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ARNULF HARTL · CHRISTINA GEYER

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HEILKRAFT DER ALPEN

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1. Auflage

© 2020 Bergwelten Verlag bei Benevento Publishing Salzburg – München eine Marke der Red Bull Media House GmbH, Wals bei Salzburg

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Gesetzt aus der Palatino, Mark OT, Kulturista

Medieninhaber, Verleger und Herausgeber:

Red Bull Media House GmbH

Oberst-Lepperdinger-Straße 11–15

5071 Wals bei Salzburg, Österreich

Umschlaggestaltung: wir sind artisten

Satz: b3K design, Andrea Schneider, diceindustries

Lektorat: Maria-Christine Leitgeb

Coverbild: shutterstock/Yevhenii Chulovskyi

Fotos Innenteil: Salzburg Land Tourismus,

außer S. 43, 45, 57: pixabay, S. 78, 79, 85, 169: PMU/ Ecomedicine Salzburg,

S. 2/3, 222/223: Yevhenii Chulovskyi/shutterstock.com

Grafiken: PMU/ Ecomedicine Salzburg

ISBN-13 9783711200167

eISBN 9783711250124

INHALT

VORWORT

WIESO WANDERN GLÜCKLICH MACHT

DIE WURZELN DER NATURMEDIZIN

URLAUB FÜR DIE GESUNDHEIT

AUS DER HÖHLE IN DIE STADT

HEIMWEH NACH DRAUSSEN

DAS »BAMBI-SYNDROM« ODER ZURÜCK ZUR NATUR

DOKTOR DARWIN

DER WIRKSTOFF NATUR

BEIPACKZETTEL WISSENSCHAFT

JEDE WANDERUNG BEGINNT MIT EINEM ERSTEN SCHRITT

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VORWORT

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»Der Mensch ist ein Teil
der Natur und nicht etwas,
das zu ihr in Widerspruch steht!«

Dieser Spruch des britischen Philosophen Bertrand Russell verdeutlicht die vitale wechselseitige Beziehung zwischen Mensch und Natur. Die Erkenntnis, dass unverfälschtes Naturerleben ein Benefit für die Lebensqualität sein kann, drückt sich im Bedürfnis und zunehmenden Trend aus, mehr Zeit in der freien Natur verbringen zu wollen. Natur ist Lebensgrundlage, Freiraum, Erholung und Lebensqualität. Gesundheit und Natur sind untrennbar miteinander verbunden. Immer mehr Menschen nutzen die gesundheitsfördernden Möglichkeiten eines aktiven Aufenthaltes in der freien Natur und wählen für Freizeit und Urlaub vermehrt Destinationen mit naturnahen und authentischen Erholungsangeboten. Die Urlaubstage werden nicht nur für Erholung genutzt, sondern auch für humane Sinndimensionen und neue Erlebnisinhalte. Sie werden häufig bewusst mit dem Ziel der Wiederherstellung, Erhaltung und Förderung der seelischen, geistigen und körperlichen Gesundheit mit einem Aufenthalt in gesunder Natur verbunden. Die Natur unseres alpinen Lebensraumes bietet als »Heilsbringer« unzählige Möglichkeiten für Erholung und gesundheitsfördernde Aktivität.

Aufgewachsen in der Großstadt Wien, verdanke ich meinen Eltern, dass ich den Großteil meiner Freizeit in naturbelassener Abgeschiedenheit eines Bauernhofes verbringen durfte. Es gehört zu meinen schönsten Kindheits- und Jugenderinnerungen, in nahezu grenzenloser Freiheit in der Natur zu leben. Gefahren und gesundheitsschädliche Bedingungen der Großstadt waren in diesen Zeiten weit weg und keine limitierende Bedrohung. Freie Bewegung und das Entdecken der Natur, das Erforschen der »Wildnis« und die Konfrontation mit neuen sozialen Gefügen in der ländlichen Umgebung – Annehmlichkeiten, aber auch die Härten des Landlebens zu erleben – haben die Sensibilität für die Kostbarkeit natürlicher Ressourcen gesteigert. Der Wert des glücklichen Umstands, in Österreich, im alpinen Zentralraum geboren und aufgewachsen zu sein und hier leben zu dürfen, ist mir erst viele Jahre später richtig bewusst geworden.

Diese Erlebnisse in der Natur habe ich in vielen Situationen meines Berufslebens als sehnsuchtsvolle Kontraste bewahren können. Auch in hektischen Zeiten, ständig gestresst und unterwegs, auch mal in Tokio oder New York, haben mir Erinnerungen an diese erlebnisreichen Kindertage immer wieder innere Ruhe und Erdung geschenkt. Die Frage: »Was macht das Großstadtleben und die Gewöhnung an eine herausfordernde Leistungsgesellschaft eigentlich mit dem Menschen?« hat sich mir im Lauf der Zeit immer deutlicher gestellt. Der Drive des städtischen Umfeldes und der moderne Leistungsdruck entfernen uns nicht nur von den naturgegebenen (exogenen) Rhythmen, sondern beeinflussen auch das sensible endogene Wechselspiel des menschlichen Organismus. Künstliches Licht, chronischer Stress und Überarbeitung strapazieren den Organismus. Meine Erfahrung war vermutlich nicht anders als die vieler stressgeplagter Großstädter. Auch in mir wuchs der Drang, in meiner Freizeit wieder raus zu kommen und meine strapazierte innere Natur mit der äußeren Natur in Balance bringen.

Meine Übersiedlung ins Salzkammergut öffnete mir endgültig die Augen und bewirkte nachträglich die Wahrnehmung dessen, was die Wissenschaft als nature deficite syndrom beschreibt – auch in meinem Leben. Davon, so hatte ich schnell erkannt, will ich mich endgültig verabschieden.

Das nature deficite syndrom, ausgelöst durch Stress, Bewegungsmangel, Lärm, Reizüberflutung, toxische Belastungen und soziale overcrowding-Phänomene, geht einher mit Erkrankungen und Beschwerden, die ursächlich im urbanen Lebensraum zu finden sind. Welch eine Wohltat war es, die Anstrengung kleinerer Bergtouren zu erleben. Auf einem Gipfel angekommen, werden mit dem Blick auf eine naturnahe Seenlandschaft so manche Probleme des Alltages erheblich relativiert!

Als Gründerin der Plattform Heilkraft der Alpen ist es mir ein besonderes Anliegen, dass traditionelles und regionales Heilwissen im Rahmen eines zeitgemäßen, sachlich begründbaren und wissenschaftlich überprüften Gesundheitsangebots zur Verfügung gestellt werden kann. Die Philosophie von Heilkraft der Alpen bietet eine regional verwurzelte und nachhaltige Antwort auf bekannte und populäre fernöstliche Gesundheitsangebote, z.B. aus dem Ayurveda oder der Traditionellen Chinesischen Medizin. Denn wozu sollte man sich mit wenig bekannten chinesischen Kräutern beschäftigen, die in unserem eigenen Lebensraum nicht vorkommen? Weit gereist, lange gelagert, braun und vertrocknet – warum sollte man diese unseren heimischen Kräutern vorziehen, die vital und prächtig direkt vor der Nase in reinster Natur in den Bergen der Alpen wachsen? Interessant auch, dass die Wahrnehmung für den gesundheitsfördernden Effekt des Aufenthaltes im Wald erst nach Bekanntwerden der Studien aus Japan hierzulande modern wurde. Haben wir als Inspiration zum Waldbaden Shinrin Yoku aus Japan gebraucht, um den heimischen Wald als kostbare Gesundheitsquelle zu erkennen? Uralte Weisheiten und bewährte Erfahrungen aus vielen Jahrhunderten wurden im Rahmen der Traditionellen Europäischen Medizin bewahrt und gesammelt. Vieles, was man in den letzten Jahren auch aus fernöstlichen Gesundheitsanwendungen kennt, ist im alpinen Lebensraum traditioneller Bestandteil des Alltags und dennoch nicht immer allgemein bekannt. Das Wissen um heimische naturbezogene Heilmethoden ist vielfach in Vergessenheit geraten, häufig zu wenig dokumentiert und kaum in ausreichendem Maße wertgeschätzt. Doch ein in jüngerer Zeit wachsendes Interesse an diesem tradierten Schatz heimischer Heiltraditionen, beziehungsweise an alpinen Wirkstoffen mit gesundheitsfördernden Eigenschaften, führt zu vielen neuen Fragen um ihre Anwendbarkeit in der Gesundheitspflege. Damit ergeben sich auch Fragen nach der Qualitätskontrolle, der Überprüfung von Eignung und Unbedenklichkeit ihrer Anwendung sowie der wissenschaftlichen Validierung der spezifischen Wirkungen der jeweiligen Methoden.

Parallel zum Anwachsen bürokratischer und politischer Bürden, Einsparungen und fragwürdigen Entwicklungen im Gesundheits- und Sozialversicherungswesen lässt sich bei Patientinnen und Patienten ein wachsendes Streben nach mehr Eigenverantwortung für Gesundheit und prophylaktische Gesundheitspflege erkennen. Heiß diskutierten Entwicklungen über Leistungskataloge der Krankenkassen, Zwei-Klassen-Medizin, Arzthonorare und novellierte Arbeitszeitgesetze steht ein neu keimendes Gesundheitsbewusstsein zunehmend autonomer Patientinnen und Patienten gegenüber. Gesunde Ernährung, Gewichtsmanagement, Sport und Bewegung, gesunder Lifestyle sowie das Interesse für Kräuter und Naturheilkunde sind allgegenwärtig. Gesundheitsangebote boomen in allen Bereichen, vor allem auch in den sozialen Medien. Und gerade dort findet man oft absurde »Blüten«, die mit seriösen und qualitätsgesicherten Heilmethoden nichts zu tun haben. Demgegenüber zeigen rege Forschungsaktivitäten wie die Ökomedizin und die in diesem Buch anschaulich erläuterten Studien- und Forschungsergebnisse einprägsam: Basierend auf vorliegenden wissenschaftlichen Erkenntnissen kann die heilende Kraft der Natur unseres Lebensraumes sehr gut belegt werden. Univ.-Doz. Dr. Arnulf Hartl, Leiter des Instituts für Ökomedizin der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität Salzburg und Mitautor dieses Buches, trägt maßgeblich zum Nachweis und der Dokumentation der heilenden Ressourcen der alpinen Natur bei.

Um der verständlichen Sehnsucht stressgeplagter Großstädter nach Naturerleben und gesundheitsfördernder Freizeitgestaltung auf angemessene Weise entgegenzukommen, bedarf es der interdisziplinären Zusammenarbeit verschiedenster Experten. Nicht nur die medizinische Forschung, sondern auch der Tourismus spielt dabei eine wichtige Rolle.

Das vorliegende Buch ist in diesem Sinn ein Brückenschlag von Wissenschaft und Medizin zu gut informierten, regionalen Anbietern im Gesundheitstourismus und gesundheitsinteressierten Naturliebhabern, damit die gesundheitlichen Ressourcen des Alpenraums bewusst, richtig und nachhaltig genutzt werden können. Heilkraft der Alpen soll dazu beitragen, die natürlichen Ressourcen unseres Lebensraumes und ihre Anwendung für die Gesundheit zu fördern, denn die vielfältigen Naturschätze des alpinen Raumes sind unverfälschte und wertvolle Lebensquellen für die Gesundheit des Menschen, die nicht nur achtsam genutzt, sondern auch nachhaltig erhalten bleiben sollen.

Genießen und entdecken Sie Ihre Natur!

Ulrike Köstler

Plattform Heilkraft der Alpen

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WIESO WANDERN GLÜCKLICH MACHT

EINLEITUNG VON CHRISTINA GEYER

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Wäre die Natur als Medikament in der Apotheke erhältlich, der Umfang ihres Beipackzettels entspräche ungefähr jenem dieses Buches. Nicht etwa, weil darin so viele Risiken und Nebenwirkungen angeführt wären, sondern weil die Bandbreite ihrer Wirkungen so groß ist. Ob psychische oder physische Indikation: Es gibt kaum einen Bereich, wo Natur keine Wirkung zu entfalten vermag. Sie sind schlecht gelaunt? Gehen Sie eine Runde spazieren. Sie leiden unter Asthma? Verbringen Sie zwei Wochen an den Krimmler Wasserfällen. Sie haben Depressionen? Unternehmen Sie eine Bergtour. Sie sind von Allergien geplagt? Betreiben Sie Wintersport.

Instinktiv spüren wir, dass Natur guttut. Nach einem Waldspaziergang fühlen wir uns erfrischt und belebt, wir gewinnen neue Perspektiven, sind zuversichtlicher und ausgeglichener. Nach einer Bergtour kann es passieren, dass wir regelrecht euphorisiert sind und uns danach ist, vor Glück Bäume auszureißen. Ruhig und zufrieden fühlen wir uns, wenn unser Blick von wogendem Wasser absorbiert wird. Wir verlieren uns darin, nichts beschwert unsere Gedanken, wir sehen klar.

Oft vermuten wir hinter derlei Gefühlen nicht mehr als eine diffuse Ahnung. Relativ jung ist die Disziplin der Ökomedizin, der medizinischen Untersuchung solcher Empfindungen. Nicht länger nur sind es unbestätigte Annahmen, die sich hinter unseren Glücksgefühlen in der Natur verbergen. Sie sind mittlerweile medizinische Gewissheit. In wissenschaftlich fundierter Beweisführung ist es Pionieren der Ökomedizin gelungen, die Heilkraft der Natur mit klinischen Studien zu belegen. Das subtil mitschwingende Räucherstäbchenimage einer »heilenden Natur« mag Bilder von Alternativmedizinern, Visionssuchenden und Esoterikern heraufbeschwören, die Ökomedizin stellt die heilende Natur auf einen soliden Untergrund, fest verankert in wissenschaftlichen Standards und Normen der modernen Medizin. Forschungsergebnisse bestätigen, was wohl ein jeder von uns schon einmal nach einem Aufenthalt in der Natur empfunden hat: Sie tut uns gut. Und mehr noch: Sie kann uns heilen.

Auch ich habe diese Erfahrung gemacht: Medikamentöse Behandlung, zwei stationäre Aufenthalte, ambulante Therapie, Entspannungsübungen oder Kunsttherapie – es gibt wenig, das ich unversucht gelassen hätte, um mit meinen Depressionen fertigzuwerden. Tatsächlich geholfen hat schließlich das, was ich meine »Naturtherapie« nenne. Sie sieht vor allem Bergtouren für mich vor. Danach fühle ich mich stets deutlich besser, wenn nicht sogar rundum glücklich. Das Bergsteigen setzt Energien in mir frei, von denen ich nicht einmal gewusst habe, dass sie in mir schlummern. Meine Naturtherapie wirkt besser als es sämtliche konventionellen Maßnahmen getan haben.

Die Berge haben schließlich auch meinen beruflichen Werdegang geprägt. Ich begann, als Redakteurin beim Bergwelten Magazin zu arbeiten, und irgendwann erhielt ich den Auftrag, zu recherchieren, weshalb das Wandern so glücklich macht. Damit tat sich für mich eine neue Welt auf: die Welt der Ökomedizin. Im Rahmen meiner Recherche stieß ich auf die Studienergebnisse eines Mediziners aus Salzburg, des Psychiaters Reinhold Fartacek. Der klingende Name seiner Studie: Übern Berg. Sie bestätigte die Erfahrung, die ich selbst gemacht hatte, und belegte eindrücklich die exorbitante Wirksamkeit von Bergsport auf Suizidalität. Wandern wirkt demnach ähnlich potent wie die Verabreichung eines Antidepressivums.

Nicht nur ökomedizinische Erkenntnisse belegen den gesundheitsfördernden Effekt von Bewegung, inzwischen empfiehlt auch die WHO das Zurücklegen von zumindest sieben Kilometern täglich, um eine positive Wirkung für die Gesundheit zu erzielen. Sieben Kilometer jeden Tag, das ist das Quantum, zu dem ich mich im Rahmen meiner Naturtherapie verpflichtet habe. Wo es probate Mittel gibt, gilt es, diese zu ergreifen. Und hier nun wird die Ökomedizin auch für all jene relevant, die möglicherweise nicht an Depressionen, dafür aber an Asthma oder an Stress, an porösen Knochen oder Allergien, Vitamin-D-Mangel oder Übergewicht leiden. Die Ergebnisse der Studie von Reinhold Fartacek sprechen für sich, gleichwohl stellte diese erst den Ausgangspunkt für meine Recherchen dar. Sie erschloss mir die weite Welt der Ökomedizin und mit ihr jene der Natur als sogenannte »evidenzbasierte Heilressource«, als »Agens«, wie es in der medizinischen Fachsprache heißt, also als wirkungsaktives Mittel.

Das Erstaunliche dabei: So unermesslich reich die Welt der Ökomedizin auch ist, sie ist noch weitgehend unerforscht. Gerade einmal etwas mehr als 800 Ergebnisse spuckt Google aus, wenn man nach ihr im Netz sucht. An erster Stelle steht übrigens die Seite des Instituts für Ökomedizin an der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität (PMU) in Salzburg. Wer sich hier einzulesen beginnt, kommt an einem Namen nicht vorbei: Dr. Arnulf Hartl. In seiner Funktion als Leiter des Instituts für Ökomedizin ist er ein Vorreiter der evidenzbasierten Naturmedizin im deutschsprachigen Raum. Im Zentrum seiner Interessen steht die Erforschung von Zivilisationskrankheiten: Adipositas, Muskel-Skelett-Erkrankungen, Depressionen, Angststörungen, Asthma, Allergien, Herz-Kreislauf-Krankheiten. Er vermutet, dass ihr Anstieg mit der Lebensweise des modernen Menschen zu tun hat. Wir leben in immer größeren Städten mit immer weniger Naturreizen, wir bewegen uns immer weniger und verbringen bereits mehr Zeit drinnen als draußen. All das macht uns anfällig für jene Zivilisationskrankheiten, und das ist wissenschaftlich belegt. Das Institut für Ökomedizin forscht an der Schnittstelle von Urbanisierung und Naturverlust. Was macht das Großstadtleben mit dem Menschen? Was passiert mit ihm, wenn er seine Tage hauptsächlich sitzend verbringt? Kann man etwaige Auswirkungen auf die Gesundheit messen? Welche Rolle spielen fehlende Umwelteinflüsse? Wird der Mensch krank, wenn er nicht mehr oder nur noch sehr wenig mit der Natur interagiert?

Um diese Frage mit dem Anspruch wissenschaftlicher Gültigkeit zu beantworten, bedarf es einer über jeden Zweifel erhabenen Beweisführung. In der Sprache der Forschungstreibenden: Es braucht einen evidenzbasierten Ansatz. Es reicht also nicht, zu behaupten, dass die Natur positiv auf unsere Gesundheit wirkt, sondern es bedarf der Beweise. Ebensolche sammeln die Ökomediziner: Sie untersuchen die Wechselwirkungen von Natur und Gesundheit, erfassen physiologische und psychologische Parameter und entwickeln naturbasierte Therapieverfahren zur Behandlung von Zivilisationskrankheiten. Das Institut verfügt über sein eigenes Labor an der PMU, eine futuristisch anmutende Galerie voll rätselhafter High-Tech-Instrumentarien. Hier werden Umweltparameter wie Radioaktivität, Feinstaub, Aerosole, Luftionen und Allergene gemessen, rätselhafte Apparaturen mit Blut- und Speichelproben gefüttert, um Hormone wie Cortison oder Oxytocin zu analysieren, ferner werden Entzündungswerte gesammelt und knochenimmunologische Parameter untersucht. Darüber hinaus arbeitet das Institut mit eigens für die Ökomedizin entwickelten Apps, um psychologische Messungen zu erheben. Auch Gene, Lungenfunktionswerte und die Funktionalität der oberen Atemwege können hier analysiert werden. Ob EKG oder EEG, orthopädische Messeinrichtungen oder Bioimpedanzanalyse, dermatologische Parameter oder Gerätschaften zur Aufzeichnung der kardiorespiratorischen Fitness – es gibt nichts, was es im Labor der Ökomediziner nicht gibt.

Begonnen hat alles irgendwie mit einer Maus, mit einigen hundert Mäusen, um genau zu sein: Im Jahr 2006 wollte Arnulf Hartl in seiner Funktion als Immunologe wissen, ob und wie Wasserfälle als Heilressource bei Asthma helfen können. Und so rückte er aus – mit Team und Mäusen –, um die Krimmler Wasserfälle im Salzburger Pinzgau zu untersuchen. Für einiges an Irritation hat das Bild schon gesorgt, gibt Hartl schmunzelnd zu. Man hätte sie für Sonderlinge gehalten, die ganz offenbar ein besonderes Interesse an den Wasserfällen hegten. Einen ganzen Sommer lang waren die Mediziner mit ihren asthmatischen Versuchstieren am Werk. Und die Ergebnisse konnten sich sehen lassen. Die Symptome der asthmatischen Tiere haben sich signifikant verbessert. Man kann unumwunden behaupten: Der Sprühnebel der Wasserfälle ist der Asthmaspray der Natur. Er dringt in Form sogenannter »Wasseraerosole«, winzig kleiner Wassertröpfchen, tief in die Atemwege ein und entfaltet dort seine lindernde Wirkung. Mittlerweile sind die Krimmler Wasserfälle als Heilressource staatlich anerkannt. Bei entsprechender Indikation kann man sie sich per Krankenschein verordnen lassen. Ein Kuraufenthalt am Wasserfall – das mag merkwürdig klingen, aber die Wirkkraft der Krimmler Wasserfälle ist heute unumstritten. Hartl und sein Team haben in klinischen Studien den Beweis dafür erbracht und ein völlig neues Heilmittel für Asthma auf den Markt gebracht – mit hundert Prozent natürlichen Zutaten und ganz ohne Nebenwirkungen.

Die Tragweite der Ergebnisse veranlasste Hartl zur Untersuchung weiterer Wasserfälle. Eine Arbeitsgruppe formierte sich, ihre Mitglieder sind die Gründerväter des Instituts für Ökomedizin an der PMU. Hartl und seine Mitarbeiter fanden nach und nach heraus, dass kein Wasserfall wie der andere wirkt. Jeder hat seine eigene physikalische Besonderheit. Der eine hilft bei Asthma, der andere bei Stress. Wasserfälle sind ganz spezifische Entitäten, erklärt Hartl, man kann keine allgemeingültigen Aussagen zu sämtlichen Wasserfällen im Alpenraum aus nur einem Wasserfall deduzieren – bis auf eine: Allen Wasserfällen ist gemein, dass sie die Atemwege reinigen.

Bald beschränkte sich die Arbeitsgruppe nicht mehr nur auf die Heilressource Wasserfall, man wollte vielmehr wissen, was der reiche Naturschatz der Alpen ansonsten noch zu vollbringen vermag. Was macht Schnee mit uns? Was die Berge? Wie wirkt Höhenluft? Und was verändert sich, wenn wir Natur nicht nur passiv konsumieren, sondern aktiv mit ihr interagieren? Die Ergebnisse der Wasserfall-Studien sah Hartl als eindrückliche Aufforderung dazu, Natur als wissenschaftliches Forschungsobjekt ernst zu nehmen. Und so führen er und sein Team nach wie vor Messungen durch, wenden quantitative und qualitative Methoden an, verkabeln ihre Probanden, dokumentieren Muskelverkrampfungen im Nacken, extrahieren biochemische Botenstoffe aus entnommenen Proben, arbeiten mit psychologischen Tests und werten EKGs aus. Hier durchläuft die Natur als Medikament ihr ganz eigenes Zulassungsverfahren.

Hartl und sein Team sind freilich nicht die ersten Mediziner, die die Natur als gesundheitsförderndes Remedium entdeckt haben. Die Idee von der Natur als Heilressource steht vielmehr ganz am Anfang der Medizingeschichte. Bis ins 19. Jahrhundert hinein stützten sich praktizierende Mediziner bei der Verabreichung von Arzneimitteln auf den reichen Schatz der Naturapotheke: Sie verschrieben Heilkräuter auf Verdacht, bis sich etwas bewährte. Die molekular-pharmazeutische Intervention löste diese doch eher intuitive Praxis ab. Sie stellte eine Zäsur in der Medizingeschichte dar. Naturmedizin heute ist eine gänzlich andere als die Naturmedizin von damals. Mittlerweile sind uns die molekularen Grundlagen der Medikamente bekannt, ihre Verabreichung folgt einer lückenlosen Beweisführung, ihr gehen sorgfältige Untersuchungen und klinische Tests voraus. Die Wirksamkeit unserer Medikamente obliegt nicht länger einem reinen Zufallsprinzip. Mikrobiologie und Synthetisierung haben der Natur ihren Rang abgelaufen: Moderne Medizin passiert heute im Labor und nicht mehr im Wald. Die Ökomedizin bringt sie zurück aufs Tapet: die Natur als wissenschaftliches Forschungsobjekt und Gegenstand medizinischer Evidenz. Und trotzdem: Natur ist nur eine Seite des Heilverfahrens. Die andere umfasst den Rezipienten, den Menschen. Und wo der Mensch im Spiel ist, da ist immer auch die Psychologie ein Thema. Ob es so etwas wie einen Geist oder eine Seele gibt, konnte die moderne Hirnforschung bis zum heutigen Tag nicht endgültig klären. Damit ist das menschliche Bewusstsein immer noch weitgehend ein Mysterium und eine Steilvorlage für philosophische Mutmaßungen.

Tatsächlich kann man die Ökomedizin nur an der Schnittstelle von Geschichte, Wissenschaft und Philosophie verstehen. Warum die Natur uns guttut, allein der Blick ins Grüne uns schneller gesunden lässt, Zimmerpflanzen stressreduzierend wirken, all das reicht weit zurück – bis zu Darwin und Descartes und noch weiter. Natur als psychohygienischer Wirkfaktor erzwingt nachgerade philosophische Fragen. Sie ist auch Reflexionsgegenstand des eigenen Seins, Werdens und Vergehens. Arnulf Hartl beschreibt Natur als eine Art unendliche Geschichte, die viel über den Sinn des menschlichen Lebens zu erzählen hat. So gesehen, zeigt sie uns ohne jegliche Sentimentalität, woher wir kommen und wohin wir gehen. Sie bestimmt über den Ausgang unseres Lebens, sie führt uns vor Augen, dass alles vergehen muss. Natur ist auch ein evolutionäres Fanal und als solches für die Ökomedizin relevant. Auch wenn wir nicht mehr allzu viel von uns in unseren Urahnen erkennen wollen – wir sind nicht so weit vom Neandertaler entfernt, wie wir glauben.

Darwin klingt an, wenn Ökomediziner nachweisen können, dass allein der Blick ins Grüne heilsam ist. Im wahrsten Sinne des Wortes: Patienten, die von ihrem Krankenbett aus auf einen Baum sehen, werden schneller gesund als Patienten, die nur auf eine Häuserfront blicken. Die Farbe Grün knüpft an einen evolutionär konditionierten Prozess an: Sie verheißt Wasser, denn ohne Wasser keine Pflanzen. Und wo Wasser, da auch Tiere, also Nahrung. Das erleichternde Gefühl, das der Steinzeitmensch beim Anblick grüner Landschaften und tiefblauen Wassers empfunden haben muss, hat sich in den modernen Menschen hinübergerettet. Wenn wir uns beim Anblick einer üppigen Baumkrone im satten Grün der Blätter verlieren, dann meldet sich der Neandertaler in uns.

Dass es zu messbaren Ausschlägen kommt, wenn wir Natur als Heilressource für uns nutzen, das belegt die Ökomedizin. Warum es zu solchen Ausschlägen kommt, das expliziert Darwins Evolutionstheorie. Philosophische Überlegungen unterfüttern unser Verständnis vom Menschen und seiner Stellung in der Natur. Dieses Buch stützt sich daher nicht nur auf die zentralen Erkenntnisse der Ökomedizin, sondern handelt dazu ergänzend auch einen kleinen historischen und philosophischen Exkurs ab. Wir stellen spannende Studien vor, Theorien und Konzepte und agieren dabei interdisziplinär. Mit anderen Worten: Wir haben keine Berührungsängste vor Grenzübertritten. Unsere Reise durch die Ökomedizin sieht Haltestellen in der Wissenschaft genauso vor wie in der Geschichte, Philosophie und Evolutionstheorie. Und natürlich in der Natur.

Es mag wohl sein, dass kein Wasserfall dem anderen gleicht, außer Frage steht jedoch, dass Natur als Natur heilsam ist. Der Fokus dieses Buchs liegt auf den Alpen. Weshalb wir uns auf die Alpen konzentrieren, ist naheliegend. Warum in die Ferne schweifen, wenn ein solcher Naturschatz direkt vor unserer Haustüre liegt? Gerade in Zeiten, wo der Klimawandel in aller Munde ist, lohnt es sich, die Schönheit des Heimischen zu nutzen. Man muss keine 8000 Kilometer im Flugzeug zurücklegen, um sich von spektakulärer Naturlandschaft begeistern zu lassen. Etliche Studien aus der ökomedizinischen Forschung operieren mit dem Begriff »Natur«, oft wird er mit der Farbe Grün verknüpft, mal wandern Probanden an australischen Küsten, mal in englischen Wäldern. Aus allen nur erdenklichen Teilen der Welt haben Ökomediziner ihre Forschungsergebnisse zusammengetragen. Viele dieser internationalen Studien sind auch Gegenstand dieses Buchs. Natur soll dabei jedoch stets auch im Kontext unserer heimischen Angebote gedacht werden: Die südkalifornische Natur mag anders aussehen als unsere Alpen, sie mag ihre speziellen Eigenschaften und Besonderheiten haben, ganz grundsätzlich aber möchten wir die Natur als Komplex verstehen, den wir auch bei uns zu Hause im Alpenraum nutzen können. Die Alpen stehen daher stellvertretend für alle Naturräume, umgekehrt stehen die Naturräume dieser Welt ihrerseits auch stets für die uns vertraute heimische Natur – und hier eben insbesondere für die Alpen, die Europa nicht nur in Grundsatzfragen zu Natur und Umwelt ganz wesentlich prägen.

Vielerorts wirken Berge identitätsstiftend. Hausberge beispielsweise sind Reflexionsfläche für Kindheitserinnerungen, Erlebnisse mit Bergkameraden, und dienen nicht zuletzt zur Orientierung und als Wetterorakel. Die Alpen zeichnen sich durch ihre gewaltige biologische Vielfalt und außergewöhnliche Naturlandschaften aus. Und sie sind insofern einzigartig, als sie doch mitten in Europa liegen, umgeben von dicht besiedelten Räumen. Vergleichbare Hochgebirge finden sich dagegen meist weit ab vom Schuss und sind oft schwer zugänglich. Man denke etwa an den Kaukasus. Die Alpen sind im Vergleich dazu »eine Peripherie im Zentrum Europas«, wie Werner Bätzing in seinem opulenten Standardwerk Die Alpen schreibt. Metropolen wie Wien, München, Zürich und Mailand liegen in unmittelbare Nähe von spektakulären Berg- und Naturlandschaften. Das ist weltweit einmalig. Über 6000 Gemeinden zählen zum Alpenraum, acht Länder, namentlich Österreich, die Schweiz, Liechtenstein, Deutschland, Italien, Frankreich, Slowenien und Monaco – auf einer Fläche von knapp 200 000 Quadratkilometern. Die Alpen prägen den Alltag und das Selbstverständnis dieser Länder und nehmen auch im Wirtschaftsleben eine zentrale Stellung ein. Ob Tourismus, Landwirtschaft oder Industrie, kaum ein Bereich lässt sich im Alpenraum von der prägenden Landschaft entflechten.

Und noch etwas macht die Alpen einzigartig: ihre Exposition. Sie erstrecken sich über rund 800 Kilometer von Westen nach Osten, stehen also der ansonsten für Gebirge so klassischen Nord-Süd-Ausrichtung quer entgegen. Das heißt: Es gibt eine Alpennord- und eine Alpensüdseite. Damit sind die Alpen auch eine Wetterscheide und bringen es auf eine beachtliche klimatische Diskrepanz. Sie markieren die Grenze zwischen dem warmen Süden, der mediterranen Klimazone, und dem kühleren Norden, der kühl-gemäßigten Klimazone. Aber auch entlang der Ost-West-Achse dominieren klimatische Unterschiede: hier trocken-kontinental, dort feucht-ozeanisch. Selbst einzelne Berge haben ihr ganz eigenes Mikroklima. Abhängig von ihrer Größe kommt es mitunter zu gravierenden Temperaturunterschieden zwischen Tal und Gipfel, Tag und Nacht. Der Temperaturwechsel fällt mit zunehmender Höhe umso größer aus. Und das ist gut für uns, wie ich mir von Arnulf Hartl habe erklären lassen. Dadurch wird unsere Thermoregulierung angekurbelt: Wer an nur einem Tag sowohl geschwitzt als auch gefroren hat, der hat seiner Gesundheit etwas Gutes getan. Nicht zuletzt reißen uns derlei Schwankungen auch aus unserer konstant auf 22 Grad Celsius temperierten Wohlfühlblase. Da schwingt eine starke psychologische Komponente mit: Nicht umsonst fühlen wir uns nach einem Spaziergang bei starkem Wind durchgelüftet, bei Kälte erfrischt und bei Hitze wohlig erschöpft. Wetterwechsel, Extremphänomene, Temperaturunterschiede, all das stellt eine gefällige Stimulanz für unsere Wahrnehmung und unser Wohlbefinden dar.