Die Bewohnbarkeit der Erde

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Inhaltsverzeichnis

Fußnoten

Von Steward Brand zuerst 1968 herausgegebener Katalog mit Tools und Wissen für alle. Steve Jobs nannte ihn «Google in paperback form, thirty-five years before Google came along»; vgl. z.B. https://www.newyorker.com/news/letter-from-silicon-valley/the-complicated-legacy-of-stewart-brands-whole-earth-catalog.

Vgl. https://www.esrl.noaa.gov/gmd/ccgg/trends.

https://www.nibis.de/ausserschulische-lernstandorte-bne_11108.

Das könnte sich nun ändern: die aktuelle deutsche Neuausgabe «Ein Jahr im Sand County», Berlin: Matthes & Seitz, Oktober 2019, war bei Abschluss des Manuskripts für das vorliegende Buch noch nicht erschienen.

Vorwort

Aufgewachsen in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, bin ich (Jahrgang 1941) sozusagen in die Umweltproblematik hineingewachsen, die in den sechziger Jahren immer deutlicher ins öffentliche Bewusstsein trat und am Ende jenes Jahrzehnts mit dem Foto des Erdaufgangs, aufgenommen vom Mond aus, ein erstes verbindendes Symbol für alle diejenigen fand, die der Zerstörung der Erde entgegenzutreten suchten. Es war eine grosse und wachsende Bewegung, die sich von Anfang an auch in Schule und Unterricht ihr eigenes Segment erarbeitete, mit dem ich zeitlebens befasst war. Die Absicht dieser «Umweltbildung», wie wir die Sache nannten und wie ich sie anstelle der komplizierteren Bezeichnung «Bildung für nachhaltige Entwicklung» weiter nenne, ist mit folgendem Vers aus Bert Brechts Gedicht «Die Entstehung des Buches Taoteking auf dem Wege des Laotse in die Emigration» auf schöne Weise beschrieben:

Dass das weiche Wasser in Bewegung

Mit der Zeit den mächtigen Stein besiegt.

Du verstehst, das Harte unterliegt.

(Das Harte ist die Ursache von Ausbeutung und Vernichtung der Welt, und in der Umweltbildung liegt jener bewegte Einfluss, der das Harte schliesslich besiegen soll.)

 

In der Tat trifft das Wort «Bewegung» den Charakter der Umweltbildung, die verschiedene Fächer heranzieht, um Probleme zu verstehen, die anscheinend unvermittelt auftreten und ein enorm breites Spektrum umfassen, das die Creutzfeldt-Jakob-Krankheit und den Braunkohletagebau einschliesst und von der Verschmutzung der Meere bis zu den Treibhausgasen der Atmosphäre reicht.

Ein zweites Wort, das den Wesenskern der Umweltbildung bezeichnet, ist «Öffentlichkeit». Öffentlichkeit in erster Linie verstanden als Bewusstseinsbildungsprozess der Gesellschaft. Die Bevölkerung lernt das, was als Problem entgegentritt, unter allen Aspekten wahrzunehmen, zu untersuchen, in den Griff zu bekommen. Dabei spielen Medien eine wichtige Rolle, auch Stellungnahmen von Experten, Gerichtsurteile, parlamentarische Beschlüsse und Gesetzesentscheidungen. Im Vergleich mit dieser Öffentlichkeit, in der sich gewissermassen keimhaft die Weltöffentlichkeit spiegelt, ist die Öffentlichkeit der schulischen Umweltbildung nachgeordnet. Aber auch hier geht es, im Unterschied zu den meisten anderen Schulfächern, um die Herstellung einer Öffentlichkeit im Klassenzimmer, die sich mit aktuellen Problemen befasst und sämtliche verfügbaren Quellen heranzieht. Zwischen A (der grossen gesellschaftlichen Öffentlichkeit) und B (der Öffentlichkeit der schulischen Studiengruppe) besteht eine Korrespondenz, und hier kommt die Beweglichkeit der Umweltbildung ins Spiel, die sich den jeweils aktuellen Themen gleichsam anzuschmiegen und unterschiedliche Formen eines reichhaltigen methodischen Repertoires anzuwenden versteht, vom Studium ökologischer Grundbegriffe («Nahrungskette») mit ihren toxikologischen Implikationen (Akkumulation von Giftstoffen im Fettgewebe der Organismen) zur Untersuchung des pH-Wertes von Niederschlägen (mit Hilfe von Messgeräten) und zu philosophischen Erörterungen über die Rechte von Tieren.

 

Nach einem halben Jahrhundert öffentlicher Auseinandersetzung mit der Gefährdung der Bewohnbarkeit der Erde – mehr als fünfzig Jahre nach dem emblematischen Foto vom Erdaufgang und fast sechzig Jahre nach dem Erscheinen von Rachel Carsons «Der stumme Frühling» – ist eine Bilanz der Umweltbildung sinnvoll. Mein Rückblick ist nicht systematisch im Sinne einer Geschäftsbilanz. Auf die Frage «Was hat Umweltbildung dazu beigetragen, die Zerstörung der Biosphäre aufzuhalten?» versuche ich allenfalls auf dem Umweg über die anders akzentuierte Frage zu antworten: «Was hat Umweltbildung zur Bewusstseinsbildung der Menschen beigetragen?»

Einflüsse auf Politik (nationale, europäische und internationale Bestimmungen für die Entsorgung von Müll, Sondermüll, radioaktiven Abfällen, für Ackerbau und Viehzucht, für das Gesundheitswesen, für die Bauwirtschaft, für die Energieversorgung, Ankündigungen zum Atomausstieg, zum Kohleausstieg, zur Verkehrspolitik, Zielsetzungen zur sog. Klimaneutralität, zum Artenschutz usw.) und auf das Verhalten von Menschen (durch Ge- und Verbote, mehr oder weniger verbindliche Empfehlungen usw.) sind unübersehbar. In einzelnen Bereichen, etwa beim DDT-Verbot oder bei der Abschaffung bleihaltiger Treibstoffe, ist ein ursächlicher oder flankierender pädagogischer Einfluss anzunehmen, auch wenn dies nicht in Heller und Pfennig vorgerechnet werden kann. Dass Umweltbildung ins Gewicht fällt, ist an der reflexartig auftauchenden Frage nach den Auswirkungen jedes geplanten Vorhabens, jeder ins Spiel gebrachten Verhaltensänderung auf die Umwelt (vom Grundwasser bis zum Vorkommen bestimmter Arten von Tieren und Pflanzen) ablesbar. Die Bereitschaft, Umweltbelange zu berücksichtigen, ist hoch. Sie informiert die politische Diskussion. Vor fünfzig Jahren war diese Perspektive für die breite Öffentlichkeit noch exotisch.

 

Leider ist die einigermassen hoch entwickelte Sensibilität bisher noch erfolglos geblieben, was den Abbruch der weiter fortlaufenden Zerstörungsprozesse angeht. Man muss die düsteren Aussichten der Biosphäre abgrenzen von der positiven Bilanz der zivilisatorischen Entwicklung mit schrumpfender Extrem-Armut und steigender Lebenserwartung, die Hans Rosling gezogen hat. Mit den wenigen seiner auf die Biosphäre bezogenen Daten – Klimawandel, Artenschutz – belegt auch er den Niedergang. Die von ihm vermutete systematische Schwarzmalerei der Verhältnisse trifft also allenfalls auf die gesellschaftliche – vor allem die medizinische – Entwicklung zu. Was den Niedergang der natürlichen Umwelt angeht, so bleibt die pessimistische Sicht unglücklicherweise die immer noch angemessenere.

Es gibt allerdings keinen Grund für die Annahme, dass dies so bleiben müsste. «Alles Leben ist Problemlösen», hat uns Karl Popper in Erinnerung gerufen, und Umweltbildung ist ein Werkzeug, das beim Lösen des Problems helfen sollte, die Erde bewohnbar zu erhalten.

 

Bei meiner Bestandsaufnahme, die wegen zahlreicher zufälliger Windungen meines Erfahrungsweges keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit des Urteils beansprucht, identifiziere ich ausser einigen wenig hilfreichen Entwicklungen eine Reihe von zukunftsfähigen Orientierungen.

Die bereits über Jahrzehnte dauernde Fixierung auf das Konzept der Nachhaltigkeit erscheint mir überholt, und eine Verquickung mit den Zielen der Entwicklungshilfe trägt m.E. wenig zur Rettung der Biosphäre bei. Wo ein Zusammenwirken zwischen gesellschaftlichen Gruppen und Bewegungen zustande kommt, die sich für den Erhalt der natürlichen Umwelt oder gegen deren Zerstörung einsetzen, entsteht jedoch politischer Einfluss. Die schulische Umweltbildung verliert ihre Glaubwürdigkeit, wenn sie derartige Bewegungen ignoriert. Sachbezogen aufzuklären wäre das Minimum ihres Beitrags in Unterrichtsgestalt, darüber hinaus ein Forum für Diskussion und Meinungsbildung zu bieten wäre eine Unterstützung des laufenden Prozesses der Umweltbildung. Das Forum gäbe ein Scharnier zwischen schulischer und gesellschaftlicher Öffentlichkeit.

 

Die fünf Kapitel habe ich Lernprozessen gewidmet, die mir als notwendige Aspekte eines umweltbewussten Menschen erscheinen: Einer Person, die in der natürlichen Welt zu Hause ist und mit den Pflanzen, Tieren und Mitmenschen so umzugehen versteht, dass das Leben fortdauert. Jede der fünf Überschriften bezeichnet ein Fass ohne Boden: Die Lern- und Übungsprozesse finden kein Ende.

Besonders viel liegt mir an der Aufgabe, eine Vision zu entwickeln, die das Zusammenleben mit der Natur so sieht, dass der Sinn der Gemeinschaft erscheint. Eine Ethik, deren Ge- und Verbote eingebunden wären in die Aussicht auf ein gutes Leben. Die Vorstellung, dass die Welt künftig besser werden könnte, wäre wohl das stärkste Motiv der Umweltbildung.

1 Lernen, dass alles zusammenhängt

Wie Lebewesen fruchtbaren Boden erzeugen: Erinnerung an einen Versuch, im Unterricht eine Ahnung davon hervorzurufen, dass alles Leben miteinander verbunden ist

Ende April 2019, die Sonne brennt vom Himmel, aber unter dem Halbschatten der Blattschirme ist das Flanieren im Buchenwald eine Freude, auch wenn es überraschend steile Hänge hinaufzusteigen gilt im Drawehn, einer Moränenlandschaft, die der Gletscher des Saale-Glazials vor 120000 Jahren beim Abschmelzen in der norddeutschen Tiefebene zurückgelassen hat. Das Licht glänzt von den hellgrünen Blättern, die entlang der Zweige aus den Knospen herausdrängen. Gegen die Sonne gehalten, erscheinen sie lichtdurchtränkt und verlockend zart. Ich pflücke eines ab und ertaste seine seidige Beschaffenheit zwischen den Zähnen mit der Zunge, der Geschmack, anfangs grasartig, changiert beim Kauen angenehm zu einer leichten Säure.

Wie oft bin ich während der Jahrzehnte meines Lebens durch Buchenhallen gegangen, vor fünfzig Jahren als Lehrer habe ich über den Waldboden hin Ausschau nach Stellen für Bodenproben gehalten. Leichte Senken und Wannen, in denen sich die Blattstreu des Herbstes sammelt und Jahr für Jahr übereinander in Schichten ablagert, versprechen Schichtenmuster wie aus dem Bilderbuch. Gräbt man sie mit einem senkrechten Spatenstich auf, so sind die einzelnen Schichten sauber und separat zu erkennen: Obenauf liegt die lockere Blattschicht vom Vorjahr, mit beigefarben und bräunlich verwelkten, aber deutlich noch individuell erkennbaren Blättern, darunter eine matratzenartige Schicht aus weniger bröckeligen, zusammengepressten Blattresten, die sich kaum noch als einzelne aus dem Kuchen herauslösen lassen. Unter diesen helleren Oberschichten breitet sich eine dunklere Masse von annähernd torfartiger Beschaffenheit, ein wenig krümelig und so feucht, dass beim Zerreiben zwischen Daumen und Zeigefinger eine Schmierspur an den Fingern bleibt. Die am tiefsten unter den anderen liegende Schicht bildet meist einen ziemlich dünnen Horizont aus schwarzem Humus, in dem keine Spuren der alten Blattstreu mehr auszumachen sind. Und am schönsten – ich empfand das Schichtbild damals als eine Art didaktisches Kunstwerk – ist der Kontrast dieser schwarzen Erde zum strahlend weissen Sanduntergrund, auf dem sich die Bodenbildung schrittweise abspielt.

 

Hier im Drawehn mit seinen Moränensanden bietet sich ein ähnlicher Anblick wie damals auf den Sandsteinböden im Hessischen Bergland, wo ich Anfang der 1970er-Jahre meine Schulklasse in den Wald führte, um den Kindern zu zeigen, dass fruchtbarer Boden durch den Blätterfall zustande kommt – Stellt euch die Masse von Millionen Tonnen von Blättern vor, die jeden Herbst von den Bäumen fallen! –, durch die allherbstlichen Blätterberge und durch die vielen Pilze und Tiere, die diese Blätter zersetzen und fressen und dabei in kostbaren Humus verwandeln.

 

Auf die mit Zeitungspapier abgedeckten Tische im Klassenzimmer schütteten die Kinder die Bodenproben, die sie mit Schäufelchen abgegraben und in Plastikbeuteln mitgebracht hatten. Ich erinnere mich an das Pilzaroma des kräftigen Waldbodengeruchs, der sich alsbald im Raum ausbreitete und die Atmosphäre des Unterrichts dem Thema entsprechend unterlegte. Die Kinder sortierten das, was zu jeder Schicht gehörte, und ordneten es von oben nach unten als Sequenz oder von links nach rechts als Narrativ. Mit Lupen untersuchten sie zahlreiche kleine Lebewesen, die sich in den Proben bewegten, von bekannten wie Regenwurm, Assel und Ameise zu unbekannten Nematoden (dünnen weissen Würmchen), Hundertfüsslern (flink schlängelnden Räubern) und Saftkuglern (sehr breiten, auffälligen Tausendfüsslern, die sich igelartig zusammenrollen). Zusammengenommen gaben diese Lebewesen nur den winzigsten Ausschnitt des vielfältigen und massenhaften Bodenlebens wieder. Die Kinder zeichneten sie, so gut sie konnten, und hielten den Ablauf der Zersetzung von Buchenblättern mit Hilfe von Klebfilmstreifen oder Klebstiften auf Papier fest.

 

Damals, als junger Lehrer, war ich von der Vorstellung begeistert, dass bereits Zehn- bis Zwölfjährige mit den Grundzügen wissenschaftlichen Arbeitens vertraut gemacht werden können, und es schien mir damals bereits notwendig, Schulunterricht als Mittel gegen die zunehmende Zerstörung der natürlichen Umwelt aufzufassen. Deshalb wollte ich den Kindern vor Augen führen, wie alle Lebewesen miteinander verbunden sind und wie zwischen ihnen und ihrer Umwelt – Boden, Wasser und Luft – ein Austausch und eine Wechselwirkung bestehen.

Digitalisierung, «originale Begegnung» und die Grenzen der Schulbildung

Meine Erinnerung ist die Aufnahme aus einer vergangenen Zeit. Schulbildung – die Idee des Lehrplans und der Zwecke von Unterricht und Schulleben – ist in einem Prozess andauernder Veränderung.

Das Bildungswesen hat im Lauf der Jahrzehnte Ziele von der Art der Verwandtschaft und Verbundenheit aller Lebewesen hier und da aufgegriffen und mal mehr, mal weniger planvoll verfolgt. Meine fünfzig Jahre alten Vorstellungen über eine Verpflichtung des Unterrichts für den Erhalt der Welt sind sozusagen noch in Kraft, auch wenn andere Forderungen – derzeit etwa «Inklusion», «Digitalisierung» – nach Aufmerksamkeit heischen und obwohl die Zerstörung der Erde unvermindert fortschreitet. Aber die Art und Weise meines Unterrichts von damals über die andauernde Entstehung des fruchtbaren Bodens in unseren gemässigten Zonen dürfte für neue Generationen von Lehrern im heutigen Schulbetrieb nur schwierig nachzuvollziehen sein. Vielleicht ist es gerade deshalb interessant, an die verlorengegangenen Möglichkeiten zu erinnern.

 

Mit einer Schulklasse einfach in den Wald zu gehen, also einen «Unterrichtsgang» zu unternehmen, wie es im Jargon seinerzeit hiess, und den Kindern damit die Möglichkeit zu einer «originalen Begegnung» zu schaffen, wie das Heinrich Roth, einer der seinerzeit massgeblichen Unterrichtsexperten, genannt hatte – das ist inzwischen durch zahlreiche organisatorische oder auf juristische Bedenken zurückgeführte bürokratische Vorgaben erschwert. Latente Widerstände, die gegen die spontane Umwidmung eines Klassenraumes zum Waldbodenlabor mit Bergen von Zeitungspapier und Extra-Entsorgungsproblemen aufzubrechen drohen, könnten den Frieden manches Schulbetriebs ernsthaft gefährden. Noch schwerer, so scheint mir, fallen subtilere, aber habituell gewordene Orientierungen des Unterrichtsgeschäfts ins Gewicht: Buch und «Arbeitsheft» organisieren den Unterrichtsverlauf so, dass sich keiner anschliessend die Hände zu waschen braucht. Sie werden ausschliesslich zum Aufblättern des Buches oder zum Ausfüllen der Linien mit einem Stift in dem das Buch ergänzenden Heft benötigt.