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Maximilian Reich

Mutter-

söhnchen

35, Single und zurück
im Hotel Mama

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1. Auflage
© 2020 Benevento Verlag bei Benevento Publishing München – Salzburg,
eine Marke der Red Bull Media House GmbH, Wals bei Salzburg

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Medieninhaber, Verleger und Herausgeber:
Red Bull Media House GmbH
Oberst-Lepperdinger-Straße 11–15
5071 Wals bei Salzburg, Österreich

Satz: MEDIA DESIGN: RIZNER.AT
Gesetzt aus der Palatino, Verlag Compressed, Gotham
Umschlaggestaltung: ZeroMedia GmbH, München
Umschlagmotive: FinePic®
ISBN 978-3-7109-0047-1
eISBN 978-3-7109-5082-7

Für Mama

Bei allem, was Sie zwischen diesen beiden Buchdeckeln lesen, handelt es sich um Fake News. Die Ereignisse habe ich mir nachts am Küchentisch meiner Mutter bei Spezi und Balisto ausgedacht. Sämtliche Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten wären reiner Zufall. Deshalb handelt es sich bei diesem Buch um ein fiktives Sachbuch. Und das behaupte ich nicht, weil meine Mutter mich dazu zwingt …

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Epilog

Kapitel 1

Wenn ich in der Früh aufwache, sehe ich aus wie der Glöckner von Notre-Dame nach einer Kneipenschlägerei. Zumindest vermittelt mir dieses Gefühl mein Handy. Seit zwei Minuten halte ich das iPhone nun schon vor meine Nase, aber die automatische Gesichtserkennung weigert sich stur, das Display zu entsperren. So geht das jeden Morgen. Am Nachmittag hingegen macht es nie Probleme. Selbst wenn ich beim Arbeiten eine Brille trage, funktioniert das Sicherheitssystem problemlos. Und als ich mir im vergangenen Monat einen Bart hatte wachsen lassen und Ariane schimpfte, ich solle mich doch endlich wieder rasieren, weil sie mich ja gar nicht mehr wiedererkennt – mein Handy tat es. Nur eben nicht am frühen Morgen.

Ich stoße einen leisen Fluch aus und tippe den Zahlencode manuell in das Eingabefeld, um die WhatsApp-Nachricht meiner Mutter zu lesen, die mich vor ein paar Sekunden mit einem lauten PLING aufgeweckt hat. »Ich hab deinen Artikel über die Aufsprühbräune gelesen«, steht da. Und dahinter ist das Emoji von dem Kackhaufen mit Glubschaugen, das aussieht, als hätte der Zalando-Bote beim Kackhaufen geklingelt. Seit meine Mutter mit ihrer Lesegruppe vor drei Jahren in Japan war und gehört hat, dass das Kackhaufen-Emoji von dort stammt und ursprünglich für Freude steht, setzt meine Mutter hinter jede frohe Botschaft einen Kackhaufen.

»Alles Gute zum Namenstag. Kackhaufen.«

»Deine Cousine Katharina hat ihr Kind bekommen. Kackhaufen.«

Man könnte glatt meinen, man chattet mit einem Tourette-Patienten.

Ich lege das Handy zurück auf das Nachtkästchen und blicke neben mich. Die rechte Seite des Bettes gehört Ariane und macht ungefähr neunzig Prozent der Gesamtfläche aus. Meine Freundin liegt wie immer quer über der Matratze, die Arme und Beine weit voneinander ausgestreckt, wie da Vincis Entwurf des vitruvianischen Menschen – wenn er ihn mit verstrubbelten Haaren und Spuckefädchen in den Mundwinkeln gezeichnet hätte. Aus ihren Nasenlöchern bläst ein gleichmäßiges Schnaufen. Die Arme muss völlig erschöpft sein.

Ariane arbeitet als Anwältin bei einer renommierten Kanzlei und vertritt seit Kurzem einen Schweizer Pharmakonzern, gegen den im Moment eine Sammelklage läuft. Angeblich macht die neue Antibabypille wohl abhängig. Jetzt lungern überall verwahrloste Frauen an den Hauptbahnhöfen herum und schnorren verzweifelt Passanten an: »Ey, haste mal ’ne Baby-Pille?« Ariane sagt, das sei Blödsinn und meine Fantasie würde mal wieder mit mir durchgehen. Aber die muss das ja auch sagen. Jedenfalls ist sie deshalb gestern früh nach Zürich gefahren, um den Fall vor Gericht zu verhandeln, und kam erst spät in der Nacht wieder nach Hause. Dafür hat sie heute den ganzen Tag frei, und ich möchte sie nicht aufwecken. Deshalb klappe ich vorsichtig die kleine Ecke der Bettdecke, die Ariane mir großzügigerweise überlassen hat, zur Seite und schleiche mich ins Badezimmer, um mich für die Arbeit fertig zu machen.

Im Hausflur vor dem Aufzug fängt mich Frau Mendel ab. Die achtzigjährige Nachbarin scheint vor ihrer Tür auf der Lauer gestanden zu haben, bis ich die Wohnung verlasse. »Herr Hase, gut, dass ich Sie erwische.«

»Guten Morgen, Frau Mendel«, seufze ich und drücke auf den Fahrstuhlknopf.

»Sie wissen schon, dass man bei uns im Haus nach 22 Uhr nicht mehr duschen darf, gell?«

»Nein, das war mir nicht bewusst.«

»Kein Auge hab ich heut Nacht zugemacht, weil es so geplätschert hat hinter der Wand.

»Bitte entschuldigen Sie. Meine Freundin ist gestern erst spät von einem Geschäftstermin nach Hause gekommen.«

»Ja mei, dann muss sie halt am nächsten Tag duschen.«

»Ich werde es ihr ausrichten, Frau Mendel«, sage ich und drücke erneut auf den Knopf. Wo bleibt der blöde Aufzug?

»Gar nicht mehr aufgehört hat das. Ich hab gedacht, gleich schwemmt’s die Wohnung weg.«

Na endlich. Der Fahrstuhl ist da.

»Kommt bestimmt nicht wieder vor«, sage ich, als ich schon im Aufzug stehe, und drücke hektisch auf den Knopf für das Erdgeschoss.

Unten vor der Haustür pralle ich beinahe gegen Mark Tupfel, der gerade von seiner morgendlichen Joggingrunde zurückgekommen ist und nun wie üblich sein Workout mit ein paar Dehnübungen an der Außenfassade abschließt. Er trägt einen grünen Polyester-Anzug, unter dem zwei angespannte Waden herausgucken, die so kahl sind wie sein Kopf. Auf seinen Unterarmen treten Twix-Riegel-dicke Adern hervor. Selbst eine Gurke hat einen höheren Fettanteil als unser neuer Nachbar, der vor drei Monaten in die Wohnung unter uns eingezogen ist.

Am Wochenende, wenn das Wetter schön ist, sitzen Ariane und ich manchmal zum Frühstücken auf dem Balkon und gucken belustigt von oben zu, wie er im Hof seine Burpees macht, während wir uns die frischen Croissants vom Bäcker mit Nutella schmecken lassen.

»Guten Morgen«, sage ich freundlich und mache einen Schritt zu Seite.

»Morgen«, grummelt die Fitnessgurke und nickt mir zu. Anschließend dreht sie mir den Rücken zu, stützt sich nun mit der rechten Hand an der Hauswand ab und winkelt das linke Bein nach hinten ab, um auch noch den anderen Oberschenkelmuskel zu stretchen.

Kapitel 2

Meine Zimmerkollegin Gabi sitzt an ihrem Schreibtisch. Sie hat sich den Telefonhörer zwischen den Kopf und die Schulter geklemmt und pellt ein hart gekochtes Ei, während sie telefoniert. In einer Tupperdose auf ihrem Schoß befinden sich sechs weitere Eier. Seit einem Jahr versucht Gabi, schwanger zu werden, weshalb sie hauptsächlich Lebensmittel zu sich nimmt, in denen möglichst viel Eiweiß enthalten ist, weil das angeblich die Fruchtbarkeit erhöht.

»Hast du heute schon masturbiert?«, spricht sie in den Telefonhörer, wobei es eigentlich so aussieht, als würde sie die Frage an das Ei richten.

»Dann tu’s bitte jetzt.«

»Du weißt, was der Arzt gesagt hat. Je frischer das Sperma ist, desto besser ist auch seine Qualität.«

»Mir ist wurschd, ob du grad in Stimmung bist. Mach einfach ein Mal, worum ich dich bitte.«

»Und stell schon mal das Salbeiöl auf dem Nachttischchen bereit. Ich bin bald zu Hause.«

Wer die Schwangerschaft als ein Wunder der Natur bezeichnet, hat noch nie eine Frau in den Vierzigern erlebt, die unbedingt ein Baby möchte. Da wird nichts dem Zufall überlassen. Jedes Detail wird akribisch vorbereitet wie eine Militärinvasion. An welchem Tag angegriffen werden soll, wo der beste Ort dafür ist und in welcher Formation. Ich wünschte bloß, sie würde die Planung nicht in aller Öffentlichkeit vornehmen. Barack Obama hat die Ermordung von Osama bin Laden schließlich auch nicht in der Gemeinschaftsküche des Weißen Hauses besprochen.

»Ah, Emil! Da bist du endlich«, ruft Gabi, als sie mich bemerkt. Sie packt das angebissene Ei zurück in die Tupperdose und nimmt den Hörer in die Hand. »Bärchen, ich mach mich jetzt auf den Weg.« Dann legt sie auf und stopft die Plastikdose in ihre Handtasche.

»Sorry, die U-Bahn hatte Verspätung«, lüge ich und lasse mich auf meinen Bürostuhl gegenüber von ihrem Arbeitsplatz plumpsen. »Gibt’s was Wichtiges?«

»Ich hab meinen Eisprung und muss ganz dringend nach Hause. Ich hab nur noch auf dich gewartet, um dir das Thema für deinen nächsten Text zu geben.« Sie reicht mir ein weißes Döschen von ihrem Tisch. »Das ist eine neue Gesichtsmaske. Probierst du die bitte aus und schreibst mir dann 3000 Zeichen darüber?«

Ich mustere die Verpackung in meiner Hand. »Recharging Magnet Mask«, steht auf dem Etikett. Wenn ich die Beschreibung richtig verstehe, wird die Gesichtsmaske nicht mit Wasser abgewaschen, sondern nach der Einwirkzeit mittels eines kleinen Magneten abgezogen. Kosmetikentwickler ist auch ein Scheißjob. Ständig musst du dir ein neues Produkt gegen Falten ausdenken.

»Klar, kann ich machen.«

»Bist ein Schatz! Dann sehen wir uns Montag.« Gabi schreitet zur Tür und zupft von dem Garderobenständer daneben ihre Jacke.

»Viel Erfolg!«, rufe ich Gabi noch hinterher, als sie hinausgeht. Dann ist sie weg. Lustlos drehe ich die Gesichtsmaske zwischen meinen Fingern und denke mir das Gleiche wie die Dumpfbacke in der Werbung des Reiseanbieters Secret Escapes: Ich dürfte eigentlich gar nicht hier sein.

Nach meinem BWL-Studium hatte ich ein paar Praktika bei Tageszeitungen absolviert und mich anschließend um eine Stelle als Redakteur bei dem Nachrichtenmagazin FAKT beworben. Als ich ein Kind war, hatten meine Eltern die Zeitschrift abonniert. Mein Vater saß damit immer am Küchentisch und las meiner Mutter die Artikel vor, während sie das Rührei zubereitete.

Die Zeitschrift gehört zum Böller Verlag, der eines der größten Medienhäuser in Europa ist und noch zahlreiche andere Publikationen herausbringt. Beim Bewerbungsgespräch erklärte mir die Personalchefin, dass bei FAKT im Moment zwar kein Bedarf an neuen Mitarbeitern herrscht – die Frauenzeitschrift Missy aber dringend Verstärkung sucht. Ein Girly-Magazin, das sich hauptsächlich mit dem Liebesleben von Hollywood-Sternchen und den neusten Beauty-Themen beschäftigt. Sie schlug mir vor, dort zu arbeiten, bis bei den Kollegen von FAKT eine Stelle frei wird. Es würden immer wieder Mitarbeiter gehen und könne sich daher nur um ein paar Monate handeln. Meine Erfolgsaussichten seien aber wesentlich höher, wenn ich mich intern bewerbe, wie sie mir versicherte. Ein Jahr ist das mittlerweile her. Seitdem sitze ich hier bei Gabi im Zimmer und probiere für meine Kolumne die neusten Beauty-Trends, um anschließend aus Männersicht darüber zu berichten. Die Chefredakteurin fand das eine originelle Idee, um sich von den Produkttests der Konkurrenz abzugrenzen.

Ich verteile gerade den grauen Magnet-Batz auf meinem Gesicht, als meine Hosentasche vibriert. Ich muss erst meine klebrigen Hände mit Feuchtigkeitstüchern reinigen. Als sie halbwegs sauber sind und ich mein Handy endlich aus der Jeans fischen kann, hat der Anrufer bereits aufgelegt. Selbst jetzt, wo mein Gesicht komplett mit Schlamm überdeckt ist, erkennt mich das Display. Ich muss wirklich beschissen aussehen nach dem Aufwachen. Ich scrolle mich in das Menü mit den verpassten Anrufen und tippe auf die oberste Nummer. Eine herbe Frauenstimme geht ans Telefon. »Dollbach?«

Dollbach? Der Name sagt mir nichts.

»Guten Tag, Hase hier. Sie haben grad bei mir angerufen?«

»Ah, Herr Hase. Vielen Dank für den Rückruf. Ich arbeite für den Verlag Buch & Wurm Publishing. Sie hatten uns Ihr Exposé zugeschickt …«

Auf einmal sitze ich senkrecht wie ein Straßenschild auf meinem Bürostuhl. Vor ein paar Wochen hatte ich dem Verlag eine E-Mail geschickt mit einer Idee für einen Roman. Es handelt von einem jungen Kerl, der gegen seinen Willen bei einer Frauenzeitschrift arbeitet. Ein bisschen wie Der Teufel trägt Prada, bloß mit Channing Tatum statt Anne Hathaway in der Hauptrolle. Ich fand das eine witzige Idee, hatte von dem Verlag aber seitdem nichts mehr gehört. Bis jetzt.

»Ja!?«, stammle ich und fühle, wie das Adrenalin durch meine Adern schwappt wie die Donau durch Passau. Ich muss aufstehen und mich bewegen. Nervös gehe ich durch das Zimmer, während die herbe Stimme in meinem Ohr das Urteil über meine Karriere fällt: »Mir hat Ihr Schreibstil und Ihre Idee wirklich gut gefallen. Deswegen würden wir Ihnen gerne einen Buchvertrag anbieten, wenn das für Sie in Ordnu…?«

»Natürlich!«, rufe ich vielleicht eine Spur zu euphorisch. Ich kann regelrecht hören, wie die Frau am anderen Ende der Leitung den Rotstift in die Hand nimmt und auf dem Vertrag hinter meinem Honorar eine Null durchstreicht. Aber drauf gepfiffen. Bald wird ein Buch mit meinem Namen in den Regalen der Buchläden stehen. Junge Mütter in ganz Deutschland werden in Cafés sitzen und sich bei einem Latte Macchiato unterhalten: »Mensch, toll siehst du aus. Wie läuft’s denn mit dem kleinen Oskar-Phillippe?«

»Der kleine Frechdachs hält uns ordentlich auf Trapp. Ich bin froh, wenn ich mal ’ne halbe Stunde zum Lesen komme.«

»Was liest du denn gerade?«

»Im Moment lese ich den neuen Hase. Ein intelligenter Roman über einen Mann, der mit feiner Feder und viel Witz von seiner Arbeit bei einer Frauenzeitschrift berichtet.«

Die andere Frau hört interessiert zu und drückt dabei ihren kleinen Noah-Friedrich an die blanke Brust. »Oh, das klingt spannend. Den hol ich mir au… Autsch! Nicht in Mamis Brustwarze beißen, du kleiner Schlingel.«

Markus Lanz wird mich in seine Talkshow einladen, wo ich zunächst geduldig dabei zuhöre, wie Joey Kelly dreißig Tage ohne Deo durch Afrika gelaufen ist und ein Student in Port-au-Prince neue Schulen aus alten Zahnbürsten baut – bevor ich endlich an der Reihe bin und meinen Roman vorstelle: Mister Missy – ein Mann trägt Gesichtsmaske. Oder so ähnlich. Einen Titel muss ich mir noch überlegen.

»Wunderbar, Herr Hase. Dann geht der Vertrag heute noch per E-Mail an Sie raus«, sagt die herbe Stimme und legt auf.

Ich muss mich erst mal wieder setzen und die Nachricht verarbeiten. Meine Backen glühen vor Aufregung. Was mach ich denn jetzt? Zuerst mal den Schlamm aus dem Gesicht entfernen. Könnte nämlich auch sein, dass meine Visage deshalb so brennt. Und dann fahre ich nach Hause. An Arbeit ist heute nicht mehr zu denken. Ich bin viel zu aufgeregt, um mich jetzt mit etwas so Profanem wie Gesichtsmasken zu beschäftigen. Als Neil Armstrong die Nachricht erfuhr, dass er zum Mond fliegen darf, ist er bestimmt auch nicht erst mal in die Küche gegangen und hat den Backofen gereinigt. Gabi ist ja sowieso nicht hier, sondern lässt sich von ihrem Gatten gerade mit Salbeiöl einschmieren. Es fällt also nicht weiter auf, wenn ich heute früher Feierabend mache. Und selbst wenn: Was soll’s? Als einziger Hahn in diesem Hühnerstall genieße ich einen gewissen Sonderstatus. Ich könnte sogar alle Snacks aus der kleinen Kiste in der Büroküche aufessen, und niemand würde es mir übel nehmen. Eher würde mir die Chefredakteurin einen Verdauungstee aufsetzen. Also greife ich meine Jacke von der Stuhllehne und steige wieder in den Aufzug, der mich erst vor einer halben Stunde nach oben befördert hatte.

Auf dem Heimweg mache ich noch einen Zwischenstopp im Supermarkt und kaufe eine Flasche Moët-Champagner. Damit stoße ich nachher mit Ariane auf meinen Buchvertrag an. Und zum Abendessen koche ich meine berühmte Paella, die sie so liebt. Wir werden uns heute einen richtig schönen Abend machen zu Hause. Den hatten wir schon lange nicht mehr.

Kapitel 3

Ich hasse unseren Esstisch. Ein rundes Designer-Möbelstück aus schwarzem Glas, das aussieht wie ein bösartiges Muttermal. Ariane hatte ihn letztes Jahr im Internet gekauft und in unseren Flur gestellt, weil im Wohnzimmer ja schon das Sofa und das Bücherregal stehen. »Da kann nicht auch noch ein Tisch rein«, hat Ariane erklärt. »Das wirkt so vollgestopft.« Also haben wir jetzt eine Essecke direkt vor dem Badezimmer. Da war nämlich noch Platz. »Wenn Gäste zu uns kommen, will ich, dass sie es schön haben und keine Platzangst kriegen.«

Seitdem gehe ich nicht mehr aufs Klo, wenn ihre Freunde bei uns zum Essen sind. Es ist mir unangenehm, wenn fremde Menschen meinen Verdauungstrakt belauschen, während sie ihre Rosmarinkartöffelchen klein schneiden. Ja, da bin ich vielleicht ein bisschen etepetete. Aber bei Das perfekte Dinner bekäme man bestimmt auch Punkte abgezogen, wenn die Gäste den Gastgeber zwischen dem St. Petersburger Kaviar-Pfannkuchen und dem Kalbsfilet an Heidemöhrchen durch die Tür kacken hören. Das drückt aufs Ambiente.

Im Moment hasse ich diesen Tisch aber vor allem, weil meine Freundin es darauf mit der Fitnessgurke aus dem ersten Stock treibt. Als ich zur Wohnungstür hereinkomme, finde ich Ariane bauchlings über den Tisch gebeugt, wobei ihre nackten Brüste gegen die Glasplatte drücken. Hinter ihr steht mein durchtrainierter Nachbar mit der grünen Radlerhose in den Kniekehlen und absolviert sein Cardio-Workout. Und ich durfte noch nicht mal meine Speziflasche auf dem Tisch abstellen, weil das angeblich Ringe hinterlässt.

Im Fernsehen habe ich mal einen Beitrag über einen Amoklauf gesehen. Da hat ein Zahnarzt seine Ehefrau mit einem anderen Mann im Bett erwischt und daraufhin zunächst die beiden Ehebrecher und anschließend noch seine beiden Töchter und sich selbst erschossen. Eine Nachbarin hat der TV-Kamera erzählt, dass es sich bei dem Zahnarzt eigentlich um einen sehr freundlichen und zurückhaltenden Mann gehandelt habe. Dann gab es einen Schnitt, und als Nächstes hat man in dem Beitrag eine Psychologin gesehen, die ein Buch aus einem Bücherregal zieht, weil das Experten im Fernsehen aus irgendeinem Grund immer machen, bevor sie zu Wort kommen. Die Psychologin hat gesagt, dass traumatische Erlebnisse einen Schalter im Kopf umlegen können und man vorher nie weiß, wozu dieser Mensch fähig ist.

Ich weiß jetzt, dass ich fähig bin zum angewurzelten Dastehen. Ich spüre nämlich meine Füße nicht mehr. Dafür fühlt sich mein Magen an, als würden ihn kleine Männchen über eine Käsereibe raspeln. Ich stehe mit offenem Mund und schmerzendem Bauch einfach nur da und gucke zu, wie meine Freundin sich von einem anderen Mann durchpudern lässt. Die beiden sind so in ihr Liebesspiel vertieft, dass sie mich überhaupt nicht bemer…

»Scheiße, Emil!«, kreischt Ariane plötzlich, als sie den Kopf zur Seite dreht. Ruckartig richtet sie sich auf und schlägt dabei mit dem Arm nach hinten aus, als handle es sich bei dem nackten Nachbarn um eine lästige Mücke, die versucht, sie mit ihrem Penis zu stechen.

»Hey, was machst du?«, schimpft der Bodybuilder. Dann bemerkt auch er mich und fügt hinzu: »Oh, Fuck!«

Ja, verdammt! Riesenfuck! Fuck! Fuck! Fuck! Auf einmal spüre ich wieder meine Füße und will bloß noch hier weg. So schnell und so weit wie möglich.

»Emil, warte …«, ruft Ariane. Sie zieht ihren Rock hoch und eilt mir hinterher.

»Was?«, fahre ich sie im Treppenhaus an. »Kommt jetzt die Nummer, es sei alles gar nicht so, wie es aussieht?«

»Doch, Emil. Und es tut mir leid. Das wollte ich nicht.«

»Ja, klar«, rufe ich spöttisch. »So sah’s aus.«

»Mensch, ich wollte nicht, dass du es so erfährst.«

Die Bedeutung dieser Worte trifft mich am Kopf wie ein tief hängender Deckenbalken. »Erfahren? Was erfahren? Wie lange geht das denn schon so?«

Ariane stockt.

»Sag schon, verdammt!«

»Ungefähr seit einem Monat.«

Rums! Jetzt ist die ganze Decke über meinem Kopf eingestürzt.

Die ganze Zeit hab ich gedacht, wir wären glücklich. Dabei hat sie immer nur an diese Fitnessgurke gedacht, während wir auf dem Sofa vor dem Fernseher gekuschelt haben.

»Wieso?«, stöhne ich. »Bitte erklär’s mir, wieso?«

»Ist das denn jetzt gerade wirklich so wichtig?«

»Ja, verdammt.«

»Ich weiß es nicht, Emil.«

»Oh, bitte! Gib’s zu, du bist geil auf seinen Anabolika-Body.«

»Mein Gott, natürlich ist es sexier, wenn ein Mann ein Sixpack hat, anstatt im Badezimmer vor dem Spiegel zu stehen und immer wieder zu rufen: »Wo sind meine Füße? Da sind meine Füße! Wo sind meine Füße? Da sind meine Füße!«

»Aber … du hattest doch gelacht!?«

»Ja. Aus Mitleid.«

»Ich verstehe …«

»Aber es geht doch nicht nur darum.«

»Was bitte schön ist es dann? Seine Haarpracht? Ich rasiere mir auch eine Glatze, kein Problem.«

»Mann, Emil. Ich muss in der Arbeit den ganzen Tag taff sein vor Gericht. Da möchte ich wenigstens zu Hause einen richtigen Mann, bei dem ich schwach sein kann – und keinen, der für eine Frauenzeitschrift arbeitet und mir erklärt, warum ich nach dem Epilieren meine Beine mit Avocado-Wasser einreiben sollte.«

»Ach, ich bin also kein richtiger Mann!? Aber du hältst dich mit deinen mickrigen Möpsen für ein Vollblutweib, oder was?«, poltere ich und bereue es sofort. Denn eigentlich finde ich Arianes Brüste sogar das Schönste an ihrem makellosen Körper. Sie passen genau in meine Hände. Als hätte Gott sie extra für mich geformt. Ich hab das bloß gesagt, um ihr wehzutun, weil ich weiß, welche Komplexe sie wegen ihres A-Körbchens hat. Irgendwie musste ich mich doch rächen.

Die Nachbarin steckt den Kopf aus der Tür.

»Und Sie kümmern sich um ihren eigenen Scheiß, Frau Mendel«, fauche ich die alte Dame an, noch ehe sie ein Wort sagen kann, wobei ich den Arm ausstrecke und mit dem Zeigefinger auf sie zeige wie ein Staatsanwalt auf den Angeklagten. Daraufhin zieht sie den grauen Kopf wie eine Schildkröte beleidigt wieder zurück in ihre Wohnung.

»Babe?«, ruft die Fitnessgurke von drinnen.

»Babe?«, wiederhole ich fassungslos. »Ernsthaft?«

»Lass uns ein anderes Mal reden, wenn die Emotionen ein bisschen abgekühlt sind. Okay?«

»Ja. Klar. Geh doch zu deinem Mister Testosteron«, schnaube ich.

Und das tut sie dann auch.

Kapitel 4

»Nanu, waren wir verabredet?«

Lili steht auf der Schwelle zu ihrer Wohnung und blickt mich an wie den Nikolaus im Hochsommer. Sie hat lediglich eine blaue Latzhose an, die sich über ihren kleinen Babybauch spannt. Darunter trägt sie weder Socken noch ein T-Shirt. Das Einzige, was sonst noch ihre blasse Haut bedeckt, sind die vielen kleinen Leberflecken. Die blond gefärbten Locken mit dem braunen Haaransatz hat sie zu einem Dutt zusammengepfercht.

Wie eine Vogelscheuche nach einem Hagelschauer stehe ich mit hängendem Kopf vor ihr und weiß nicht, was ich sagen soll. Ich habe es ja selber noch nicht begriffen, was gerade passiert ist. Drei Jahre waren Ariane und ich ein Paar. Wir sind auf dem Kamel durch Marokko geritten und haben Borneo auf einem Boot durchquert. In dem ruckeligen Bus durch Patagonien hab ich acht Stunden lang ihren Rücken gestreichelt, während sie unsere Provianttüte vollgekotzt hat.

Und jetzt wurde ich ausgewechselt gegen ein paar Bauchmuskeln?

»Ich wusste nicht, wo ich sonst hingehen kann«, winsle ich mit einem dicken Stein im Hals.

Lili blickt mich mit besorgten Augen an. »Mensch, was ist denn passiert?«

»Ariane hat mich betrogen«, quetsche ich die Worte am Halsstein vorbei.

Lili klappt der Kiefer runter. »Was? Nein, das glaub ich nicht.«

»Stimmt aber. Ich hab sie gesehen.«

»Och Mann, Emil. Ich …« Lili sucht nach einem Wort, findet aber offenbar nicht das richtige. Deshalb gibt sie die Suche auf und kommt lieber auf mich zu. Sie schlingt die Arme um meinen Brustkorb und drückt einmal so fest zu, als wolle sie meinen Lungenflügel in Diamanten verwandeln. »Das tut mir so leid.« Dann drückt sie noch mal zu, um auch noch den anderen Lungenflügel zu veredeln.

»Mir auch«, sage ich und schnaufe einmal tief durch. Der Geruch von Mango-Öl steigt mir in die Nase. Lili löst ihren Griff und nimmt mich bei der Hand, als wäre ich eins der Kinder in dem Kindergarten, wo sie arbeitet. »Jetzt komm erst mal rein«, sagt sie und führt mich durch den Flur ins Wohnzimmer. An einem großen Holztisch in der Mitte des Raumes lasse ich mich nieder.

»Willst du einen Tee?«

»Mir ist eher nach Alkohol zumute«, sage ich und hebe die Flasche Champagner in die Höhe, die ich immer noch in der Hand halte. Lili zieht die linke Augenbraue nach oben. »Klar, stoßen wir halt mit Champagner darauf an, dass du betrogen wurdest.«

»Hab ich heute Morgen besorgt. Wollte eigentlich mit Ariane meinen Buchvertrag feiern.«

»Das hat geklappt? Mensch, super.«

»Danke.«

»Na gut, dann hol ich dir mal ein Glas.« Lili verschwindet in der Küche, und ich blicke mich im Raum um. Es ist bestimmt drei Monate her, dass ich das letzte Mal hier war. Ariane hat es nicht gerne gesehen, wenn ich Lili getroffen habe, obwohl ich ihr nie einen Anlass gegeben habe für Eifersucht. Lili ist wie eine Schwester für mich, mit der ich schon als kleines Kind Sandkuchen gebacken und nackt in der Badewanne gesessen habe. Außerdem ist sie im vierten Monat schwanger, und so ein Schwangerschaftsbäuchlein steht auch nicht gerade ganz oben auf der Liste der Dinge, die ich an einer Frau sexy finde.

In der Zimmerecke am anderen Ende des Raumes stirbt eine Kokospalme langsam vor sich hin. An der Wand entlang reihen sich drei weiße Billy-Regale, vollgestopft mit Büchern. Dagegen lehnen zwei Demo-Schilder, auf denen steht: »Das ist nicht mein Ich-will-dich-Gesicht« und »Das ist ein Rock und keine Einladung«. Kurz nachdem Lili schwanger wurde, hat ihr Freund Markus sie verlassen und ist aus der gemeinsamen Wohnung gezogen. Stattdessen wohnt sie nun in einer WG mit Karola. Eine streitsüchtige Femen-Aktivistin, die meine beste Freundin in eine nackte Wutbürgerin verwandelt hat. Während ich eher der Typ bin, der im Stillen seinen kleinen Beitrag für eine bessere Welt leistet und im Supermarkt zwanzig Cent mehr für die regionalen Äpfel bezahlt, stürmt Lili mit blanken Brüsten in das ZDF-Fernsehstudio und brüllt: »Rettet die bayerischen Obstbauern.« Das Gleiche tut sie für die Frauenrechte, niedrigere Mietpreise, den Klimawandel und die Bildungspolitik. Selbst die bayerische Müllabfuhr sieht man nicht so oft auf der Straße wie meine beste Freundin. Und wäre sie damals nicht erst fünf Jahre alt gewesen, sie hätte wahrscheinlich auch gegen die Umbenennung des Schokoriegels von Raider zu Twix protestiert.

»Wofür demonstriert ihr diesmal?«, frage ich, als Lili mit einem Sektglas und einer Banane in der einen Hand und einer dampfenden Teetasse und einem Käsedip in der anderen Hand zurückkommt.

»Auf das Recht, uns sexy anziehen zu dürfen.«

»Das dürft ihr bisher nicht?«

»Wenn wir vergewaltigt werden, heißt es, wir hätten es provoziert.«

Ich versuche mir vorzustellen, wie Lili ihren Babybauch unter einem bauchfreien Top auf Absätzen über die Straße balanciert. »Wer vergewaltigt denn eine Schwangere?«

»Mann! Es geht doch nicht um mich, sondern um alle Frauen.«

»Verstehe«, sage ich geistesabwesend, während ich ratlos auf das Drahtkonstrukt um den Korken der Champagnerflasche blicke. Sieht ein bisschen aus wie das Zahnspangengestell, das ich in der sechsten Klasse getragen habe. Mir fällt gerade auf, dass ich noch nie eine Champagnerflasche aufmachen musste.

»Häschen, gib mir das mal«, sagt Lili, die offenbar meine Ratlosigkeit bemerkt hat und nun helfend die Hand ausstreckt.

»Nenn mich nicht so.«

»Wie denn, Häschen?«

»Du weißt, dass ich das hasse.«

»Ich finde das süß.«

»Das klingt total unmännlich. Hase ist ja schon schlimm genug. Da musst du meinen Nachnamen doch nicht absichtlich noch niedlicher machen.«

Ich schiebe den Champagner über den Tisch, damit Lili ihn für mich öffnet. Sie klemmt die Flasche zwischen ihre Beine, entflicht das Drahtgestell und dreht den Korken vorsichtig aus dem Hals.

»Kannst du mit der Flasche bitte nicht in meine Richtung zielen?«

»Meine Güte, bist du ein Schisser.«

Mit einem Plopp flutscht der Korken aus der Flasche. Lili schenkt mein Glas voll und reicht es mir. »Bitte schön, Herr Hase.«

»Danke schön, Frau Liebich«, sage ich und kippe das Glas in einem Zug runter. Ein lauter Rülpser bricht aus meinem Mund aus. Hoppla.

»Prost«, sagt Lili und schenkt mir noch ein Glas ein. Während ich diesmal nur einen kleinen Schluck nehme, dippt Lili ihre Banane in das Glas mit dem flüssigen Käse. Pfui Teufel.

»Ey, guck mich nicht so an. Ich bin im vierten Monat schwanger, ich darf das«, sagt sie schmatzend. »Erzähl mir lieber mal, wie du dich fühlst?«

»Ja guuut, des isch sicha kei ideale Situation.« Das ist so eine Macke von mir. Immer wenn mir ein Gespräch unangenehm wird, verwandle ich mich in Jogi Löw. Wieso, weiß ich eigentlich selber nicht so genau. Und Lili antwortet dann mit der Stimme von Franz Beckenbauer: »Ja gut, äh, sicha, aber i sog a moi, des is sie gar nicht wert. Du hast sicherlich eine liebe Frau verdient, die, i sog a moi, zu schätzen weiß, äh, was du für ein großartiger Mann bist. Sog i a moi.« Dann lachen wir beide über unsere schlechten Imitationen, und zumindest für eine Sekunde spüre ich nicht die klaffende Platzwunde in meinem Herzen. Nach einer kurzen Gesprächspause fragt Lili: »Wo willst du jetzt wohnen?« Jetzt spüre ich die Platzwunde wieder.

Hmm. Gute Frage. Ich war so damit beschäftigt, in meinem Trübsal zu planschen, dass ich mir über die Zukunft noch gar keine Gedanken gemacht habe. »Kann ich nicht bei dir pennen?«, frage ich und blicke flehend drein wie ein Teacup-Schweinchen auf der Schlachtbank. »Bloß für drei Monate. So lange dauert die Kündigungsfrist. Dann bin ich aus dem Mietvertrag raus und kann mir eine eigene Wohn…« Weiter komme ich nicht, weil Lili Luft einsaugt. Gute Nachrichten fangen nie damit an, dass jemand lautstark inhaliert. So fangen bloß Asthmaanfälle an. Als Hans-Dietrich Genscher den Fall der Mauer vom Balkon der deutschen Botschaft in Prag ausrief, hat er auch nicht vorher »Whuuuup« gemacht.

»Emil, du weißt, ich bin immer für dich da. Aber hier ist einfach kein Platz.«

»Ich könnte doch im Wohnzimmer schlafen.« Ich deute auf das blaue Stoffsofa an der Wand.