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STEFAN FRANKE

VERBORGENE WELTEN
ODER
DIE REISE ZUM VERLORENEN ICH

Roman

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Roman

Für Ruth, Victoria-Jensina und Julian
in großer Dankbarkeit

Skiöld hieß ein Sohn Odins, von dem die Skiöldunge stammen. Er hatte Sitz und Herrschaft in Gotland. Skiöld hatte einen Sohn, Fridleif genannt, der nach ihm die Lande beherrschte. Fridleifs Sohn hieß Frodi, dem nach seinem Vater das Königtum überkam. Das war in der Zeit, da Kaiser Augustus in der ganzen Welt Frieden stiftete und Christus geboren ward, und weil Frodi der mächtigste aller Könige in den Nordlanden war, ward ihm dieser Friede beigelegt, und nannten ihn die Nordmänner Frodis Frieden. Niemand beschädigte da den andern, wenn er auch seines Vaters oder Bruders Mörder getroffen hätte, los oder gebunden. Da war auch kein Dieb oder Räuber, so daß ein Goldring lange Zeit unberührt auf Jalangersheide lag. König Frodi sandte Boten nach Swithiod zu dem Könige, der Fiölnir hieß, und ließ da zwei Mägde kaufen, die Fenja und Menja hießen und sehr groß und stark waren. In dieser Zeit gab es in Gotland zwei so große Mühlsteine, daß niemand stark genug war, sie umzudrehen. Diese Mühlsteine hatten die Eigenschaft, daß sie mahlten, was der Müller wollte. Die Mühle hieß Grotti, der Mann aber, der dem König Frodi die Mühle gab, ward Hengikiöptr genannt. König Frodi ließ die Mägde in die Mühle führen und gebot ihnen, ihm Gold, Frieden und Frodis Glück zu mahlen. Er verstattete ihnen nicht länger Ruhe, als so lange der Kuckuck schwieg oder ein Lied gesungen werden mochte. Da sollen sie das Lied gesungen haben, das Grottengesang heißt, und ehe sie von dem Gesange ließen, mahlten sie dem König ein Heer, so daß in der Nacht ein Seekönig kam, Mysingr genannt, welcher den Frodi tötete und große Beute machte. Damit war Frodis Friede zu Ende. Mysingr nahm die Mühle mit sich, und so auch Fenja und Menja, und befahl ihnen, Salz zu mahlen. Und um Mitternacht fragten sie Mysingr, ob er Salz genug habe: und er gebot ihnen fortzumahlen. Sie mahlten noch eine kurze Frist, da sank das Schiff unter. Im Meer aber entstand nun ein Schlund, da wo die See durch das Mühlsteinloch fällt. Auch ist seitdem die See gesalzen.

(Menja und Fenja, aus: »Die Jüngere Edda«)

Unweiser Mann durchwacht die Nächte
Und sorgt um alle Sachen;
Matt nur ist er, wenn der Morgen kommt,
Der Jammer währt, wie er war.

Aus: »Die Edda« – Kapitel 8

DIE ANKUNFT

Winter auf Island. Es war kalt. Die Nächte unerträglich lang. Die Insel schien öde und verlassen. Laugarvatn auch. Hier geschah nichts. Es war ein unglaublich düsterer Tag im November, ein trostloser, fast vergessener Wintertag, an dem ich in dieses Kälteloch kam.

Laugarvatn – das ist eine reichlich ausgefallene Adresse, und ich war auch nur aus Unsicherheit und Angst in dieses Nest geraten. Ich wollte mein Leben ordnen, mir Klarheit verschaffen, meine Vergangenheit aufarbeiten. Und für dieses Vorhaben, das ich mir in den Kopf gesetzt hatte, brauchte ich absolute Ruhe, die ich an diesem gottverlassenen Ort zu finden hoffte.

Ich hatte für zwei Monate ein kleines, bescheidenes Haus gemietet. Durch die Eingangstür betrat ich eine enge Diele mit dunklem Holzboden. Der Wohnraum selbst wirkte erdrückend durch die eng aneinander gereihten Möbel. Die Einrichtung bestand aus einem Bett, einem Nachtkästchen, einem Schreibtisch und einem schäbigen Ohrensessel. Eine alte Pendeluhr, die über einer wurmstichigen Kommode hing, tickte leise vor sich hin. Der Putz bröckelte ab. Die Wände waren rissig. Das Badezimmer eng, feucht und nicht vollständig fertiggestellt. Die Duschwand hing lose aus der Verankerung, ein Heizkörper fehlte völlig – alles in allem nicht sehr einladend.

Ich befand mich also in einer einfachen, abgewohnten Bleibe, die sich nordisch gelassen wie ein Stück gestriger Provinz präsentierte. Damit hatte ich gerechnet.

So hatte ich mir Island vorgestellt.

Dass sich die Toilette im Freien befand, war mir dann aber doch etwas zu rustikal, vor allem, dass ich im Morgengrauen zum Urinieren ins Freie musste, war eine Zumutung für einen Großstadtmenschen wie mich.

Diese Unterkunft war dennoch ideal, weil sie mich von allem, was mich bis dahin genervt, irritiert oder gestört hatte, ablenkte. Ich ging zum Fenster und schob den staubigen Vorhang zur Seite. Vor dem Haus gab es einen kleinen Garten, in dem man während der Sommermonate einen guten Teil des Tages zubringen konnte, im Winter zog man sich in die warme Stube zurück. Einige am Boden kriechende, verwachsene Birken standen neben der holprigen Zufahrtsstraße, wachten in der Dunkelheit. Alles schien so inhaltslos und leer. Ich starrte in einen klaren Himmel, der schöner nicht hätte sein können, dennoch stieg eine unbeschreibliche Traurigkeit in mir hoch.

Langsam zog ich den Vorhang wieder zu und setzte mich in den Ohrensessel. Gestern noch zu Hause, am nächsten Morgen dann auf Island, in einem fremden Land, allein mit meinem Unglück. Ich ging ins Bad und wusch mir die Hände. Als ich in den Spiegel schaute, blickte ich in ein müdes, abgekämpftes Gesicht. Ich versuchte, während ich mir den warmen Wasserstrahl über die Hände laufen ließ, ein freundliches Lächeln, doch meine Gesichtsmuskulatur gehorchte nicht und meine Augenlider zuckten nervös.

Wie lange braucht es, bis man sich öffnet?

*

Oft fuhr ich nach Reykjavik. Die Stadt, die nördlichste Hauptstadt der Welt, zog mich beinahe magisch an. Verregnete Abende, gut besuchte Klavierkonzerte, eine dunkle Stadt und ich mittendrin, fast schon am Polarkreis. Ich saß in stickigen Cafés und trank Cognac. Manchmal schlenderte ich auch nur durch die Straßen, bewunderte die schmalbrüstigen Häuser aus der Zeit der Jahrhundertwende, deren Fassaden mir in allen Farben entgegenleuchteten. Ich begegnete nur wenigen Menschen.

Dann der Hafen. Rauch stieg aus den Schornsteinen wartender Frachtschiffe. Doch zog es mich immer wieder zurück nach Laugarvatn, der endlosen Nacht entgegen. Die Fahrten mit dem verrosteten Volvo waren meist ruhig. Der alte Wagen glitt sanft und sicher durch die eisige Landschaft. Es gab keinen Zeitdruck.

Durch diese gemächlichen Fahrten erhielt ich einen tieferen Eindruck: Mein Blick strich über die in schillernden Farben leuchtenden Rhyolithberge, über vorbeiziehende Lavafelder, die Dächer von aufgegebenen Höfen, kletterte die dunklen Basaltsäulen empor, wanderte langsam hinab und verweilte für kurze Augenblicke im Geäst einer Zwergbirke, in deren Baumkrone ich eine seltene Schnee-Eule zu erkennen glaubte. Ich verlebte stille Tage, versank in meine Welt, glitt in die innere Emigration. Endlich zu mir finden, endlich meine Gedanken zu Ende denken, so wollte ich einige Wochen auf Island verbringen. Ich hatte mich von vermeintlichen Freunden, unglücklichen Beziehungen, schizophrenen Vorgesetzten befreit.

Endgültig, wie ich hoffte.

Und damit stand meinem Vorhaben, endlich inneren Frieden zu finden, nichts mehr im Wege. Oder sollte ich mich getäuscht haben? Ich wollte Ruhe haben, allein sein. Frauen reden oft und gern von Liebe und Glück, stundenlang, und wollen einem so ein Zusammenleben schmackhaft machen. Vertraut man ihren Worten, versinkt man im Anonymen, und das eigene Ich verliert sich in einem Strudel des Vergessens. Gefangen im Gefängnis der Liebe, entfernt von allem Vertrauten. Davon wollte ich vorläufig nichts wissen, weil allein der Gedanke an eine Beziehung mich bereits in meinem Selbstfindungsprozess störte. In dieser Einöde werde ich von solchen Dingen wohl verschont bleiben, dachte ich.

Das Glück liegt in einem selbst, man muss es nur erkennen, sagte ich mir. Es gibt dieses absolute Glücksgefühl – auch wenn ich damals nicht davon überzeugt war, versuchte ich es mir andauernd zu suggerieren. Auch der kategorische Imperativ ging mir nicht aus dem Kopf. Anfängliches Verständnis wurde von völligem Unverständnis abgelöst. Kann man diesen Befehl tatsächlich leben? Wer konnte den Beweis antreten? Dass ich es nicht sein sollte, wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Ein neues Leben kam auf mich zu, so wie ich es mir gewünscht hatte. Doch ich war nicht gut vorbereitet. Ich wollte ein Leben leben, das meinem Innersten entsprach. Wo auch immer. Das war mein Ziel. Alle Zweifel werden sich legen, alle Irrtümer werden sich in nichts als Wohlgefallen auflösen. Irgendwie aus dem Diffusen herausfinden. Mich von allen Fesseln befreien.

Ich fühlte mich auf Island schnell heimisch. Somit war das Erlernen des Isländischen auch zweitrangig für mich. Meine Sprachkenntnisse beschränkten sich auf einfache Konversation. Außerdem sprechen auf Island bereits Volksschüler ein gepflegtes Englisch. Die amerikanischen Fernsehserien, die ununterbrochen im isländischen Fernsehen gesendet werden, und die langen Winterabende, in denen die Kinder viel Zeit vor TV-Geräten verbringen, sind der Grund für die guten Englischkenntnisse, so hatte ich es jedenfalls in einem Island-Reiseführer gelesen. Auf Synchronisation wird weitgehend verzichtet, nicht jedoch auf Untertitel.

Es war mein erster Winter in einer so einsamen und wetterunbeständigen Gegend. Eine stimulierende, eisige Kälte machte sich breit. Und an allem fraß der salzige Wind, nagte der Rost. Auch an den von einem russischen Frachter zurückgelassenen Geländefahrzeugen, die wie wild durcheinandergewürfelte Dominosteine in einem abgelegenen Hafen dem Winter trotzten. Niemand kümmerte sich darum. Island hob sich vom Rest Europas ab, und mir war, als wüsste man in den entrückten Nobelclubs und dekadenten Luxushotels der europäischen Metropolen so gut wie nichts von den unwirtlichen Gegenden, vom ständigen Kampf gegen die Natur und von dem aufopfernden Leben der Isländer. Dieses archaische Land war faszinierend, wirkte berauschend, stärker noch als eine Droge, nahm es mich doch ganz für sich ein.

Meine Nachbarn lebten gute fünf Kilometer von mir entfernt. Nachbarschaftliche Kontakte durfte ich also nicht erwarten. Außer eines Tages, als ein älterer Mann bei mir aufkreutzte und um Zigaretten bat, die ich jedoch nicht vorrätig hatte. Er konnte es nicht glauben und fluchte laut vor sich hin. Ich war höflich, versuchte ein Gespräch zu führen.

Fragte nach seinem Befinden und so fort. Doch er ignorierte meine Fragen geflissentlich. Und dennoch: Ich sprach mit dem Fremden. Erst später, irgendwann in den langen Pausen, in denen ich schwieg, begann es aus ihm herauszusprudeln. Er redete und redete, monologisierte endlos: von seinem Hof im Süden Islands, vom Schnaps, von Frauen, und natürlich auch – wie konnte es anders sein – vom Lachs. Die Isländer und ihr Lachs. Nichts ist heiliger. Geduldig hörte ich zu. Weit im Landesinneren, in ihren verfallenen Höfen, würden sich alt aussehende, stets dunkel gekleidete Frauen abmühen und in den wenigen Wirtshäusern des Landes harte Männer alte Geschichten vom reichen Fischfang vergangener Tage erzählen, von blutigen Fehden mit Dänen und Norwegern, und von brennenden Schiffen, weinenden Frauen, verlassenen Kindern, sterbenden Dörfern, so berichtete mir der Fremde. Schließlich wandte er sich grußlos und kopfschüttelnd ab und ließ mich wieder allein. Er hielt mich wohl für arrogant.

Weitere Kontakte gab es hier nicht, wenn man von den notwendigen Vorratseinkäufen in der Großstadt und den Fischern absah, die zeitweise an meinem Haus, das an einem kleinen Fluss lag, vorbeikamen. Ich hatte es mir gut eingerichtet und fühlte mich vorerst rundum wohl.

Eines Tages, es dämmerte noch, beobachtete ich eine Gestalt, die am Fluss vor meinem Haus fischen wollte. Wie aus dem Nichts war dieses ungewöhnliche Wesen der Dunkelheit entstiegen. Ein kleiner, fast zwergenhafter Mann, mit einem schwarzen Mantel bekleidet und einer ziemlich großen Nase, stand plötzlich regungslos auf der Terrasse.

Nimmt man es genau, so hatte er eigentlich gar keine Nase, sondern einen außergewöhnlich langen Schnabel, der so abartig lang war, dass sein Gesicht wie das von einem Alca impennis aussah und nichts Menschliches mehr an sich hatte. Völlig ungeniert ließ er sich vor dem Haus nieder, und es machte den Anschein, als könnte ihn nichts auf der Welt aus der Ruhe bringen. Ich trat aus dem Haus und beobachtete ihn eine Weile interessiert. Auch durch meine Anwesenheit ließ er sich nicht stören. Doch es war mir irgendwie gleichgültig.

Ein Sturm brauste. Der Regen prasselte auf das Dach, und der Wind schlug ungestüm gegen die Fensterläden. Ich saß an meinem Schreibtisch und dachte über meine Situation nach. Auf Island, in Laugarvatn also, einer verschlafenen 200-Seelen-Gemeinde, konnte ich einigermaßen ungestört leben. Was wollte ich mehr?

Laugarvatn war öde und ohne Hoffnung wie andere Dörfer auch, und es erschien mir seltsam, dass ich mich an diesen von Frost und Kälte gleichermaßen bedrängten Ort zurückgezogen hatte. Durch das gedämpfte Licht der Petroleumlampe herrschte eine gemütliche Atmosphäre im Haus. Ich beließ es dabei, fühlte mich in eine andere Zeit versetzt. Kaum Licht. Nein, es beunruhigte mich nicht. Es war einfach anders. Seltsam für einen Großstadtmenschen. Früher Nachmittag, dennoch Dunkelheit. Im Haus duftete es nach Hartfisch, nach englischem Tee, nach altem Holz. Ich sog all diese Düfte begierig ein.

Hier könnte ich es schaffen, dachte ich. Doch zuerst musste ich mich von Altlasten befreien, alles abschütteln, um für einen Neubeginn gerüstet zu sein.

Das war nicht immer so gewesen.

Ich blickte auf die Uhr, ging zum Fenster, nur um zu sehen, ob mein ungebetener Gast schon verschwunden war. Es war niemand mehr vor dem Haus. Ich war zufrieden und fing an zu schreiben. Mit dieser Tätigkeit wollte ich ganze Tage zubringen. Für das Schreiben konnte man sich keinen vortrefflicheren Ort aussuchen. Und schon schweiften meine Gedanken ab, ließen mich nicht mehr los, fesselten mich so lange mit Nichtigkeiten, bis ich erschöpft aufgab, in mich zusammensank und das Schreiben nicht einmal mehr in Erwägung zog. Hier, auf Island, verloren sich die Gesetze, die Macht und die Gewohnheit im Nichts. Alles, was mein Leben bis dahin ein wenig erfüllt hatte, leidenschaftliche Gespräche, zufällige Begegnungen, unbändiges Verlangen, vielversprechende, aber letztlich doch hoffnungslose Liebesbeziehungen, das alles zählte nicht; jedenfalls nicht auf dieser Insel.

Inmitten dieser Trostlosigkeit zählte nur der eiserne Wille, ein Wille, der mir aber nicht gegeben war. Ich ging zur Tür und öffnete sie vorsichtig. Nichts als Stille. Was hatte ich erwartet? Die Straßen waren ebenso leer wie das Haus, wie das Land, wie auch ich.

Am darauffolgenden Tag regnete es noch immer. Oft stand ich am Fenster. Über dem Haus versammelten sich Gespinste von vollgesogenen Wolken, tiefschwarz und bedrohlich, unheilvoll sich auftürmend, nur darauf bedacht, sich schnell von ihrer schweren Last zu lösen. Wenn dann der Regen für wenige Minuten nachließ oder einer kurzen, tropfenden Stille wich, unterbrach auch ich meine Arbeit, mein Nachdenken, und in diesen Momenten stand ich vor dem Fenster, starrte in die unendliche Dunkelheit, in der Hoffnung, etwas zu erkennen, etwas wahrzunehmen oder zu erahnen, vielleicht das Zeichen einer Wetterbesserung – doch in Wirklichkeit brauchte ich den Regen. Der Monotonie des Regens, die alles lähmte und gefangen hielt, galt meine ganze Aufmerksamkeit.

Auf diese Weise wollte ich mich in das Schreiben hineinzwingen. Aber ich kam mit meinen Aufzeichnungen nicht wirklich voran. Diesmal sollte es nicht an meiner Inkonsequenz scheitern, wie schon so oft in meinem Leben. Obwohl ich mir bereits einige Male vorgenommen hatte zu schreiben, hatte ich es nicht zuwege gebracht, auch nur eine angefangene Arbeit abzuschließen. Immer wieder brach ich das Schreiben ab und kümmerte mich um trivialere Angelegenheiten, ohne an die Konsequenzen zu denken. Auch ständige Selbstmotivation half nicht. Zweckloses Unterfangen. Lachhaft wirkten die mir selbst erteilten Imperative wie »Schreib!« oder »Reiß dich doch endlich am Riemen!«

Meine Inkonsequenz war immer Voraussetzung für ein sozusagen »glückliches Leben« gewesen. Ich hätte meine Einstellung von Grund auf ändern, ein neues Leben beginnen, meine alte Meinung revidieren, begangene Fehler eingestehen müssen, wenn ich den geradlinigen, also zielbewussten Weg eingeschlagen hätte. Und das, da war ich mir vollkommen sicher, konnte ich nicht, niemals, es war praktisch unmöglich, zu mühsam, zu anstrengend, einfach ein zu steiniger Weg für mich. Das redete ich mir zumindest ein, das passte in mein Weltbild. Fragen und keine oder nur ganz simple Antworten. Hauptsache, ich war zufrieden. Ich hörte auf meine innere Stimme. Und die sagte in den meisten Fällen: »Lass es sein! Bemühe dich nicht weiter!« Ich gehorchte. Da war er dann ganz plötzlich, der absolute Gehorsam.

*

Erst nach langen Überlegungen hatte ich mich entschlossen, nach Island zu fahren. War es eine Flucht? Vor wem? Erst in der Einsamkeit verstand ich die Zusammenhänge: Ich musste in diese abgeschiedene Holzhütte kommen, um mein Innerstes nach außen zu kehren und um mein wahres Ich kennenzulernen, es anzusehen und zu begreifen. Ich wollte den Dingen auf den Grund gehen, und ich wollte endlich der Wahrheit ins Auge blicken. Endlich allein sein, mit mir ins Reine kommen, schreiben und den Mann auf dem vergilbten Foto, das ich in einem Buch meiner Ziehmutter gefunden hatte, ausfindig machen. Das Bild zeigte einen Mann mit Vollbart und Nickelbrille. Er hatte ein Buch in der Hand und blickte ungehalten in die Kamera. Auf der Rückseite war zu lesen: Einar Sveinsson bei einer Lesung in Reykjavik, November 1940.