Inhaltsverzeichnis

Originaltitel: Antonio Moresco – La lucina

© 2013 Arnoldo Mondadori Editore S.p.A., Milano

 

 

© 2020, Septime Verlag, Wien

Alle Rechte vorbehalten.

 

 

EPUB-Konvertierung: Esther Unterhofer

ISBN: 978-3-903061-77-4

 

Umschlag: Jürgen Schütz

Coverbild: © fotolia.com

 

 

Printversion: Hardcover, Schutzumschlag, Lesebändchen

ISBN: 978-3-902711-90-8

 

 

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Antonio Moresco

(geb. 1947) gilt als einer der wichtigsten lebenden Schriftsteller Italiens und Europas. Sein Werk umspannt etwa ein Dutzend Romane und Erzählanthologien, ungefähr ebenso viele erzählende und gesellschaftspolitische Prosastücke sowie mehrere Theaterstücke und Schriften zum Theater. Seine Ideen, Anliegen, Notizen arbeiten in ihm, wachsen zum Roman, migrieren in einen Internet-Blog, von dort in die Wirklichkeit und reißen viele Menschen in unerhörte Unternehmungen mit – getreu dem bestimmenden Leitwort seiner Poetik »Grenzen überschreiten«. Sein schriftstellerisches Dasein kann insofern als ein Gesamtkunstwerk begriffen werden, das die visionäre Welt seiner Bücher, die virtuelle Welt des Internets und unser aller nackte Wirklichkeit erfasst.

 

Klappentext

Ein Mann lebt in völliger Einsamkeit in einem verlassenen Bergdorf. Nachts, stets zur selben Stunde, stört jedoch ein kleines Licht auf der gegenüberliegenden Seite des Tals seine Isolation. Er beginnt den Ursprung des mysteriösen Lichts zu hinterfragen. Ist es jemand in einem weiteren verlassenen Dorf? Eine vergessene Straßenlampe? Ein fremdes Wesen? Er grast die umliegende Gegend ab, forscht bei den wenigen Menschen in entlegenen, nur noch spärlich bewohnten Orten nach. Doch niemand will von Menschen jenseits der Schlucht etwas wissen oder gehört haben. Von einer steigenden Unruhe getrieben, begibt er sich auf die andere Seite der Schlucht, um die Quelle des Lichts zu entdecken.

Er findet einen kleinen Jungen, der ebenfalls vereinsamt in einem Haus mitten im Wald lebt. Aber wer ist dieses Kind, das hier allein den Haushalt führt und sogar die Abendschule besucht? Die Dorfbewohner schließen die Existenz einer solchen Schule aus. Eines Abends hält der Mann vor dem Haus Wache und erkennt das Kind, das mit weiteren Kindern ausgeht, alle mit großen und kleinen Rucksäcken. Als der Junge wieder nach Hause kommt, konfrontiert er ihn und bekommt ein unglaubliches Geständnis. 

Das geheime Herz dieses Romans ist sowohl unheimlich als auch zutiefst berührend. Antonio Morescos »Kleiner Prinz« ist eine bewegende Meditation über Mensch und Universum. Moresco denkt über die Einsamkeit und den Schmerz der Existenz nach, über Leben und Tod.

 

Antonio Moresco

Das kleine Licht

 

Roman | Septime Verlag

 

 

Aus dem Italienischen übersetzt und

mit einem Nachwort von Sabine Schneider

 

 

 

Brief an den Verleger der italienischen Ausgabe

 

 

 

Lieber Antonio,

 

diesen kurzen Roman habe ich vor ein paar Monaten in ein Heft geschrieben und schicke ihn dir hiermit. Dir hier im Voraus seine Handlung in wenigen Sätzen kundzutun, mag ich nicht, weil es mir schwerfällt, über diese Handlung zu sprechen, weil es mir lieber ist, dass du sie für dich allein Seite um Seite entdeckst und ich dir die Überraschung nicht verderbe.

Die Geschichte ist aus einem sehr tief liegenden Bereich meines Daseins aufgestiegen, sie ist wie eine kleine Black Box. Als ich dir von dieser Sache erzählte, dass sie mich innerlich bedränge und ich im Begriff stünde, mit dem Schreiben anzufangen, habe ich dir eines Abends eröffnet, dass sie für mich in gewisser Weise testamentarischen Charakter habe, dass sie mein Testament sei, würde ich am Tag nach ihrer Niederschrift umkommen. Nicht weil ich sie für bedeutsamer und wichtiger als Bücher wie die Esordi (Aufbrüche) oder die Canti del caos hielte, sondern wirklich wegen ihres besonderen innersten und verborgenen Wesens.

Wie Gli incendiati ist auch diese Geschichte hier unvermutet und unvorhergesehen auf mich eingestürzt. Und so wie Gli incendiati sich als ein kleiner Meteorit von den Canti del caos gelöst haben, ist dieser kleine Mond aus der noch im Schmelzzustand schwimmenden Masse meines neuen Romans mit dem zukünftigen Titel Gli increati herausgetreten.

Entstanden ist Das kleine Licht aus dem Anstoß nur weniger Zeilen, aus einer einzigen kleinen Szene, einer Anmerkung in den Notizen, die ich über lange Jahre hin im Blick auf die Increati aufgezeichnet habe. Dort drinnen, glaubte ich, würde diese kleine Szene ihren Platz finden, würde dort nicht mehr als gerade eine halbe Seite einnehmen. Stattdessen hat sie in der Folgezeit offenbar im Geheimen in mir gearbeitet. An einem bestimmten Punkt hat sie Anspruch auf ein selbstständiges Dasein erhoben. Und dann ist sie wie ein kleines siamesisches Geschöpf bis zu dem Augenblick angewachsen, in dem ich sie von dem anderen großen Körper, in dem sie sich vorher eingenistet hatte, habe abtrennen müssen.

Das ist die Geschichte des kleinen Büchleins also, das du gerade in den Händen hältst.

 

Antonio Moresco

 

 

 

Anmerkung der Übersetzerin: Die in diesem Brief erwähnten und in Originalsprache belassenen Titel sind in Italien bereits erschienen, Esordi (1998), Canti del caos (2009) und Gli incendiati (2010) vor Das kleine Licht (2013), Gli increati (2015) danach.

Es liegen zurzeit außer von Esordi und dem vorliegenden Roman keine deutschen Übersetzungen vor.

 

 

Das kleine Licht

 

 

1.

 

Ich bin hierhergekommen, um zu verschwinden – in dieser einsamen und verlassenen Ortschaft, dessen einziger Bewohner ich bin.

Die Sonne ist eben hinter dem Bergkamm untergegangen. Das Licht verlöscht allmählich. In diesem Augenblick sitze ich nur wenige Meter vor meinem kleinen Haus gegenüber einem pflanzendichten Steilhang. Ich betrachte die Welt, die gleich vom Dunkel verschlungen sein wird. Mein Körper sitzt reglos auf einem eisernen Stuhl, dessen Beine sich immer tiefer in die Erde bohren, und doch stockt mir ab und zu der Atem, als stürzte ich in die Tiefe – auf einer Schaukel, deren Seile an irgendeiner Stelle unendlich weit entfernt im Universum aufgehängt sind.

Der Himmel wird von den letzten, hier und da pfeilschnell dahinfliegenden Schwalben durchkreuzt. Sie fallen knapp an meinem Haar vorbeischießend, kopfüber in die weiten, zwischen Himmel und Erde schwebenden Insektensphären ein. Ich spüre den Luftzug ihrer Flügel an meinen Schläfen. Ich sehe den schwarzen Körper irgendeines größeren, kielförmigen Insekts klar umrissen vor mir, wie es gerade von einer Schwalbe verschlungen wird, die mit aufgerissenem Schnabel, Schreie ausstoßend, hinter ihm herjagte. Es ist so still, dass ich sogar das Krachen seines zermalmt und zerstückelt fortleidenden Körpers im Körper des trunken in den Himmel steigenden anderen Tieres wahrnehme.

Ich bleibe noch lange hier sitzen. Allmählich schwindet das Licht, wird diese ganze grüne Pflanzenwelt immer schwärzer vor meinen Augen. Von allen Seiten beginnen sich die Stimmen der in ihrem schwarzen Blattwerk unsichtbaren Nachttiere zu erheben.

Kein einziges Anzeichen menschlichen Lebens.

Erst als das Dunkel noch dichter wird und die ersten Sterne hell werden, scheint auf der anderen Seite der engen, steil abfallenden Schlucht auf einem flacheren, wie ein Sattel mitten in die Wälder eingegrabenen Stück des Bergzugs gegenüber jede Nacht, jede Nacht und immer zur gleichen Zeit unversehens ein kleines Licht auf.

 

 

2.

 

›Was mag das nur für ein kleines Licht sein? Wer macht es an?‹, frage ich mich, während ich durch die Steinstraßen in dieser menschenleeren kleinen Ortschaft gehe, in der niemand mehr geblieben ist. ›Ein Licht, das von einem abgelegenen kleinen Haus durch die Wälder scheint? Oder das Licht einer Straßenlaterne, die dort oben in einer anderen kleinen unbewohnten Ortschaft wie dieser hier übrig geblieben und sichtlich noch mit dem elektrischen Netz verbunden ist und nun stets zur gleichen Zeit durch einen einfachen Impuls angeht?‹

Man hört allein das Geräusch meiner Schritte in den kleinen Straßen widerhallen, mein Blick fällt auf die Steinstufen einer schmalen, zerfallenen Treppe, auf eine klapperige Stalltür, auf Ruinen mit eingebrochenen, rankenüberwucherten Schieferdächern, aus denen die Spitzen zwischen den Trümmern gewachsener Feigenbäume oder Lorbeersträucher hervorbrechen, auf zwei randvoll mit Wasser gefüllte, irdene Schüsseln, grell leuchtend lackierte, abblätternde Türen.

›Wo bin ich nur?‹, frage ich mich. ›Was sehe ich da? Gibt es diesen weltfernen Ort wirklich, den meine Augen hier gerade sehen? Gibt es ihn, auch wenn niemand im ganzen Universum außer mir weiß, dass es ihn gibt, niemand außer mir weiß, dass es in diesem Augenblick einen vollkommen einsamen Menschen gibt, der seinen Körper über diese nackten Steine bewegt, über denen nicht einen Augenblick, weder Tag noch Nacht, die wuchernde Drangsal der Rankengewächse innehält.‹

Ich biege in eine schmale abschüssige Straße ein, die zu einem kleinen Friedhof führt. Wenn der Mond scheint, sieht man, von seinem gespenstischen Licht taghell erleuchtet, deutlich den von der Pflanzenwelt bestürmten Rand der schmalen Straße, die Abgründe, aus denen das Geräusch von Wasser aufsteigt, das sich in den tönenden Klüften der regendurchtränkten Berge und in den Schluchten sein Bett gräbt, sieht man deutlich die sich gegen den Himmel abzeichnenden hohen Silhouetten der Bäume. Erst in der Nacht, im Mondlicht, versteht man wirklich, was die Bäume, diese in den leeren Raum des Himmels sich reckenden Säulen aus Holz und Schaum, sind.

Wenn der Mond nicht scheint, muss man sich unter dem erschütternden, von Myriaden unbewohnter Sterne und anderem Lichtschleim durchbohrten Himmelsgewölbe im Dunkeln vorwärtstasten.

Eines Nachts, als ich auf dieser schmalen Straße hier hinunterging, habe ich kurz nach einer Kurve, die in noch dichterem Dunkel liegt, ein leichtes Geräusch im Blattwerk gehört. Ich habe mich umgedreht, um nachzusehen. Es waren zwei Dachse. Sie starrten mich aus ihren weißumrandeten Augen, fast Rückstrahlern, in der Dunkelheit an. Erstaunt bin ich stehen geblieben. Einer der beiden Dachse ist schnell über die schmale Straße gelaufen, um das vermutlich schon vor meinem Auftauchen begonnene Vorhaben zu Ende zu führen. Der andere hat sich nicht fortgerührt und mich weiterhin verschreckt über die menschliche Gegenwart in seinem Gebiet angestarrt.

Ich bin gleichfalls stehen geblieben, um nun auch ihn hinüberlaufen und den ersten Dachs, der schon auf der anderen Seite war, einholen zu lassen. Doch er rührte sich nicht von der Stelle. Er sah mich noch immer vom Straßenrand her, ohne Deckung unentwegt aus seinen weißumrandeten Augen so verschreckt an, dass er sich nicht einmal unter dem Blattwerk zu verstecken vermochte.

»Na los!«, habe ich ihn leise ermuntert. »Nun lauf du auch hinüber! Auf der anderen Seite wartet schon jemand auf dich. Ich bleibe hier stehen, keine Angst, ich tu dir nichts Böses.«

Aber der Dachs rührte sich nicht. Ich sah immerzu die beiden weißen Kreise im Dunkel. Ich habe mich dann ein paar Schritte zurückbewegt, um den Abstand zwischen uns zu vergrößern und ihn so zu beruhigen. Er schien aber dort angenagelt zu sein. Ich bin noch weiter zurückgegangen. Es hat nicht gereicht. Ich bin noch bis hinter die Kurve zurückgegangen, damit er mich nicht mehr sehen könnte und sich so zum Überqueren entschließen würde. Ich reckte mich ab und zu vor, um nachzusehen, ob er sich nun endlich entschlossen hätte. Doch strahlten dort noch immer die beiden weißen Kreise und in ihrer Mitte zwei leuchtende Augen, die mich im Dunkeln anwesend erahnten und unverwandt anstarrten.

In jener Nacht habe ich bis zum Ort zurückgehen müssen, damit sich der Dachs beim Geräusch meiner immer ferner hörbaren Schritte endlich entschloss, den anderen Dachs einzuholen, der unter dem Laubwerk hingeduckt auf ihn wartete.

Heute Nacht ist alles schwarz, der Mond scheint nicht. Ich gehe auf dieser schmalen abschüssigen Straße hinunter bis zu einer letzten Kurve, nach der man plötzlich die kleinen Grablämpchen eines Friedhofs sieht. Ich gehe weiter hinunter und betrachte von Weitem diese kleine Lichtergalaxie im Dunkel. Erreiche schließlich das verschlossene kleine Gittertor. Ich sehe mir die vor den Urnen brennenden, in der Dunkelheit dieser mondlosen Nacht lebhaft bebenden, zwischen rot und orange unbestimmbar ineinander übergehenden kleinen Grablaternen aus der Nähe an. ›Von irgendwoher wird ein Impuls ausgehen, der auch diese kleinen Grablaternen anzündet …‹, sage ich mir. ›Aber wieso gibt es ausgerechnet in der Nähe dieser unbewohnten Ortschaft einen Friedhof? Welche Menschen mögen das sein, die hier unter der Erde und in den Urnen begraben sind? Woher mögen sie kommen? Männer, Frauen, sogar Kinder, scheint mir, den im Vergleich zu den anderen kürzeren Erdhügeln und den kleinen, von den Grablaternen nur schwach beleuchteten Fotografien nach zu urteilen …‹

Ich gehe auf der schmalen schwarzen Straße und unter diesem unfassbaren Sternenmeer zu meinem Haus zurück. Neben den irdenen Schüsseln entdecke ich das dunkle, gedrungene Profil einer Kröte, die, vielleicht durch einen alten Gitterrost, unter dem man Wasser gurgeln hört, hindurchgeschlüpft, nun, beim Geräusch meiner Schritte, mit schweren Sprüngen die Flucht ergreift.

Ich trete ins Haus. Schließe die kleine Gattertür, auch wenn es hier niemanden gibt. Ich trinke zwei Glas Wasser in der Küche. Ich steige die kurze Holztreppe hinauf. Betrete mein kleines Schlafzimmer. Ich ziehe mich aus, den Schlafanzug an. Steige in das kleine Bett, das ein wenig quietscht, als ich mich ausstrecke. Mir dröhnen die Ohren in dieser vollkommenen Abwesenheit von Tönen. Ich bleibe eine Zeit lang so liegen, mit weit ins Dunkel aufgerissenen Augen. Wie lang, wüsste ich nicht zu sagen. Vielleicht liege ich schon zwischen Wachen und Schlafen, als mir scheint, von unten her ein Knarren zu vernehmen: unvermittelte, trockene kleine Geräusche, das Holz der Möbel und Schubladen vielleicht, das sich im Dunkeln ausdehnt und zusammenzieht.

Ich stehe auf. Trete zur Treppe, laufe eine Weile in der unteren Etage umher, mache das Licht an, um zu sehen, dass alles in Ordnung und niemand hereingekommen ist, auch wenn ich weiß, es gibt niemanden. Ich gehe auch in der Toilette nachsehen. Ich ziehe die Spülung, denn sie macht ein leichtes Tropfgeräusch, das der schlecht schließende Schwimmer verursacht, was in der Stille und im Dunkel der Nacht noch lauter erscheint.

Ich gehe zurück ins Bett. Eben will ich wieder einschlafen. Doch nun höre ich andere kleine Geräusche, die diesmal von oben herrühren, von dem Hohlraum zwischen Zimmerdecke und Dach. Denn zwischen den Dachziegeln und dem Kaminrohr zwängen sich Tiere hindurch, durchaus große, nicht nur Vögel, sondern auch vierbeinige Tiere, die dann dort oben im Dunkel über meinem Kopf umherspazieren.

Ich knipse das Licht an. Steige wieder aus dem Bett. Nehme die Taschenlampe. Lehne die Sprossenleiter an die Wand. Steige hinauf. Ich öffne hustend wegen des von oben flüchtigen Staubes die Falltür. Beobachte von unten her den dunklen Bereich voll regloser Dinge, Bretterstücke, unter ihrem Kalkschleier nahezu versteinerte Zellophanfolien.

Ich richte die Taschenlampe hierhin und dorthin. Nichts zu sehen, nirgendwo Augen, die mich geblendet aus dem Dunkel anstarrten.

Ich gehe wieder ins Bett. Knipse die Lampe auf der kleinen Kommode aus. Doch kurz darauf stehe ich wieder auf, weil ich mich nicht erinnere, ob ich den Holzladen vor dem kleinen Fenster geschlossen habe. Ich gehe barfuß ein paar Schritte über die Bohlen des Fußbodens. Sehe einen Augenblick lang hinaus auf die waldbedeckten, schwarzen Berge. Ich blicke ein letztes Mal zu dem kleinen Licht, das auf der anderen Seite der Schlucht im Dunkeln leuchtet.

›Was ist das nur für ein Licht?‹, frage ich mich erneut.

Ich schließe das kleine Fenster. Gehe zurück ins Bett. Kurz darauf schlafe ich ein.

 

 

3.

 

Mein Tag beginnt früh.

Ich wasche mich. Ziehe mich an. Öffne die Fenster. Ich schaue mir eine Weile lang diese ganze, wie eine Erscheinung so reglose Pflanzenwelt an. Das kleine Licht ist nicht mehr da. Es gibt nur diese waldbedeckten Berge, so weit das Auge reicht. Sie fallen steil ab, durchzogen von breiten Kanälen und Furchen, die man hinter dem dichten Blätterschleier kaum wahrnimmt, wie eine durch Daumendruck modellierte Urlandschaft. Sieht man unverwandt in diese Richtung, erkennt man nur eine winzige, etwas hellere Oberfläche, die eben über den Bäumen hervorkommt.

›Ob das ein kleines Haus ist?‹, frage ich mich. ›Aber wer soll dort oben leben, mitten in den Wäldern?‹

Ich esse etwas. Wasche meine schmutzige Wäsche in einer Plastikschüssel, die ich in die Spüle stelle. Ich gehe die Wäsche an einer Leine aufhängen. Sie ist zwischen zwei entrindeten Pfählen gespannt, die ich am Rand eines Weges gefunden habe, als ich hierhergekommen bin. Ich spüle das Geschirr in diesem Steinhaus einmal am Tag, abends, im ringsum herrschenden vollkommenen Schweigen.

Gegenüber erhebt sich weiter unten in dem waldbedeckten Steilhang ein zur Hälfte abgestorbener, zur Hälfte lebender Kastanienbaum. Seine hohe Krone schwingt sich nackt und weiß über das Grün der Bäume hinaus, steinern, die andere Hälfte entlädt sich dagegen in ein entfesseltes Blätterwirrwarr. Es gibt noch viel mehr solcherart, vor allem Kastanienbäume, scheint mir. Einige sind beinah vollkommen abgestorben und stechen im Wald mit ihrer gespenstischen Augenfälligkeit hervor. Doch wenn die Jahreszeit kommt, wachsen an manchen Stellen dieser Stammfossilien zwei oder drei bis schier zum Abbrechen mit Stachelfrüchten überladene Äste.

Manchmal bleibe ich vor einem dieser Bäume stehen und betrachte ihn.

»Wie kann man nur so leben?«, frage ich ihn. »Den Menschen ist das nicht möglich: Entweder sind sie lebendig oder tot. So scheint es zumindest … «

Er antwortet mir nicht.

Mit der Hand streiche ich leicht über seine Oberfläche, glatt, entrindet und steinern. Danach über die lebende, blätterbedeckte. Ich stelle mir den Strom an Pflanzensaft vor, der strudelnd unter der Rinde fließt, knapp an dem abgestorbenen Teil vorbeischießt, sich dann in den neuen Ast ergießt, der sich, vom eigenen Drängen erfunden, in den Raum hinausreckt.

Und an manchen abschüssigen Stellen, wo der Erdboden abgerutscht ist, liegen auch lebende Baumwurzeln frei auf nackten Felsschichtungen oder gänzlich außerhalb der Erde ins Leere hinausgestreckt. Große Bäume wachsen, an ihrem Fuß von einem Felsblock eingequetscht, hauchbreit über der Linie des Erdbodens und drehen ihre Wipfel in die Höhe. Kleine Baumstämme, einer neben dem nächsten gewachsen und schließlich von einem anderen Stamm einverleibt. Baumstämme, die wie Schlangen an anderen, größeren Baumstämmen emporwachsen und sich um ihre Äste winden. Und gleich daneben absterbende Bäume, erstickt von ihren Schösslingen oder von Efeugewölk und anderen Kletterpflanzen, die himmelwärts streben, um sie mit ihrer tödlichen Umarmung zu umfangen. Moose und Flechten heften sich mit ihren Schweißtüchern aus Samt und Glas an geneigt stehende Holzsäulen und große, zutage getretene Steine. Andere Fadengewächse wie trockene Lianen senken sich vom höchsten Astgewirr der Bäume in die Tiefe. Oder klettern von unten hinauf, wer kann das schon sagen, weil man nicht begreift, wo sie ihren Ursprung haben, ob im Erdboden oder in Baumwipfeln oder in keinem von beiden, weil es nicht nur Unten und Oben gibt. Vielleicht entstehen sie mittendrin, in der Luft, um dann als kleine Pflanzenstrukturen mit ihrem Begehr zu leben und mit ihrem Begehr zu sterben wild umher auszutreiben. Und dann gibt es dieses ganze grausame Unterholz und diese Tausenden und Abertausenden pflanzlichen Formen, die sich umschlingen und sich bekämpfen, schon von Anbeginn unter der Erdoberfläche, schon in den Tausenden und Abertausenden winzigen Würzelchen und in den Tausenden anderen, von ihrer chemischen Prallheit getriebenen, noch formlosen Formen, die dann mit ihren nackten, noch rindenfreien Körpern heergleich aus der Erde hervorbrechen, sich ihre ersten Maschinen zu Atmung und Austausch mit der Atmosphäre erfinden und in die Höhe zu steigen beginnen, in einem wütenden und stummen Formenwirrwarr, hervorgekeimt aus Samen, vom Wind herbeigeblasen, oder aus anderen Bomben, wie sie im faulenden Bauch der Welt nur so wimmeln und Anbeginn für ihren Kampf um den Aufstieg in die Höhe, ans Licht sind.

›Warum gibt es dieses ganze bösartige Unterholz?‹, frage ich mich. ›Das die größeren Bäume zu umschlingen, zu ersticken und zum Verschwinden zu bringen sucht? Warum nur diese ganze elende und verzweifelte Grausamkeit, die jedes Ding entstellt? Warum dieses ganze Gewühl von Körpern, die die anderen Körper mit ihren Tausenden und Abertausenden entfesselten Wurzeln auszudörren suchen und mit ihren kleinen, besessenen Saugköpfen an ihnen saugen, um die chemische Kraft auf sich umzulenken, um neue pflanzliche Fronten zu schaffen, imstande, alles zu vernichten, alles zu massakrieren? Wo kann ich nur hingehen, um dieses Gemetzel, diese nicht ausbesserbare und blinde Verzerrung, Leben genannt, nicht zu sehen?‹

 

 

4.

 

Heute habe ich eine Begegnung gehabt.

Am frühen Nachmittag nach dem Essen habe ich mir den Stock gegriffen und bin aus dem Haus gegangen. Bin durch die schmalen Straßen, über enge Treppenstufen und unter den kleinen nackten Torbögen dieser verlassenen Ortschaft hergegangen. Hier und da ragen aus den Schotterbettungen Steine heraus, die früher einmal als Stufen benutzt wurden, um zu den oben gelegenen, kleinen Gemüsegärten hinaufzugelangen, kalkgetränkte und halb abgerutschte Bretter, vergessene Blumentöpfe, heimgesucht vom erbarmungslosen Glaskraut, von anderen Blumen oder noch anderen vom Wind herbeigetriebenen Formen. An einer Stelle auf einer kleinen Mauer, wo der Wein gewesen sein musste, hängen immer noch große, unbestimmbare, mit Gemüsegewächsen gekreuzte Blätter, die sich an der Erde entlangziehen und mit ihren Pflanzenhaken auf der Suche nach Zugriff über den Rand hinausrecken. Nahebei liegt eine alte Badewanne aus Metall voller Erde, die früher einmal als Blumengefäß gedient haben musste und heute voller Brennnesseln und einem Gewirr erstickter Blumen steht.

Ich bin in einen gewundenen Weg eingebogen, der sich an der Schlucht entlangzieht und in der Mitte von kleinen Furchen durchkerbt ist, die sich das vom Berg abwärtsfließende Wasser dort gräbt. An den Seiten wachsen Hecken aus wirrem Brombeergesträuch, auf denen sich zornige Wespen niederlassen und auch kleine gelbe Schmetterlinge, die aus den Angeln geraten in den Himmel fliegen. Man sieht hier und da im Erdboden versunkene Teilstücke von Stacheldraht, niedergetrampelt von Wildschweinen auf ihren Wanderungen durch die Wälder, einstmals gezogen vor wer weiß wie langer Zeit, als die Ortschaft noch bewohnt war. Es gibt aber eine Stelle, an der sich der Raum weitet, eine kleine, etwas höher gelegene Lichtung am Wegesrand, zu der man hingelangen kann, wenn man über ein Stück niedergerissene Einzäunung aus Draht steigt. Von dort aus kann man sehen, wie gewaltig sich diese Pflanzenweite aus Bergen und Wäldern ausdehnt, in der, so weit das Auge reicht, kein Anzeichen auf menschliches Leben hindeutet. Es gibt jedoch auf der anderen Seite, genau auf der anderen Seite dieser Schlucht die Stelle, an der ich, wenn es dunkel wird, dieses kleine Licht aufscheinen sehe.

Ich habe es lange Zeit betrachtet. Habe diese kleine hellere Oberfläche, vielleicht der kantige First eines von allen Seiten vom Wald erdrückten Steinhauses, beobachtet.

›Wer weiß, ob da jemand lebt?‹, habe ich mich erneut gefragt und meinen Spaziergang den Weg entlang wieder aufgenommen.

Doch nirgends auch nur die Spur von einer Straße, die dort hinführte. Trotzdem, wer weiß, ob es nicht doch wenigstens einen Weg gibt, der mitten durch den dichten Wald führt und den man von hier aus nur nicht sehen kann. Es ist nicht ausgeschlossen. Von dieser Seite der Schlucht her begreift man es nicht, aber vielleicht wohnt dort jemand, wer kann das schon sagen … Einmal zum Beispiel habe ich in eine kleine Ortschaft fahren wollen, knapp zwanzig Kilometer von hier, in der ich noch nie gewesen war. Dort wohnt ein einziger Mensch, ein pensionierter Militär, so hatte man mir zumindest weiter unten in einem bewohnten Dorf erzählt, in das ich ab und zu fahre, um Essen einzukaufen, mit dem Auto, das ich in einem verlassenen Stall am Ortseingang unterstelle.

Ich war langsam über die Reste des von Regen und Schnee aufgerissenen und abgerutschten Straßenpflasters dort auf einem kleinen Platz unterhalb einer verfallenen Kirche angekommen. Ich hatte angehalten und mich mit noch laufendem Motor umgesehen. Eine Sekunde später war eine wütende Meute wild bellender Hunde von irgendwoher aus dem Ort hervorgeprescht. Sie hatten sich auf das Auto gestürzt. Hoch erhoben auf ihren Hinterpfoten schlugen sie gegen die Türen. Ich hörte, wie ihre großen Krallen gegen die Karosserie und die Seitenfenster hämmerten, rundum sah ich in ihre entstellten Köpfe, die bellten, bis ihnen die Luft wegblieb, sah auf ihre geifernden Gebisse und Zungen. Umzingelt von den Hunden und den Massen an wutentbrannten Muskeln, die sich von allen Seiten gegen das Auto stemmten, konnte ich es unmöglich öffnen. Ich hatte nicht einmal aussteigen können. Ich hatte den Gang wieder eingelegt und begonnen, langsam anzufahren, um mir Bahn zu brechen durch all diese wild tobenden Bestien, die mich unausgesetzt angesprungen, auch auf die Motorhaube gesprungen waren, um mit der Schnauze bis an die Windschutzscheibe zu gelangen, ja bis auf das Dach, als ob sie irgendjemand irgendwo von oben eben auf mich hetzte und dabei in Kauf nähme, dass sie von den langsam durch das Gewirr aus Pfoten und Zähne fletschenden Köpfen hindurchfahrenden Reifen zerquetscht würden, während der einzige Bewohner der verlassenen, zerfallenen Ortschaft womöglich unsichtbar irgendwo unter einem Torbogen oder hinter irgendeinem Fenster gestanden und seinen wilden Bestien zugesehen hatte, wie sie den anderen Menschen bei dessen Versuch, in sein Gebiet einzudringen, umlagerten und dann in die Flucht trieben.

Der Weg führte leicht abwärts. Ich schritt aus und wirbelte ab und zu mit meinem Stock über Kopf und Schultern, um die Insekten und Bremsen abzuwehren, die um diesen einzig in ihrer Welt lebenden und sich bewegenden Menschen schwirrten. Der Stock, den ich eines Tages an einem Baum lehnend gefunden hatte, ist ein wenig krumm, aus Kirschholz, scheint mir. Jemand musste ihn wer weiß wann bearbeitet haben, ihn mit dem Messer vollständig bis auf ein Teilstück oben am Griff entrindet haben.

Mit einem Mal habe ich nach einer im Schatten liegenden Kurve, in der die Pfützen noch nicht ganz verdunstet waren, vor mir mitten auf dem Weg einen massigen dunklen Hund still, reglos sitzen und auf mich warten gesehen.

Wie vom Blitz getroffen bin ich stehen geblieben.

Der Hund sah mich schweigend an und versperrte mir unverändert den Weg. Er musste meine Schritte schon von Weitem gehört haben und hatte sich so dorthin postiert, um auf mich zu warten.

Ich sah ihn ebenfalls schweigend, ohne mich zu rühren, mit angehaltenem Atem an, umso begründeter, als ich in dem wuchtigen Tier eine der Hunderassen erkannt hatte, die für Wettkämpfe gezüchtet werden, einen Rottweiler.

Ich konnte nicht weitergehen, weil der Hund mir den Weg versperrte und immerzu schweigend seinen Blick auf mich gerichtet hielt. Ich konnte ihn auch nicht mit dem Stock fortjagen, weil ich nicht wusste, welche Reaktionen meine gewalttätige Geste auslösen würde.

Also habe ich auf dem Absatz kehrt gemacht und bin den Weg in umgekehrter Richtung wieder losgegangen. Ohne meine Schritte zu sehr zu beschleunigen, um nicht den Eindruck zu vermitteln, dass ich etwa flüchtete, und damit seine Angriffslust anzufachen. Allerdings auch ohne zu langsam zu gehen, denn ich befand mich weit von zu Hause entfernt, war allein und dem Hund ausgeliefert.

Ich bin die ersten Schritte gegangen, ohne mich umzudrehen. Ich hörte keine Geräusche hinter mir. Vielleicht war der Hund dort sitzen geblieben, still, reglos, mitten auf dem Weg, den er mir versperrt hatte, und sah aus den schwarzen Augenflecken mitten in seinem schrecklichen, massigen Kopf meinem kleiner werdenden Rücken nach.

Eine Weile später jedoch, als ich bereits die Kurve entlangging und schon glaubte, ihn abgehängt zu haben, begann ich hinter mir ein leichtes, rhythmisches Geräusch wahrzunehmen.

Ich habe meinen Kopf unmerklich umgewandt.

Der Hund folgte mir.

Er ging langsam, vollkommen schweigend. Ich spürte seinen schweren Atem hinter mir.

Ich habe meinen Weg weiter fortgesetzt und meine Gangart dabei etwas verschärft, ohne allerdings den Eindruck zu erwecken, dass ich es tat. Der Hund war ständig hinter mir, ich spürte ihn an seinem schweren Atem, ich sah ihn, wenn ich den Kopf umwandte. Bis nach Hause dauerte es mindestens eine halbe Stunde, und ich ging immer noch mit dem großen Kampfhund, der mir in dieser unermesslichen, unabsehbar sich weitenden pflanzengrünen Einsamkeit schweigend folgte.

›Wer weiß, warum er da mitten auf dem Weg saß und auf mich wartete?‹, fragte ich mich. ›Wer weiß, warum er mir jetzt folgt? Wer weiß, warum er nicht den leisesten Ton von sich gibt, nicht bellt, mir mit seinen schweren Schritten in vollkommenem Schweigen einfach nur folgt? Was mag er wohl in seinem großen, rätselhaften, schrecklichen Kopf gerade denken?‹

Ich fragte mich das umso mehr, als ich wusste, wie sich diese Hunde verhalten. Ich hatte es vor Jahren in der Zeitung gelesen, anlässlich von Überfällen auf Männer, Frauen und Kinder, die angegriffen und zu Tode gebissen oder durch Bisse entstellt worden waren. Sie bellen nicht, geben kein Zeichen der Erregung, unerklärlich, was ihnen durch den Kopf geht. Dann, mit einem Mal, springen sie dich an, schlagen ihre Zähne in deine Hände, deine Arme, in die Kehle, ins Gesicht, zermalmen dein Fleisch, deine Knochen mit ihren Zähnen. Sie lassen nicht ab, bis sie dich zerrissen haben oder jemand anders ihnen mit prasselnden Stockschlägen auf den Kopf Einhalt gebietet.

Aber dort gab es niemanden.

Und so ging ich schweigend mit dem massigen, schrecklichen Hund hinter mir weiter. Ich wandte mich ab und zu unmerklich zur Seite. Der Hund war unverändert da, im selben Abstand hinter mir. Er folgte mir immer weiter, unaufhaltsam mit seinem schweren, ein wenig torkelnden Schritt.

Als ich mich in einer engen Kurve etwas länger umwandte, habe ich ihn mit einem Mal besser, nicht nur seinen riesigen, stummen Kopf, sondern auch seinen wuchtigen, muskulösen Körper von der Seite und zur Gänze sehen können.

Seine Beine waren krumm, sehr krumm – noch irgendetwas, schien mir, außer krumm …

Mir stockte der Atem.

›Alle vier Pfoten sind gebrochen‹, habe ich schlagartig begriffen. ›Er kommt vermutlich aus einem der bewohnten Dörfer weiter unten, einer von den grausamen Hunden, die sie dort als Wachhunde abstellen, damit sich nur keiner an ihr Haus heranwage. Irgendjemand wird ihm mit einem Spaten die Pfoten zertrümmert haben, nachdem er vielleicht einen Mann, eine Frau, ein Kind angefallen hat. Er wird sich auf seinen zertrümmerten Pfoten bis hier hinaufgeschleppt haben, wo es keine Menschenseele gibt, um seine Spuren zu verwischen.‹

Als ich meinen Kopf nun etwas länger so umgewandt hielt, schien mir, an einer der Hinterpfoten des Hundes tatsächlich die Spitze eines Knochens zu erkennen, der ein wenig aus der Haut herausragte, sowie die Pfote kreiste, um den Schritt auszuführen. Während aus den anderen dreien nichts heraustrat, als ob die Knochen dort inzwischen wieder so weit zusammengewachsen wären, dass sie ihn irgendwie aufrecht halten konnten.

Ich wusste nicht, was tun, ich wusste nicht, ob ich weitergehen oder stehen bleiben sollte, um den Kopf des verletzten Tieres zu streicheln. Doch sein vollkommenes Schweigen ängstigte mich. Kein Winseln, kein Jaulen, nicht der geringste Laut drang aus dem Körper des misshandelten Tieres. Nur das tiefe, raue Atmen, während er mir auf seinen zertrümmerten Pfoten weiterhin folgte. Ich wusste nicht, was passieren würde, wenn ich mich seinem Kopf, seinem Maul voller Geifer und Zähne mit meiner Hand genähert hätte. Was in seinem Kopf gerade vor sich ging. In seiner stummen Wut, in seinem Hass hätte er womöglich angenommen, ich würde auch nur näherkommen, um ihm Schmerzen zuzufügen. Und er hätte mich in seiner Verzweiflung, in seinem Leid mit seinen Zähnen gepackt.

So bin ich mit dem großen misshandelten Hund hinter mir eine gute halbe Stunde weiter durch die ungeheure, pflanzengrüne Einsamkeit gegangen. Wenn ich unerwartet auf ansteigende oder kurz darauf steil abschüssige Wegstrecken stieß, würde der Hund, so dachte ich, mir nicht folgen können, weil sein Körper zu schwer wog, um über solche Höhenunterschiede weiterhin auf den gebrochenen Pfoten aufzuliegen. Trotzdem wich er mir nicht von den Fersen, er war ständig da, ohne ein Winseln, ohne einen Ton, immerzu im gleichen Abstand, unaufhaltsam wie eine Maschine.

›Wie vermag er nur, so lange Zeit auf seinen gebrochenen Knochen zu gehen?‹, fragte ich mich. ›Wie kann es sein, dass nicht ein Laut aus seinem derart schmerzgepeinigten, gequälten Körper dringt?‹

Manchmal hörte ich das Geräusch seiner Schritte nicht mehr hinter mir. ›Er kann nicht mehr!‹, sagte ich mir. ›Er wird stehen geblieben sein.‹ Doch nur wenige Sekunden später, nachdem ich eine Kurve hinter mir gelassen hatte, tauchte sein torkelnder Körper wieder auf, sahen mich die Augen in seinem geifernden Kopf wieder unverwandt an.

Eine Weile später habe ich plötzlich von hinten etwas gegen meine Beine drücken gespürt. Es war der Kopf des Hundes, der wegen der stärkeren Neigung einer abschüssigen Strecke seine Gangart beschleunigt hatte und mit seinem nassen Maul schließlich an mich gestoßen war.

Ich bin noch etwas schneller gegangen, ich spannte die Muskulatur im gesamten Körper, nicht nur der Beine, noch stärker an, ohne den Eindruck zu vermitteln, dass ich es tat, um seine unterdrückte Wut nicht auszulösen – nur wenig entfernt von den mächtigen Muskelpaketen des anderen Körpers, von seinen Schultern, seinem Hals, seinen großen Pfoten, die die gebrochenen Knochen eng umschlossen und zusammenhielten und so daran hinderten, nach außen zu treten.

Ich habe die kleine Ortschaft endlich erreicht. Ich bin die verlassene Straße noch ein wenig entlanggegangen und hörte hinter mir das unaufhaltsame Geräusch seiner Schritte und seiner großen Krallen, die gegen die Steine tickten. Als ich vor meinem kleinen Haus stehen geblieben bin, habe ich, während ich die Gattertür aufschloss, gehört, dass auch der Hund angehalten hatte. Er hatte sich hinter mir auf die Erde gesetzt, in der Erwartung, mit hineinzugehen.

Daraufhin bin ich noch ein paar Schritte weitergegangen. Der Hund ist mir wieder stumm hinterhergelaufen. Dann bin ich mit einem Ruck zurückgerannt. Unsere Blicke haben sich gekreuzt, während ich die bereits geöffnete Gattertür erreichte, dort eintrat und sie hinter mir zuschloss.

Auch der Hund ist zurückgelaufen. Er hat sich auf der anderen Seite der Gattertür wieder auf die Erde gesetzt. Er sah mich schweigend, ohne zu heulen, stumm aus den schwarzen Augenflecken in dem massigen, muskulösen Kopf voller Knochen und Zähne an.

›Jetzt wird er da draußen sitzen bleiben und mich belagern‹, habe ich sinniert. ›Er wird sich dort nicht fortrühren, bis ich die Gattertür wieder öffne, um dann in mein Haus einzudringen.‹

Doch als ich in der Nacht das Haus für einen Rundgang im Dunkeln wieder verlassen habe, war der Hund nicht mehr da.

 

 

5.

 

Manchmal bleibe ich stehen, um mit den Tieren, den Insekten, den Bäumen, mit all den pflanzlichen Mächten zu sprechen, von denen es überall der Horizontlinie entlang nur so wimmelt.

Mit Wespen, die sich erbost in die Wunden an den Feigenbäumen faulender Feigen stürzen und ihre geschnäbelten Köpfe in die aufgeplatzten Spalten voll dahinwesender Samenkerne und Säfte bohren. Als ich eines Tages sehr nah, vielleicht zu nah herankam, hat mich eine Wespe in die Hand gestochen. Ich habe schmerzhaft das Eindringen ihres Stachels in das zarte Fleisch an einer Innenseite zwischen den Fingern gespürt.

»Warum seid ihr nur immer so gereizt?«, frage ich. »Warum stürzt ihr euch so kopfüber ins Fleisch nicht geernteter Früchte, die an den Bäumen an diesem verlassenen und weltfernen Ort verfaulen? Sodass ich manchmal, wenn ich eine Feige aufreiße, um sie zu essen, auf eine von euch stoße, die glitschig, zornwütig aus abgestorbenen Flüssigkeiten und Säften hervorkriecht, in denen sie eben noch schwelgte. Wo lebt ihr, wohin fliegt ihr zum Schlafen? Was geht tagsüber und nachts in euren wild brausenden Nestern vor?«

Doch sie antworten mir nicht.

Mit den widerlichen Kröten, wenn ich eine, reglos, halb unter einem Erdschleier vergraben, der dicke Körper über und über mit Larven bedeckt, an einer Stelle entdecke, an der es früher einen Gemüsegarten gegeben haben muss, weil sich dort immer noch Knotiges und pflanzliches Gewirr entlangschlängeln, die unkenntliche Gemüsefrüchte ins Leben bringen.

»Was für ein Leben führt ihr nur?«, frage ich sie. »Vergraben in der Erde mit eurem Vorrat an fetten Larven, an denen ihr euch dort unten im Dunkeln vollstopft, der Körper wie ein weicher Schlauch, der von Erde und vom Dunkel allseits umschlossen dicker und dicker wird.«

Doch sie antworten mir nicht.

Mit den Luftwurzeln, die sich hier und da breit machen und alles abfangen, was ihnen dort oben in die Fänge gerät, faulige Blätter, Staub, Sporen, die blind durch die Luft fliegen, vielleicht auch winzig kleine geflügelte Insektenkörperchen voller Beine und Antennen. Sie wandeln sie in Nahrung für eine Pflanze um, die manches Mal noch nicht vorhanden ist, die es noch nicht gibt, die sie noch nicht erfunden haben.

»Warum seid ihr dort oben und nicht auf der Erde gewachsen?«, frage ich, schreie ich, damit sie mich dort oben hören, in dieser schweigenden, pflanzengrünen Weite, die das Echo meiner Stimme zurückwirft. »Habt ihr wirklich von Anfang an dort oben zu wachsen begonnen oder wart ihr wie alle anderen Wurzeln auch in der Erde und habt dann wer weiß aus welchem Grund begonnen, euch immer weiter in die Höhe zu bewegen, bis ihr euch unmittelbar im Raum festgesetzt habt? Oder seid ihr von oben, aus dem Raum herabgeklettert, wo es vielleicht winzig kleine Würzelchen gibt, die wie ein unsichtbarer Regen vom Himmel herabsinken, bis eines von ihnen einen Pflanzenwipfel erhascht, und in dem Augenblick wächst es dort an, beginnt, von dort oben alles aufzusaugen, was ihm in die Fänge gerät, bevor es sich dann wieder daran macht, immer weiter zur Erde herabzuklettern und dann in das Erdreich unter der Horizontlinie, in diese von tausend anderen wilden Wurzeln und winzigen, augenlosen, alles verschlingenden Tieren durchnässte Masse einzudringen und dann langsam und allmählich an den gequälten Baumstämmen, an ihren geschundenen Rinden entlang erneut hinauf in die Höhe zu klettern, immer weiter in die Höhe bis unter den Himmel?«

Doch sie antworten mir nicht.

Die Schwalben dagegen, ja, sie antworten mir.

Wenn ich manchmal sehe, wie sie pfeilgleich über der Engstelle der schmalen Straße, dort, wo die beiden Steinwannen voller Wasser stehen, von oben im Sturzflug entfesselt in die Tiefe schießen, haarscharf vorbei, unfassbar schnell, hauchbreit über dem Straßenpflaster, dann knapp über den Wannen dahinjagen, um in dem kurzen Augenblick ein wenig Wasser mit dem Schnabel zu schnappen, weil sie ihren Flug nicht unterbrechen und sich nicht auf die Erde setzen können, dann schwenke ich ihnen in dem weltentlegenen Ort meine Arme entgegen und schreie:

»Ihr seid ja verrückt!«

»Ja, ja, wir sind verrückt!«, antworten mir die kleinen Viecher außer sich, ohne Unterlass hauchbreit über dem Pflaster der kleinen Straße und der Wasseroberfläche pfeilschnell dahinschießend, schreiend.

Ich fange an zu lachen, innerlich erregt, allein.

»Gibt es keinen Psychiater für Schwalben?«

»Doch, gibt es, aber der ist auch verrückt!«

»Aber wie behandelt er euch dann?«

»So!«, antworten sie mir und werfen sich kopfüber hinunter auf das Wasser und wieder noch höher hinauf, in den Himmel, haarscharf mit ihren Flügeln und Schnäbeln an meinen Schläfen und Augen vorbei.

Wenn die Sonne dann hinter dem Berggrat verschwindet und es dunkel zu werden beginnt und diese ganze Pflanzenwelt unsichtbar und schwarz wird wie ein nächtlicher Schwamm, geht jede Nacht dort hinten auf der anderen Seite, jede Nacht immer zur gleichen Zeit plötzlich das kleine Licht an.

 

 

6.

 

Vorhin, wie ich im Bett und fest im ersten Tiefschlaf lag, bin ich vom Erdbeben geweckt worden.

Es kommt oft vor, weil diese Gegend hier Erdbebengebiet ist. Manchmal werde ich nicht einmal richtig wach, doch selbst im Schlaf oder im Halbschlaf spüre ich noch das Beben, das bis hier herauf an die Oberfläche dringt, aus den unterirdischen Erdrutschen der Verwerfungen, die das Bett, auf dem ich ausgestreckt liege, erzittern lassen, die Mauern des Hauses, des Zimmers, die wenigen Möbel hier drinnen, die ganze unbewohnte kleine Ortschaft, in der ich lebe, und ebenso die Erdoberfläche, die Bäume, die Tiere in ihren tief in die Erde gegrabenen Löchern, die schweigend auf Beutesuche umherstreifenden Nachttiere und vielleicht auch die am Himmel kreisenden Flugtiere, die mit ihren runden Augen die dunkle Erde auf Ausschau nach etwas Lebendigem absuchen und vielleicht von dort oben das Zittern des Himmels spüren.

Manchmal, wenn die Erschütterungen stärker sind, stehe ich auf, gehe auf nackten Füßen hinaus und laufe so durch die kleine bebende Ortschaft bis zu einer verbreiterten Stelle nicht weit von meinem Haus. Ich blicke umher, um zu sehen, ob die verfallenen Häuser noch stehen oder ob sie eingestürzt sind. Morgens, wenn es wieder hell ist, finde ich hier und da mitten auf den schmalen Steinstraßen zerbrochene Schindeln, die von den eingefallenen Dächern einiger Ruinen herabgefallen sind. Ich gehe durch mein kleines Haus und sehe mir die Wände an, um zu prüfen, ob Risse entstanden sind, denn es erscheint mir unmöglich, dass seinem Grundgerüst, nachdem es einer Reihe solch zahlreicher Erdstöße ausgesetzt war, nichts passiert ist. Ich steige die Sprossenleiter hinauf auf das Dach, rücke die Schindeln wieder zurecht, die entweder durch das Erdbeben oder durch all die scharrenden Vögel und die vierbeinigen Tiere verrutscht sind, die nachts in den Hohlraum zwischen der Decke meines Zimmers und dem Hausdach eindringen und die ich über meinem Kopf umherspazieren höre, wenn ich im Halbschlaf liege oder mit offenen Augen ins Dunkel starre.

Andere Male, wenn ich schon im ersten Schlaf liege und es mir nicht gelingt, richtig wach zu werden, stehe ich gar nicht auf. Ich spüre dann nur die aufeinanderfolgenden Erschütterungen des Erdbebens, den Schwindel, das Gefühl von Übelkeit und die leichte Ohnmacht, die sie in meinem zwischen Schlafen und Wachen daliegenden Körper verursachen, während alles um mich herum bebt und in der Tiefe riesige, dunkle Massen, Erdwände, Marmorwände übereinander einstürzen.

Heute Nacht bin ich aufgestanden. Ich habe überprüft, ob an den Wänden und in der Nähe der Türen nicht doch Risse entstanden sind. Ich habe auch in dem kleinen Keller nachgesehen, der unter einem großen Gewölbe liegt, in dem ich mein Brennholz stapele. Dann bin ich mit einer Decke um die Schultern, weil es nachts kalt ist, obwohl wir Sommer haben, hierhergekommen und habe mich gegenüber der niedrigen Steinbalustrade, die dem Steilhang zugewandt ist, auf diesen Stuhl aus Eisen mit seinen dünnen Beinen gesetzt, die sich immer tiefer in die Erde bohren. Ehe ich aus dem Haus getreten bin, habe ich mir noch ein altes Fernglas gegriffen, das ich mir bis hier heraus mitgebracht habe, aber nie benutze, weil es hier nichts zu sehen gibt, nur diese undurchdringliche Weite des Pflanzenschaums, der, wohin das Auge reicht, die Welt bedeckt.

Ich richte es auf das kleine Licht. Reguliere das leicht ausgeleierte Rad, um es scharf zu stellen, denn das kleine Licht scheint sich auszudehnen und zusammenzuziehen, als ob ich es von der anderen Seite einer Wasseroberfläche sähe. Es gelingt mir aber nicht, klar zu sehen, vielleicht wegen meiner Wimpern, die über die Gläser wischen, vielleicht auch, weil auf meinen schlaftrunkenen Augen noch der flüssige Schleier liegt, der Umrisse verformt und Lichter aufflammen lässt. Unbegreiflich, um welches Licht es sich handeln mag, noch unbegreiflicher, als wenn man es mit bloßem Auge betrachtet. Unbegreiflich, ob das Licht durch ein Fenster fällt oder eine an einem Kabel niedrig hängende Straßenlaterne ist. Und doch scheint es immer eindringlicher zu leuchten, scheinbar zu flackern.

›Was mag das nur für ein kleines Licht sein?‹, frage ich mich wieder. ›Warum scheint es in manchen Augenblicken größer, eindringlicher zu sein, und gleich darauf verschwindend klein zu werden? Ob es etwas anderes ist? Ob es irgendein Lichtschein ist, den erdmagnetische Vorgänge auslösen?‹

Nicht ein Ton ist zu hören, nicht ein Laut von einem Nachttier der Erde, der Luft. Sie müssen alle wer weiß wo reglos, versteinert dasitzen, nachdem das Erdbeben die Erde unter ihren Pfoten und den Himmel über ihren Flügeln hat erbeben lassen.

›Ich muss dort hinfahren …‹, sage ich mir erneut und betrachte mit der Decke über meinen Schultern das kleine Licht. ›Es wird doch wohl irgendeine Straße, eine schmale Landstraße geben, um dort oben hinzugelangen!‹

 

 

7.

 

Heute Morgen habe ich das Auto aus dem Stall geholt. Ich bin eine um die andere Kehre abwärts zum nächstgelegenen Dorf gefahren, zu dem ich einmal wöchentlich aufbreche, um mir etwas zum Essen zu kaufen. Entlang der schmalen, in Serpentinen sich abwärtsschlängelnden, verlassenen Straße tauchen hier und da die Gerippe unbewohnter Häuser mit ihren geschlossenen, zerfallenen Holzfensterläden auf und verengen die Fahrbahn. Dann, ein wenig weiter, die ersten Anzeichen von Leben, ein Hund, eingerollt vor einer Tür, der dem vorbeifahrenden Auto mit einem offenen und einem geschlossenen Auge hinterhersieht, ein alter Mann, der in einem Gemüsegarten arbeitet, kleine Herden rabenschwarzer Schafe oder Ziegen, die auf einer steil abschüssigen Wiese weiden, eine Stute mit ihrem Füllen, die beim Geräusch des Autos beide ihr Grasen unterbrechen, die Köpfe heben und mit den Schwänzen schlagen.

Ich habe das Dorf erreicht, habe das Auto geparkt. Bin in den kleinen Laden gegangen, der Sachen zum Essen und Trinken, landwirtschaftliche Geräte, Eisenwaren, Saatgut, Zeitungen verkauft … Hier stinkt es zum Ersticken nach Katzen, weil die Alte, die den Laden führt, streunende Katzen aufnimmt. Sie schlafen hier und da hingekauert auf den Saatgutsäcken und anderen Waren oder streichen den wenigen Kunden um die Beine.

Ein paar Männer befanden vor dem Kauf über einen Spaten. Ein weiterer, etwas jüngerer Mann, fettleibig, blond, mit langem, krausem Bart und Haar stand in einer Art Uniform mit Leuchtstreifen lächelnd, untätig, ohne etwas zu kaufen, in einer Ecke. Vielleicht war es der blöde Sohn oder Neffe der Alten und vertrieb sich dort die Zeit.

Während ich am Tisch noch die von mir gekauften Waren in zwei Plastiktüten verstaute, habe ich mit lauter Stimme, damit mich auch die anderen Kunden hörten, einzuwerfen versucht, ob zufällig jemand auf dem Bergkamm wohne, auf dem ich nachts das kleine Licht sähe.

Sie haben sich sofort für die Sache interessiert. Sie haben sich genau erklären lassen, wo diese Stelle wäre. Ich habe versucht, es so gut ich konnte zu tun, denn von dem Dorf aus, in dem ich mich befand, sah man diese Stelle nicht, ich konnte nicht aus der Ladentür treten und sie zeigen. Ich habe versucht, ihnen verständlich zu machen, welche Schlucht und welche Stelle auf dem Bergkamm es wären, von denen ich gerade sprach.

»Wohnt denn jemand dort?«, hat einer der beiden Kunden kopfschüttelnd gefragt.

»Nie davon gehört! Dort gibt es nur Wald!«, hat der andere geantwortet und den Spaten wiede rin Augenschein genommen, den er wie eine Lanze in die Höhe hielt.