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Diese Publikation erscheint mit finanzieller Unterstützung der Cassinelli-Vogel-Stiftung.

Der Rotpunktverlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016–2020 unterstützt.

© 2020 Rotpunktverlag, Zürich
www.rotpunktverlag.ch

eISBN 978-3-85869-874-2
1. Auflage 2020

»Bleiben will ich,
wo ich nie gewesen bin.«
(Thomas Brasch)

Inhalt

Einführung – Zur politischen Ökonomie der Seelenkisten

I.Wohnen – Paradox und Widerspruch

1. Es werden jene Wohnungen am meisten gebaut, welche die wenigsten Leute wünschen.

2. Die Wohnungsnot ist nicht ungewollt. Sie gehört zum Geschäftsmodell, das sich mit dem globalisierten Boden- und Immobilienbusiness ökonomisch und politisch radikalisiert hat.

3. Die private Verwertung von Boden und dessen stetige Verknappung sind der »historische hangover« der Wohnungsfrage. Ist es möglich, Boden zu sozialisieren und den freien Markt zu erhalten?

4. Fester Bestandteil der Wohnmiseren ist, dass sie bestritten werden und hinter Durchschnittswerten verschwinden.

5. Die sogenannte »bezahlbare Wohnung«, die Stadtregierungen heute versprechen, ist keine karitative Angelegenheit.

6. Ist es der Zweck von »bezahlbaren Wohnungen«, Niedriglöhne zu ermöglichen? Oder entstehen Niedriglöhne, weil es keine »bezahlbaren Wohnungen« gibt?

7. Wenn Stadtgesellschaft zur Aktiengesellschaft verkümmert, wird auch die europäische Urbanität in ihrem Lebensnerv getroffen.

8. Das »Recht auf Wohnen« ist de facto ein Unrecht, das in eine Strafe übergeht.

9. Neue Wohnformen werden in andere Stadtformen übergehen, die Bodenreformen voraussetzen.

10. Fühlen wir uns in unserer Heimatlosigkeit zu Hause?

II.Enteignung

Berlin als Brennpunkt der Wohnungsfrage

Diskurshistorische Wende

Wer enteignet eigentlich wen?

Unschuld an die Macht!

Dämmerung der Wirtschaftsdemokratie

Enteignungsbegehren von oben

Umverteilung versus Enteignung

Mietendeckel und Enteignung im Umsetzungsmodus

Spätkapitalismus ade?

III.Aneignung

Zuhause und Heimat

Heimat als Sehnsucht und Sehnsucht als Heimat

Recht auf Unglück

»Schöner Wohnen« in der Obdachlosigkeit

Sesshaftigkeit und Nomadentum

Wohnen als Beziehungsarbeit

Binnenräumliche Disziplinierung

Stil und Pädagogik

»Die Zelle«

Wohnen und Freiheit

Wohnen ist zu kompliziert, um wahr zu sein

Befreiung vom Ort und vom Ideal

Wohnen mit Recht

Die Planung des Nicht-Planbaren

Form und Überform

Anhang

Anmerkungen

Literatur

Der Autor

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Wohin man zurückkehrt, ist das Zuhause. Um mit dieser Pointe das Volksepos Odyssee zu vollenden, hat Homer eine unendliche Geschichte geschrieben, die von ebenso unendlichen Irrfahrten und Leiden seines Helden erzählt. Das malerische Happy End inszeniert Homer im Ehebett unter einem Olivenbaum, wo Odysseus räkelnd sich mit seiner wiedergefundenen Frau Penelope einnistet, nachdem er seine letzten Widersacher niedergestreckt hat.

Es gibt kein Zuhause, solange die »Wohnungsfrage« keine Antwort findet. Zu diesem Schluss kommt Friedrich Engels, als Mitte des 19. Jahrhunderts in London ein Wohnungselend ausbricht. In der Manier eines rasenden Reporters berichtet er über Krankheiten, bürgerkriegsähnliche Zustände, Schauergeschichten von Massenlagern in feuchten, choleraverseuchten Kellern, wo Industriearbeiter Kopf an Kopf übernachten. Die Reportage erschüttert auch das demokratische Bürgertum. Debatten über Ursachen und Reformen werfen philosophische Grundsatzfragen auf und lösen ideologische Richtungskämpfe aus. Engels setzt dem bürgerlichen Raisonnement seine Kritik entgegen und spaltet die Lager unversöhnlich: Der Ursprung der Wohnungsnot und des mit ihr verbundenen Elends liege in den kapitalistischen Eigentums- und Produktionsverhältnissen. Nur jenseits von ihnen könne die Wohnungsfrage gelöst werden. Alle reformistischen und karitativen Antworten seien bloße Ablenkungsmanöver kleinbürgerlicher Ideologien, die herrschende Verhältnisse nicht verändern, sondern verfestigen.

Näher bei Homer als bei Engels ergründet Martin Heidegger die »eigentliche Wohnungsnot« in der Heimatlosigkeit der Menschen – in ihrer »Seinsverlassenheit«. Sein Referat »Bauen Wohnen Denken« von 1951 ist vieldeutig und schwer zu entschlüsseln. Durch den kryptischen Jargon hindurch kann man vermuten, dass Heidegger den Wohnort als besinnlichen Denk-Ort »erleuchten« und transzendieren wollte, um ihm die Fragen einzuschreiben, ob Wohnen erst »das Sein« ermöglicht und ob »das Sein« sich im Wohnen wiedererkennen kann.

Seit der Antike wird über das Wohnen nachgedacht. Jede Epoche hat – mit oder ohne revolutionären Zündstoff – ihre eigene Bandbreite an Mythologien, Dramen oder Theorien aufgespannt. Was Homer, Engels und Heidegger aufzeigen, sind exemplarische Beobachtungen vom Gleichen mit umgekehrten Blickrichtungen, die die Frage aufwerfen: Spiegelt das Wohnen die Gesellschaft? Oder spiegelt die Gesellschaft das Wohnen?

Solche Reflexionen zeigen zum einen die politischen und ökonomischen Prägungen der Wohnverhältnisse; zum anderen individuelle Deutungen und Fantasien über das Wohnen, die wir in unsere Seelenkisten projizieren. Denkbar wäre es, dass die zwei Wirklichkeiten zur Deckung kommen. Historisch jedoch stehen sie sich widersprüchlich gegenüber, was nahelegt, dialektische Verhältnisse von Imagination und Realität, von Überbau und Unterbau, von Privatheit und Öffentlichkeit und Ähnlichem zu klären. Diesem Buch liegen Analysen und Beobachtungen zugrunde, die solche Denkfiguren relativieren und auch infrage stellen. Aus verschiedenen Gründen.

Im 21. Jahrhundert ist uns Sesshaftigkeit fremd geworden. Eingewoben in weltweite Netze, gehören wir einem Nomadenkollektiv an, egal, ob wir zu Hause oder unterwegs sind. Auch wenn sich die Sehnsucht nach dem Eingebettetsein und nach lokaler Verankerung wieder verstärken mag – wir sind in dieser neuen Heimatlosigkeit zu Hause.

Das private Refugium, das, mit Geheimnissen und Erinnerungsbildern angefüllt wie ein eigenes »Etui« (Walter Benjamin), behütet wird, ist auch nicht mehr, was es einmal war. Mit globalen Strömen aufgeladen, speichert es nun Weltbibliotheken. Und die kleinfamiliäre Privatheit ist wie ihre Wohnform heute ein Minderheitsprogramm. Das war sie allerdings schon zuvor. Von der Antike bis in die Epoche der Adelsherrschaften wurde vorwiegend in Verbänden gewohnt. Gastfreundschaft war wichtiger als das Private. Das galt bis in die vorbürgerliche Epoche, als der Adel sich um Genossenschaften bildete, die durch Eid besiegelt wurden. Die Herrschafts- passte zur Lebensform, die sich selbst feierte und die exklusive Abstammung ritualisierte, der göttliche Absicht unterstellt wurde.

Seit der Entmachtung der Feudalherrschaft haben Abund Ausgrenzungen andere Motive, die sich zunächst als Widerspruch offenbarten: Obwohl die Losung von »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« eine offene Stadtgesellschaft und eine neue, urbane Öffentlichkeit versprach, wurde das Private mit und nach der bürgerlichen Revolution scharf vom Außen getrennt. Dieses galt nicht nur als bedrohlich – es war tatsächlich gefährlich. In den Straßen wüteten blutige Kämpfe, Bürgerkriege und Konterrevolutionen. Schutz vor diesem Außen fand man in einer im metaphorischen wie im physischen Sinn hermetischen Innenwelt.

Heute – in Zeiten von harmloseren, keinen oder eingebildeten Gefahren – prägen der Rückzug ins Private und der »Etui«-Reflex nach wie vor das Verhältnis, das Wohnen und Stadt eingehen und das aus Abgrenzung besteht. Die Trennung von Privatheit und Öffentlichkeit hat aber seit dem Ende des 19. Jahrhunderts eine vollkommen andere Bedeutung erhalten; sie ist überhaupt erst die Voraussetzung für eine urbane Alltagskultur, die ihrerseits an einen distanzierten Habitus gebunden ist. Die Ambivalenz von Nähe und Abgrenzung hat Immanuel Kant als »ungesellige Geselligkeit« umschrieben.

Die Bedrohung von außen sind nun nicht mehr konterrevolutionäre Straßenkämpfe, sondern Attacken auf die Balance, in der sich diese Ambivalenz hält. Sie kippt aus dem Gleichgewicht, wenn Privates in den öffentlichen Raum dringt, wenn Intimität ihn tyrannisiert. Die Kritik von Richard Sennett am »Zerfall des öffentlichen Raumes« aus den 1980er-Jahren hat an Gültigkeit nicht verloren. Allerdings war schon damals die Öffentlichkeit eine Unterstellung, ebenso wie ihr ein lokalisierbares Zentrum fehlte. Inzwischen hat sich das Öffentliche in ein Universum von Teilöffentlichkeiten gesplittet, die mit Mikromilieus und teilöffentlichen Räumen korrespondieren. Insofern ist auch das Verhältnis von privatem Wohnen und öffentlicher Stadt komplexer, unberechenbarer und vielfältiger geworden.

Die bürgerliche Wohnform ist in der Menschheitsgeschichte eine Episode. Das gilt auch für den Übergang in verwandte, kleinfamiliäre Versionen im 20. Jahrhundert, die in ständigem Umbruch sind – innerhalb und außerhalb ihrer ursprünglichen Lebensstile und Ordnung. Auch wenn sie nicht verschwunden sind, haben sie ihre Vorrangstellung im 21. Jahrhundert verloren und spiegeln die Gesellschaft nicht mehr, so wie diese selbst heterogener geworden ist.

Obwohl dieser Wandel unbestritten ist, bleibt das Wohnen rückwärtsorientiert – so, als ob es von einem anhaltenden Echo aus der Vergangenheit verfolgt würde: »Das Gewesene scheint unverbrüchlich« (Max Weber). Lebensstile werden als familiär wahrgenommen, selbst wenn solche verschwunden oder wenn aus ihnen Zwitterformen entstanden sind. Alte Wohnvorstellungen überdauern, als wären sie von einem historischen Unterbewusstsein beseelt. Für diese Rückwärtsorientierung gibt es allerdings auch einen anderen, simplen Grund: Das Gewohnte wird zur Gewohnheit, weil wir nichts anderes kennen. Andere Möglichkeiten sind so nur schwer vorstellbar, selbst wenn sie sich anbieten.

Auch in ökonomischer Hinsicht hat die Wohnungsfrage neue Voraussetzungen. Der Plattformkapitalismus stellt nicht nur das Verhältnis von Kapital und Arbeit auf den Kopf, sondern auch das Verhältnis von Kapital und Wohnen. Vom Eigentum im ursprünglichen Sinn – also von Produktionsmitteln, Fabriken, Waren usw. – ist der Plattformkapitalismus im Wesentlichen unabhängig. Akkumulation und Kapitalverwertung sind vielmehr an die Ausbeutung von Informationen und an deren automatisierte Verarbeitungsmaschinen gebunden. Taxibetreiber benötigen nicht unbedingt ein Taxi (Uber), und Mieter können ihre Wohnung wie Hausbesitzer vermieten (Airbnb). Pointierter: Der Plattformkapitalismus kann auf ursprüngliche Akkumulationsmittel verzichten oder sie opfern.1

Plattformkommunikation und Plattformkapitalismus sind nicht nur neu – sie haben sich in einem historisch veränderten Rahmen entwickelt. Die Systemkonkurrenz zwischen Kapitalismus und Sozialismus, wie sie bis Ende der 1980er-Jahre noch bestand, ist aufgehoben. Auch der mahnende Ruf, dass mit der »Zerstörung des freien Marktes« eine neue DDR rekonstruiert werde, verhallt im Echoraum hinter dem ehemals Eisernen Vorhang.

Ungeachtet solcher Umwälzungen gibt es jedoch historische hangover. Auch im 21. Jahrhundert geht das Wohnen mit Existenzängsten und mit Elend einher. In den europäischen Metropolen sind selbst Massenlager nicht verschwunden, wo zwar nicht mehr – wie noch im 19. Jahrhundert – das Industrie-, dafür nun das Serviceproletariat Zuflucht sucht.2

Die politischen und ökonomischen Debatten über Wohnungsnöte drehen sich heute wie vor hundertfünfzig Jahren um einen innerkapitalistischen Widerspruch, der sich über die Zeit zum Paradox verfestigt hat: Der Immobilienmarkt profitiert vom knappen Wohnungsangebot, das Boden- wie Mietpreise hochtreibt und einen Nachfrageschock auslöst, während der Arbeitsmarkt vermeiden will, gestiegene Mietkosten mit höheren Löhnen abzufedern.

Diese paradoxe Situation bleibt auch dann noch bestehen, wenn gemeinnützige Akteure in die Kluft springen und Wohnungsnöte zu lindern versuchen. Zwar ist das in den letzten hundert Jahren oft auch gelungen – nichtsdestotrotz halten sie damit den Widerspruch in der Balance. Es ist eine Gratwanderung, sowohl außerhalb als auch innerhalb des freien, kapitalistischen Marktes agieren zu wollen. Ein Beispiel ist der gewerkschaftliche Wohnbaukonzern Neue Heimat. Er warf in der Nachkriegszeit eine halbe Million neue Wohnungen auf den Markt. Das erfolgreiche Unternehmen umwehte weniger karitatives Flair als die »gemeinwirtschaftliche Vision«, die in kurzer Zeit zum größten Immobilienkonzern in Europa angeschwollen ist. Auf dem Weg, den Markt zu erobern, folgte jedoch bald die Ernüchterung: Auch die gewerkschaftliche Alternative zum freien Markt konnte dessen Zwängen nicht entrinnen. Das bezeugten nicht nur zahlreiche Korruptionsfälle, sondern die Abhängigkeit vom kapitalistischen Wirtschaften, das ständiges Wachstum voraussetzt und riskante Bodenspekulationen einschließt. Mitte der 1970er-Jahre, als das wirtschaftliche Wachstum zusammenbrach, die Löhne sanken, die Arbeitslosigkeit anstieg und Förderungen schrumpften, wurde die Neue Heimat für eine symbolische Mark an einen Berliner Bäckerunternehmer verkauft. Sie war ruiniert und die »sozialdemokratische Utopie« am Ende. Sie bestand in einer Umverteilungspolitik, die »voraussetzt, dass es etwas zu verteilen gibt« (Jürgen Habermas). Als es nichts mehr zu verteilen gab, offenbarte sich das Unausweichliche: Auf die Entschärfung eines innerkapitalistischen Widerspruchs folgte die Verschärfung kapitalistischer Widersprüche. Sie sind seit den 1970er-Jahren virulent und nähern sich mit der neoliberalen Zuspitzung ihrer Selbstauflösung.

Heute ist es möglich, Waren nicht bloß in Serien (Fordismus), sondern im Überfluss zu produzieren, was auch ausgiebig und sinnlos getan wird. Eine derartige Entfaltung der Produktivkräfte böte im Wohnungsbau neue und andere Potenziale. Ein Überfluss an Wohnungen ergäbe Sinn – volkswirtschaftlich und seelisch; er wäre bereits erreicht, wenn das tatsächliche Angebot nicht der angeblichen Wahlfreiheit widerspräche, die der freie Markt zwar verspricht, aber nie einlöst. Gegen einen angemessenen Überfluss spricht allein das Geschäftsmodell der Wohnimmobilie, das ein Grundbedürfnis mit Geiz bestraft.

Wenn Wahlfreiheit auf dem Wohnungsmarkt ein Luxus ist und monetären Wohlstand voraussetzt, ist die Folge eine weitreichende soziale Ausgrenzung und Spaltung. Sie hat sich in den letzten dreißig Jahren verschärft und auch den Mittelstand erfasst. Wenn ein Grundbedürfnis mit Geiz bestraft wird, gibt es auch andere Folgeschäden. Michel Foucault hat mit seinen Recherchen zum Massenwohnungsbau darauf aufmerksam gemacht: Der herrschende Wohnungsmarkt ist ein repressiver Disziplinierungsapparat, der die Angst instrumentalisiert, kein Dach über dem Kopf zu haben oder zu finden.3 So werden auch Hausordnungen geduldet, die im Kern ein Habitus- und Überwachungsdispositiv schaffen und eine »Mikrophysik der Macht« konstituieren, die ihren historischen Ursprung im Gefängnisbau hat.

Die Folgen sind auch politisch: Wohnen als Machtmittel erzwingt unterwürfige Mieter. So erscheint das seit einem halben Jahrhundert verbriefte »Recht auf Wohnen« als Farce: De jure ist es ein Menschenrecht, defacto ist es für die Mehrheit eine Strafe.4

Wieso träumen Massen vom »eigenen Heim«, obwohl es durch Verschuldung zum eigenen Gefängnis wird? Wie ist es möglich, dass Mieter, die in ständiger Angst leben, die Miete nicht bezahlen zu können, die Interessen der Vermieter vertreten, wenn über verschärfte Mieterrechte entschieden wird? Wie kann es sein, dass die eigene Altersvorsorge die eigene Miete verteuert? Wieso erobert der globale Immobilienmarkt ganze Städte, nur um sie dann zu veröden?

Tröstend für alle, die das Absurde nicht ertragen, ist eine Legende, die sich um das Theaterstück Warten auf Godot rankt; sie handelt von einem Randereignis, das sich während der Tour de France abgespielt und Samuel Beckett als Inspiration gedient haben soll: Die Zuschauer verharren am Rand der steil aufsteigenden Straße zum Mont Ventoux, obwohl die Fahrer längst am Ziel angekommen sind. Was unverständlich scheint, hat einen Grund: Der letzte, beliebte Fahrer namens Roger Godeau ist noch unterwegs.

Die Wohnungsfrage ist paradox und widersprüchlich. Lohnt es sich, auf der Suche nach Antworten auf den Quasigott Godot oder auf den Antihelden Godeau zu warten? Einer der großen Philosophen würde auf Godeau setzen. Das Paradoxe wie das Absurde waren für Hegel keine Überlegung wert; er kümmerte sich vielmehr um den »höheren Widerspruch«, der – im Wechselspiel mit anderen Kräften – einen »kreativen Wendepunkt« erreichen kann.

Ist dieser Wendepunkt heute schon in Sichtweite oder gar bereits erreicht? Treten die Umstände und die Art, wie gewohnt wird, zunehmend in Widerspruch zum Alltäglichen und Erträglichen – nachdem über Dekaden weder die Gesellschaft das Wohnen noch das Wohnen die Gesellschaft gespiegelt hat, weder deren Entwicklung noch deren Möglichkeiten?

In der Wohnungsfrage verketten sich politisch-ökonomische mit seelisch-kulturellen Aspekten. Dabei manifestieren sich auch gegenläufige Kräfte. »Wenn wir wollen, dass alles bleibt, wie es ist, muss sich alles verändern.« Giuseppe Tomasi di Lampedusas Roman Il Gattopardo erzählt vom Wendepunkt, an dem die adelige Gesellschaft steht, als sie mit der bürgerlichen Revolution konfrontiert wird. Fürst Tancredi versucht, die aristoratische Macht mittels einer unheiligen Allianz zu erhalten – mit dem Anschluss an die bürgerliche Bewegung Garibaldis, die in der Mitte des 19. Jahrhunderts Italien vereinigt. Doch der strategische Unterzug misslingt; er kann das Ende adeliger Vorherrschaft nicht verhindern. Auch Tancredis große Liebe zerbricht am gesellschaftlichen Umbruch.

Der Aphorismus feiert also nicht den Triumph von Veränderungen, sondern trauert über die Vergeblichkeit des Versuchs, diese zu verhindern. In der Wohnungsfrage könnte eine progressive Diagnose hingegen lauten: Wenn das Bodeneigentum und die Art, wie gegenwärtig gewohnt wird, im Widerspruch zu den real stattfindenden Veränderungen stehen, wird dieser Widerspruch sich früher oder später auflösen. Doch auch die Lieblingsdiagnose der fortschrittsbegeisterten Moderne ist ambivalent; sie verfehlt oft das reale und, rückblickend, auch das historische Geschehen. Dafür ist auch die alte Wohnungsfrage ein Beleg. Ihre Widersprüche haben hundertfünfzig Jahre überlebt.

Ohne Bodeneigentum wäre der Kapitalismus buchstäblich seines Fundaments beraubt gewesen. Ist das auch heute noch so? Im 19. Jahrhundert hatte das Bodeneigentum jedenfalls einen anderen Stellenwert als heute. Es war, abgesehen von Fabrikarealen, auch Bestandteil kleinbürgerlichen Besitztums. Deshalb war für Marx der Besitz an Produktionsmitteln relevanter als der Besitz an Boden, so wie sich über dieses Merkmal auch der Kapitalist vom Kleinbürger unterschied. Dem entspricht, dass »das Moment der Selbstauflösung« des Kapitalismus in der »Verwandlung der Arbeit in die Maschine« passiert – eine Vorausahnung von Marx, die gerade in die Wirklichkeit übergeht.5

Im Boden lauert heute ein anderes Moment der Selbstauflösung: Der kleinbürgerliche Besitz ist längst geschrumpft und durch den globalisierten, börsennotierten Immobilienhandel marginalisiert. Der Boden wird immer knapper und das globale Geschäft mit ihm immer härter. Boden ist per se nicht veränderbar, nur seine Verwertung und sein Gebrauch sind es. Der Gebrauch beziehungsweise Verbrauch von Boden hat in den letzten zwanzig, dreißig Jahren eine soziale und ökonomische Krise der Städte ausgelöst und deren Peripherien veröden lassen. Global agierende Konzerne und Immobilienfonds tendieren dazu, sich Städte nicht bloß materiell anzueignen, sondern sie zu entdemokratisieren. Die Stadtforscherin Saskia Sassen beobachtet seit Jahrzehnten, wie die »Finanzialisierung der Städte« und deren dereguliertes Wachstum eine schleichende Entmachtung der Stadtgesellschaft nach sich zieht, die in der Folge einer zunehmenden Verödung und Entwertung ihrer urbanen Alltagskultur ausgesetzt ist. Diese neuen Kräfte und Dynamiken haben die inneren Widersprüche von Bodeneigentum verschärft. Das drängt eine Frage auf, die im 19. Jahrhundert noch undenkbar gewesen wäre: Wird die Enteignung von Boden den Kapitalismus eher retten als zerstören? Wir werden am Beispiel Berlins darauf zurückkommen.

Neuere Szenarien zum »Ende des Kapitalismus« folgen mehr oder weniger der marxistischen Logik der Kapitalakkumulation, die an ihre eigenen Grenzen stößt. Sei es, weil das Kapital bereits die Peripherien aller Weltregionen aufgesaugt hat und der Profit austrocknet (Immanuel Wallerstein); weil die zahlungsfähigen Nachfrager und damit der Konsum zurückgehen (David Harvey); weil die Computerisierung jener Arbeitsbereiche, in denen vor allem der Mittelstand beschäftigt ist, eine ausweglose Krise schafft (Randall Collins); oder weil der Kapitalismus mit monopolisierten Weltkonzernen verknöchert und bürokratisch erstarrt (Friedrich Lenger).

Abgesehen davon, dass »die Zukunft ungewiss ist und das Ende immer nah« (Jim Morrison), unterscheiden sich diese aktuellen Erklärungsmuster nicht grundlegend von jener Prognose, die Marx mit dem »tendenziellen Fall der Profitrate« begründet hat. Sie hat freilich neue Voraussetzungen und Fallhöhen. Vor allem aber sprengt der Kapitalismus heute schon seinen ursprünglichen Rahmen – im Besonderen, was die Bodenfrage betrifft.

Negativzinsen, virtuelles Eigentum und die Forderung der größten Weltkonzerne aus dem Silicon Valley nach einem Grundeinkommen kennzeichnen den Übergang vom klassischen zum symbolischen Kapitalismus. Das verdeutlicht geradezu plakativ die Billigfliegerei, die Frankfurt–Mallorca für 15 Euro verschenkt. Jedem ökonomischen Sinn und jeder Verantwortung enthoben, gilt der Imperativ: Kauf mich! Volkswirtschaftliche Ignoranz prägt aus einem anderen Zusammenhang auch das Boden- und Immobiliengeschäft: der Imperativ der Immobilienaktie und ihrer Performance. Im Zeitalter der Globalisierung findet der Immobilienmarkt nicht ausschließlich, aber maßgebend an der Börse statt. Gemeinnützige und Pensionskassen müssen sich entsprechenden Standards der Kalkulation und Verwertung von Boden und Immobilien fügen, wenn sie an Marktanteilen zulegen wollen. Negativzinsen bescheren globalen Immobiliengesellschaften ein zusätzliches Wachstum. Ihre Umsätze haben sich laut Bank für Internationalen Zahlungsausgleich seit der Jahrtausendwende verdoppelt.

Die verborgenen Hintergründe dieses enormen Wachstumsschubs enthüllten die Paradise Papers, nachdem sie den Darkroom der Finanzindustrie ausgeleuchtet hatten. In ihm hat sich zwischen 2014 und 2016 – je nach Schätzung – zwischen einem Drittel und der Hälfte des Immobilienumsatzes von 700 Milliarden Euro allein in Deutschland als Schwarzgeld oder »vorgewaschenes« Geld bewegt, steuerfrei und herkunftsunbekannt – vor allem mit sogenannten Back-to-back-Loan-Transfers, die illegales in legales Geld oder legale Kredite verwandeln.6

Wenn die Immobilie als Manövriermasse der illegalen und legalen Finanzindustrie dient, erhöht sich nicht nur der Anteil unproduktiver Wertvermehrung innerhalb der Volkswirtschaft. Das börsenfixierte und deregulierte Wachstum der Städte stellt auch deren Überleben infrage.7 Diese Diagnose, die nach Untergangsbeschwörung anmutet, kommt nicht aus der alten Schule der Kapitalismuskritik, sondern ist das Ergebnis weltweiter Stadtanalysen von UN-Habitat, dem Wohn- und Siedlungsprogramm der Vereinten Nationen.8

Ihre Schlussfolgerungen sind nicht neu, aber aktueller denn je: Im Unterschied zum Kapital kann Boden weder akkumuliert noch vernichtet werden. Er ist ein Allgemeingut und seine Privatisierung in sich ein Widerspruch. Ohne eine Sozialisierung des Bodens sind Entwicklungen der Städte nicht zu lenken. Das gilt auch für das Wohnen.

Bemerkenswert ist, dass diese Position heute common sense ist – akademisch und politisch, von links bis mehr oder weniger rechts. Allerdings beschränken sich die politischen Reaktionen auf Postulate und Bekenntnisse. Die »Bodenwende«, von der gegenwärtig die Rede ist, hat weder die Voraussetzungen noch den revolutionären Groove des 19. Jahrhunderts. Sie dreht sich um die Frage: Wie ist es möglich, die stadtzerstörende Wucht zunehmend aggressiver Immobilienspekulation abzufedern? Noch stellt sich die Frage selbst infrage: Geht das überhaupt? Und wenn ja: Welche Machtkonstellationen wären dafür nötig? Zwingt der Nachfrageschock auf dem Wohnungsmarkt den Arbeitsmarkt dazu, Bodenreformen anzustoßen? Wie lange noch können globale Konzerne ihre Standorte von Hoch- in Niedriglohnländer verlagern, um steigende Mietpreise nicht mit Lohnerhöhungen ausgleichen zu müssen? Sind die Möglichkeiten solcher Standortverlagerungen inzwischen ausgereizt, weil das globale Kapital längst alle Peripherien der Welt erschlossen hat? Muss demzufolge der Sozialstaat einspringen und Mietpreiserhöhungen subventionieren? Oder ist die Umverteilungspolitik am Ende, weil es nichts mehr zu verteilen gibt?

Zugespitzt, aktualisieren diese Fragen die eigentliche, die Kernfrage: Setzt der Kapitalismus mit seinen neuen Widersprüchen und inneren Aberrationen im 21. Jahrhundert noch Bodeneigentum voraus? Oder knapper: Sind Kapital und Boden trennbar?

Marx und Engels gaben Mitte des 19. Jahrhunderts eine bejahende und zugleich verneinende Antwort. Zum einen ermöglicht Bodeneigentum, ausgehend von der Produktionssphäre sich auch der Reproduktionssphäre der Arbeitskraft zu bemächtigen; insofern ist es Bestandteil des Klassengegensatzes. Zum anderen sind die ökonomischen Verwertungsbedingungen von Boden und Arbeitskraft vollkommen unterschiedlich, so wie der Besitz von Produktionsmitteln den Kapitalisten vorbehalten ist. Immobilien wie Wohnungen sind Waren, die als solche gehandelt werden. Vom Handel sind »kleinbürgerliche Eigentümer« nicht ausgeschlossen, was sie in eine ideologische Abhängigkeit manövriert, die sie zu strategischen Bündnispartnern in der »Armee der Eigentümer« macht.9

Die Verwertungs- wie auch die Machtdimension von Bodeneigentum hat sich im 21. Jahrhundert nicht substanziell verändert, aber verschoben. Nach wie vor ist die Ausbeutung von natürlichen Ressourcen und Bodenschätzen privaten oder staatlichen Eigentümern vorbehalten. Im Zusammenhang mit digitalen Produktionsformen und dem »Internet der Dinge« stellen sich aber neue Fragen. Es ist ungewiss, wie die digitale Zukunft sich entwickelt und auswirkt. Ob die Industrie 4.0 nicht bloß selbst produzierende, sondern auch selbst denkende Systeme hervorbringt und ein Grundeinkommen oder Mindestlöhne erzwingt. Ob allenfalls Zustände der griechischen Antike einkehren, die – mit sozialen Errungenschaften aufgebessert – Luxus demokratisieren: Die von der Arbeit befreite Elite wären nun Jedermann und Jedefrau, die nicht mehr von Sklaven, sondern von Robotern bedient werden.

Jenseits von Spekulationen über Zukunftsszenarien gibt es heute schon Anzeichen, dass Bodeneigentum als Basis des Kapitalismus bröckelt. Engels verglich den Boden noch mit der ebenso unentbehrlichen Luft. Heute brauchen die vernetzten, sich selbst regulierenden Produktionssphären weder Luft noch Boden – sie benötigen bloß Energie und Adressen, an denen sich die bestellte Ware im Home-3-D-Drucker selbst ausspuckt.

Dem widerspricht nicht, dass bis auf Weiteres Digitales und Analoges koexistieren werden, was auch altes Handwerk einschließt (siehe Richard Sennett). Auch historisch gewachsene Städte lassen sich kaum von neuen IT-Städten verdrängen, zumal solche heute schon existieren. Sie bilden sich um entmaterialisierte Produktionsformen und Informationsverwertungen, die an keinen bestimmten Ort – also auch nicht an teuren Boden – gebunden sind. Vernetztes Arbeiten ermöglicht Delokalisierung desselben – mit entsprechenden Wahlfreiheiten. Frühe Versionen sind schon in den 1970er-Jahren entstanden. Ein Beispiel ist ein europäischer Ableger von Silicon Valley im südfranzösischen Hinterland, Sophia Antipolis, eine Ansiedlung von 1300 IT-Firmen, deren Angestellte die schöne Landschaft mit wohltemperiertem Klima der kalifornischen Agglo-Wüste vorziehen. Neuere Varianten wie der Circle von Apple vergegenständlichen die digitalisierte Stadt als hermetischen Cluster im Niemandsland. In ihm herrscht eine lückenlose Menschen- und Raumkontrolle, die von IT-Fans als technische Errungenschaft gefeiert wird. Für urbane Flaneure und die offene Gesellschaft sind Observationsmaschinen ein Albtraum und Gift für die Stadtluft, die frei macht. Zufälliges, Überraschendes, »das Miteinander unter Unbekannten« (Max Weber) kann nicht stattfinden, und selbst die Kuss-Ecke ist eliminiert.

Diesen gated communities der Arbeitswelt trotzt denn auch ein starker Gegentrend zur Stadtrückwanderung. Die schwer erträgliche Allianz aus klaustrophobischer Öde und Verdammnis zur Arbeit hat eine wahre IT-Odyssee ausgelöst. Die Erfinder des vermeintlich ortsunabhängigen Arbeitens flüchten mit ihrer Entourage aus Workaholics und Nerds aus dem Silicon Valley nach San Francisco und nehmen für ein analoges urbanes Zuhause langes Pendeln in Kauf. Die Folge: Im begehrten Zufluchtsort sind die Immobilienpreise explodiert. Verdrängte Stadtbewohnerinnen und Stadtbewohner protestieren seit Jahren mit militanten Aufständen.10