image1
Logo

Der Autor

Images

Frank Matakas, Prof. Dr. med. Geboren in Köln. Studium der Medizin, Philosophie, Mathematik in Köln, Hamburg, Heidelberg. Habilitation für Neuropathologie an der FU Berlin.

Facharzt für Psychiatrie, psychosomatische Medizin, Psychoanalyse. 30 Jahre lang Leiter der psychiatrischen Klinik Alteburger Straße in Köln. Die Klinik hat einen Versorgungsauftrag für das Stadtgebiet und wurde in allen therapeutischen Bereichen nach psychodynamischen Grundsätzen organisiert.

Forschung über schwere Depression und Schizophrenie. Jetzt tätig in eigener Praxis.

Frank Matakas

Psychodynamik der Schizophrenie

Symptomatik, Entwicklung, Therapie, Bedeutung

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Pharmakologische Daten, d. h. u. a. Angaben von Medikamenten, ihren Dosierungen und Applikationen, verändern sich fortlaufend durch klinische Erfahrung, pharmakologische Forschung und Änderung von Produktionsverfahren. Verlag und Autor haben große Sorgfalt darauf gelegt, dass alle in diesem Buch gemachten Angaben dem derzeitigen Wissensstand entsprechen. Da jedoch die Medizin als Wissenschaft ständig im Fluss ist, da menschliche Irrtümer und Druckfehler nie völlig auszuschließen sind, können Verlag und Autor hierfür jedoch keine Gewähr und Haftung übernehmen. Jeder Benutzer ist daher dringend angehalten, die gemachten Angaben, insbesondere in Hinsicht auf Arzneimittelnamen, enthaltene Wirkstoffe, spezifische Anwendungsbereiche und Dosierungen anhand des Medikamentenbeipackzettels und der entsprechenden Fachinformationen zu überprüfen und in eigener Verantwortung im Bereich der Patientenversorgung zu handeln. Aufgrund der Auswahl häufig angewendeter Arzneimittel besteht kein Anspruch auf Vollständigkeit.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.

Dieses Werk enthält Hinweise/Links zu externen Websites Dritter, auf deren Inhalt der Verlag keinen Einfluss hat und die der Haftung der jeweiligen Seitenanbieter oder -betreiber unterliegen. Zum Zeitpunkt der Verlinkung wurden die externen Websites auf mögliche Rechtsverstöße überprüft und dabei keine Rechtsverletzung festgestellt. Ohne konkrete Hinweise auf eine solche Rechtsverletzung ist eine permanente inhaltliche Kontrolle der verlinkten Seiten nicht zumutbar. Sollten jedoch Rechtsverletzungen bekannt werden, werden die betroffenen externen Links soweit möglich unverzüglich entfernt.

1. Auflage 2020

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-036616-9

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-036617-6

epub:    ISBN 978-3-17-036618-3

mobi:    ISBN 978-3-17-036619-0

Inhalt

 

 

 

  1. Einleitung: Inhalt und Absicht dieses Buches sowie Untersuchungsmethode
  2. Die Schizophrenie
  3. Was heißt Psychodynamik?
  4. Zur Rolle des Psychiaters
  5. Und wie ist es mit den Beweisen und der Wahrheit?
  6. Die gesellschaftliche Dimension
  7. 1   Symptome und Erscheinungsweisen
  8. 1.1   Psychotische Symptome
  9. 1.1.1   Versuch einer Definition
  10. 1.1.2   Kommunikative Bedeutung
  11. 1.1.3   Interaktive Bedeutung
  12. 1.1.4   Der Abwehrcharakter
  13. 1.1.5   Gibt es einen ökonomischen Gewinn des psychotischen Symptoms?
  14. 1.1.6   Soziale Bedeutung
  15. 1.1.7   Soziale Abwehr
  16. 1.2   Symptome im Einzelnen
  17. 1.2.1   Wahn
  18. 1.2.2   Der Wahn im Sozialen
  19. 1.2.3   Akustische Halluzinationen
  20. 1.2.4   Andere psychotische Symptome
  21. 1.2.5   Alkohol und Drogen
  22. 1.2.6   Suizidalität
  23. 1.2.7   Gewaltsamkeit
  24. 1.3   Integration und Ichgrenze
  25. 1.3.1   Desintegration in der Psychose
  26. 1.3.2   Ichgrenze
  27. 1.3.3   Die Vorstellung von dem Anderen
  28. 1.4   Ichfunktionen
  29. 1.4.1   Fallbeispiel akute Psychose
  30. 1.4.2   Fallbeispiel chronische Psychose
  31. 1.5   Die soziale Entwicklung
  32. 1.5.1   Persönlichkeitsentwicklung vor Manifestation der psychotischen Erkrankung
  33. 1.5.2   Die gesellschaftliche Dimension
  34. 1.5.3   Soziale Entwicklung, Familie und Gesellschaft
  35. 1.5.4   Vier Lebensläufe
  36. 2   Entstehung und Struktur der schizophrenen Psychose
  37. 2.1   Kommunikation und psychische Entwicklung
  38. 2.1.1   Verwirrende Kommunikation
  39. 2.1.2   Die Entwicklungsaufgabe des Kindes
  40. 2.1.3   Die Rolle der Mutter
  41. 2.1.4   Die Bezogenheit von Mutter und Kind
  42. 2.1.5   Frühe projektive Identifizierung
  43. 2.1.6   Verbale Kommunikation
  44. 2.1.7   Sprache
  45. 2.1.8   Die Welt
  46. 2.1.9   Familie und Gesellschaft
  47. 2.1.10   Identität und Gesellschaft
  48. 2.2   Familie und psychische Entwicklung
  49. 2.2.1   Untersuchungen zur Familienkonstellation psychotischer Menschen
  50. 2.2.2   Zur Frage der organischen Verursachung
  51. 2.2.3   Misslingende Ichbildung – die schizophrene Störung
  52. 2.2.4   Projektive Identifizierung als Ursache von Verwirrung
  53. 2.2.5   Das »Nebenich«
  54. 2.2.6   Konkurrierende Ichorganisation
  55. 2.2.7   Das Schicksal der Beziehung zu den Eltern
  56. 2.2.8   Parentifikation
  57. 2.2.9   Ist die Familie schuld?
  58. 2.2.10   Interaktion Familie und Gesellschaft
  59. 2.3   Klinische Formen der schizophrenen Störung
  60. 2.3.1   Das Prozesshafte der Schizophrenie
  61. 2.3.2   Die exogene Psychose
  62. 2.3.3   Paranoia, wahnhafte Störung
  63. 2.3.4   Paranoia und Identität, paranoide Führer
  64. 2.3.5   Schizotype Störung, akute vorübergehende psychotische Störungen
  65. 2.3.6   Psychotische Depression
  66. 2.4   Freud und Melanie Klein
  67. 2.4.1   Freuds Theorie der Paranoia und was Schreber sagen wollte
  68. 2.4.2   Melanie Klein und der psychotische Kern des Menschen
  69. 3   Therapie
  70. 3.1   Psychotherapie
  71. 3.1.1   Warum Psychotherapie?
  72. 3.1.2   Kann Psychotherapie schaden?
  73. 3.1.3   Womit fängt Psychotherapie an?
  74. 3.1.4   Leiden und Widerstand der Familie
  75. 3.1.5   Wie der Familie helfen?
  76. 3.1.6   Fokus der Therapie
  77. 3.1.7   Wie intervenieren?
  78. 3.1.8   Verstehen und verstanden werden
  79. 3.1.9   Den psychotischen Menschen verstehen
  80. 3.1.10   Was ist Beziehung?
  81. 3.1.11   Handlung als Antwort
  82. 3.1.12   Klären und Erklären
  83. 3.1.13   Behandlung der Suizidalität
  84. 3.1.14   Therapeutische Grundsätze bei Gewaltsamkeit des Patienten
  85. 3.1.15   Zum Ausgang der Therapie
  86. 3.2   Ambulante Therapie
  87. 3.2.1   Das Setting
  88. 3.2.2   Die Beziehung zum Therapeuten, Übertragung
  89. 3.2.3   Ambulante Gruppentherapie
  90. 3.2.4   Drei Beispiele einer ambulanten Therapie
  91. 3.3   Stationäre Behandlung
  92. 3.3.1   Zur Geschichte der stationären Behandlung
  93. 3.3.2   »Schlangengrube«
  94. 3.3.3   Totale Institution
  95. 3.3.4   Projektive Identifizierung in der Institution
  96. 3.3.5   Therapeutische Gemeinschaft
  97. 3.3.6   Wie soll eine psychiatrische Station strukturiert sein? Ein paar einfache Regeln
  98. 3.3.7   Psychotherapie im stationären Setting
  99. 3.3.8   Die Ängste in der Psychiatrie
  100. 3.4   Tagesklinische Behandlung
  101. 3.4.1   Die Tagesklinik als soziales Übungsfeld
  102. 3.4.2   Öffentlicher Raum vs. privater Raum
  103. 3.4.3   Die identitätsbildende Wirkung von Gruppen
  104. 3.4.4   Das Heilsame der Gruppe
  105. 3.5   Verhaltenstherapie
  106. 3.6   Zu einer Psychologie der Antipsychotika
  107. 3.6.1   Wirkung
  108. 3.6.2   Nebenwirkungen
  109. 3.6.3   Dosierung
  110. Literatur
  111. Stichwortverzeichnis

Einleitung: Inhalt und Absicht dieses Buches sowie Untersuchungsmethode

 

 

Die Schizophrenie

Dieses Buch handelt von der schizophrenen Psychose und versucht doch, darüber hinauszugehen. Wie oft in der Wissenschaft geben Abweichungen von dem, was wir als normal kennen, Einblicke in eben das Normale, die wir anders nicht bekommen können.

Die Schizophrenie ist dadurch gekennzeichnet, dass eine elementare psychische Funktion, nämlich die Fähigkeit zur Unterscheidung zwischen Fantasie und Wirklichkeit, gestört ist. Die Realitätskontrolle ist ausgehebelt. Die Schizophrenie ist insofern die radikalste psychische Störung.

Die Psychiatrie sieht die Schizophrenie gemeinhin als eine Krankheit, die sich durch ihre Symptome beschreiben lässt. Ein Mensch hat z. B. akustische Halluzinationen. Er erzählt seinem Psychiater von diesen Stimmen und vielleicht unterhält er sich auch sichtbar mit ihnen. Symptome dieser Art sind zwar keine empirische Beobachtung, weil der Psychiater ja gerade nichts hört. Aber die Überzeugung des Patienten von der Existenz einer Sache, die realiter nicht gegeben ist, die kann der Psychiater beobachten. Das Symptom Halluzination beschreibt einen überprüfbaren Zustand des Patienten. Auf solchen Symptomen basiert dann die Diagnose »Schizophrenie«, wenn bestimmte andere Kriterien zusätzlich gegeben sind. Die übliche Behandlungsstrategie ergibt sich aus diesem Verständnis der schizophrenen Psychose. Sie hat das Ziel, die Symptome zu beseitigen, möglichst unter Vermeidung von Nebenwirkungen – was bedeutet, dass der Patient so wird, wie vor Erscheinen der psychotischen Symptome.

Aber weder ist damit verstanden, wie eine Halluzination subjektiv vom Patienten erlebt wird, noch was sich im Seelenleben dieses Menschen abspielt, noch welche kommunikative Bedeutung die Halluzinationen möglicherweise haben (die doch sichtbar eine Form des Dialogs sind), noch was für das Entstehen dieser Symptome verantwortlich war, noch ob es vielleicht eine gesellschaftliche Dimension der Krankheit Schizophrenie gibt. Diese Fragen werden in diesem Buch gestellt. Dabei ergibt sich, dass man die Schizophrenie nicht als einen Prozess ansehen sollte, der sich autonom in einem einzelnen Menschen entwickelt. Die Schizophrenie ist auch ein kommunikativer und interaktioneller Prozess. Es geht bei der Erörterung der schizophrenen Psychose viel um Kommunikation. Eine Therapie, die lediglich die Symptome beseitigen will, geht darum in die Irre, weil sie die kommunikative Bedeutung der Symptome nicht zur Kenntnis nimmt. Dass die menschliche Kommunikation aber vielschichtig ist, davon wird auch die Rede sein.

Gefragt ist also ein Weg, der uns zu der Struktur des Seelenlebens führt und verstehen lässt, wie das subjektive Erleben psychotischer Patienten ist. Dabei kann uns die Biologie nicht weiterhelfen. Es ist ja trivial, dass die Grundlage aller psychischen Prozesse die Biologie ist und dass alle Störungen irgendwie im Biologischen begründet sind, woraus sich auch biologische Behandlungsmöglichkeiten ergeben. So wäre es gut möglich, dass ein organischer Faktor an der Entstehung der Schizophrenie beteiligt ist. Aber der Sinn aller psychischen und psychotischen Äußerungen hat damit gar nichts zu tun. Es verhält sich damit wie mit all unserem Wissen. Die Wahrheit des Satzes des Pythagoras z. B. ergibt sich nicht aus der Art und Weise, wie unsere Neuronen funktionieren, sondern es ist umgekehrt. Die Wissenschaft, die sich mit der Funktionsweise der Neuronen beschäftigt, fußt auch auf der Mathematik, also auch auf dem Satz des Pythagoras. Trotzdem ist es richtig, dass wir den Satz nur einsehen können, wenn die Neuronen funktionieren. Über diese Antinomie kommen wir nicht hinaus.

Was heißt Psychodynamik?

Was Psychologie ist, das ist bekannt: die Wissenschaft vom menschlichen Verhalten und Erleben. Zur Erforschung und Beschreibung dieser Phänomene werden naturwissenschaftliche und soziologische Methoden benutzt. Verhalten lässt sich durch Beobachtung erkennen, das Erleben kann erfragt werden. Aber das psychische Erleben hat eine Dimension, die sich nicht anders als durch Bezug auf mein je eigenes Erleben erkennen lässt, z. B. Affekte und die Zusammenhänge zwischen verschiedenen Bewusstseinsinhalten. Hinzu kommen die unbewussten Vorstellungen und Prozesse im Seelenleben, die sich nur durch Selbstreflexion erkennen lassen. Dass letztlich all dem biologische Strukturen und Kräfte zugrunde liegen, ist selbstverständlich, aber für das Verständnis der psychischen Prozesse unerheblich.

Das ist in diesem Buch mit Psychodynamik gemeint: die bewussten und unbewussten Prozesse im Seelenleben eines Menschen.

Doch ist eine solche psychodynamische Betrachtungsweise andererseits auch nicht ganz problemlos. Sie hat nämlich die Schwierigkeit, dass sie nicht über Modelle hinauskommen kann. Anders als in den Naturwissenschaften hat es die Psychologie nicht mit Dingen zu tun. Meine Gefühle und meine Gedanken sind keine Dinge, wenn auch die biologischen Prozesse, die ihnen zugrunde liegen, dinglichen Charakter haben. Es sind aber auch keine bloßen Konstrukte wie die Gegenstände der Philosophie. Die Idee vom Sittengesetz z. B., wie es Kant formuliert hat, ist ein Konstrukt, auch wenn man davon ausgeht, dass es eine notwendige Annahme ist. In der Psychologie geht es um empirische Tatsachen, sie macht Aussagen darüber, wie wirkliche Sachverhalte funktionieren. Der Grund für diese Sonderstellung der Psychologie ist, dass alle Vorstellungen unserer Psyche nur die Zeitdimension haben. In unserer Psyche gibt es ein Empfinden für die Gleichzeitigkeit und für das Nacheinander. Aber Vorstellungen haben keine räumliche Dimension, sie sind nicht groß oder klein, hoch oder tief wie die Gegenstände der Naturwissenschaften. Darum hilft die Mathematik nicht bei der Erforschung des Seelenlebens. Statistische Aussagen über psychologische Tatsachen, die sich der Mathematik bedienen, sind ja keine Aussage, wie etwas erlebt wird. Man kann mit der Mathematik den Sachverhalt zählen, z. B. wie oft Menschen depressiv sind. Aber die Mathematik öffnet keinen Zugang zu dem Sachverhalt selbst, also zu dem, was Depression ist.

Aber darum Erkenntnisse einer psychodynamischen Betrachtungsweise als unwissenschaftlich abzutun, ist nicht korrekt. Sie ist wissenschaftlich, sofern sie sich der Logik und der Empirie bedient. Und sie hat ein Kriterium, mit dessen Hilfe sich entscheiden lässt, ob eine Erkenntnis den Sachverhalt trifft. Dieses Kriterium ist die Vorhersagbarkeit. Eine Aussage über einen psychischen Sachverhalt ist dann zutreffend (»wahr« wäre hier nicht der richtige Ausdruck), wenn sie Rückschlüsse auf zukünftiges Verhalten erlaubt, die öfter als zufällig zutreffen.

Wie jede Wissenschaft ist auch eine Psychologie, die sich der Psychodynamik verschrieben hat, Gegenstand von Korrekturen und Verbesserungen. So wie wir die Physik Newtons längst hinter uns gelassen haben, ist auch z. B. die Psychoanalyse Freuds überholt in dem Sinne, dass sie erweitert und korrigiert worden ist. Wichtig in diesem Zusammenhang sind Bindungstheorie, Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie, systemische Theorien, besonders der Familien, und Erkenntnisse der Ethologie. So reicht z. B. die Sexualität als Trieb nicht aus, um das Tun des Menschen zu erklären. Viele Verhaltensweisen, wie z. B. das Brutverhalten, das Konkurrenzverhalten, gehen phylogenetisch sehr weit zurück und die organischen Strukturen, die dem zugrunde liegen, sind älter als orale, sexuelle und aggressive Triebformen (Panksepp, 1998). Zu erklären wäre also, was es bedeutet, dass diese Verhaltensmuster mit dem aufgeladen wurden, was wir Trieb nennen.

Mit Psychodynamik ist im Folgenden darum eine Methode gemeint, nämlich die Methode, neben den abrufbaren Bewusstseinsinhalten auch das Unbewusste zu erforschen. Kommunikation z. B. enthält einen bewussten und einen unbewussten Anteil. Der unbewusste Anteil von Kommunikation ist der Selbstreflexion zugänglich, so wie es ursprünglich die Psychoanalyse gelehrt hat.

Zur Rolle des Psychiaters

Man kann schlecht ein Buch über die Psychiatrie schreiben, ohne auf die Rolle der Psychiatrie bzw. des Psychiaters einzugehen. In der Psychiatrie gibt es nämlich ein Problem, das ansonsten der Arzt und der psychologische Therapeut nicht haben. Bei psychiatrischen Krankheiten ist der Gesichtspunkt der Gesellschaft ständig präsent. Aber der Patient durchschaut das meist nicht, zumindest nicht ausreichend. Für den Patienten ist oft unklar, ob er in den Augen des Psychiaters an einer Krankheit leidet, und wenn der Psychiater eine Krankheit diagnostiziert, hat der Patient möglicherweise keinen Einfluss mehr darauf, was der Arzt nun macht. Wird er zwangsweise eine Behandlung veranlassen? Wird die Behandlung, ob sie freiwillig oder zwangsweise geschieht, auf die Persönlichkeit des Patienten einwirken, wie es die Neuroleptika z. B. tun?

Diese Problematik ist relativ unabhängig von der Frage, wie man psychische Krankheiten versteht oder behandeln will. Wenn man z. B. der Meinung ist, dass die Schizophrenie allein aus einem genetischen Defekt entsteht und dass bis auf eine Aufzählung der Symptome weiter nicht viel darüber gesagt werden kann, dann ist dennoch zu begründen, warum schizophrene Menschen nicht geschäftsfähig sein sollen oder nicht strafmündig oder zwangsweise behandelt werden. Mit den Genen lässt sich das jedenfalls nicht begründen. Man muss, um das begründen zu können, auf das Verhalten des Kranken und die Erwartungen der Gesellschaft Bezug nehmen.

Die Antwort auf die Frage nach der Rolle des Psychiaters, die in diesem Buch gegeben wird, ist, dass es seine Aufgabe ist, die psychische Problematik seines Patienten zu verstehen – so gut es geht. Das gilt in besonderer Weise für psychotische Menschen, die so unverständlich erscheinen. In diesem Rahmen sind auch die Gesichtspunkte der Gesellschaft von Bedeutung. Auch die Gesellschaft will mit ihren Erwartungen und Forderungen an den Einzelnen verstanden werden. Einen Patienten verstehen, schließt also ein, auch darauf Bezug zu nehmen, wie der Patient die gesellschaftliche Bedeutung seiner Äußerungen und Handlungen selbst sieht, wenngleich sich der Patient wohl selten Rechenschaft darüber gibt. Der Psychiater wird, ob er es beabsichtigt oder nicht, in seiner Haltung gegenüber dem Patienten dazu implizit einen Kommentar geben. Aber ohne die Einsicht, dass allem bewussten Kommunizieren und Handeln auch eine unbewusste Komponente zugrunde liegt, kommt man in der Sache nicht weit.

Und wie ist es mit den Beweisen und der Wahrheit?

Frau G erzählt lange und unerschöpflich davon, dass sie von einer neurotischen Frau abgehört und gefilmt wird und diese es der ganzen Welt durch das Internet zugänglich macht.

Frau G wirbt erkennbar darum, dass wir ihr dies glauben. Wir dagegen sind geneigt, als Antwort zu erwidern oder wenigstens zu denken, dass die Behauptungen von Frau G nicht wahr sind. Wir können es dabei belassen, was heißt, dass wir die Aussagen von Frau G als Unsinn interpretieren. Wir können aber auch versuchen, sie zu verstehen.1

Unsere These ist, dass die »neurotische Frau« sie selbst ist, und zwar der psychotische Teil ihrer Person. Das wird nahegelegt durch die Behauptung, dass diese Frau alles über sie weiß. Dass alle Menschen ebenfalls dieses Wissen über sie haben, verstehen wir so, dass Frau G keine funktionierenden Ichgrenzen hat. Jeder hat Zugang zu ihrem Inneren. Von dem psychotischen Teil will sich Frau G distanzieren. Darum hat sie diesen in jene Frau projiziert und spricht auch voller Wut von ihr. Frau G ficht einen Kampf aus zwischen dem, was uns psychotisch erscheint, und ihrem Bemühen, mit uns in Kontakt zu bleiben. Indem sie das ihr Unerklärliche, nämlich dass ein jeder weiß, wie es um sie bestellt ist, – wie sie meint – in unsere Weltzusammenhänge übersetzt, also von Filmen und Internet spricht, versucht sie, unsere Welt zu teilen.

Das Problem von Frau G kreist um die Frage, wie es mit der Wahrheit ihrer Überzeugungen bestellt ist. Sie stellt die Frage – die sie in eine apodiktische Behauptung kleidet –, ob es denn nun stimmt, dass sie überwacht wird. Nun geht es aber nicht um dingliche Sachverhalte. Wir suchen gar keine Verständigung darüber, ob und wie oder warum Kameras zur Überwachung von Frau G installiert wurden oder nicht.2 Unser Verständnis, dass es um den psychotischen Teil ihrer Persönlichkeit geht und dass ihre Ichgrenzen zusammengebrochen sind, ist eine andere Wahrheit. Wir lassen uns gar nicht auf die Frage nach den Kameras ein, sondern machen Aussagen über das psychische Funktionieren von Frau G.

Wahr sind Aussagen, wenn sie mit dem gemeinten Sachverhalt übereinstimmen. Für uns stellt sich das in der Frage dar, ob unsere Deutung der Behauptungen von Frau G das Kriterium der Wahrheit beanspruchen kann. Die Antwort darauf lautet: im strengen Sinne dessen, was Wahrheit bedeutet, nein; denn ein objektiver Sachverhalt des Seelenlebens von Frau G ist uns nicht bekannt. Insofern lässt sich auch nicht feststellen, ob unsere Aussagen den Sachverhalt treffen oder nicht. Das Beste, was wir erreichen können, ist, dass unsere Deutung eine sinnvolle Erklärung von Verhalten und Theorie von Frau G ist. Dieser Sinn kann uns bei unseren therapeutischen Maßnahmen leiten. Der Erfolg oder Misserfolg der daraus abgeleiteten Maßnahmen wird entscheiden.

Wie auch sonst in den Wissenschaften ergibt sich die Gültigkeit (was hier ein treffenderer Ausdruck ist als »Wahrheit«) unserer Aussagen daraus, dass sie Voraussagen über zukünftiges Verhalten möglich machen, die öfter als zufällig zutreffen. Wir müssen also wissen, ob für eine bestimmte therapeutische Maßnahme eine ausreichend verlässliche Voraussage möglich ist, dass sie in einem konkreten Fall dem Patienten hilft. Das ist ein strenges, aber unerlässliches Kriterium, ohne das der Beliebigkeit Tür und Tor geöffnet ist. Die Voraussagbarkeit lässt sich aber nur in der therapeutischen Praxis überprüfen. Darum ist eine Erörterung der therapeutischen Konsequenzen notwendig.

Frau G ging zu einem Psychiater, der ihr erklärte, dass sie psychotisch sei. Das hat sie sehr aufgebracht und wurde von ihr auch vehement bestritten. Sie wusste es ja selbst und sie hatte ihr ganzes Bemühen darauf gerichtet, diese Tatsache vor sich selbst zu verleugnen. Worauf sie sich einlassen konnte war, dass sie sehr unter der »Verfolgung« jener Frau und der Menschen litt.

Wir hoffen also mit unserer Deutung, wenn wir sie auch zunächst nur uns selbst geben, ohne sie Frau G mitzuteilen, dass wir damit verstanden haben, wie Frau G die Angst, verrückt zu sein, verarbeitet. Daraus lässt sich ableiten, dass man ihr gegenüber nicht darauf bestehen sollte, dass sie an einer Psychose leidet. Sinnvoller wäre es, mit ihr nach dem Sinn ihrer Ängste und Überzeugungen zu suchen, ohne zunächst ihre Erklärungsversuche in Zweifel zu ziehen. Zur Überprüfung dieses Vorgehens bleibt nur, die Wirkung auf ihren psychischen Zustand zu überprüfen. Bessert er sich oder bessert er sich nicht? Kann sich Frau G wenigstens auf einen Dialog dieser Art einlassen?

Dieser Sinn von Wahrheit gilt für das ganze Buch. Die Gedanken und Theorien müssen in sich sinnvoll sein und sie sollten möglichst an andere, verwandte Wissenschaften anschließen. Aber das entscheidende Kriterium ist das Ergebnis in der Praxis. Nur die Praxis kann entscheiden, wie weit die hier dargelegten Überlegungen einen Wert haben.

Die Alternative wäre, die Vorstellungen von Frau G über die Kameras als Unsinn abzutun und eine Kommunikation mit Frau G darüber zu verweigern. Aber auch das wäre eine Deutung ihrer Aussagen, nämlich als Unsinn. Es liefe darauf hinaus, die Rede von Frau G als sinnloses Geplapper anzusehen, das allenfalls mit einer außer Kontrolle geratenen Sprechmaschine vergleichbar ist. Das kann man natürlich tun. Immerhin hätte man damit den Zeitgeist gut getroffen, wenn man nur gelten lassen wollte, was sich zählen und messen lässt.

In den Humanwissenschaften sind statistische Untersuchungen für viele Fragen sinnvoll. Aber sie können manche Aspekte gar nicht erfassen und verfälschen auch in mancherlei Hinsicht. Es gibt z. B. statistische, vergleichende Untersuchungen, ob denn nun eine bestimmte psychotherapeutische Maßnahme die psychotische Verfassung der Probanden zurückdrängt oder nicht. Doch lässt sich dagegen einiges einwenden. Einmal, dass die Maßnahme nicht gegen eine wirkliche Kontrollgruppe getestet wird. Etwa, eine bestimmte verhaltenstherapeutische Intervention müsste gegen unspezifische Interventionen getestet werden, in der sich der Therapeut interessiert mit dem Probanden unterhält. Auch eine Randomisierung z. B. ist nicht immer unproblematisch, weil das Interesse des Probanden an der therapeutischen Maßnahme möglicherweise keine von der Wirksamkeit unabhängige Variable ist. Das könnte bedeuten, dass eine bestimmte therapeutische Maßnahme für ihre Wirksamkeit diese zusätzliche Bedingung, nämlich das Interesse des Patienten daran, braucht.

Die beobachtende teilnehmende Untersuchung, die auch einen Dialog beinhaltet, wie es Devereux (1973) in »Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften« beschrieben hat, scheint der bessere Weg, um Frau G zu helfen. Nach ihm gibt es keine Beobachtung, die das beobachtete Geschehen zwischen Menschen unbeeinflusst lässt. In den Humanwissenschaften lässt sich zwischen Beobachtung und Beobachtetem nicht scharf trennen. Diese Haltung läuft darauf hinaus, mit Frau G ein Einvernehmen zu erzielen. Wenn sie das ihr angebotene Verständnis annehmen kann, dann wäre ihr geholfen.

Die gesellschaftliche Dimension

Ein Verständnis der Psychose kann auch einiges über gesellschaftliche Prozesse lehren. Die mangelhafte Realitätskontrolle, wie man sie im öffentlichen Raum oft beobachtet, wird man nicht Wahn nennen, aber irgendeine Gemeinsamkeit oder ein Zusammenhang mit dem individuellen Wahn wird es wohl geben. Die unkontrollierte Entladung von Aggression ist ein anderes Beispiel. Hinzu kommt, dass offensichtlich schwer gestörte Menschen (im Sinne der psychiatrischen Diagnostik) nicht selten in der Öffentlichkeit und als politische Anführer der Menschen eine große Rolle spielen. Auch das verlangt nach einer Erklärung.

Auch die Frage nach den gesellschaftlichen Bedingungen einer psychotischen Entwicklung gehört hierher. Gemeint sind nicht diese oder jene gesellschaftlichen Zustände, z. B. Wohlstand oder Armut, Verfolgung oder Anerkennung. Diese Faktoren spielen sicher eine Rolle (Jongsma et al., 2018). Hier ist gemeint, wie weit Gesellschaften Verrücktheit fordern oder unumgänglich machen, so wie Organismen ohne Krankheit nicht denkbar sind und Krankheit die Möglichkeit von Gesundheit fördert. Allerdings wird mehr als eine erste tastende Untersuchung der genannten Probleme nicht möglich sein.

In der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts haben sich bedeutende Kliniker und Soziologen an die Untersuchung und Psychotherapie psychotischer Störungen gewagt. Nach dem Zweiten Weltkrieg ist es auf diesem Feld zu einer kurzen Blüte gekommen.3 Das Interesse an der Erforschung wurde begleitet von wichtigen gesundheitspolitischen Maßnahmen. Unter dem Schlagwort »mental health movement« im angelsächsischen Raum, »Psychiatrieenquete« in Deutschland kam es zu einer bedeutenden positiven Veränderung der psychiatrischen Praxis. Aber dann ist diese Tradition abgebrochen. Die biologische Psychiatrie hat versucht, allein das Feld zu besetzen. Nur in der Praxis niedergelassener Psychotherapeuten und Psychiater konnte sich die psychologische Tradition einigermaßen erhalten. Aber von ihren theoretischen Wurzeln abgeschnitten, konnte sich das psychologische Verständnis der Psychosen nur mühsam weiterentwickeln, ist manches verdorrt.

Ein anderes großes Untersuchungsfeld war und ist die Frage nach dem Unbewussten auch in Verbindung mit gesellschaftlichen Prozessen. Schon Freud hatte einen Zusammenhang gesehen zwischen den unbewussten Triebregungen des Menschen und gesellschaftlichen Einrichtungen. In »Totem und Tabu« (Freud, 1912) hat er die Exogamieregeln, die sich in vielen Völkerstämmen finden, als unbewussten Ausdruck des Inzestverbots verstanden. Aber das ist auch problematisch, weil es Unbewusstes nur beim einzelnen Menschen geben kann. Man muss also erklären, was man damit meint, wenn man von Unbewusstem im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Prozessen spricht. Einmal kann es bedeuten, was auch in »Totem und Tabu« implizit gegeben ist und von Jaques (1955) und Menzies (1960) explizit behandelt wurde, dass nämlich gesellschaftliche Regeln den individuellen Abwehrbedürfnissen der Menschen genügen müssen. Das ist bei den Exogamieregeln der Fall.

Mit dem Unbewussten in der Gesellschaft kann man aber auch meinen, dass die Regeln, nach denen die Gesellschaft funktioniert, nicht bewusst sind. Die Routine des Alltags ist ein Beispiel dafür (Erdheim, 1988). Wir strukturieren unseren Alltag privat und im öffentlichen Raum nach Regeln, deren Begründung wir nicht hinterfragen oder nicht erkennen.

Dieses Buch will an diese Traditionen anknüpfen. Darum ist auch vielfach auf die ältere Literatur Bezug genommen.

1     Die Fallgeschichten sind anonymisiert. Das hat zur Folge, dass die Details keine Grundlage dafür bieten, mit Interpretationen über das hinauszugehen, was beschrieben ist. Die Fallbeispiele sollen und können nur exemplifizieren, was der Text in allgemeiner Form beschreibt.

2     Wenn man unterstellt, dass Frau G das subjektive Gefühl hat, »durchlässig« zu sein, also dass ihre Ichgrenze nicht funktioniert, so dass sie das Gefühl hat, jedermann wisse, was sie denkt und empfindet, dann muss sie entweder die Vorstellung, dass es andere Subjekte gibt, ganz aufgeben, oder sie sucht nach einer rationalen Erklärung. Im zweiten Fall ist ihre Überzeugung, sie werde gefilmt und abgehört und das werde jedermann zugänglich gemacht, eine halbwegs in sich stimmige Erklärung.

3     Der Umfang der damaligen Literatur über die psychoanalytische Behandlung der Schizophrenie ist beträchtlich. Eine kleine Auswahl, wobei sich die Jahreszahlen nicht auf das erste Erscheinungsjahr, sondern auf z. T. spätere, verfügbare Auflagen beziehen: Brody & Redlich, 1952; Eissler, 1952; Fenichel, 1975; Fromm-Reichmann, 1959; Searles, 1974; Jacobson, 1972; Federn, 1978, Feinsilver & Gunderson, 1972; Spotnitz, 1976; Pao, 1979; Karon & Vandenbos 1981; Benedetti, 1983. Doch vielfach spiegeln diese Arbeiten auch nur den Zeitgeist wider. Ein krasses Beispiel dafür ist Federn, der eine heimliche Sterilisierung der psychotischen Patienten vor einer psychoanalytischen Behandlung empfahl (Federn, 1943).

1          Symptome und Erscheinungsweisen

 

 

1.1       Psychotische Symptome

1.1.1     Versuch einer Definition

Psychische Symptome, wovon die psychotischen Symptome eine Untergruppe sind, können wir als Ausdruck einer Funktionsstörung der Psyche verstehen. Aber was ist eine Funktionsstörung der Psyche? Das ist nicht immer eindeutig festzulegen, weil die Funktionen des psychischen Apparates nur im Hinblick auf die soziale Umwelt zu bestimmen sind. Und die soziale Umwelt ist nicht eindeutig. Ein etwas zwanghafter Charakter ist in unserer Gesellschaft erwünscht. Rücksichtslosigkeit gegenüber niederen Ständen würde in einer Herrscherfamilie des Mittelalters als gute Eigenschaft gelten, heute eher als Mangel. Ein Mensch mit einer katatonen Bewegungsstarre wird in Indien u. U. als heiliger Mann (Sadhu) verehrt (Doniger, 2009).

Wir haben keinen sicheren Maßstab dafür, was wir als psychische Störung ansehen sollen, was nicht. Halten wir uns an die alten Psychiater (z. B. Schneider, 1950), so sind als Symptom anzusehen Verhaltensweisen oder Zustände, an denen der Betroffene oder die Menschen seiner Umwelt leiden. Die depressive Gemütsverfassung ist ein Symptom, weil der Depressive an seinem Gemütszustand leidet. Wenn jemand permanent auf der Straße herumschreit, gilt das als Symptom, weil die Öffentlichkeit Anstoß daran nimmt. Aber auch z. B. selbstverletzendes Verhalten oder das Hungern im Rahmen einer Magersucht gelten als Symptom, obwohl der, der es ausführt, nicht unbedingt darüber klagt, noch die Gesellschaft dadurch belästigt wird. Verbunden mit Frömmigkeit wird es u. U. und in bestimmten gesellschaftlichen Gruppen als besondere Tugend angesehen. Die Definition des Begriffs des Symptoms ist also nicht streng an das Leiden irgendeines Menschen gebunden. Darum nehmen wir zu dem Begriff der Normalität Zuflucht. Psychische Symptome sind Verhaltensweisen oder Zustände, die nicht normal sind. Man schneidet sich normalerweise nicht mutwillig mit einer Rasierklinge. Aber was ist normal?

1.1.2     Kommunikative Bedeutung

Mit der Kennzeichnung eines bestimmten Verhaltens als Symptom sehen wir von dem Bedeutungsgehalt und seinem kommunikativen Charakter ab und tun so, als ob Menschen ohne Bezug auf ihre soziale Situation diese sogenannten Symptome entwickeln. Das gilt besonders für die psychotischen Symptome, weil sie implizit auf eine Diagnose, nämlich die Psychose hinweisen. Aber psychische Symptome haben immer eine kommunikative Bedeutung. Goffman (1969) geht noch etwas weiter und meint von den psychotischen Symptomen, dass sie Beziehungsprobleme zum Ausdruck bringen. Wenn also ein Anstaltsinsasse der Anstaltsleitung Pläne für den Umbau der Gebäude, die er auf Butterbrotpapier gekritzelt hat, zukommen lässt, wird der Psychiater dies im Regelfall als unrealistisches Verhalten werten. Er wird darin keine ernst zu nehmende Botschaft sehen. Aber für den, der dieses »Symptom« aufweist, ist es eben doch eine Botschaft, und die Attribution dieser Handlung als Symptom verweigert dem Urheber die Kommunikation. Das Problem ist dann natürlich, welche Botschaft es ist; denn naiv, dass es nur um den Umbau geht, wird man das nicht verstehen wollen. Ähnlich ist es in Familien, die sich aber meist umgekehrt von dem fesseln lassen, was der Inhalt des Symptoms sagt. Den Sohn, der sich in sein Zimmer zurückzieht, versuchen die Eltern unablässig davon zu überzeugen, dass er nicht von einer Gangstergruppe gesucht wird, was der Sohn als Grund für seinen Rückzug angibt. Aber das bleibt natürlich ohne Effekt. Einfach wörtlich nehmen und naiv verstehen, was im Symptom ausgedrückt wird, ist auch keine Lösung.

Für die Behandlung eines psychotischen Menschen ist es wichtig zu verstehen, was er durch das Symptom mitteilen will. Es gibt einmal einen aktuellen Bezug, der meist nur zu verstehen ist, wenn man den sozialen Kontext, in dem das Symptom geäußert wird, kennt. Herr O, der die Ärztin des Krankenhauses fragt, ob in den Wänden Strom sei, fürchtet, dass sie das Thema Scheidung anspricht (Images Kap. 1.4.1). Die eigentliche Bedeutung dieser Frage ist damit klar. Der junge Mann, der fürchtet, von einer Gangstergruppe gekidnappt zu werden, meint vielleicht seine Eltern. Vielleicht fürchtet er, dass die Eltern ihn total vereinnahmen. Und Julia, die nach der Untersuchung beim Psychiater meinte, jetzt sei eine Ratte in sie hineingesprungen, wollte damit ihr Verständnis von Psychose, die der Psychiater ihr zugeschrieben hatte, zum Ausdruck bringen. – Dieses letzte Beispiel ist auch Anlass, auf ein Faktum hinzuweisen, welches hinter allem steht, nämlich die Not, aus der heraus erst das psychotische Symptom entsteht.

Die produktiven psychotischen Symptome sind zweitens auch häufig verzerrte Beschreibungen einer kindlichen Erfahrung. Sie teilen insofern etwas über die kindliche Entwicklung mit. Halluzinationen geben oft Stimmen der Eltern wider; was diese wirklich oder vermeintlich gesagt haben oder auch was die Beziehung zu den Eltern beschreibt. Gedankenentzug kann man verstehen als die kindliche Erfahrung, etwas nicht denken zu dürfen, Gedankeneingebung als die Erfahrung, etwas denken zu müssen, Kontrollwahn, Beeinflussungswahn, Gefühl des Gemachten als die Erfahrung kontrolliert, beeinflusst oder manipuliert zu werden. Das hat schon Tausk früh beschrieben (1919). Im Verlauf einer Therapie hört man nicht selten, dass die halluzinatorischen Stimmen für die Patienten als Stimmen der Eltern erkennbar werden.

1.1.3     Interaktive Bedeutung

Produktive psychotische Symptome sind oft eine Form der Handlung. Manchmal sind sie es direkt durch auffällige Verhaltensweisen.

Herr Fe z. B. schellt bei der Nachbarsfamilie, geht, als ihm die Tür geöffnet wird, ohne ein Wort zu sagen, ins Kinderzimmer und legt sich dort ins Bett. Oder ein »Berber« schreit auf der Straße.

Aber selbst wenn sich der Berber mit halluzinierten Stimmen unterhält, sofern die Umwelt davon etwas mitbekommt, hat es etwas Provozierendes, was auch eine Form von Handlung ist. Die Botschaft, die dahinter steckt, kann leicht übersehen werden.

Das psychotische Symptom, besonders wenn es Handlung ist, verletzt die gesellschaftlichen Normen und ist insofern eine Provokation, die man als Protest verstehen kann (Goffman, 1969). Da die Botschaft des Symptoms oft nicht direkt erkennbar ist, ist der Protest in der Regel das einzige, was zunächst imponiert. Der Protest lässt nicht erkennen, wie er sich begründet. Das führt leicht dazu, dass über eine mögliche Begründung weder vom Kranken noch von der Gesellschaft nachgedacht wird. Man versteht nicht, warum der Kranke so handelt. Die kommunikative Bedeutung des Symptoms bleibt unerkannt. Der nächste Schritt ist, dass diese Leerstelle gefüllt wird, indem Krankheit als Begründung und Erklärung herangezogen wird. Das bedeutet, dass die Möglichkeit einer sachlichen Begründung gar nicht mehr in Erwägung gezogen wird. Als das einzig Sinnvolle erscheint eine Behandlung, die von der Gesellschaft erwirkt wird, oft genug auch ohne Zustimmung des Betroffenen.

Herr Pal, ein psychotischer junger Mann, versucht gegen den Widerstand der Mutter, sich gewaltsam Eingang in deren Wohnung zu verschaffen. Dafür hat er sich mit einem schweren Stein bewaffnet Da er vordem schon wegen einer Psychose in psychiatrischer Behandlung war, ruft die Mutter sofort die Polizei, die den jungen Mann in eine Klinik bringt.

In der aktuellen Situation war das eine sinnvolle Lösung. Aber, wie es die Regel ist, hat sich keiner der Beteiligten, nicht die Mutter, nicht der Sohn, nicht der behandelnde Psychiater die Frage gestellt, was da eigentlich passiert ist. Nach einer Behandlung mit Neuroleptika in der Klinik ist der Sohn friedlich und stimmt mit allen darüber überein, dass sein Verhalten krankhaft war. Für die Beteiligten ist das Ereignis damit ausreichend erklärt – obwohl die Mutter doch um ihr Leben gefürchtet hat. Die nahe liegende Frage, was der Sohn eigentlich von der Mutter wollte und warum er seine Forderung gewaltsam zum Ausdruck brachte, wird nicht gestellt.

Dabei ist die interaktive Bedeutung solcher Ereignisse oft nicht schwer zu erkennen, besonders, wenn es sich im familiären Rahmen abspielt. Herr Pal will etwas von seiner Mutter erzwingen, und sie fühlt sich bedroht. Wir begnügen uns also nicht damit, festzustellen, dass der Sohn psychotisch und darum gewaltsam ist und die Mutter Hilfe sucht. Wir fragen nach der Bedeutung dieser Auseinandersetzung. Diese Sichtweise ist in diesem Buch gewissermaßen selbstverständlich und wird immer wieder ohne besondere Ankündigung eingenommen.

Auch Psychotherapeuten vergessen nicht selten diese Frage nach den Gründen. In vielen Arbeiten, die sich mit der Psychotherapie psychotischer Patienten beschäftigen, wird beschrieben, dass im Verlauf der Therapie die psychotische Symptomatik extreme Ausmaße annimmt. Die Bemühungen der Therapeuten erscheinen fast heroisch. Übersehen wird dabei die interaktive Bedeutung dieser Entwicklung. Als Beispiel sei hier eine jüngere Arbeit zitiert, ein Bericht von Koehler (2009). Er beschreibt die Psychotherapie des Patienten Joseph, der eine schizophrene Psychose hat. Im Verlauf einer hochfrequenten Therapie wird die produktive Symptomatik von Joseph immer heftiger. Aber Koehler erwägt nicht die Frage, ob die Verschlimmerung der Symptomatik eine Antwort von Joseph auf die Anstrengung des Therapeuten ist. Darum erkennt der Therapeut nicht, dass er Joseph zu nahe gekommen ist. In früheren Therapieberichten (z. B. Fromm-Reichmann, 1959) findet man viele Beispiele dafür. Da werden Symptome der Patienten beschrieben, die offensichtlich eine Antwort auf die unhaltbaren Zustände in der Klinik waren. So kommt eine Situation zustande, dass Symptome behandelt werden, an deren Zustandekommen der Therapeut bzw. die Institution beteiligt ist.

1.1.4     Der Abwehrcharakter

Kennzeichnend für psychotische Zustände sind die produktiven Symptome. Produktiv ist ein Symptom, wenn ein Gedanke oder eine Verhaltensweise oder eine Empfindung eine Realität behauptet, die nicht existiert. Dabei hinterfragen wir zunächst dieses Vulgärverständnis von Realität nicht.

Herr A hört, wenn er zu Bett gehen will, ein Klopfen des Nachbarn an der Wand, das ihn daran hindert zu schlafen. Das Klopfen kann aber von niemandem bestätigt werden. Seine Beschwerde beim Nachbar weist dieser zurück. Er klopfe nicht.

Dieses Klopfen unterscheidet sich z. B. von einem Tinnitus, weil Herr A sicher »weiß«, dass es der Nachbar ist, der die Klopfgeräusche macht. Wir vermuten darum, dass sich hinter dem Klopfen etwas verbirgt, nämlich dass sich der Klopfer einsam fühlt. Er war es in der Tat. So liegt es nahe, das Klopfen als Abwehr des Wunsches nach Kontakt zu verstehen. Aber was bedeutet in diesem Fall Abwehr? Bei Tobias, einem jungen Mann, der unter leichten Zwangssymptomen litt, aber keine Psychose hatte, lässt sich die Abwehr eindeutig beschreiben. Die Zwanghaftigkeit, mit der Tobias beim Verlassen des Hauses die Haustür immer wieder überprüft, steht im Zusammenhang mit seinem Wunsch, das Elternhaus zu verlassen, und seinen feindseligen Gefühlen gegenüber dem Vater. Tobias will die Tür endgültig hinter sich zuschlagen. Nachdem Tobias Einsicht in den abgewehrten aggressiven Triebwunsch hat, verschwindet das Symptom. Tobias braucht in der Therapie dazu nur die Angst vor seiner Feindseligkeit gegenüber dem Vater auszuhalten. Nicht oft lässt sich bei einer zwangsneurotischen Störung die Symptomatik so schnell auflösen, wie es bei Tobias war.

Aber bei dem Klopfer war es anders. Er sagte offen, dass er sich nach einer Frau sehne, aber mit dem Klopfen habe das nichts zu tun. Er gab eine Anzeige in der Zeitung auf, bekam etwa 50 Zuschriften, die er mir stolz zeigte, und antwortete auf keine, ja öffnete kaum einen Brief. So bestätigte er einerseits den Gedanken, dass seine Einsamkeit ein Problem für ihn war, andererseits war er nicht in der Lage, Kontakte zu anderen Menschen aufzunehmen.

Wie bei Herrn A verraten viele psychotische Symptome relativ offen einen Wunsch:

Eine psychotische Patientin kommt sehr knapp bekleidet in die Sprechstunde. In der folgenden Sitzung mokiert sie sich über die »Lüsternheit« des Arztes und setzt sich weit weg in eine Ecke des Zimmers.

Der Wunsch wird hier ganz offen gezeigt, so wie die Patientin sich gekleidet hat. Wird in diesem Fall etwas abgewehrt, und wenn ja, was? Den Kontaktwunsch hat der Klopfer offen geäußert, die verführerische Dame durch ihre Handlung auch. Was also Triebwunsch bei beiden gewesen sein mag, er wurde nicht abgewehrt. Eher schon, denkt man, wurde die Möglichkeit der Realisierung abgewehrt.

Wir können in beiden Fällen der Auffassung von M. Klein folgen und alternativ in Erwägung ziehen, dass es nicht eine Triebregung ist, die abgewehrt wird, sondern Angst, die durch die Triebregung ausgelöst wird. Es wäre nicht die gleiche Angst, die Tobias spürte. Bei Tobias war es die Angst vor einer aggressiven Empfindung, die er sich nicht gestatten konnte. Bei dem Klopfer und der knapp bekleideten Dame war es vielleicht auch Angst vor einer Triebregung, aber nicht, weil diese nicht erlaubt war, sondern – so müssen wir vermuten – weil sie bedrohlich war.

Wenn wir sagen, dass Tobias sich die Feindseligkeit gegenüber dem Vater nicht gestatten konnte, ist damit gemeint, dass es bei ihm einen intrapsychischen Konflikt gab zwischen einer Triebregung und seiner Moral, seinem Überich in der Terminologie der Psychoanalytiker. Die Feindseligkeit war in dem Zwangssymptom verborgen. Es war also insofern ein Problem von Tobias allein. Auch als er den Konflikt, der dem Symptom zugrunde lag, noch nicht kannte, war es für ihn doch ein seelisches Problem. Die Zwangssymptome hat er sich allein zugeschrieben. Der Klopfer aber verlegt, wie es für die Psychose typisch ist, den Konflikt nach außen, in die Realität. Der Wunsch, der sich in dem Symptom verrät, muss also nicht abgewehrt werden, sondern die Realisierung. Die erotische Triebregung an sich, so müssen wir folgern, hat der verführerischen Dame keine besonderen Schwierigkeiten gemacht. Es muss etwas anderes sein, was abgewehrt wird, nämlich irgendeine Form der Realisierung. An späterer Stelle wird von diesem Problem noch mehrfach die Rede sein. Menschen mit einer psychotischen Störung können sich nur begrenzt oder gar nicht auf eine Beziehung einlassen.

Psychotische Symptome kann man als doppelte Abwehr verstehen. Herr A wehrt den Wunsch ab, Kontakt haben zu wollen, indem er ihn in sein Gegenteil