selbst als Stefan in die Küche gestürmt kommt und …

 

2.

Es ist einfach so gewesen: Lange Zeit war da ein Nichts gewesen. Ein gutes Nichts, sofern ein Nichts gut sein konnte. Dann schlug er die Augen auf, hörte das Tropfen. Er spürte die Schmerzen. Er ahnte. Jedoch sah er – nichts. Finsternis umgab ihn. War er womöglich erblindet? Dies wäre zur Abwechslung kein Wunder, auch kein Drama beim unzufriedenstellenden Gesamtzustand seines Körpers. Wie eine Sardine hatte man ihn offenbar in ölige Windeln eingelegt, sein Leib war in jeder Hinsicht verbraucht, ein hoministisches Schlachtfeld. Jedermann und jedefrau hatten die Gelegenheit genutzt, sich an ihm auszutoben. Er hatte als der Schrotthändler für das allzu Menschliche gegolten, war als solcher weithin bekannt gewesen. Nunmehr war sein Körper sämtlicher Kräfte beraubt. Von seinem Geist ganz zu schweigen. Er fühlte sich richtiggehend ausgelaugt. Derlei Aufopferung ging an die Substanz, emotional, intellektuell, körperlich. Den Tod wünschte er sich zurück. Was er sich den Mund fusselig geredet, an Argumenten vorgebracht hatte! All diese fadenscheinigen Gleichnisse, das musste einem erst mal einfallen. Und was war der Dank? Dieses Land hatte ihn fertiggemacht, dieses kleine, rückständige Land mit seinen dummen, engstirnigen Bewohnern. Menschen – widerlich; jene in Indien waren bei Gott nicht klüger oder angenehmer gewesen. Allerdings gab es dort wenigstens genügend Platz, um einander aus dem Weg zu gehen. Dort war er nicht permanent angequatscht worden, bloß einer von vielen gewesen, niemand hatte sich besonders für ihn interessiert. Selige Ruhe. Kein mühselig Beladener hatte ihn gestört beim Nachdenken, oder wenn er so getan hatte, als würde er nachdenken. Er hätte bis ans Ende seiner Tage das Leben eines Müßiggängers führen können, herumstreunen, meditieren, kiffen; von einem solchen Dasein träumten die meisten. Aber er? Hatte er sein Glück geschätzt? War er zufrieden gewesen? Natürlich nicht. Er hatte sich als etwas Besseres betrachtet, zu Höherem berufen, seit er in jenem stinkenden Stall mittels kitschtriefender Melodeien und übelriechendem Rauchwerk willkommen geheißen worden war. Ein weltgeschichtliches Lebenswerk war ihm vorgeschwebt, Ruhm und Ehre. The biggest show in the world, wie Petrus, dieser Eiferer, es einst genannt hatte. Jubel, Verehrung, die idealtypische Apotheose. Man bezeichne ihn doch als idealtypischen Trottel! Wozu das Ganze, für wen? Bloß um die Geburtswehen seiner Mutter zu rechtfertigen, die zahllosen väterlichen Sorgen? Eltern – eine himmelschreiende Zumutung. So wie dieses Tropfen. Was tropfte hier überhaupt so penetrant? Plitsch, plitsch, plitsch, es war unerträglich. Wäre er bloß taub! Diese jammernden Lädierten, die ihm die ganze Zeit nachgestiegen waren, sie wussten ja gar nicht, wie gut sie es getroffen hatten. Als wäre es so erstrebenswert, permanent sämtliche Auswürfe dieser krawalligen Welt wahrzunehmen. Nichts zu hören, nichts zu sehen, nichts zu riechen, insbesondere nichts zu fühlen – was gäbe es Erlösenderes? O wie selig waren jene paar Augenblicke des ätherischen Wegdösens, der genügsame Out-of-body-Moment kurz vor seinem Tod, nachdem Steph ihn mit dem Schwamm getränkt hatte. Das Gift hätte er jetzt wieder nötig, außerdem eine Dusche, um sich das grindige Öl vom Leib zu waschen, eine heiße Dusche, es fröstelte ihn erbärmlich. Die Tücher fühlten sich an wie kalter Lehm. Wie himmlisch ihm zumute wäre, würde er nun an einem … Aber was denn, was denn, was denn? Verfügte er am Ende doch über Zauberkräfte? Sehnte sich nach einem einsamen Strand, nach Palmen und schwarzem Sand, nach Magdalena und der Kunstfertigkeit ihrer Hände, der idealen letzten Ruhestätte also – und in diesem Moment … drang über ihm durch einen sichelförmigen Spalt Licht ein. Tageslicht. Er kniff die Augen zusammen. Mit einem Grollen verbreiterte sich der Spalt und blähte sich zu einer Sichel auf. Das Licht fiel auf ihn herab, senkte sich nieder auf seine Füße, seine Beine, ah – wie zärtlich war es! Es streichelte seinen Bauch, seine Brust, blendete seine Augen – wie schön! Er vernahm wieder dieses Tropfen. Endlich eine menschliche Stimme. Sie war ihm vertraut wie Magdalenas schiefer linker Vorderzahn …

»He, Meister – bereit für die Auferstehung?«

Na, wenn es denn sein musste. Er blinzelte. Aus der Sichel war eine ovale grellgelbe Öffnung geworden, in ihr stand eine winkende Silhouette. Er blickte auf seinen Körper hinunter, sah die rot gebatikten Tücher, in denen er eingewickelt war. Aus deren Enden lösten sich fette rote Tropfen, fielen zu Boden, wo sich schon eine kleine Pfütze gebildet hatte. Plitsch, plitsch, plitsch, es war sein Blut, das er fallen hörte, schauerlich, er musste Unmengen davon besitzen. Wie viel von dem Saft er bereits vergossen hatte! Mittlerweile war Niko zu ihm heruntergestiegen, beugte sich über ihn, grinste verschmitzt; wischte ihm Haarsträhnen aus dem Gesicht.

»Wo warst du so lange, Niko?« Seine Stimme klang krähenhaft und laut, ein Stechen in seinen Ohren.

»Sorry, wir haben eine Menge zu tun. Wollten dich auch nicht früher als nötig wecken. Du hast ja geschlafen wie ein Stein.« Niko gluckste. »Wie ein Stein, verstehst du?«

»Meine Güte, ich bin nicht blöd!«

»Weiß ich, weiß ich. Wir alle wissen, welches Goldstück du bist. Sonst hätten wir uns den ganzen Zirkus gar nicht erst angetan.«

»Zirkus? Hast du eine Ahnung, was ich durchgemacht habe? Wie mir alles wehtut? Ich könnt noch was von dem Opium vertragen. Und wo treibt sich Magdalena rum?«

»Unser Meister, ganz der Alte! Denkt immer nur ans Himmelreich! Sie wartet auf dich in Bethanien. Also noch ein bisschen Geduld.«

Noch ein bisschen Geduld – wie oft hatte er den Spruch bereits gehört! Er wollte das Opium, er wollte Magdalena – oder den Tod. Jedenfalls keine Kompromisse mehr. Hatte er nicht mal gesagt, er sei mit dem Schwert gekommen … »Aber du versprichst mir, dass ich in Bethanien …« Himmelherrgott! Gekreuzigt, gestorben und begraben, und trotzdem musste er um die allerselbstverständlichste Glückseligkeit betteln? Ach, Niko möge einen Stein nehmen und ihm den Schädel zertrümmern, wozu das alles noch, wozu?

»In Bethanien gibt es alles, keine Sorge! Komm jetzt, wir müssen rauf. Ich hab uns einen Uber gecheckt, der wartet schon …«

»Mir tut alles so weh, Niko!«

»Es hilft nichts, du musst da durch. Bald ist es vollbracht, versprochen.«

»Ich mag aber nicht mehr!«

»Jesus Fucking Christ – jetzt reiß dich zusammen! Denk an was anderes. Da, ich schalt den Radio ein, gleich kommen die Nachrichten. Hör mal, wie es auf der Welt zugeht, und dann überleg dir, auf welchem Niveau du jammerst!«

»Niko, was …«

»Ruhe jetzt! Sonst gibt’s kein Opium und keine Magdalena! Nie wieder!«

 

3.

Hey, du Kretin, aufwachen! Abblätternder Putz an der Decke. Kalter Rauch in der Luft. Bettwäsche ohne Lavendelseligkeit. Niemand neben mir. Nur die Nachrichten aus dem Radio, sieben Uhr. Eine neue Stufe des Masochismus. Irgendwas Schräges ist passiert, mit Flüchtlingen, keine Seltenheit. Aber würde Jesus wirklich Uber fahren?

Ich klettere vom Hochbett. Hat eine weitere Nacht gehalten, wackelig und schief, verzogen und verrückt, wie alles in meiner Garçonnière. Bis vor Kurzem von Erinnerungskrempel und Studentenkitsch überfrachtet. Nach meiner Rückkehr aus Indien habe ich alle Bilder, Fotos, Plakate von den Wänden genommen, sämtlichen Zierrat verbannt, all den Plunder, den ich nicht mehr sehen konnte. Sogar die Lustigen Taschenbücher. Das Zeug nicht im Keller zwischengelagert, sondern gleich in den Müll geworfen. Bett, Tisch, Kasten, Bücherregal, ein zerschlissener Flickenteppich, eine russische Leuchte, das reicht. Ich bräuchte trotzdem ein zweites Zimmer. Einen Ort, wo ich mich verstecken kann.

Es klopft. Ich gehe in die Hocke, hebe eine Ansichtskarte vom Boden auf. Ein tibetanisches Kloster vorne drauf, könnte Shangri-La sein. Ich drehe die Karte um. Devote, an Tommy gerichtete Zeilen. Richtig übel, noch dazu in meiner Schrift. Ich weiß zum Glück keine Adresse. Ich weiß so wenig. Wozu bin ich überhaupt aufgestanden? Es klopft noch einmal, ich öffne. Ist es wegen dieser Frau, die ich erst auf den zweiten Blick erkenne? Mein erster ist über sie hinweggegangen. Sie ist nicht groß, strahlt zu mir herauf. Trägt Latzhosen, kein Make-up, ihre Augen tommy-blau, ihr Haar straßenköterblond; eigentlich tommy-blond, aber der bezeichnet die Farbe selber so.

»Entschuldigung, dass ich Sie … Ich wollte nur fragen, steht das Angebot noch?«

Meine neue Nachbarin. Julia, Jutta oder – Judit. Hat offenbar ein Faible für Goa-Trance. Jeden Abend wummert das Zeug zu mir rüber. Vielleicht steht ihr Kind auf die Musik, das mütterliche Alter hat sie wohl. Ich habe ihr irgendwas versprochen. So früh, als wäre ich ein richtiger Arbeiter. Das gibt Karmapunkte.

»Klar, klar, ich …«

»Brauchen Sie noch eine Minute?«

Ich höre den Gesang einer Amsel, Frühlingsluft kitzelt meine Nase. Dabei will der graue Herbsthimmel die Fensterscheiben eindrücken.

»Klopfen Sie einfach bei mir drüben an, wenn Sie so weit sind.«

 

Judits Wohnung … im Vergleich zu meiner ein Palast. Im Vorzimmer zwei Clubsessel; an der Wand ein Picasso, Der kleine Paul als Harlekin. Vom dekadent großen Wohnzimmer führt eine Wendeltreppe in den oberen Stock, eine offene Galerie. Ein Perserteppich am Eichenparkett. Den könnte man wirklich abschlecken, auch sonst … glänzt und blitzt alles. Es riecht nach Räucherstäbchen, Weihrauch und frischem Putz. An den Wänden surrealistische, etwas kitschige Bilder. Mal irgendeine indische Gottheit, dann wieder ein Engel, alles penetrant lebensbejahend und positiv … heimelig. Mich vor den Holzofen legen, oder auf das große Ecksofa, oder das Abendessen zelebrieren an diesem runden Esstisch; darauf drei Gedecke, eine Vase mit einem Herbststrauß. Es gibt auch ein Bücherregal, leer, davor ein paar zugeklebte Kartons. Im Hintergrund ganz leise Klaviermusik. Klingt nicht nach Easy Listening. Tommy wüsste, worum es sich handelt; wüsste, was er Judit versprochen hatte.

»Wollen Sie Kaffee?«

Ohne meine Antwort abzuwarten, trippelt sie in die Küche. Ihr Haar reicht ihr bis zum Hintern. »Sie sind in Indien gewesen?«, ruft sie. »Tolles Land, oder?« Kommt mit einem Teller Kekse zurück. Ich muss ihr im Stiegenhaus davon erzählt haben, warum auch immer, ich rede nicht gern davon. Sobald die Leute ›Indien‹ hören, erwarten sie sich Erkenntnis, Erleuchtung, Wiedergeburt, wenigstens spektakuläre Drogentrips.

»Ja, großartig.«

»Waren Sie alleine dort?«

»Mit meiner Freundin.«

»Das erste Mal?«

Ich nicke, und sie nickt auch. Verständnisvoll, sanft, ätherisch … Meine Hände schwitzen. Diese Yoga-Tante in Rishikesh … wie sie erst über alte Chakren-Weisheiten und Geistreinigungsrituale doziert hatte, sodass ich mich geborgen und sicher fühlte, die Angst vor dem Leben und dem Tod verlor. Dann kippte sie ein Power-Lassi runter, klagte über die Monster in ihrem Kopf, erkannte in mir den Teufel, wollte mich mit einer Ganesha-Statue erschlagen. In der Küche brodelt der Kaffee. Judit stellt den Teller ab.

»Setzen Sie sich doch!«

Außer einer Vase entdecke ich auf dem Tisch keine potenzielle Mordwaffe. Dass sie mich siezt, ist ein Pluspunkt. In der Russischen Revolution sind die Leute dafür gestorben, gesiezt zu werden, und heute … kein Job bislang, in dem mir nicht bald nach der Einstellung das Du aufgezwungen wurde. Affig, diese pseudoegalitäre Kumpanei. Trotzdem, was mache ich hier? Sie kommt mit Kaffee für mich und Tee für sich zurück.

»Sie trinken ihn bestimmt schwarz, nicht wahr?«

Ihre Stimme klingt samtig. Habe ich ihr vielleicht … das versprochen? Ich bin doch nicht Stefan!

»Und Sie?«, presse ich hervor.

»Meinen Tee? Ohne Milch, falls Sie das meinen …«

Meine rechte Wange wird heiß, genau dort, wo ihr Blick mich streichelt … von wegen, wo er sich einbrennt.

»Nein, ich meine Indien. Waren Sie schon mal dort?«

»Ich war eigentlich noch nirgends. Aber mein … Freund, der war schon oft in Indien. Deswegen nehme ich an, es ist ein tolles Land.«

»Es ist in Wahrheit ziemlich anstrengend.«

»Das sagt er auch. Trotzdem ein tolles Land. Für jemanden wie ihn zumindest. Übrigens findet er es hier genauso anstrengend. Nicht gerade das Richtige, um zur Ruhe zu kommen.«

Ich nippe vom Kaffee. Er schmeckt großartig.

»Kardamom«, erklärt sie, jetzt neben mir auf der Couch sitzend.

Ich drücke den Rücken durch. Kein Klavierspiel mehr. Kardamom, Kardamom, irgendwas sollte mir dazu einfallen … Wieder spüre ich das Brennen. Ich drehe mein Gesicht zu ihr, wir sehen einander direkt in die Augen. Ich springe mit einem Schrei auf.

»Was … ist mit Ihnen?«

Ich will einen Schritt wegmachen, stolpere, falle rücklings zu Boden. Judits Gesicht taucht über mir auf, darin zwei feuerrote Löcher …

»Was ist mit Ihren Augen?«

»Was haben Sie plötzlich? Soll ich einen Arzt rufen?«

»Ja! Sie … Sie brauchen einen Arzt! Solche Augen, das kann doch nicht gesund …« Ich rapple mich auf. »Ich muss …«

»Aber was ist denn mit dem Bücherregal?«

»Welches Bücherregal?«

»Sie wollten mir doch helfen, es aufzubauen.«

Ich atme laut ein und aus. Die Bilder an den Wänden hängen schief. Die Gedecke auf dem Esstisch schmutzig. Der Herbststrauß vertrocknet. Ein eigenartiger Schwefelgeruch steigt mir in die Nase. Judit hat es sich wieder auf dem Sofa bequem gemacht. Blickt zum Fenster. Der Rabe auf dem Baum davor beginnt zu krähen. Klaviermusik setzt ein. Mein Herzschlag beruhigt sich. Ich spüre jemanden im Rücken. Ich taste mit den Händen, aber da ist nichts, nein, niemand steht da.

»Ist das Grieg?«, frage ich flüsternd.

»Sie kennen die Musik?« Judits Stimme klingt schlaftrunken. »Ich habe sie bis vor Kurzem nicht gekannt.«

»Klavierkonzert in a-Moll, op. 16. War mal mein Lieblingsstück.«

»Seines ist es auch.«

»Seines? Von Ihrem … Bekannten?«

Sie kneift die Augen zusammen. Ihr Körper scheint zu beben, etwas in ihr zu brodeln. Ich gebe mir einen Ruck, setze mich neben sie. Im Zeitlupentempo dreht sie sich zu mir. Ein verschüchtertes Schulmädchen. Allerdings … mit Stirn- und Sturmfalten, sind mir vorhin wohl entgangen. Ein bitterer Zug um den Mund. Ich versuche einen aufmunternden Blick. Ist ja nichts dabei. Rote Augen, meine Güte … Vielleicht trinkt sie zu viel. Kifft. Oder ist sehr krank. Nichts, wofür man sich schämen sollte. Ich will niemanden beschämen. Kann sie ohne Weiteres anschauen, werde nicht durchdrehen, versprochen. Aber sie weicht meinem Blick aus. Der verheddert sich in ihrer Teetasse. Refugees Welcome steht darauf. Kardamom, Kardamom, auf einmal fällt mir so viel ein. Aphrodisierende Wirkung. Judit beugt sich vor, streckt den Arm und lässt die Tasse in ihrer Handfläche balancieren. Starrt sie wie hypnotisiert an, mit leicht wippendem Kopf. »Waren Sie damals dabei?«, flüstert sie. »Bestimmt waren Sie damals dabei. Wir waren alle dabei. Der Jubel am Hauptbahnhof, diese Euphorie. Die vielen Teddybären. Erinnern Sie sich an meine Kartoffelsuppe? Wie gut sie den Leuten geschmeckt hat, den Kindern. Sie haben meine Kartoffelsuppe geliebt.«

»Das kann ich mir vorstellen«, murmle ich, mehr nicht, denn zu Judits wippendem Kopf gesellen sich wippende Knie, immer schneller, jetzt zittert ihr ganzer Körper, Tee schwappt über, die Tasse fällt ihr aus der Hand, zerschellt, eine Pfütze am Parkett. Judit bricht in Tränen aus, krümmt sich zusammen, ein kleines heulendes Knäuel.

»Diese armen Menschen!«, wimmert sie. »Diese … Kinder! Ich ertrage es nicht mehr … Er hat es auch nicht mehr ertragen!«

Meine Zehen verkrampfen sich, während meine Hand vorsichtig über ihren Rücken streichelt. Wie weich ihr Haar sich anfühlt. Wie es wohl riecht? Ich beiße mir auf die Lippen. »Aber … den meisten geht es doch gut heute …«, höre ich mich sagen.

Ein verrotztes, faltiges Kindergesicht schaut mich an, hasserfüllte, verquollene Augen: »Gut? Sie sind alle gestorben! Alle diese Kinder! Jahrhundertelang! Und niemanden hat es berührt.«

Ich stehe langsam auf, luge zur Vase rechts von mir. »Haben Sie mir nicht gerade …? Moment – wovon reden sie eigentlich?«

Sie fährt sich übers Gesicht, dreht sich von mir weg, schaut wieder zum Fenster. Der Rabe ist weggeflogen, ihre Stimme eiskalt: »Ich glaube, es ist besser, wenn Sie jetzt gehen.«

 

4.

Niemand ist gestorben. Nicht in dem Kleintransporter, der im Morgengrauen auf einem Parkplatz an der Flughafenautobahn entdeckt wurde. Hat Judit darauf angespielt? Am Display meines Smartphones ein Lastwagen mit offenem Laderaum. Ein paar Dutzend Menschen stehen davor, zerlumpt und ausgemergelt, orientalische Phänotypen. Gerettet oder aufgegriffen, je nach Standpunkt. Vom Kindes- bis zum Greisenalter ist alles vertreten. In den Gesichtern keine Spur von Glück, Hoffnung oder gar Übermut auszumachen wie einst am Hauptbahnhof. Ein anderes Zeitalter. Vielleicht habe ich damals mit Judit Wäsche sortiert, gemeinsam mit Stefan, Martha, Tommy. Tommy … Langsam wird er schrullig. Oder sentimental? Kommentarlos hat er mir diesen Artikel geschickt. Ich spitze die Ohren. Wieder Goa-Trance? Nein, es ist mein Herz, ein Flimmern. Kein Grund, abzudriften. Ich sollte den Mund aufmachen, wenn ich auf der Leitung stehe; ansonsten … fallen Tassen zu Boden. Anrufen, ich lege wieder auf. Anrufen, ich lege wieder auf. Wiederhole das Ritual ein paar Mal, bis ich es läuten lasse.

»Sieh an, sieh an!«, blafft Stefan. »Was verschafft mir die Ehre?«

Warum Stefan? Ich habe doch Tommy … egal. Aber was sagen? ›Weiß du noch, damals am Hauptbahnhof?‹, oder ›Hat dir Tommy auch diesen Bericht geschickt?‹, oder ›Ich glaub, meine neue Nachbarin ist psychisch labil.‹ Lieber nicht. Small Talk führen. Wie zwei normale Freunde. Alles im Lot scheinen lassen.

»Na gut, wenn du nichts sagst, sage ich halt was: Du bist eine saufende Zeitbombe!«

Also kein Small Talk. Stefan will über seine Party reden.

»Du hast zirka hundertmal die Geschichte von deiner Darmgrippe erzählt, wegen der du dein Schweige-Retreat in Indien spritzen musstest. Eh lustig, aber alle Einzelheiten hätten nicht sein müssen. Dann hast du in einer Endlosschleife Martha angeflennt, wie sehr du sie lieben, wie sehr du sie hassen würdest. Schlimm mitanzusehen, aber das kann ich schon verstehen. Und dass du ständig dein Geschenk für mich angekündigt hast, als ginge es um die Bekanntgabe des Friedensnobelpreises – gut, will ich auch nicht an die große Glocke hängen, war dir halt wichtig. Am Ende, bevor ich dich in den Uber verfrachten konnte, hast du aber richtig Radau gemacht. Ich meine, mein Tisch ist kein Designerstück, den Schrick hätte ich trotzdem nicht gebraucht. Und: Kannst du dich erinnern, was du zum Abschied zu mir gesagt hast? Nein? Du hast mich als Jus-Schnösel bezeichnet, für den Lungenkrebs eine zu milde Strafe wäre. Das war heftig, sogar für deine Verhältnisse. Wenn du mich also nach mehr als einer Woche anrufst und dich nicht mal entschuldigst, frage ich dich halt: Was habe ich dir eigentlich getan?«

Jetzt aber. Goa-Trance von drüben. Wie wäre das? Rübergehen, anläuten, mir die Blödheit aus dem Leib beuteln. Judit fragen, was mit ihren Augen passiert sei, was sie so erschüttert habe; an ihren Haaren riechen, ihren Rücken streicheln, das Bücherregal aufbauen, mit ihr was kochen. All das ist möglich. Bloß eines nicht: Tommy verraten.

»Tut mir leid«, flüstere ich.

»Es tut dir leid? Christian, du hast Probleme.«

»Ich weiß.«

»Mach was dagegen.«

»Werde ich.«

»Und was?«

Noch immer liegt diese Ansichtskarte am Boden. Ich klemme das Telefon zwischen Kinn und Schulter, hebe sie auf, reiße sie in Stücke.

»Das ist nicht viel«, höre ich Stefan sagen. »Denk mal darüber nach. Zeit genug hast du ja.«

Ich lasse die Schnipsel auf den Teppich fallen, ebenso mein Smartphone, das Display hat sowieso schon einen Sprung. Klettere auf das Hochbett, verkrieche mich unter der Decke. Die Musik von drüben wird lauter. Das Bett vibriert. Nicht mehr lange. Ich kann den Exit sehen: Eine verstörende Reportage werde ich schreiben – aufwühlend; ein Psychogramm über Tommy. Sobald die Welt seine Vision kennt, seine Verletzung, seine Verirrung; so ich präzise ergründe, weshalb er alles sprengen wollte, kann ihm niemand mehr böse sein. Jeder wird verstehen, weshalb ich ihn nicht zum Teufel gejagt habe. Im Gegenteil. ›Wie hat es der Arme je einen Tag ohne Tommy aushalten können?‹ So werden die Leute reden. Aber dazu muss ich ... ihm jedenfalls keine peinliche Karte schreiben; auf solche Anbiederei fällt er doch nicht rein. Ernsthaftes Interesse muss ich zeigen, sein Vertrauen wiedergewinnen, lange Gespräche mit Tommy führen. Aus dem Material einen messerscharfen Text zimmern, die Geschichte einem großen Nachrichtenmagazin anbieten. Die Story des Jahres. Ich sehe mich schon vor dem Notebook sitzen, hier in meiner Garçonnière. Bett, Tisch, Kasten und Bücherregal reichen, solange Martha sich über meine Schultern beugt, mir den Rücken streichelt. Ich schütte literweise Kaffee in mich rein, rauche eine Zigarette nach der anderen. Lese, was es über Tommy im Netz zu lesen gibt: sensationsheischendes Zeug, oberflächliches Tatsachenstakkato. Was er wirklich wollte, wer er wirklich ist, darüber zu schreiben, bleibt mir überlassen: meine Eintrittskarte in eine Welt großer skurriler Persönlichkeiten. Deren Porträts werden meine Spezialität werden. In die wildesten Gegenden wird es mich verschlagen, in die bizarrsten Wirklichkeiten; ständig auf Achse, ein Traveller mit Kreditkarte, ein Mann mit Mission. Kein Alltag, keine Abstürze, kein Stefan. Die Leben der anderen werden mich berühmt machen, ich werde Preise gewinnen, meine besten Reportagen erscheinen in prächtigen Sammelbänden: die begehrten Christian-Rieder-Reader I–IV

Der Klingelton zerstört meinen Traum. Es läutet, läutet, hört nicht auf. Na gut, runterklettern, Stefan, ein harter Name. Aber eben bloß ein Name, eine Stimme in meinem Ohr.

»Nein, ich weiß noch nicht, was ich dagegen machen werde«, töne ich, ehe er etwas sagt, drehe mich um die eigene Achse, mache alberne Bewegungen zum nachbarlichen Goa-Trance-Beat. Ich sollte Judit in die Grelle Forelle ausführen.

Stefan gluckst. »Du bist ein Trottel. Hör zu, ich gebe dir noch eine Chance. Am Samstag lade ich wieder ein, nur ein paar Leute, ein kleines Essen für alle, die letztens keine Zeit hatten. – Oder zu besoffen waren. Das soll diesmal nicht ausarten. Wenn du willst, kannst du um sieben bei mir sein und beim Kochen helfen. Den Rest musst du selber wissen.«

»Den Rest … Wie meinst du das?«

»Meine Güte, Christian! Benimm dich einfach!«

 

5.

Es ist einfach so gewesen: In einem dieser miesen Viertel in der Innenstadt, wo die Lehmhäuser brüchig, die Straßen schlammig, die Kinder schmutzig waren, wo das Keppeln frustrierter Eheleute und das Klagen abgemagerter Tiere herrschten; wo stets irgendwo jemand mit zertrümmertem Schädel oder gebrochenem Genick herumlag; wo am Tag mit schlechten Drogen gehandelt wurde und in der Nacht mit alten Huren; in einer Gegend also, in die sich kein ehrbarer Bürger ohne Schutzmann und dieser nicht ohne Panzerfaust hineinwagte, wo der Ruß der Gesellschaft hauste und somit überproportional viele von Jesus gefischte Fans wohnten, versammelte sich in einer lauen Vollmondnacht eine Schar eben jener Anhänger jeglichen Geschlechts vom Kindes- bis zum Greisenalter im Keller einer schummrigen Taverne, die ansonsten als Schauplatz von Sex-positive-Partys der Jeunesse dorée vom Stadtrand fungierte. Der Wirt, ein rachitischer Mann namens Leb, hatte am Nachmittag ein ›Geschlossen‹-Schild auf die Gasse gestellt und den Eingang verriegelt, ihn sodann lediglich geöffnet, sobald das geheime Zeichen an das Tor gepocht wurde. Dieses ging ungefähr so: klopf, klopfklopf, klopf, klopfklopfklopf. Mit der Zeit waren mehrere Dutzend Leute eingetrudelt und hinab in den Keller geführt worden, um sich dort auf ihren vorsorglich mitgebrachten Decken am Boden auszubreiten und ihre Butterbrote und Himbeerlimonaden auszupacken.

Jesus hockte mitten unter ihnen, war bislang jedoch von niemandem erkannt worden. Verblüffend, was eine Rasur und ein Haarschnitt bewirkten; erschreckend indes, wie rasant seine Lust stieg, saftige Ohrfeigen zu verteilen – auch und gerade unter den Minderjährigen. Diese betroppezten Visagen, dieses selbstmitleidige Geseufze, diese sprachlose Trauer um ihn … insbesondere aber die vierschrötigen Anatomien, die gekrümmten Rücken, die schwieligen Hände, der Gestank nach Schweiß und Angst; die geschmacklose Kleidung, die billigen Frisuren, diese aus allen Körperporen triefende, elendige Armut! Er würde sich ja offenbaren und dem Spuk ein Ende bereiten, liefe er nicht Gefahr, von vertrockneten Frauen abgeschleckt, von impotenten Männern auf die Schultern gehoben, von tuberkulösen Kindern mit Zeichnungen und Selbstgebasteltem überschüttet zu werden. Allein die Vorstellung löste Übelkeit in ihm aus.

Schließlich betrat Longinus den Keller. Sein Blick wanderte über die Anwesenden, strich über Jesus, doch ließ sich der Römer nichts anmerken, verriet nichts, hielt sich an die Vereinbarung. Er stieg auf ein Weinfass und breitete die Arme aus. Für Ruhe zu sorgen, wäre jetzt das Wichtigste, diese Meinung hatten sie alle vertreten – Steph, Niko, Magdalena, seine Mutter; sie müssten Zeit gewinnen, um sich ohne Druck darüber im Klaren zu werden, wie sie mit der Marke Jesus weiter verfahren wollten. Das Potenzial für eine proletarische, glückseligmachende Weltrevolution wäre zweifellos vorhanden, sofern umsichtig und zielstrebig auf dem Vorhandenem aufgebaut würde … Himmel und Hölle, wie dankbar er sein sollte, dass er mit alledem bald nichts mehr zu schaffen hatte. Sollten sie doch machen, was sie wollten, mit seinem Namen, seinem Konterfei. Jesus selbst wäre bald über alle Berge und müsste nie wieder im Mittelpunkt einer derartig peinlichen Versammlung stehen, etliche Augenpaare auf sich gerichtet, einer Herde stumpfsinniger Rindsviecher das Himmelreich versprechen, wo doch jeder wusste, Leute diesen Schlags würden noch in zweitausend Jahren von den Mächtigen ausgebeutet, verarscht, verachtet und verspottet werden. Jesus war der Verlogenheit ihrer Friedens- und Freudenbewegung schon lange überdrüssig, sein Todesurteil zu hören – welch ein Glücksgefühl! War er je mehr als ein verwirrter Marktschreier gewesen? Longinus hingegen, diese geltungssüchtige Rampensau glaubte womöglich tatsächlich an die Lügen vom Paradies, ob hier oder dort; er war auch optisch der geborene Volkstribun: groß, muskulös, der Teint bronzen und frisch; zwar waren seine Augen seit der Kreuzigung blutunterlaufen, doch trübten sie das satte Bild keineswegs, im Gegenteil. Ihre Rötung verliehe dem Mann erst Authentizität, Massentauglichkeit.

»Jesus, meine Lieben«, begann Longinus nun seine Rede, »war ein richtiger Punk. Das lag weder an seinem Haarschnitt noch an seinem Kleidungsstil, auch nicht an seinem zuweilen irren Blick oder seinem rabiaten Musikgeschmack. All das sind oberflächliche Stereotype für eine oberflächliche Zeit. Jesus war Punk, weil er alles Erstarrte wachrütteln, alles Ausgehöhlte zertrümmern, alles Leblose entsorgen, alles Dekorative vernichten wollte. Er wollte die Welt bis zur letzten Konsequenz, bis zu ihrem einzig notwendigen Kern, provozieren; ihr die Hüllen und Masken vom Leib reißen, bis sie nackt und wesentlich vor ihm stand, keine Rolle mehr spielte. Er begnügte sich nicht mit Konventionen, er wollte Überzeugungen, hielt nichts von Loyalitäten, er wollte Solidarität, beruhte das eine doch auf Gesetzen, das andere auf dem Herzen. Nicht einmal dem sogenannten Rechtsstaat war er zugetan, wenngleich dieser Menschlichkeit zu garantieren vermag. Doch verordnete Menschlichkeit hatte keinerlei Wert für ihn. Einen solchen Anarchoindividualismus konnten viele nicht verstehen. Auch mir war seine Radikalität manchmal zu viel. Er konnte so liebevoll sein, hilfsbereit, voller Herzensgüte. Aber seine Sprache, ihr wisst es, war oft voller Gewalt, Zorn, unversöhnlich. Kein Verniedlichen und Verbrämen dessen, was es heißt, ein Mensch zu sein. Denn um nichts weniger ging es ihm: zu ergründen, was das Menschsein ausmacht. Es war bloß unser Glück, dass er uns seine Gedanken verriet, uns an seinem Handeln und Wirken teilhaben ließ, sogar an seinem mutigen Tod. Welch bedeutende Stunden hatten wir zuvor mit ihm verbracht! Die Zumutungen des Daseins, mit Jesus waren sie ein Fest. Er konnte trinken wie ein Kelte und kiffen wie ein Gott, er liebte nicht nur den Geist, sondern auch den Körper der Menschen. Er war hungrig danach, jeden Landstrich zu bereisen, sich mit jedem Thema auseinanderzusetzen, jedes Menschen Geschichte zu erfahren, jede Grenze in seinem Inneren zu überschreiten. Er blickte nie zurück, und dennoch war Geschichte eine seiner größten Leidenschaften, insbesondere die Beschäftigung mit der Französischen Revolution und dem Nationalsozialismus, die für ihn wesentlichen Epochen Europas. Er liebte Bob Dylan, weil er durch dessen Musik sich der eigenen Widersprüche bewusst wurde, und er verehrte Donald Duck, weil der ihm dabei half, die eigenen Widersprüche zu ertragen. Am wichtigsten aber wäre ihm gewesen, und deshalb, liebe Freundinnen und Freunde, spreche ich heute zu euch, dass wir ihn vergessen, seinen Namen, seine Taten, seinen Tod, und stattdessen …«

»Entschuldige mal!«, schrie plötzlich jemand. »Vom wem redest du da bitte?«

Das würde mich, dachte Jesus, verblüfft über seine Großartigkeit, ebenso interessieren. Alle, auch er, reckten ihre Köpfe, um denjenigen auszumachen, der die emphatische Ansprache so brüsk unterbrochen hatte. Kerzen wurden emporgehoben, ein Flüstern ging durch den Raum. Da! Ganz hinten, lässig an die Wand gelehnt, ein junger Mann in Tunika, einen Trinkbeutel in der einen, ein rauchendes Holzstück in der anderen Hand.

»Warum unterbrichst du mich, junger Freund?«, fragte Longinus. »Kenne ich dich? Ich sehe dich heute doch zum ersten Mal. Kennt jemand diesen Menschen?«

Alle außer Jesus winkten ab.

Der Unbekannte erwiderte: »Richtig, ihr kennt mich nicht. Aber so, wie du von diesem Jesus sprichst, könnte man meinen, dass ich ihn kenne, weil es sich um meinen besten Freund Tommy handelt! Wer immer dieser Jesus war, er hat sich von Tommy eine Menge abgekupfert. Das ist ja okay, ich will es nur gesagt haben.«

Ein Raunen ging durch die Zuhörerschaft. Geschnatter brandete auf: Was dieser Eindringling sich einbildete! Ihr Meister sollte etwas abgekupfert haben von … Wer sollte das überhaupt sein: Tommy?! Jesus musste ein Kichern hinunterschlucken. Endlich! Endlich wagte jemand, es diesen ahnungslosen Tölpeln reinzusagen: Ihr Meister war nichts als ein Wiederkäuer von zusammengesammelten Kalendersprüchen gewesen, ein Wiederkäuer von Bibelstellen, die keine Sau kannte.

»Das sind große Worte, Frechdachs!«, zischte Longinus. »Wie kommst du darauf? Jesus war genau so, wie ich ihn beschrieben habe. Ich weiß es, ich war an seiner Seite. Schau mir in die Augen! Glaubst du, dein Tommy hätte das zustande gebracht? Wohl kaum! Jesus alleine hat mich blutig geblendet!«

»Du elender Lügner!«, erwiderte der Fremde zornig. »Wie soll ich dir glauben, wo du davon faselst, dieser Jesus habe sich für die Französische Revolution und den Nationalsozialismus interessiert? Mann! Diese Sachen werden erst in zweitausend Jahren stattfinden. Und ihr, die ihr mit großen Augen diesem Sonntagsredner zuhört, fragt euch nicht, was er damit meint? Französische Revolution? Nationalsozialismus? Habt ihr je von Bob Dylan gehört? Oder von Donald Duck? Ihr seid ja alle total verblendet! Schaltet euer Hirn ein! Außerdem …« Er starrte Jesus an. Diesem fiel sogleich das Atmen schwer, der Druck zwischen seinen Ohren drohte ihm den Schädel zu sprengen. Seine Zehen krampften. Der junge Mann drängelte sich durch die erstarrte Zuhörerschaft nach vorne, sprang auf das Weinfass, stieß Longinus nach einem kurzen Gerangel hinunter, riss die Arme in die Höhe und schrie: »Jesus ist nicht tot! Hört ihr? Er ist nicht tot! Das war alles Fake! Er ist nicht …«

 

6.

»… tot!«

Ich halte mir die Hand vor den Mund. Das Mädchen neben mir rutscht weg. Der alte Mann gegenüber versteckt sich hinter der Gratiszeitung. Von draußen gaffen mich die Leute an. Es macht einen Ruck, die Straßenbahn fährt weiter.

»Total ungewöhnlich, meine ich. Schnee im November. Schön irgendwie. Erinnert mich an Zuhause …«

Das Mädchen steht auf. Der alte Mann lässt die Zeitung sinken. Zuckt zusammen, als mein Smartphone vibriert. Eine Nachricht von Tommy. Alles gut! Bloß eine Nachricht von Tommy! Ich habe nicht vor, die Straßenbahn in die Luft zu sprengen, keine Sorge, nicht heute. Auf dem Display eine Barackensiedlung in flacher Gegend. Schlammiger Spätherbst. Eingeschoßige Wellblechhütten irgendwo in der Pampa. Desolat. Verdreckte Nassräume, rostige Eisenbetten, Schimmel an den Wänden, russische Leuchten. Nicht viel anders stellt man sich ein sibirisches Straflager vor. Noch ein Vibrieren. Paradigmenwechsel, schreibt Tommy. Das Wort geistert seit Tagen durch die Medien. Und auch die Gratiszeitung titelt: Paradigmenwechsel in der Asylpolitik: So schön sind die neuen Unterkünfte! Darunter das Bild von einem gemütlichen Wohnzimmer. Holzdielen, große Fenster, ein Sofa, Regale voller Bücher und Spielzeug, ein riesiger Fernseher. Bist du sicher?, schreibe ich zurück, Wo ist dieses Lager? Wie hast du es gefunden? Die Antwort folgt prompt: Erzähl ich dir später. Später? … Dann kommt er also auch wieder zu Stefan. Perfekt. Ich könnte ihm von meinem Reportage-Plänen berichten.

Ich steige aus, betrete den schneematschigen Gehsteig. Mit Storchenschritten stapfe ich zum Wartehäuschen. Wische mein Smartphone ab. Tommy ist nicht mehr online. Ich drücke auf die Anruftaste.

»Was gibt’s?«

»Tommy?«

»Wer denn sonst? Wo bleibst du? Stefan wird ungeduldig.«

Die Straßenbahn fährt weiter. Der alte Mann sieht mir nach, zeigt mir den Vogel.

»Warum hast du mir diese Fotos geschickt?«

Im Hintergrund Stefans Keifen: »Ist er das? Er soll sich sputen!«

»Hast du gehört?«, kichert Tommy.

»Ja, ich bin schon unterwegs! Aber diese Fotos? Warum …«

»Was soll damit sein? Das ist doch ein Witz, dass … Moment – Hey, Stefan, wo ist der Korkenzieher? Ah, danke!  – So, bin schon wieder da. Ich sag’s dir, Christian, heut hab ich richtig Lust, mich zu besaufen. Ist das nicht schlimm, dass sie einen so weit bringen? Dieser PR-Schmäh von den neuen Super-Trooper-Unterkünften, obwohl diese Flüchtlinge untergebracht sind wie Schwerverbrecher … Ich meine, da sind Kinder dabei, Alte … und anstatt in den Hungerstreik zu treten, gönn ich mir einen … wow! Mouton Rothschild, alle Achtung, Stefan, du lässt dich nicht lumpen …«

Dort vorne die gelbe Fassade von Stefans Biedermeierhaus. Schneeflocken im Laternenlicht. Wenn jetzt noch eine Droschke vorbeikäme … Ein Range Rover walzt durch die Gasse, spritzt mir Matsch auf die Beine. Meine Hände sind eiskalt. »Tommy, ich bin gleich da, dann können wir besser … Tommy?« Gedämpft nuscheln Tommys und Stefans Stimmen, sie reden über … mich, zweifellos, meinen Namen höre ich als Einziges aus dem Gemurmel raus.

 

»Ah! Die Rauschkugel ist eingetroffen! Dann können wir endlich anfangen. Hereinspaziert!« Stefan trägt eine geblümte Kochschürze, hat eine Kelle in der Hand. Tippt damit auf mein Brustbein. »Und dass eines von Anfang an klar ist: Wir reden nicht über Politik, nicht über Flüchtlinge, nicht über das Klima. Wir reden nur übers Kochen und die Frauen. Das passt zusammen.«

Stefan am Kragen packen, runter auf die Straße zerren, sein Gesicht in den kalten Schnee drücken. »Heißt das, deine peinlichen Filzpatschen sind tabu?« Tommy ist ins finstere Vorzimmer gekommen, stellt sich neben Stefan, deutet mit einem breiten Grinsen auf dessen Füße. »Hübsch, würden meinem Opa gefallen. Was sagst du, Christian? Mit der schicken Schürze wirkt unser Frauenheld fast androgyn. Neuer Trend am Juridicum?«