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KLAUS HACKLÄNDER

ER IST DA

DER WOLF KEHRT ZURÜCK

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INHALT

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Vorwort
von Tobias Moretti

Was uns am Wolf bewegt

Wie konnte das geschehen?

Was macht dieses Tier so faszinierend und woher hat es seinen schlechten Ruf?

Wie gefährlich sind Wölfe wirklich?

Warum dürfen sich Wölfe so viel erlauben?

Warum kommen sie ausgerechnet zu uns?

Warum kommt er erst jetzt nach Österreich?

Wie viele Artgenossen bringt er mit?

Wie kann man sich vor Zuwanderung schützen?

Was ist ein geeigneter Lebensraum für Wölfe?

Warum und wie wurden die Wölfe in Europa ausgerottet?

Was ändert sich am Verhalten der Menschen, wenn Wölfe da sind?

Was ändert sich durch den Wolf in der Tourismuswirtschaft?

Was ändert sich durch den Wolf in der Landwirtschaft?

Wie kann man Weidetiere vor dem Wolf schützen?

Was ändert sich durch den Wolf in der Forst- und Jagdwirtschaft?

Was kostet der Wolf?

Was passiert, wenn die Almwirtschaft aufgegeben wird?

Führt der Wolf zum Aussterben von Wildtierarten?

Wie beeinflusst das Auftreten von Wölfen das Verhalten anderer Wildtiere?

Warum sind Wölfe so tüchtige Jäger?

Ist der Wolf ein außergewöhnlich mordlustiges Raubtier?

Wie kann man wissen, wer der Täter war?

Gibt es auch Lebewesen, die vom Wolf profitieren?

Wie kann man Wölfen beibringen, dass sie Weidetiere in Ruhe lassen sollen?

Wie funktioniert die Kompensation von Wolfsschäden?

Ist die Jagd auf Wölfe ein gutes Mittel, um Schäden an Nutztieren zu verhindern?

Warum sind illegale Wolfstötungen ein Problem? Und wer tut sowas?

Welche tierethischen Fragen bestehen bei der Diskussion über die Abschussfreigabe von Wölfen?

Wovon ernähren sich die Wölfe?

Wie viele Wölfe verträgt das Land?

Wie werden wir die Wölfe wieder los?

Wie könnte der Schutz der Wölfe modifiziert werden, damit alle zufrieden sind?

Ist Wolf gleich Wolf oder gibt es Rassen wie bei den Hunden?

Was ist an diesem Tier so speziell?

Was interessiert die Wissenschaft am Wolf?

Wie funktionieren Wolfsrudel?

Wie wurde aus dem Wolf der Hund?

Wie gut vertragen sich Wolf und Hund?

Wo kann man Wölfe beobachten?

Was tun, wenn man dem Wolf Aug’ in Aug’ gegenübersteht?

Literatur und offizielle Seiten zum Thema Wolf

VORWORT VON TOBIAS MORETTI

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Dass Wölfe oder auch das Wolfsthema zur gesellschaftlichen Problematik geworden sind, ist eigentlich ein Ausdruck unserer Hilflosigkeit in der gesamtheitlichen Wahrnehmung und Betrachtung von Natur und Zivilisation.

Die Diskussion wird bestimmt von Extrempositionen in jede Richtung – radikale Standpunkte von Tierschutzaktivisten einerseits, andererseits das Unverständnis der Menschen, die in den betroffenen Regionen unmittelbar damit konfrontiert sind. Lösungsansätze werden durch schlichte ideologisierte Polemik im Keim erstickt, eine sachliche, ausgewogene Analyse der Probleme ist schier unmöglich geworden.

In meinem gesellschaftlichen Verständnis versuche ich immer, aus gesamtheitlichen Positionen zu lernen. Das heißt auch, dass man manchmal eine gewohnte Perspektive oder Haltung überdenken muss; Dinge verändern sich eben, so wie sich auch die Situation der Wolfspopulation drastisch verändert hat. Der Wolf fasziniert durch seine außerordentliche Intelligenz, seine Anpassungs- und Lernfähigkeit. Daher sind aber auch alle apodiktischen Behauptungen über sein Verhalten und sein Gefährdungspotenzial relativ, weil langfristige Erfahrungen mit Wölfen, die sich menschlichem Lebensraum so weit nähern, fehlen, ebenso Erfahrungen mit dem unberechenbaren Verhalten von Hybriden, die nicht nur in Italien ein Faktum geworden sind.

Durch die Tendenz der letzten Jahre, Kulturlandschaften als usurpierte Naturlandschaften zu verstehen, hat sich ein abstraktes Verhältnis zur Natur entwickelt: so als wäre Natur nur das, was sich selbst überlassen ist, und nicht ebenso kultivierter, bewirtschafteter Lebensraum – also Kulturlandschaft wie beispielsweise unsere Bergwelten, unsere Auen, unsere Almen, die teils eine höhere Biodiversität aufweisen als Flächen, deren Bewirtschaftung aufgegeben wurde.

Die Rückkehr des Wolfs wird also – romantisierend – als eine Rückkehr der Natur gefeiert, so als würde sich die Natur Lebensraum zurückerobern, den ihr der Mensch genommen hätte. So wie noch Anfang des letzten Jahrhunderts, zu Zeiten unserer Großeltern, eine völlig übersteigerte Dämonisierung des Wolfes stattgefunden hat, wird er jetzt oft – ebenso irrational – positiv mythologisiert, als Symbolfigur eines vermeintlichen Renaturierungsprozesses.

Vermutlich kann man sich als Bewohner eines urbanen Lebensraums nur schwer vorstellen, wie es ist, wenn man – wie bei uns heuer im Winter geschehen – seine Kinder nicht mehr allein in die Schule schicken mag, weil 50 m vom Schulweg entfernt ein von einem Wolf gerissenes Reh gefunden wurde. Ein (weg)laufendes Kind ist für den Wolf einem fliehenden Wild nun einmal täuschend ähnlich: Was klein ist und wegläuft ist Beute.

In Italien beispielsweise haben drastische Entwicklungen dazu geführt, dass sich eine Gesellschaft völlig spaltet. Schafbauern, die ihre kärgliche Existenz von 100–200 Schafen fristen, schaffen sich unter enormem Aufwand scharfe Herdenschutzhunde an, die nicht minder gefährlich sind als ein Wolf, oder setzen ganze Gegenden während der Nacht unter Flutlicht (ein ökologischer Irrsinn).

»Ich scheue einfach diese Abwägung von Lebensrecht, die sich da in die ideologisierte Diskussion einschleicht.«

Tobias Moretti, Schauspieler und Bergbauer, Kematen in Tirol

Klaus Hackländer objektiviert die emotionalisierte Debatte, indem er Fakten, Forschungsergebnisse und Erfahrungen zusammenfasst; er stellt die wissenschaftlichen und die praktischen Aspekte einander gegenüber und klopft sie auf ihre Tauglichkeit zur Problemlösung ab. Daher ist dieses Buch in meinen Augen ein enorm wichtiger und zeitgemäßer Beitrag zur aktuellen Problemlage.

Tobias Moretti, Schauspieler und Bergbauer, Kematen in Tirol

Am meisten aber irritiert mich, wie lapidar und überheblich über gerissene Haus- und Weidetiere geurteilt wird. Letzten Sommer hatten wir ein massives Wolfsproblem dadurch, dass ein Wolfspaar über einen Monat mehrere Dutzend Schafe gerissen hat, was selbst beim Wolfsbeauftragten Ratlosigkeit hervorrief. Der Tenor der öffentlichen Diskussion war aber, dass sich das doch mit Ausgleichszahlungen regeln lassen müsse, denn der Wolf brauche für seine Existenz Beute, und Schafe oder kleine Weidetiere und Lämmchen erfüllten diese Funktion, und dienten diesem Prinzip. Hier wird mit problematischen Mustern operiert. Ich scheue einfach diese Abwägung von Lebensrecht – letztlich von mehr oder weniger lebenswertem und lebensunwertem Leben –, das sich da in die ideologisierte Diskussion einschleicht.

Einer Gesellschaft wie der unseren traue ich aber zu, dass sie anders damit umzugehen imstande ist. Das heißt auch, überholte Vorgaben aus der Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie den neuen Erkenntnissen anzupassen. Gefährdete Arten wie Luchs und Steinadler, diese prachtvollen Geschenke der Schöpfung, sind ganzjährig im Jagdgesetz geschont und im Naturschutzgesetz verankert. Der Wolf genießt den gleichen höchsten Schutzstatus, obwohl er schon lange nicht mehr bedroht ist und seine Zahl stetig steigt.

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WAS UNS AM WOLF BEWEGT

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Wir erleben dramatische Veränderungen. Auch in der Tierwelt, in der Biodiversität, in der Art, wie das Leben verschiedener Wesen ineinander greift. Wir beobachten einen massiven Rückgang des Insektenbestands und einen dynamischen Verlust an Wirbeltierarten. Das alles müsste breit diskutiert werden, doch über den Kreis der Wissenschaft und die am Leben der Natur besonders interessierten Menschen hinaus findet diese große Problematik unserer Zeit wenig Beachtung.

Die Rückkehr des Wolfs nach Zentraleuropa hingegen führt zu einem reichen Niederschlag in den Medien und großem Interesse der Medienkonsumenten. Die komplexen und weitreichenden Vorgänge in der belebten Natur bleiben für viele Menschen abstrakt, das Auftreten der Wölfe wird aber als sehr konkrete Beeinflussung der Lebenswelt wahrgenommen. So hat der Wolf nicht nur neue Räume besiedelt, er ist auch in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Zumindest in der Mitte der Nachrichten und Themen, die uns in Zentraleuropa bewegen.

Wölfe faszinieren ganz offenbar, und diese Faszination lässt sich leicht erklären: durch die Geschichte, in der Wölfe als mythische und furchterregende, bedrohliche und geheimnisvolle Wesen beschrieben werden; durch ihre Lebensart als hoch soziale Wesen, einsame Wanderer, tüchtige Jäger; ihre enge Verwandtschaft zu den uns so vertrauten Haushunden; ihre Rolle als Beutegreifer, die sich auch an Nutztieren vergreifen; ihrem Rang als streng geschützte Art; ihr Comeback vom Status der regionalen Ausrottung zu einer Spezies mit markant steigenden Bestandszahlen in fast ganz Europa.

Durch die neue Verbreitung der Wölfe wird eine alte Frage wieder aktuell: Wie können Menschen in dicht besiedelten und landwirtschaftlich genutzten Gebieten mit großen Beutegreifern friedlich zusammen leben?

Klaus Hackländer, Wildbiologe, Wien

Daran knüpfen sich zahlreiche Fragen, die Diskussionsstoff bieten. Fragen wie diese: Passt der Wolf in dicht besiedelte und landwirtschaftlich intensiv genutzte Regionen? Wie können wir unsere Weidetiere vor Wolfsangriffen schützen? Wie gefährlich sind Wölfe für Menschen? Die letzte Frage ist die brisanteste und führt unter anderem dazu, dass in Wolfsregionen lebende Menschen besondere Vorsichtsmaßnahmen ergreifen und sich sogar bewaffnen.

In der Erörterung der Wolfsfragen scheiden sich die Geister bis hin zu radikalen Positionen. Kompromisslose Bejagung fordern entschiedene Wolfsgegner. Sie stehen damit im krassen Gegensatz zu jener Fraktion, die alle wirtschaftlichen Interessen der weiteren Wohlfahrt der Wölfe untergeordnet sehen will.

Die Auseinandersetzungen über einen angemessenen Umgang mit Wölfen werden nicht nur ausführlich und emotional, sie werden häufig auch auf Basis falscher oder unvollständiger Informationen ausgetragen. Bei der Verfolgung des Diskurses muss man sich oft wundern, mit wie wenig Ahnung so viel Meinung ins Feld der argumentativen Auseinandersetzung geführt werden kann.

Aus dieser Beobachtung heraus ist dieses Buch entstanden. Es vermittelt profundes Wissen über das wahre Wesen der Wölfe, die wirtschaftlichen Folgen ihrer neuen Verbreitung, die gesetzlichen Rahmenbedingungen, die Möglichkeiten eines effektiven Wolfsmanagements und weitere Aspekte zum Thema Wolf. Es ist auf dem neuesten Stand der Wissenschaft, es ist aber kein Wissenschaftsbuch. Es ist das Buch, in dem Sie schnell authentische, wissenschaftlich begründbare Antworten finden, wenn Sie mehr über Wölfe wissen wollen.

Klaus Hackländer

Wien, April 2020

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Wolfsexpedition im Nationalpark: 18 Jahre nach dem ersten Rudel in Sachsen gibt es nun auch Wölfe in der Sächsischen Schweiz.

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01

Europa ist wieder Wolfsland

WIE KONNTE DAS GESCHEHEN?

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Die Wiederkehr des Wolfs in viele Regionen Europas ist ein Resultat des Artenschutzes. Aber nicht nur.

Den Schutz der Wölfe gewährleisten die Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie der Europäischen Gemeinschaft (image Seite 36) und andere internationale Vereinbarungen. Auch der Rückgang der landwirtschaftlichen Nutzung in vielen Gebieten, die zunehmende Waldbedeckung des Kontinents und der Wegfall von vielen hundert Kilometern Grenzbarrieren nach dem Fall des Eisernen Vorhangs haben zu einem Wachstum der Wolfspopulationen in Europa und einer Intensivierung der Wandertätigkeit von Wölfen geführt.

Die Wanderungen führen Wölfe von ihren Quellbeständen in Nord- und Osteuropa überwiegend nach Westen und Süden. Damit etablieren sie sich wieder in Ländern, die zuvor »wolfsfrei« waren oder in denen über Jahrzehnte nur sporadisch Wolfsbeobachtungen dokumentiert wurden.

Der spektakulärste Zuwachs vollzog sich in Deutschland. Mit der Vereinigung von Bundesrepublik Deutschland und Deutscher Demokratischer Republik 1989 wurden nicht nur zwei Staaten zusammengeführt, sondern auch ein Lebensraum von Wölfen mit einem noch nicht besetzten, für Wölfe aber bestens geeigneten Gebiet. Damit steht den Wölfen eine Ost-West-Verbindung offen, über die sie unter anderem in die Benelux-Staaten und nach Dänemark gelangen.

Dort haben 2019 Forscher der Universität Aarhus anhand von DNA-Spuren und Wildkameras ein erstes Wolfspaar nachgewiesen. Mitte des Jahres wurde ein erster Wurf an Welpen bestätigt.

Paarhufer – bevorzugte Nahrung der Wölfe

Unter Paarhufern werden alle Geweih- und Hornträger sowie Wildschweine zusammengefasst. Ihre paarigen Zehen (Klauen) werden auch als Schalen bezeichnet, weshalb sie in der Jägersprache auch Schalenwild genannt werden. In Mitteleuropa gehören dazu die Hornträger Steinbock, Gams und Mufflon, die Geweihträger Rothirsch, Sikahirsch, Damhirsch, Reh und Elch sowie Wildschweine. Von Rotwild, Rehwild und Schwarzwild gibt es in Mitteleuropa reichlich. Hier ernähren sich Wölfe überwiegend von Rehen.

In Belgien datiert die erste Wolfssichtung ins Jahr 2018. Die beobachtete Wölfin mit Jungen verschwand aber bald wieder auf mysteriöse Weise und ist möglicherweise einem illegalen Abschuss (image Seite 156) zum Opfer gefallen. Ende 2019 wurde über eine neu zugewanderte Wölfin berichtet sowie einen Zwischenfall, der auf die unerwünschte Aktivität dieses oder eines anderen Wolfes hinweist: Im ostbelgischen Balen verschwand aus einem Garten ein privat gehaltenes Känguru, ein zweites wies Bissspuren an einem Ohr auf. Der hinzugezogene Wolfsexperte diagnostizierte auf Grund der Spuren die hohe Wahrscheinlichkeit eines Wolfsangriffs.

Nicht nur aus dem Osten wandern Wölfe nach Zentraleuropa. Auch die Population in Italien trägt zur neuen Verbreitung der Art bei. Mitte der 1970er-Jahre wurden die restlichen etwa 100 Wölfe in den Abruzzen unter rigorosen Schutz gestellt. Seither erholt sich der Bestand zusehends, sodass heute 1.000 bis 2.000 Wölfe in Italien leben.

Einzelne Wanderer gelangten über den Apennin in den Alpenbogen und über diesen auf französisches Territorium, wo 1987 erstmals Wölfe nachgewiesen und 1992 die erste Rudelbildung verzeichnet wurde. Wenig später, zur Mitte der 1990er-Jahre, wurden auch in der Schweiz wieder Wölfe registriert.

Zu den relativ neuen Siedlungsgebieten der Wölfe zählt Österreich, wo wegen der ungeschützten Tierhaltung auf Almen und der hohen Dichte an Paarhufern das Potenzial für Konflikte zwischen Menschen und Wölfen besonders groß ist. Hier hat man erst seit etwa 2009 ernsthaft mit Wölfen zu tun und sucht unter großer medialer Anteilnahme nach Wegen für ein gedeihliches Zusammenleben von Wolf und Mensch.

In zahlreichen anderen Ländern hat man ein solches längst entwickelt. Am Balkan und in den Karpaten, in Finnland und den Baltischen Staaten, in Polen und auf der Iberischen Halbinsel waren Wölfe nie in der Art dezimiert worden wie in Zentraleuropa. Wo Wölfe nicht neu, sondern altbekannte Akteure im Zusammenleben von Menschen mit Wildtieren sind, bestehen klare Regeln und Traditionen, wie mit Wölfen umgegangen wird und wodurch die Schäden an Nutztieren in Grenzen gehalten werden. Einige der Methoden, die zu diesem Ziel führen, sind freilich illegal (image Seite 156).

In den 1970er-Jahren gab es in Italien nur noch 100 Wölfe. Heute liegt der Bestand der grauen Jäger bei 1.000 bis 2.000 Tieren.

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02

Mythos Wolf

WAS MACHT DIESES TIER SO FASZINIEREND UND WOHER HAT ES SEINEN SCHLECHTEN RUF?

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Stets beflügelt das Unheimliche die Fantasie der Menschen. Im Fall der Wölfe hat ihre Vorstellungskraft fast ausschließlich bedrohliche Bilder hervorgebracht.

Der berühmteste Wolf der Welt ist 75 cm hoch, 114 cm lang und ziemlich schwer, weil aus Bronze gegossen. Er steht im Kapitolinischen Museum von Rom und veranschaulicht die Gründungslegende der Stadt. Die »Kapitolinische Wölfin« säugt die Knaben Romulus und Remus, die davon derart kräftig werden, dass sie ein Weltreich gründen können. Für die Römer war das über einige Jahrhunderte eine günstige Entwicklung. Die Romulus-und-Remus-Geschichte ist allerdings eine von wenigen, in denen die Wolf-Mensch-Beziehung positiv dargestellt wird. In den allermeisten anderen aus sechs Jahrtausenden der mythologischen und literarischen, bildnerischen und cineastischen Auseinandersetzung mit dem Thema kommen die Wölfe schlecht weg. Sie werden als reißende Bestien und düstere Schattenwesen, als verschlagen und blutrünstig, mordlüstern und hinterlistig gezeigt. Im günstigsten Fall als abstoßend oder unsympathisch.

Schon in der griechischen Mythologie fanden Wölfe keine freundliche Berücksichtigung. Als Begleitung wurden sie Hekate, der Göttin der Magie und Totenbeschwörung, zur Seite gestellt. Als besonders schwere Form der Strafe verwandelte Zeus den König Arkadiens, Lykaon, in einen Wolf. Lykaon hatte dem Göttervater beim Gastmahl Menschenfleisch vorsetzen lassen – »geröstet und gekocht«, wie es in einem Text heißt – und vielleicht dafür auch einen Enkel geschlachtet (die Darstellungen des Geschehens gehen bei verschiedenen Autoren auseinander). Jedenfalls war es für Zeus empörend genug, um zu drastischen Maßnahmen zu greifen. Er verwandelte Lykaon und dessen ruchlose Söhne in Wölfe, nach manchen Quellen ließ er sie auch durch Blitze erschlagen.

In Anlehnung an diese Begebenheit kennt die Wissenschaft den Begriff der Lykanthropie, der für die Verwandlung von Menschen in Wölfe steht. Dergleichen geschah dann ausweislich der Literatur recht häufig. Schon in dem rund 2.000 Jahre vor unserer Zeitrechnung verfassten Gilgamesch-Epos verwandelt die Göttin Ištar einen Schäfer in einen Wolf, worauf dieser – unerträgliches Wesen, das er nun war – von den Hirtenjungen und Hunden gejagt wird.

Die bekannteste Form der Lykanthropie ist das Werwolf-Motiv, nach dem sich harmlose Bürger des Nachts in reißende Bestien verwandeln. Zur Zeit der europäischen Hexenverfolgungen bemühte sich eine besorgte Gesellschaft um die Eindämmung solchen Verhaltens, in dem eine beträchtliche Anzahl von Männern wegen entsprechender Umtriebe hingerichtet wurden. Vor allem Hirten traf dieses Schicksal.

In den Legenden, Mythen und Schauergeschichten des nördlichen Kulturkreises treiben sich Werwölfe und Wolfsungeheuer besonders zahlreich herum. Bei den Inuit ist das zum Beispiel Amarok, der die Jagdzeiten regelt: Wer nachts auf die Jagd geht, wird von dieser einsam durchs Land ziehenden Wolfsbestie gefressen.

In der Mythologie anderer indigener Völker Nordamerikas spielen Wölfe eine positivere Rolle. Die Schoschonen betrachteten Wölfe (gemeinsam mit Kojoten) als Schöpfer der Welt, andere Stämme sahen die tüchtigen Jäger als Gründer ihrer Volksgemeinschaft, führten sie als Totem und betrachteten sich mit ihnen als wesens-, wenn nicht blutsverwandt.

Diese Identifikation mit Wölfen kennt die Geschichte auch von anderen Völkern: Beispielsweise führen die Mongolen, Usbeken, Hunnen und Turkmenen ihre Herkunft auf Wölfe als Stammväter zurück, als Urmutter der alten Türken gilt in der Mythologie eine Wölfin.

Das aber sind glänzende Ausnahmen einer sonst finsteren Regel. Wenn der Wolf Eingang in die Literatur fand, dann zumeist als Schreckgestalt oder übles Wesen. Von den Fabeln des Aesop (5. Jahrhundert v. Chr.) bis zu den Märchen der Brüder Grimm (19. Jahrhundert) werden ihm überwiegend Schandtaten zugeschrieben. In Dantes »Göttlicher Komödie« wird der Wolf beispielsweise als Verderber der Menschenvölker diskreditiert.

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Holzschnitt zum Thema Werwolf von Lucas Cranach dem Älteren (1512)

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Illustration aus der französischen Illustrierten »Le Petit Journal« (Jänner 1914)

Als verderblich galt der Wolf bis in die jüngere Vergangenheit. Erst mit seiner weit reichenden Ausrottung fanden die Autoren zu einer freundlichen Behandlung. Bei Alfred Brehm, dem Verfasser der berühmtesten Tierkundebücher des deutschsprachigen Raums, klingt Mitgefühl durch, wenn er den Wolf als »Bild des Jammers und gesundheitlichen Verfalls« beschreibt. Mowgli, der Held des Dschungelbuchs, wird von Rudyard Kipling einem Rudel Wölfe zum Schutz und zur Aufzucht anvertraut.

Völlig verharmlost kommen Wölfe schließlich in der Welt der Comics an: In Walt Disneys Tierfamilie stolpert der Große Böse Wolf von einem Fettnapf in den nächsten und richtet kaum jemals Schaden an, in Rolf Kaukas Fix & Foxi-Geschichten zeigen die Wölfe Lupo, Lupinchen und Oma Eusebia als schlimmste Charakterschwäche einen leichten Hang zu Kleptomanie und Cholerik.

Erst in der jüngsten Vergangenheit behandeln also die Künstler und Chronisten den Wolf »sine ira et studio«, ohne Zorn und Eifer, wie es Tacitus für jede gute Geschichtsschreibung fordert. Die fast ausschließlich negative Darstellung der Wölfe über viele Jahrhunderte hat ihre Wirkung nicht verfehlt und zu einer Verfolgung der Art geführt, deren Heftigkeit allein durch die von Wölfen an Nutztieren angerichteten Schäden nicht erklärbar wäre. Als grau durch Nacht und Nebel streifende Gestalt, als Schattenwesen wirkt der Wolf auch manchen heutigen Menschen noch verdächtig und bedrohlich. Zwar bekommen nur ganz wenige den Wolf jemals zu Gesicht, und doch fürchten viele, dass er da ist. Was in der Praxis stimmen kann. Denn wo Menschen sind, bleiben Wölfe gerne unsichtbar.

Der Wolf in der Weltliteratur

»Und einer Wölfin

die von jeder Gier

Besessen schien in

ihrer Magerkeit,

Und über viele schon

Verderben brachte.

Sie gab mir durch die Furcht,

die von ihr ausging,

So großes Ungemach,

daß ich die Höhe

Des Berges zu erreichen

nicht mehr hoffte.«

Aus Dante Alighieri, Die Göttliche Komödie, Hölle – Gesang 01 (enstanden ca. 1307–1321)

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Der böse Wolf in der zeitgenössischen Kunst: verschlagen, gierig, aber recht erfolglos bei seinen Beutezügen

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03

Viele fürchten den Wolf

DOCH WIE GEFÄHRLICH SIND WÖLFE WIRKLICH?

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Äußerst gefährlich! Für Rotwild, Rehe, Wildschweine, Schafe, Ziegen, sogar Biber und Murmeltiere. Für Menschen hingegen sind Wölfe keine besondere Bedrohung.

John Linnell und Kollegen haben sich des Themas wissenschaftlich angenommen und 2002 eine zusammenfassende Arbeit vorgelegt, in der sie die Berichte über Angriffe von Wölfen auf Menschen vom 15. Jahrhundert bis in die Gegenwart analysierten. Während bei vielen historischen Fällen nicht herauszufinden war, was tatsächlich geschah und was die Fantasie der Chronisten beigetragen hat, lassen sich die Ereignisse im Zeitraum von 1950 bis in die Gegenwart sehr gut quantifizieren und beschreiben:

Demnach kam es in den 1950er- und 1970er-Jahren in Nordwest-Spanien zu drei Wolfsattacken, bei denen vier Kinder getötet und weitere vier Kinder verletzt wurden.

In den 1980er- und 1990er-Jahren sind in Indien drei Wolfsangriffe auf Kinder dokumentiert.

Aus der jüngsten Vergangenheit stammen Berichte über Wolfsangriffe im West-Iran.

In Nordamerika sind einige Fälle dokumentiert, in denen angefütterte Wölfe Menschen gebissen haben und zudem zwei Angriffe, die für Menschen tödlich endeten: 2005 kam ein Mann im kanadischen Saskatchewan durch eine Wolfsattacke ums Leben, 2007 wurde in Alaska eine Joggerin von Wölfen getötet.

Für ganz Europa sind im Zeitraum zwischen 1950 und 2000 59 Wolfsattacken auf Menschen dokumentiert worden, bei denen neun Personen starben. Fünf der tödlichen Angriffe gingen von Wölfen mit Tollwut aus.

Tollwut – Hauptgrund für Wolfsangriffe

Tollwut ist eine Viruserkrankung, die überwiegend fleischfressende Säugetiere befällt. Neben Füchsen zählen hauptsächlich Haushunde, Wölfe und Katzen dazu. Mit der Erkrankung geht eine Wesensveränderung der Tiere einher, die sich unter anderem in besonders aggressivem Verhalten bzw. fehlender Scheu zeigen kann.

In Mitteleuropa wurde die Tollwut insbesondere durch das Ausbringen von Impfködern stark zurückgedrängt. Die Weltgesundheitsorganisation WHO stuft Europa als tollwutfrei ein. Doch immer wieder gibt es Berichte von importierter Tollwut aus betroffenen Gebieten bzw. tollwuterkrankten Fledermäusen, insbesondere in Osteuropa.

Bei aktuell mehr als 12.000 Wölfen in Europa, 400.000 auf russischem Staatsgebiet und mehr als 50.000 Wölfen in Nordamerika (für die anderen Kontinente kann der Wolfsbestand mangels entsprechender Beobachtung nicht geschätzt werden) ist das eine recht überschaubare Zahl an Vorfällen.

Nach Ländern geordnet konnten folgende Wolfsattacken dokumentiert werden:

Bulgarien

Aus diesem Land mit beachtlicher Wolfspopulation gibt es wenige Berichte über Zwischenfälle. Dokumentiert ist lediglich, dass im Zweiten Weltkrieg Wölfe Menschen gefressen hätten, wobei nicht klar ist, ob diese Menschen durch Wolfsangriffe zu Tode kamen oder zuvor schon verstorben waren. Unbestätigten Berichten zufolge wurden in Bulgarien 2001 zwei Menschen von tollwütigen Wölfen gebissen.

Deutschland und Österreich

Berichte über Wolfsangriffe datieren vor allem in die Zeit nach dem Dreißigjährigen Krieg (1618 bis 1648). Von 1800 bis 1996 gab es zwar 92 Berichte über Wolfssichtungen auf dem Gebiet von Österreich und Deutschland, keine davon war aber mit einem Angriff auf Menschen verbunden.

Estland

Hier ist es immer wieder vorgekommen, dass an Tollwut erkrankte Wölfe Menschen attackiert haben. 1980 starb eine Frau in Folge eines solchen Angriffs. Im vergleichbaren Zeitraum kam es in Estland zu mindestens sechs Angriffen durch Bären. Historisch gesehen stellt sich das anders dar. Aufzeichnungen von Kirchen und Behörden belegen im 18. und 19. Jahrhundert 136 für die Menschen tödlich endende Wolfsangriffe. Es besteht dabei die Vermutung, dass als Haustiere gehaltene Wölfe für einen Teil dieser Attacken verantwortlich waren und die Gewohnheit, Kinder als Hirten einzusetzen, mit eine Ursache für diese große Zahl an Wolfsattacken ist.

Finnland

Aus dem 19. Jahrhundert weiß man von fünf Episoden, in denen Wölfe Personenschäden oder Verluste von Menschenleben verursachten. Überwiegend waren davon Kinder betroffen, von denen mehr als 50 getötet wurden. Zeitweise war die Gefahr durch Wölfe so groß, dass sich die Behörden genötigt sahen, Jäger aus Litauen und Russland und sogar das Militär zu Hilfe zu rufen. Nachdem im Jänner 1882 in der Region der Wolfsangriffe ein Wolf erlegt und ein zweiter vergiftet worden waren, kam es zu keinen weiteren Zwischenfällen.

Frankreich