Die italienische Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel Torino è casa nostra bei Gius. Laterza & Figli in Bari.

E-Book-Ausgabe 2020

© 2015 Gius. Laterza & Figli, all rights reserved

© 2020 für die deutsche Ausgabe: Verlag Klaus Wagenbach

Emser Straße 40/41 10719 Berlin www.wagenbach.de

Covergestaltung Julie August unter Verwendung einer Fotografie © Robert Harding/F1online.

Das Karnickel zeichnete Horst Rudolph. Alle Rechte vorbehalten

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ISBN: 9783803142795

Auch in gedruckter Form erhältlich: 978 3 8031 2823 2

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Für Francesco und Federico

Dies ist ein Turiner Stadtführer.
Und Turin ist Turin.
Keine Stadt wie jede andere.

Giuseppe Culicchia
(Ich weiß, das tut man nicht,
aber ich habe es soeben getan)

Chronik

X. Jahrhundert v. Chr.

Ein Blatt beginnt sich zu regen, überlegt sich’s dann anders, und es wird nichts weiter daraus.

IX. Jh. v. Chr.

Eine Kolonne französischer Ameisen nähert sich.

VIII. Jh. v. Chr.

Es donnert.

VII. Jh. v. Chr.

Die Ameisenkolonne zieht sich erschrocken zurück.

VI. Jh. v. Chr.

Bsssssssss.

V. Jh. v. Chr.

Das war eine Biene.

IV. Jh. v. Chr.

Welch’ Ödnis, welch’ Langeweile. Ist das denn die Möglichkeit, dass hier nie etwas passiert?

III. Jh. v. Chr.

»Noios, vulevon savuar: Um dahin zu gelangen, wohin wir gelangen müssen, wo müssen wir hin?« Von irgendwoher ist eine Horde Tauriner aufgetaucht, offenbar in dem Glauben, dies hier sei Mailand. Am Ende beschließen die Neuankömmlinge, zu bleiben, und bereiten ein Picknick zwischen dem Po und der Dora vor. Doch noch bevor ihre Vorspeise aus allerbestem rohem Hackfleisch von La Granda fertig ist – ja, die existiert bereits, obwohl Eataly seine Pforten noch längst nicht geöffnet hat –, trifft Hannibal ein, und dann gute Nacht.

154 v. Chr.

»Guck dir diese Tauriner an! Und unser Lager, wo schlagen wir’s auf? Hier?«

101 v. Chr.

»Bruder, auf der Wiese da drüben sind schon wieder diese Kimbern!« »Was soll’s, hauen wir drauf. Aber sag mal, und diese andern?« »Welche andern?« »Diese Padaner. Wo sind die?« »Keine Ahnung. Hat irgendwer die Trottel gesehen?«

49 v. Chr.

»Ave Caesar! Legionarii te salutant!«

28 v. Chr.

»Ich heiße Augustus, und diese Stadt nennen wir Julia Augusta Taurinorum. Es heißt, sie sei ganz quadratisch. Ich glaube wohl, dass sie quadratisch ist, schließlich wurde sie auf der Grundfläche des Lagers errichtet, nicht? Weiter heißt es, die Turiner werden sich in Zukunft in Mailand verlaufen, weil Mailand rund ist. Na und? Wisst ihr denn nicht, dass man für sowas ein TomTom hat?«

398

»Ego, Protovescovo Massimo, nuncio Vobis inaugurationem cathedralem. Non habemus pallam di vetro, et non possumus prevedere edificacionem Pallazzaccium. Amen.«

568

»Wir essere Langobardi, ja? Wir rekwisire tutto, ja? Pero sagt noi: dove sind kwelli di Patania? Patani Bewohner di Patania? Wir perkorsa ganz Patania, aber Patani non trofati.«

773

»Oh Mama Mama Mama, oh Mama Mama Mama, weißt du was? Ich habe Karl den Großen gesehen! Ja, Mama, er hat Desiderius1 vom Platz gefegt!«

888

»Den geneigten Lesern wird mitgeteilt, dass die Grafschaft Turin an Berengar I. übergeben wird. Sachdienliche Hinweise zum Aufenthaltsort der sogenannten Padaner, der Bewohner Padaniens, bitte an die Redaktion.«2

X.–XII. Jh.

»Weißt du, Kind, man versteht gar nichts mehr. Erst war da der Kaiser, dann der Bischof, dann die Feudalherren, dann die Staatsmänner. Und jetzt hat meine Frau gesagt, dass die Savoyer kommen. Aber wer sind diese Savoyer? Muss ich mir Sorgen machen?«

1248

»Je suis Thomas II de Savoye et cet allemand sicilien de Friedrich II Stupor Mundi m’a donné cette petite ville, Turin. Si vous plaît c’est comme ça, sinon c’est comme ça quand même.«

1252

»Oh mein Gott!« »Wer ist da?« »Diese Savoyer. Und alles voller Bewaffneter, welch ein Unglück!«

1255–56

Den geneigten Lesern wird mitgeteilt, dass sich die Turiner mithilfe der Bewohner Astis Thomas’ II. entledigt haben. Allerdings kamen danach gleich die aus dem Haus Anjou und dann Wilhelm VII. von Montferrat. Sollte doch noch jemand sachdienliche Hinweise zum Verbleib der sogenannten Padaner, der Bewohner Padaniens, haben, wird er höflichst gebeten, sich umgehend an die Redaktion zu wenden.

1280

Den geneigten Lesern wird mitgeteilt, dass Thomas III. von Savoyen sich Wilhelms VII. von Montferrat entledigt hat und ebenfalls bewaffnet in Turin einmarschiert ist.

1343–83

»Je suis Amédée VI, dit le Conte Verde. Turin a besoin de son espace vital. Je regarde à l’Est, comme Hitler. On prend Biella, et puis on verra.«

1404

Gründung der Universität Turin. Doch das ist wahrlich kein Grund zur Freude. Es handelt sich nämlich um den Samen, dem innerhalb von fünfhundertundsoundsoviel Jahren der Bau des Palazzo Nuovo entspringen wird.

1418

Die geneigten Leser werden gebeten, ihre Handys auf lautlos zu stellen. Weiterhin wird bekanntgegeben, dass Amadeus VIII., Herzog von Piemont, in den Hafen der Ehe einläuft, und zwar mit einer kleinen Herzogin aus Mailand, was ihm Vercelli und Provinz als Mitgift beschert. Unter den Turinern, die diese Gegenden im Sommer besuchen, zirkuliert von nun an ein Zauberwort: »Autan«.

1536

Eine Kolonne Franzosen, diesmal handelt es sich nicht um Ameisen, nimmt die Stadt militärisch in Besitz.

1563

Emanuel Philibert kehrt nach Turin zurück, nachdem die Hauptstadt von Chambéry hierher verlegt worden ist, und findet ein großes Durcheinander vor.

1575

Turin annektiert Asti und Saluzzo und freut sich fortan auf die kommenden Konzerte von Paolo Conte.

1578

Emanuel Philibert, toujours lui, der bereits als General unter Karl V. kämpfte, bringt die Schokolade nach Turin und führt das neue Produkt ein – beim Aperitivo zur Vermählung seines Sohns Karl Emanuel I. mit Katharina Michaela von Habsburg, Tochter von Philipp II. von Spanien.

1620

Karl Emanuel II. weitet das Herzogtum von Nizza bis Genf aus, ohne zu ahnen, dass einer seiner Nachkommen, nachdem er sich zuerst als Live-Kommentator in die Sportsendung Quelli che il calcio eingeklinkt hatte, dem freundlichen Schweizer Städtchen den Rücken kehren und nach Italien zurückkommen würde, um – nach einer kleinen Anpassung der republikanischen Verfassung – bei der Tanz-Talentshow Ballando con le stelle teilnehmen zu können.

1678

Meister Antonio Ari wird Turins erster Chocolatier, nachdem er von den Savoyern die erste Genehmigung erhalten hat, öffentlich Schokolade zu verkaufen. Ab diesem Moment beziehungsweise im Laufe des 18. Jahrhunderts wird Turin zum europäischen Epizentrum der Schokoladenproduktion. Im Zeitalter der Aufklärung kommen Schweizer, Österreicher und Franzosen in die Stadt, um das Handwerk zu erlernen. Es entsteht der berühmte Slogan »Torino città laboratorio« (in etwa: Turin als Laboratorium), wobei hier mit »Laboratorium« der Raum gemeint ist, in dem die Schokolade produziert wird.

1706

Nachdem sich die Savoyer mit den Habsburgern zusammengetan haben, belagern die Franzosen Turin. Pietro Micca verhindert ihr Eindringen in die Stadt, indem er sich in einem Stollen der Verteidigungsanlage selbst in die Luft jagt. Mit ihm, dem ersten Kamikaze der Geschichte, nimmt die eigentümliche Leidenschaft der Turiner für Rekorde ihren Anfang. Durch das Eingreifen der kaiserlichen Truppen unter Prinz Eugen von Savoyen wird Turin befreit, jenem Prinz Eugen, nach dem später die 7. SS-Freiwilligen-Gebirgs-Division benannt werden sollte – ebenso wie ein besetztes Gemeinschaftszentrum. Bis heute jedoch hat das anhaltend feindselige Klima zwischen Nazis und Anarcho-Punks eine Partnerschaft der Veteranen beider Institutionen verhindert.

1713

Durch den Frieden von Utrecht wird Sizilien freundlichst Viktor Amadeus II. übertragen. Was ihm allerdings ein wenig unbequem ist. »Entschuldigung, hören Sie, könnte ich das nicht vielleicht gegen Sardinien eintauschen?« »Haben Sie noch den Kassenbon?« »Hier, bitte.« »Dann natürlich gern.« Fortan werben die Savoyer ihre Grenadiere in Sardinien an. Allgemeine Erleichterung in Sizilien.

1763

Das Café Bicerin öffnet seine Pforten und sichert sich so den Titel als ältestes historisches Kaffeehaus der Stadt. Außer Cavour werden zu seinen häufigen Gästen unter anderem Mozart, Nietzsche, Culicchia zählen.

1780

Das Café Fiorio öffnet seine Pforten und sichert sich so den Titel als zweitältestes historisches Kaffeehaus der Stadt. Außer Cavour werden zu seinen häufigen Gästen unter anderem Nietzsche, Tomasi di Lampedusa, Culicchia zählen.

1798

Die französischen Revolutionstruppen kommen nach Turin. Auf der Piazza Carlina wird die Guillotine aufgestellt, die vielleicht in manchen Fällen, wenn man es recht bedenkt, auch heute noch von Nutzen wäre. Im Hotel Dogana Vecchia, wo bereits Mozart residiert hat, residiert nun Napoleon. Später wird dort auch Culicchia verweilen, mit einer kleinen Deutschen … nun ja, das hier ist wohl nicht der richtige Ort für Klatschgeschichten.

1802

»Et nous proclamons l’annexion du Piedmont à la France!« Wäre es dabei geblieben, hätte Turin beispielsweise niemals Lyon erobert, sondern wäre beispielsweise von Mailand erobert worden. Oder wenigstens von Cuneo.

1814–15

»Et nous proclamons la restitution du Piedmont à Vittorio Emanuele I.« Aber nicht nur: Auch Genua geht an die Savoyer. Die Würfel sind gefallen. In rund hundertfünfzig Jahren werden die Turiner anfangen, in den Ferien nach Ligurien zu fahren.

1831

Carlo Alberto wirft eine Münze: Kopf. Also nimmt das Risorgimento seinen Lauf, was auch immer die Padaner, die Bewohner Padaniens, dazu sagen, die jedenfalls hier in Turin bisher niemand gesehen hat, vielleicht sind sie in Tansania eingefallen.

1848

Das Jahr des Albertinischen Statuts. Karl Albert erklärt, wo er schon mal dabei ist, auch gleich Österreich den Krieg. Nach seiner Niederlage dankt der Monarch zugunsten eines berüchtigten Lebemannes ab, Vittorio Emanuele II.

1859

Man macht gemeinsame Sache mit den Franzosen. Österreich gibt die Lombardei auf. Frankreich schnappt sich Nizza und Savoyen. In den kommenden Jahrhunderten werden die Nizzaer und die Savoyer verständlicherweise dankbar dafür sein.

1861

Ausrufung des Königreichs Italien. Turin ist Hauptstadt. Noch eine Auszeichnung in der ohnehin schon reichen Titelsammlung der Turiner.

1863

Der Architekt Alessandro Antonelli eröffnet offiziell die Baustelle des Gebäudes, das später als Mole Antonelliana berühmt werden wird, ein Gebäude, das Turin symbolisiert und Generationen von Werbefachmännern das Leben erleichtert und es sogar auf die Zwei-Cent-Münze schafft. Doch obwohl die Turiner sie ständig vor Augen haben, ist die Geschichte der Mole den meisten unbekannt. Darum werden die einheimischen wie nichteinheimischen Leser höflich gebeten, möglichst bald in einen Buchladen zu gehen und ein oder mehrere Exemplare des von Giuseppe Culicchia verfassten Standardwerks Ba-da-bum! (Ma la mole no) zu erstehen, um ihre ungeheuerliche Wissenslücke zu schließen.

1865

Schon ist Turin keine Hauptstadt mehr. Ein weiterer Rekord in der prächtigen Titelsammlung der Turiner. Statt Turin wird zuerst Florenz, dann Rom zur Hauptstadt. Die zu Recht verärgerten Turiner protestieren. Bei den Straßenkämpfen, die auf der Piazza San Carlo stattfinden, vollführen die Linientruppen den ersten Staatsstreich gegen das bereits vereinigte, wenngleich noch nicht republikanische Italien.

1875

Baratti & Milano öffnet seine Pforten und sichert sich damit den Titel als drittältestes historisches Kaffeehaus der Stadt. Außer Guido Gozzano, der dafür bekannt ist, den Turinerinnen, die sich dort vor einem Teller Gebäck versammeln, ein Gedicht gewidmet zu haben, wird auch Culicchia zu den Stammgästen gehören.

1884

Die große »Esposizione generale italiana«. In der Erwartung, zur postindustriellen Stadt zu avancieren, bekehrt sich Turin zur Industrie.

1891

Internazionale Torino, der erste italienische Fußballklub, wird gegründet, noch ein Rekord für die bereits exorbitant lange Triumphliste der Turiner.

1899

Giovanni Agnelli gründet die Fabbrica Italiana Automobili Torino (FIAT), ohne zu ahnen, dass selbst angesehene Zeitungen dereinst Kommentare veröffentlichen werden, die die symbolische Wirkung eines Pullovers analysieren.

1900

Erster »Salone dell’Auto«, eine Auto-Messe und ein weiterer Rekord, der die ohnehin reichhaltige Triumphliste der Turiner weiter aufbläst.

1904

Die ersten Filmstudios, ein weiterer Rekord, der die bereits überquellende Triumphliste der Turiner schmückt.

1906

Erstes Spiel des Torino Football Club, eines Vereins, der aus der Asche von Internazionale Torino hervorgeht und der darum mit vollem Recht behaupten kann, Erbe des ersten Fußballvereins der Stadt zu sein. Ätsch!

1907

Das Mulassano öffnet seine Pforten und sichert sich damit den Titel als viertes historisches Kaffeehaus der Stadt. Berühmt wird das Lokal durch seine Erfindung des Tramezzino. Unter anderem wird Culicchia zu den Stammgästen gehören.

1915–18

Erster Weltkrieg. Die Savoyer verraten ihre deutschen Verbündeten und schlagen sich auf die Seite der Stärkeren, Startschuss für eine kurzfristige, aber verlässliche Gewohnheit.

1937–38

FIAT eröffnet das Werk Mirafiori. Niemand ahnt, dass ausgerechnet die Schlangen vor den Toren dieses Werks, aufgenommen von den Kameras der Radio Televisione Italiana, genutzt werden würden, um in Schwarz-Weiß von der großen Emigration arbeitssuchender Süditaliener in den Norden zu erzählen, und so dazu beitragen, in den Köpfen der Italiener das Bild von Turin als grauer Industriestadt zu verfestigen. Davon sind bald auch die Turiner selbst überzeugt, obwohl sie die erhabenen Plätze, die barocken Paläste und das Grün der Hügel ständig vor Augen haben.

1940–45

Zweiter Weltkrieg. Diesmal halten die Savoyer den deutschen Verbündeten die Stange. Vielleicht weil die, wenigstens zu Anfang, die objektiv Stärkeren sind. Dann treten jedoch die Vereinigten Staaten in den Krieg ein, und die Achsenmächte werden in Stalingrad und El-Alamein geschlagen. Turin wird bombardiert. Die Alliierten landen in Sizilien. Und nach dem 8. September 1943, gemäß kurzfristiger, aber verlässlicher Gewohnheit, verraten die Savoyer die deutschen Verbündeten und schlagen sich wiederum auf die Seite der Stärkeren.

1946

Nach dem Referendum, das die Geburtsstunde der Republik bedeutet, gehen die Savoyer ins Exil nach Portugal, ein Land, das damals allerdings noch nicht zum berühmten Vergleichsterminus geworden war, den die Italiener ein halbes Jahrhundert später heranziehen werden: »Nach uns kommt nur noch Portugal«.

1950–60

Cesare Pavese nimmt sich das Leben in einem Zimmer des Hotel Roma an der Piazza Carlo Felice. Wirtschaftsaufschwung. In den Häusern der Turiner halten die ersten Fernsehgeräte, die ersten Kühlschränke und die ersten Waschmaschinen Einzug. Und ebenso die sogenannten terroni oder napuli,3 also die Großeltern der heutigen zarri oder zamarri oder tamarri oder zatamarri,4 je nachdem. Auf den Straßen sieht man freundliche Schilder, die besagen: »KEINE VERMIETUNG AN SÜDITALIENER«. Um die Neuankömmlinge unterzubringen, die zunächst in den Dachkammern der historischen Innenstadt ohne Wasser, Toilette oder Heizung hausen, werden Hals über Kopf Viertel wie Mirafiori, Falchera, Parella und Vallette aus dem Boden gestampft, ohne jede Infrastruktur, ohne Läden, Kindergärten, Bibliotheken, Straßenbeleuchtung, Verkehrsverbindungen mit der Innenstadt. Diese wertvolle Erfahrung wird man ein halbes Jahrhundert später in den modernen Stadtvierteln Spina 1 bis 4 noch einmal machen können. Ach ja, aber diesmal mit Straßenbeleuchtung.

1960–70

Die Turiner machen mit ihren FIAT 500 vor allem in Noli, Ligurien, Urlaub. In der Marathon-Kurve im Turiner Stadion entstehen zur lautstarken Unterstützung des granatroten FC Torino die »Ultras granata«. Die Achtundsechziger legen in Turin bereits 1967 los, mit der Besetzung des Palazzo Campana. Noch ein Rekord für die bereits ellenlange Triumphliste der Turiner.

1970–80

»Il Toro« gewinnt mit Trainer Gigi Radice den Meistertitel der Serie A 1975/76 in folgender Formation: Castellini, Santin, Salvadori; Pat Sala, Mozzini, Caporale; Claudio Sala, Pecci, Graziani, Zaccarelli, Pulici. Die Protestbewegung von ’68 und dann die sogenannten »bleiernen Jahre« prägen die Stadt merklich.

Der »Marsch der Vierzigtausend«, eine Zahl, für die Norberto Bobbio den berühmten Ausdruck Esageruma nen prägte, was so viel bedeutet wie: »Übertreiben wir es nicht«. Der Marsch steht am Ende der Ära der Arbeiterkämpfe, und es beginnt der allmähliche, aber unaufhaltsame Abstieg der Linken, nicht nur in Turin, sondern in ganz Italien. Dario Argento dreht, zum Teil in Turin, den Film Rosso – Farbe des Todes. Jedes Mal, wenn er wieder in der Stadt ist, und sei es dreißig oder vierzig Jahre später, wird es mindestens einen Journalisten geben, der ihn daran erinnert.

1980–90

Das Bündnis der Linken, das die Stadt regiert, stürzt über einen Finanzskandal, in den unter anderem die Sozialisten verwickelt sind, was die Mani-pulite-Skandale5 überdeutlich vorwegnimmt: Ein weiterer Rekord, der die unsterbliche Triumphliste der Turiner bereichert. Canale 5 erwirbt die Frequenzen von Tele Torino International, sodass die Stadt nun endlich Dallas empfangen kann. Die Ramones spielen im Parco Ruffini. Ein verlassenes Kinderheim in der Via Passo Buole wird besetzt, das fortan El Paso heißt. An den Murazzi entstehen die Lokale Doctor Sax und Giancarlo. Endlich haben die Kaputten ihren Platz.

1990–2000

Krise der FIAT und letzter »Salone dell’Auto«. Es kommen wieder die Franzosen, aber diesmal, um Lokale wie La Bicyclette oder das FreeVolo zu eröffnen. Die sogenannte Aufwertung des Quadrilatero Romano6 nimmt mit Kündigungen und Zwangsräumungen ihren Lauf, das so vom bürgerlichen Viertel, in dem Heroin gedealt wird, zum Yuppie-Viertel aufsteigt, wo man Koks vertickt. In der Stadt wird wieder Kino gemacht oder wenigstens der ein oder andere Film gedreht. Alessandro Baricco schreibt im Lokalteil einer Zeitung, dass »Il Toro« nie wieder in die Serie B absteigen wird. Es beginnen die dunkelsten Jahre in der Geschichte der granata, der »Granatroten«, die ständig wieder in die zweite Liga absteigen.

2000–2004

Die Savoyer kommen zurück nach Turin, aber nur zu Besuch. Auf den Mauern der Stadt tauchen überall Graffiti auf, die den Attentäter Umbertos I. Gaetano Bresci preisen. Gianni und Umberto Agnelli verschwinden. Die Aufgabe, FIAT zu retten, fällt Luca di Montezemolo und John Philip Elkann zu. Derweil zerfleischt sich die städtische Linke, nicht über die Zukunft der Arbeiter von Mirafiori, sondern über die eines Gebäudes an der Piazza Carlina, das im vergangenen Jahrhundert von Antonio Gramsci bewohnt wurde und das vom Mietshaus mit Sozialwohnungen in ein Fünf-Sterne-Hotel umgewandelt werden soll. Schließlich werden Luxus-Apartments daraus. Turin wird übersät von den Baustellen für die U-Bahn und die Gebäude, in denen die Gäste der Olympischen Winterspiele 2006 beherbergt werden sollen, die zunächst ein Finanzloch von 200 Millionen Euro reißen, etwas, das zur Einrichtung des TOROC führen wird, dem Organisationskomitee der Spiele. Meisterwerke der Industriearchitektur wie die Fabriken von Michelin und Teksid werden dem Erdboden gleichgemacht, um Gebäude hinzusetzen, die sich dann mit lauter Mailändern füllen sollen. Auf dem Piazzale Valdo Fusi – einst zerbombt, dann brachliegend – wird ein Parkplatz gebaut, der den Architekten, die ihn geplant haben, ebenso wie den Verwaltungsmitarbeitern, die ihn genehmigten, mit Sicherheit Unsterblichkeit verleihen wird. Baricco verlässt Turin. Dafür kommt Eva Herzigová.

2005

Die Turiner fiebern der Einweihung der U-Bahn entgegen, die nur knapp hundertzweiundvierzig Jahre nach der Londoner Metro eingeweiht wird. Niemand ahnt, dass, wo es sich doch um eine U-Bahn allerneuester Bauart handelt, ein wenig Regen ausreicht, um sie außer Betrieb zu setzen. Ebenso fiebern die Turiner den bevorstehenden Olympischen Winterspielen entgegen, auch weil es seit mindestens zwei Jahrzehnten in Turin und Umgebung bekanntlich kaum schneit.

2006

Vielleicht auch dank der Zeilen, die ihr soeben gelesen habt, schneit es während der Olympischen Spiele andauernd. Die weltweit übertragenen Bilder erreichen auch die Turiner, die dank der NBC feststellen, dass sie in einer wunderschönen Stadt leben. Sie beschließen daher, diese Stadt zu besichtigen, und sind beeindruckt, dass Turin tatsächlich nicht grau ist, sondern bunt.

2007

Während FIAT dank John Elkann und Sergio Marchionne wiederauflebt, steigt der andere freundlicherweise in der Stadt beherbergte Verein zum ersten Mal in der Geschichte in die Serie B ab. Nicht aus Unvermögen, wie es »Il Toro« häufig geschieht, sondern wegen sportlicher Unfairness. Das Ereignis wird noch in allen folgenden Generationen von Fans der Granatroten von Vater zu Sohn weitergegeben werden. Bedauernswert nur diejenigen – und wie! –, die nicht mehr da sind und diesem historischen Ereignis nicht beiwohnen konnten.

2008

Man findet heraus, dass Turin die schuldenreichste Stadt Italiens ist, vor allem wegen Derivaten. Dank des Olympia-Effekts kommen nun viele Touristen in die Stadt, sogar aus der Toskana. Die Restaurants rüsten sich mit Speisekarten auf Englisch, Deutsch, Französisch, im Cuneeser Dialekt. Inzwischen tobt die Debatte um die Wolkenkratzer der piemontesischen Regionalverwaltung und der Banca Intesa Sanpaolo. Dürfen sie oder dürfen sie nicht die Spitze der Mole überragen? Wie sich herausstellt, dürfen sie nicht, wenigstens nicht in der Innenstadt: zum großen Ärger von Massimiliano Fuksas und Renzo Piano – und zur großen Freude von Alessandro Antonelli.

2009

In der Stadt tobt die Debatte darüber, wie das Gelände der OGR (Officine Grandi Riparazioni, Industriekomplex zur Instandhaltung von Eisenbahnlokomotiven und Waggons) der ehemaligen Staatseisenbahn fortan genutzt werden soll. Derweil wird klar, dass das Projekt einer neuen Stadtbibliothek, das von einem Kulturreferenten der Stadt geplant und einem Mailänder Architekten anvertraut wurde und dazu auserkoren ist, nichts Geringeres als das Centre Pompidou zu übertreffen, doch nicht umgesetzt wird: Es ist kein Geld da. Schade, dass alleine für den Entwurf bereits etwa zwanzig Millionen Euro ausgegeben wurden. Eines der dringendsten Probleme sind die Auswirkungen der sogenannten movida, des Nachtlebens auf die Turiner, die noch einen Job haben und gerne schlafen würden. Bürgermeister Chiamparino erklärt in einer Debatte offiziell, dass »die Zukunft der Stadt in einem Bündnis zwischen movida und Industrie« bestehe. Einige schlagen eine radikale Lösung vor: Die Bezeichnung der sogenannten movida zu ändern. Das hat die jugendliche Avantgarde längst getan: Sie nennen es il devasto, die Verheerung.

2010

In der Stadt tobt die Debatte über die Vorbereitungen zur Hundertfünfzigjahrfeier der Vereinigung Italiens. Der Kulturreferent der Stadt wird offiziell zum Referenten für Kultur und die Hundertfünfzigjahrfeier der Vereinigung Italiens erklärt. Unterdessen zerbricht man sich außerdem den Kopf darüber, was noch zu feiern wäre: der sogenannte »Olympia-Effekt«.

2011

Turin feiert hundertfünfzig Jahre Vereinigung Italiens. Die Stadt ist gepflastert mit italienischen Trikoloren wie keine andere. Die Turiner überraschen sich immer wieder selbst dabei, italienischer zu sein als die Toskaner oder irgendjemand anders. Die Variante 200 des Bebauungsplans wird beschlossen, um Geld zu scheffeln und die fraktionsübergreifende Betonpartei zu befriedigen. Das neue Hochschulzentrum auf dem Gelände des ehemaligen Gasometers wird mit großem Pomp eingeweiht. Schade nur, dass die Studenten augenblicklich feststellen, dass die Klimaanlage selbst bei Kälte unaufhaltsam weiterläuft.

2012

In der Stadt tobt die Debatte um Kürzungen im Kulturetat. Bibliotheken, Kindergärten sowie Einrichtungen für Senioren und Behinderte bekommen sie bereits zu spüren. Die Straßenreinigung steht seit Monaten still. Derweil wird für das von Pier Luigi Nervi für die Hundertjahrfeier der Vereinigung Italiens entworfene Haus der Arbeit, das man dort einst als Hochschulzentrum vorgesehen hatte, um es dann aber doch ein halbes Jahrhundert lang verrosten zu lassen, eine optimale Lösung gefunden: Es wird zu einem Einkaufszentrum im Herzen der Stadt, die bereits den Rekord für die meisten Einkaufszentren in Italien hält, ein Rekord, der die längst exorbitante Triumphliste der Turiner bereichert. Um das Viertel San Salvario aufzuwerten, das unter anderem für Drogenhandel und Prostitution bekannt ist, beschließt man, nicht dem Vorbild Bogotás zu folgen, wo man das Problem mit einer großen Stadtbibliothek zu lösen versuchte, die zum Kulturzentrum und Versammlungsort wurde, sondern man verteilt massenhaft Gewerbescheine. Die sogenannte Movida zieht also hierher um.

2013

In der Stadt tobt die Debatte über die Löcher, die die Straßen Turins kennzeichnen, auch weil es inzwischen ein erstes Opfer gibt, einen Rentner, der in eines der besagten Löcher stolpert, sich den Kopf aufschlägt und stirbt. Die Eingaben der Bewohner San Salvarios, die darum bitten, den Palazzo del Lavoro nicht in das x-te Einkaufszentrum zu verwandeln, werden ignoriert. Trotzdem stoppt der Rechnungshof das Projekt. Niemandem kommt jedoch in den Sinn, ein Hochschulzentrum daraus zu machen, wie von Nervi geplant. Außerdem kristallisiert sich heraus, dass FIAT immer amerikanischer wird.

2014

In der Stadt tobt die Debatte darüber, wie es weitergehen soll, angesichts der Krise und der Haushaltslöcher der Region und der Lohnersatzkasse sowie der verschlossenen Rollgitter des traditionsreichen Ladens PAISSA an der Piazza San Carlo, aber nicht nur, und so weiter. Aber es ist eine Debatte im Zeichen des Understatements, in dem Sinne, dass laut der öffentlichen Erklärungen in Turin alles bestens läuft, unbeschadet dessen, dass das ganze Land kränkelt und Turin weiter in Italien liegt. Tatsache jedoch ist, dass es nicht einmal genug Geld gibt, um die Steine auf der Piazza Castello zu ersetzen, die auf mysteriöse Weise ständig kaputtgehen, sodass die Pflasterung des symbolischsten Ortes der Stadt eine Art Patchwork auf Teerbasis darstellt.

2015

In der Stadt tobt die Debatte, wie der zehnte Jahrestag der Olympischen Winterspiele begangen werden soll.

2016

Zehnter Jahrestag der Olympischen Winterspiele.

2017

Nachdem sie Turin schon die Mode, das Radio und Gigi Lentini, einen zum AC Mailand gewechselten großartigen Spieler des Toro, entwendet haben, wollen die Mailänder das Gleiche mit der Buchmesse veranstalten. Aber der Salone del Libro bleibt in Turin.

2018

Schon zum x-ten Mal schafft es die andere, freundlicherweise in der Stadt beherbergte Mannschaft nicht, die Champions League zu gewinnen: eine Turiner Tradition, die seit unvordenklichen Zeiten überdauert.

2019

FIAT, eine Tochtergesellschaft der Fiat Chrysler Automobiles (FCA), beginnt mit der Produktion des 500 als Elektroauto – pünktlich zu Greta Thunbergs Besuch in Turin.

2020

Mailand entreißt Turin auch Giuseppe Culicchia, der sich rettungslos in eine Mailänderin verliebt. Wie schon Stendhal sagte, sind die Mailänder Frauen die schönsten (und nicht nur das).

Intro

Glaubt man dem, was in der Zeitung steht, so ist ein Großteil der Italiener ab einem gewissen Punkt der Menschheitsgeschichte nicht mehr in den Urlaub gefahren. Wir erlebten die erklärtermaßen schlimmste Krise seit 1929, und deswegen war man gezwungen, in den Ferien in der Stadt zu bleiben. Und daher hatten wir Turiner einen enormen Vorteil gegenüber unseren Landsleuten: Turin hatte seine touristische Berufung erst kurz zuvor entdeckt. Darum war der Großteil der Italiener noch nie dort im Urlaub gewesen. Angefangen bei uns Turinern, die wir bis dato unsere Urlaube, wer weiß weshalb, immer anderswo verbrachten. Von nun an jedoch hatten wir, indem wir uns für den Urlaubsort Turin entschieden, Gelegenheit, allen voran uns selbst zu überraschen, aber auch unsere Freunde und Verwandten, die woanders lebten. Eines Tages zum Beispiel telefonierte ich mit einem lieben Freund, der in Rom wohnt.

»Wohin fährst du dieses Jahr in den Urlaub?«, fragte ich ihn.

Und er: »Ach was, Urlaub, bei dieser ganzen Krise, ich bleib in Rom. Und du?«

»Ich nicht, um Himmels willen, Rom ist zwar wunderbar, aber im Urlaub war ich da schon so oft. Dieses Jahr habe ich mir ein neues Ziel ausgesucht: Ich reise nach Turin.«

»Nach Turin?«

»Ja. Wieso? Weißt du denn nicht, dass Turin jetzt seine touristische Berufung entdeckt hat und eines der beliebtesten Reiseziele ist?«

»Na ja, ich hab davon gehört. Aber entschuldige, du lebst doch in Turin?«

»Klar lebe ich hier. Aber im Urlaub war ich hier noch nie.«

»Ehrlich gesagt, ich auch nicht.«

»Na siehst du? Würdest du nicht auch gerne mal in Turin Urlaub machen?«

»Klar würde ich, ist ja schließlich, wie du gesagt hast, eines der gefragtesten Reiseziele.«

»Ganz recht. Und wenn du in Turin Urlaub machen würdest, warum sollte ich es dann nicht auch tun?«

»Das stimmt … dann einen schönen Urlaub!«

»Danke.«

Natürlich haben nicht alle das Glück, in Turin zu leben und es sich darum leisten zu können, in Turin Urlaub zu machen. Allerdings kann man’s, egal wo man lebt, auf mindestens zwei verschiedene Arten hinkriegen.

Die erste Art, in der eigenen Stadt Urlaub zu machen, besteht darin, in einem Viertel herumzuschleichen, das man noch nicht kennt. Das ist, alles in allem, die einfachste Lösung, erstens weil es überhaupt keine Verkleidung erfordert und einem zweitens erlaubt, Gegenden zu erkunden, die voller Überraschungen stecken. Ein Turiner, der in der Innenstadt lebt, kann also in Le Vallette Urlaub machen, ein Mailänder, der in Brera wohnt, kann Quarto Oggiaro zum Urlaubsziel wählen, ein Neapolitaner aus Posilippo nach Scampia fahren, ein Palermitaner mit schicker Wohnung in der Via Libertà in die ZEN7 und so weiter. Und umgekehrt natürlich.

Die zweite Art, in der eigenen Stadt Urlaub zu machen, besteht darin, wirklich direkt im eigenen Viertel zu bleiben. Was sich, wenn man es genau bedenkt, um eine neue Variante der sogenannten Extremurlaube handelt. Darum kann in diesen Fällen eine Verkleidung notwendig sein, wenigstens wenn man in einem der Viertel wohnt, in denen es noch so etwas wie Nachbarschaftsleben gibt, und sich darum mehr oder weniger alle kennen und man sich grüßt, etwas, das einen selbstredend nicht gerade in Urlaubsstimmung versetzt, vor allem nicht die vielen Italiener, die bis gestern noch nach Kenia oder auf die Seychellen gereist sind. Es genügt ein Regenmantel, der klassische falsche Bart, eine Brille, womöglich gar eine Perücke, und das Problem ist gelöst. Anfangs kann gerade dieses Verlassen des eigenen Hauses in Verkleidung solchen Adepten des Extremurlaubs dabei helfen, die alltäglichen Straßen und Plätze, die gewohnten Bars und Restaurants mit neuen Augen zu sehen, auch wegen der unvermeidlichen Spannung, die sie empfinden werden, wenn sie wie jeden Tag an der Pförtnerin, dem Zeitungshändler oder dem Tabakhändler vorbeikommen. »Und was jetzt? Werden sie mich erkennen, oder nicht? Und wenn sie mich erkennen, was sage ich dann, um meinen Aufzug zu erklären?«

Na gut, kommen wir zurück auf Turin: Etwas Ähnliches ist uns Turinern 2006 passiert, als unsere Stadt die Olympischen Winterspiele ausrichtete. Damals haben wir überrascht festgestellt, wie sehr Turin von denen geschätzt wurde, die von außerhalb kamen und die Stadt zum ersten Mal sahen. Und zum ersten Mal sahen auch wir Einheimischen sie mit anderen Augen, lernten Orte und Farben zu schätzen, die wir tags zuvor noch für so selbstverständlich gehalten hatten, dass wir sie gar nicht mehr sahen. Es wäre also nicht schlecht, wenn wir aus der Not eine Tugend machen und die Tatsache ausnutzen würden, dass wir es uns nicht mehr leisten können, in den Ferien wegzufahren, um unsere Stadt fortan mit demselben Erstaunen zu betrachten, mit dem wir sonst unsere Urlaubsorte betrachten. Ganz zu schweigen davon, dass wir – dank Internet und sonstigen Bildkulturen – unsere Urlaubsorte üblicherweise bereits zur Genüge kennen, noch bevor wir einen Fuß dorthin gesetzt haben. Wohingegen wir die Orte, an denen wir leben, gar nicht mehr sehen. Und sie wiederzuentdecken könnte viel mehr wert sein als ein Reiseticket (auch weil es diesmal gratis ist).

In diesem Geist habe ich, obwohl die Krise erst noch kommen sollte, vor mehr als zehn Jahren eine erste Fassung dieses Buchs geschrieben: Torino è casa mia (Turin ist mein Haus). Ein Buch, in dem ich versucht habe, von der Stadt zu erzählen, in der ich lebe, sie von den Vorurteilen zu befreien, die immer zum Vorschein kamen, sobald man sie nur erwähnte, weswegen ich genau diese Vorurteile zum Ausgangspunkt nahm. Zufällig kam es so, dass die Stadt in der Zeit, in der ich schrieb, selbst begann, diese Vorurteile abzuschütteln. Mit dem Ergebnis, dass Turin sich von der »grauen Industriestadt« beziehungsweise dem »Laboratorium« beziehungsweise der »Wiege der Aktionisten«, die fähig war, die »Arbeiterkultur« mit der Intellektualität des Einaudi-Katalogs zu vermählen, durch einen dreifachen Salto mortale mit Kopfsprung zwischen Olympischen Spielen und einer Betonierung der gesamten … pardon, einer Sanierung der gesamten Stadt auf magische Weise in eine »Stadt der Movida«, des Nachtlebens, verwandelt hat. Und zwar so, dass im Handumdrehen auch das entsprechende »Antimovida-Komitee« entstand. Vielleicht, weil die sogenannte Movida demokratisch ist, in dem Sinne, dass sie niemanden schlafen lässt, weder diejenigen, die sie praktizieren, noch diejenigen, die sie erdulden. Nicht umsonst ist sie in Madrid zeitgleich mit dem Ende des Franquismus und dem Beginn der Demokratie aufgekommen, auch wenn man damals an der Schwelle der mythischen, oder, wenn ihr so wollt, berüchtigten achtziger Jahre stand und man unter der Madrider Movida nicht nur kollektive Besäufnisse verstand, die nachts Straßen und Plätze dieser Stadt belebten, sondern auch eine richtige kulturelle Bewegung, inklusive einer Zeitschrift mit passendem Namen (La Luna) und einer Reihe von Künstlern und anderen berühmten Persönlichkeiten von Carmen Maura bis hin zu Pedro Almodóvar.

Wie es weiterging, ist bekannt. Als Exportschlager hat die Movida an den abgelegensten Orten Fuß gefasst, die Nächte unzähliger Städte und Küstenorte in Europa und anderswo zum Kochen gebracht. Nur dass der kulturelle Anteil dabei, sagen wir, ein wenig in den Hintergrund gerückt ist, es sei denn, man wollte unter Kultur den DJ verstehen, der einem bereits zum Aperitivo seinen House-Remix von »Ciuri Ciuri Ciuri di Tuttu l’Annu« »volles Rohr« um die Ohren bläst, unter Jubelschreien, himmelwärts gereckten Ärmchen und um den Schädel gebundenen Krawatten seiner Anhänger, die sich auf zwei, nebenbei bemerkt bereits im Originalrezept enthaltene Zutaten konzentrieren: Kokain und Saufen im Freien. Das hatte zur Folge, dass im ohnehin kargen Turin zuerst die Murazzi am Po-Ufer, dann der Quadrilatero, dann die Piazza Vittorio, dann San Salvario und schließlich Vanchiglia regelrechte Nicht-Orte geworden sind, und das nicht, weil die neueste Variante des Stadtentwicklungsplans sie in Einkaufszentren oder Flughäfen verwandelt hätte, sondern weil sie austauschbar geworden sind, was »Lifestyle« und »kulturelle Vorbilder« angeht, im Zeichen des »Anything goes« jederzeit zu verwechseln mit den Mailänder Navigli oder der Gegend um den Campo de’ Fiori in Rom, oder, man glaubt es kaum, dem Campo Santa Margherita von Venedig.

Das Problem ist, dass an diesen von Marc Augé definierten Nicht-Orten, unter anderem eben Einkaufszentren und Flughäfen, zwar ständig Menschenmassen herumrennen, die von einer rasenden Konsumlust oder aber davon angetrieben sind, möglichst schnell von einem Ort an den anderen zu kommen, aber niemand dort wirklich lebt. An den Nicht-Orten der Movida hingegen leben Tausende von Menschen, die tagsüber arbeiten, vielleicht in prekären Jobs, und die in den Nachtstunden ein großes und vollkommen nachvollziehbares Bedürfnis nach Erholung haben. Ein Bedürfnis, das unmöglich gemacht wird durch die Sitten und Gebräuche der Movida-Anhänger, die sich in jeder Weltgegend völlig gleichen und die – wie soll ich sagen? buon tuono