Cover

Dr. Norden Bestseller
– Staffel 17 –

E-Book 161-170

Patricia Vandenberg

Impressum:

Epub-Version © 2019 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74095-863-3

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Leseprobe:
E-Book 151-160

Leseprobe

Dr. Norden ist die erfolgreichste Arztromanserie Deutschlands, und das schon seit Jahrzehnten. Mehr als 1.000 Romane wurden bereits geschrieben. Deutlich über 200 Millionen Exemplare verkauft! Die Serie von Patricia Vandenberg befindet sich inzwischen in der zweiten Autoren- und auch Arztgeneration. Patricia Vandenberg ist die Begründerin von "Dr. Norden", der erfolgreichsten Arztromanserie deutscher Sprache, von "Dr. Laurin", "Sophienlust" und "Im Sonnenwinkel". Sie hat allein im Martin Kelter Verlag fast 1.300 Romane veröffentlicht, Hunderte Millionen Exemplare wurden bereits verkauft. In allen Romangenres ist sie zu Hause, ob es um Arzt, Adel, Familie oder auch Romantic Thriller geht. Ihre breitgefächerten, virtuosen Einfälle begeistern ihre Leser. Geniales Einfühlungsvermögen, der Blick in die Herzen der Menschen zeichnet Patricia Vandenberg aus. Sie kennt die Sorgen und Sehnsüchte ihrer Leser und beeindruckt immer wieder mit ihrer unnachahmlichen Erzählweise. Ohne ihre Pionierarbeit wäre der Roman nicht das geworden, was er heute ist.

Cover

Sie wollte Mutter sein

»Jetzt hat es wieder gekracht«, sagte Loni erschrocken, und daraufhin eilte Dr. Norden zum Fenster. Er sah ein Taxi, in das ein Lieferwagen hineingefahren war. Und er sah nur gestikulierende Passanten, die anscheinend nicht wußten, was zu tun war.

Wie er ging und stand griff er nach seinem Arztkoffer. »Legen Sie sich hin, Frau Müller«, rief er der Patientin zu, die eben eine Spritze bekommen hatte. »Ein Notfall.«

Dr. Norden war noch vor der Funkstreife bei der Unfallstelle, und was er dann sah, trieb ihm den Angstschweiß auf die Stirn, denn eine junge hochschwangere Frau lag bewußtlos und blutend auf dem Rücksitz.

»Sie wollte zum Krankenhaus«, stammelte der verstörte Taxifahrer. »Dieser verrückte Kerl…«

Dr. Norden hörte nicht darauf. Es lähmte ihn augenblicklich, daß er hier auch nichts ausrichten konnte, und er atmete auf, als der Notarztwagen eintraf.

»Sofort ins Krankenhaus, dort scheint die Patientin bekannt zu sein«, sagte er. »Es besteht höchste Gefahr.«

Er kannte den Notarzt. Dr. Wolff war ein erfahrener Arzt. »Schlimm«, sagte er nur und nickte Dr. Norden zu.

Die junge Frau wurde behutsam auf die Trage gelegt und in den Wagen geschoben. Dr. Wolff setzte sich zu ihr und begann sofort mit der ersten Versorgung.

Dr. Norden kehrte blaß in seine Praxis zurück. Loni wußte, daß sie ihm jetzt keine Frage stellen durfte. Sie ahnte, daß etwas Schreckliches passiert war.

Ja, es war schrecklich für diese junge Frau, die sich auf ihr Kind gefreut hatte, für ihren Mann, der in die Klinik gerufen worden war.

Dirk Heymann war fassungslos, keines Wortes fähig und suchte nach einem Halt, als der Arzt ihm die grausame Eröffnung gemacht hatte, daß das Baby nicht gerettet werden konnte.

»Wir hoffen, das Leben Ihrer Frau erhalten zu können«, sagte der Arzt, »sie hatte einen beträchtlichen Blutverlust.«

»O Gott, oh, mein Gott«, stammelte Dirk Heymann. »Carry! Sie hat sich doch so auf das Kind gefreut. Und sie ist doch so sensibel, so zart.«

»Wir haben getan, was wir konnten, Herr Heymann, aber vielleicht ist es doch besser so. Das Kind hätte einen Gehirnschaden behalten.«

*

Dr. Norden erfuhr die näheren Umstände am Abend dieses Tages. Unentwegt hatte es ihn beschäftigt, ob dieser jungen Frau, deren Namen er nicht kannte, zu helfen gewesen war.

»Der Fahrer war betrunken«, verkündete Loni, als der letzte Patient abgefertigt worden war. »Der mit dem Lieferwagen. Diese Kerle müßten gleich aus dem Verkehr gezogen werden. Aber dem ist natürlich nichts passiert.«

»Dem wird noch allerhand passieren«, sagte Dr. Norden rauh. »Ich frage jetzt im Krankenhaus nach, wie es der Patientin geht.«

Er kannte den Chefarzt Dr. Wilhelm. Mit ihm konnte man auch reden. Er saß nicht so auf dem hohen Roß wie sein Vorgänger, der praktische Ärzte stets mit Herablassung behandelt hatte.

»Ein tragischer Fall, Herr Kollege«, sagte Dr. Wilhelm. »In solchen Augenblicken steht man mit hängenden Armen da. Das Kind hatte sich ohnehin zu schnell gesenkt. Die Nabelschnur hat die Sauerstoffzufuhr unterbrochen. So entsetzlich es für die junge Frau sein mag, die traurige Tatsache, ein gehirngeschädigtes Kind am Leben zu erhalten, wäre noch schlimmer gewesen. Mit einiger Wahrscheinlichkeit wäre dieses auch ohne den Unfall eingetreten.«

»Das braucht man ihr doch aber nicht zu sagen«, meinte Dr. Norden.

»Nein, natürlich nicht. Wir werden froh sein, wenn sie am Leben bleibt. Der Ehemann ist völlig down. Dort sitzt er.«

»Ich konnte nichts tun, gar nichts in dieser Situation«, murmelte Dr. Norden.

»Dann verstehen Sie, wie mir zumute ist«, sagte Dr. Wilhelm. »Eine reizende Frau, eine glückliche Ehe, sie hat sich unendlich auf das Kind gefreut. Sie kam regelmäßig zur Kontrolluntersuchung. Ich kenne sie seit dem ersten Tag, an dem ich die Schwangerschaft festgestellt hatte. Sie hatte schon Sorge, daß sie keine Kinder bekommen könne, weil sie schon drei Jahre verheiratet war. Warum muß es gerade solche Frauen treffen?«

»Das frage ich mich auch«, sagte Dr. Norden leise. »Ich hoffe, daß sie darüber hinwegkommt.«

Als er ging, ahnte er nicht, daß er nach Monaten dieser Carolin Hey­mann wieder begegnen sollte, um mit den Folgen dieses tragischen Unfalls konfrontiert zu werden.

*

Fee Norden spürte sofort, daß ihr Mann deprimiert war. Lustlos stocherte er in dem Essen herum, obgleich sie wußte, daß er hungrig sein mußte nach diesem langen Arbeitstag.

»Hast du etwa auch von diesem Mädchen gelesen, das ihr Baby in einer Tasche in der Scheune versteckt hat, Daniel?« fragte sie. »Es ist gerettet. Es wird am Leben bleiben. Ich habe es vorhin im Radio gehört.«

»Hör damit auf«, stieß er heftig hervor. »Das fehlt mir gerade noch.«

Fee war es nicht gewohnt, daß ihr Mann so heftig wurde.

»Entschuldige, Daniel, ich kann nicht ahnen, daß du ein schlimmes Erlebnis hattest«, sagte sie einfühlsam.

»Von dem Unfall hast du wohl nichts gehört, der unter meinem Fenster passiert ist. So ein Besoffener hat wieder mal ein Leben, vielleicht auch zwei, auf dem Gewissen.«

»Davon haben sie nichts gesagt im Radio«, murmelte Fee.

»Wieso denn auch«, sagte er bitter. »Der Verkehr wurde nicht lange aufgehalten, und es ging ja nur um ein Baby, das sterben mußte. Um ein Baby, auf das sich die Mutter freute. Und andere setzen ihre Kinder aus oder bringen sie gar um. Zum Verzweifeln ist das. Wo gibt es da denn noch eine göttliche Gerechtigkeit? Und ich stand da wie ein Depp und konnte nichts tun. Ich ahnte, daß es irgendwie schlimm ausgehen würde. Aber ich kann doch nicht mitten unter gaffenden Leuten einen Kaiserschnitt ausführen.«

Er preßte seinen Kopf auf die verschränkten Hände. Fee konnte kein tröstendes Wort über die Lippen bringen. Sie trat hinter ihn und legte behutsam ihre Hände auf seine Schultern. Er war völlig verkrampft, das spürte sie.

»Was ist das nur für eine Welt«, flüsterte sie. »Aber dich trifft doch keine Schuld, Liebster.«

»Sich das vorzustellen«, stöhnte Daniel, »da rast einer, der mindestens zwei Maß Bier getrunken haben muß, durch die Gegend und fährt ein Taxi über den Haufen, das eine werdende Mutter zum Krankenhaus bringen will. Und er zerstört alles, worauf man sich neun Monate gefreut hat. Es kann mich nicht kalt lassen, Fee.«

Das ließ selbst Liane Heymann nicht kalt, die Mutter von Dirk, obgleich sie sich mit ihrer Schwiegertochter nie sonderlich gut verstanden hatte.

Sie lebten unter einem Dach, aber Carolin hatte von Anfang an gewisse Grenzen gesetzt. Sie ließ sich von ihrer überaus peniblen Schwiegermutter keine Vorschriften machen und hatte schnell begriffen, daß Liane nicht schuldlos war an dem Fiasko ihrer eigenen Ehe, nachdem sie diese Frau besser kennengelernt hatte. Zuerst war ja alles in bester Ordnung gewesen.

Carolin hatte ein ganz hübsches Vermögen mit in die Ehe gebracht. Mit diesem hatte der Anteil, den Dirks Vater an dem Haus hatte, ausgezahlt werden können. Aber Carolin hatte dann auf getrennte Wohnungen bestanden, und auch Dirk war damit einverstanden gewesen, denn er verstand sich, trotz allen Vorfällen, gut mit seinem Vater

Als Dirk am Boden zerstört an diesem Abend heimkam, schwieg seine Mutter auch erst geraume Zeit, dann äber raffte sie sich auf.

»Es ist wahrhaft schlimm, Dirk«, sagte sie, »aber stell dir doch mal vor, was alles auf euch zugekommen wäre, wenn ihr ein gehirngeschädigtes Kind aufziehen müßtet. Das ist doch erst recht nicht auszudenken. Carolin wird das begreifen und einsehen.«

»Sie hat sich so gefreut, so sehr gefreut. Schau dir doch das Kinderzimnler an, mit wieviel Liebe sie alles hergerichtet hat, Mutter.«

»Ja, ich weiß es ja«, murmelte sie. »Aber jetzt ist ihre Gesundheit wichtiger. Es ist doch nicht ausgeschlossen, daß sie wieder ein Kind bekommt.«

Er starrte blicklos zum Fenster hinaus. »Sie muß den Schock überwinden, aber wird sie das? Die Angst wird bleiben. Ich wage nicht, an später zu denken, Mutter.«

»Sie ist doch eine intelligente Frau. Die Zeit wird helfen, Dirk«, sagte Liane Heymann.

»Ich möchte jetzt allein sein«, sagte er heiser.

»Lenk dich doch lieber ab«, sagte sie. »Dein Vater hat vorhin übrigens angerufen. Ich wollte es ihm sagen, aber mit mir redet er ja nicht.«

»Bitte, fang jetzt nicht wieder damit an, Mutter«, sagte Dirk. »Gute Nacht.«

Nun zog sie sich doch in ihre Wohnung zurück, die im oberen Stockwerk lag. Es war ein hübsches Haus, das leicht hatte umgebaut werden können, um zwei abgetrennte Wohnungen einzurichten. Liane war das freilich nicht recht gewesen, doch darauf hatte Carolin bestanden. Michael Heymann, Dirks Vater, hatte indessen eine Wohnung am anderen Ende der Stadt bezogen. Die Trennung von seiner Frau, die endgültige Trennung, mußte man wohl sagen, hatte er Monate vor der Heirat seines Sohnes vollzogen, als Dirk sich auf Wohnungssuche begeben hatte. Es schien dann, als sei das Gerangel beendet, doch Carolin mußte sich dann Tag für Tag anhören, was ihre Schwiegermutter darüber dachte.

Dies war auch der Grund gewesen, daß sie wieder ganztags statt halbtags arbeiten wollte, und sie hatte auch in einem großen Verlag eine entsprechende Stellung als Übersetzerin gefunden.

Ganz recht war es Dirk nicht. Er war Studienrat und kam mittags nach Hause. Es pendelte sich so ein, daß er dann wieder von seiner Mutter versorgt wurde, und seine Toleranz ihr gegenüber hatte auch seine Grenzen. Es hatte dadurch auch in der jungen Ehe manche Probleme gegeben, aber als Carolin dann die Gewißheit hatte, Mutter zu werden, herrschte nur noch Harmonie in dieser Ehe. Es war eine ganz normale Schwangerschaft, ohne Beschwerden für Carolin. Im sechsten Monat gab sie ihre Stellung dann aber doch schon auf, und man mußte es ­Liane nachsagen, daß sie sich sehr diplomatisch verhielt.

Nach einer unruhigen Nacht wachte Dirk wie gerädert auf. Dann fiel ihm ein, daß an diesem Tag eine Englischschulaufgabe angesetzt war. Er duschte kalt, bis sein Kopf klarer wurde, konnte es dann aber nicht verhindem, daß er fror.

Es läutete dreimal kurz an der Wohnungstür. Seine Mutter sagte ihm, daß sie das Frühstück für ihn bereits zubereitet hätte.

Nach dem Kaffee wurde es ihm heiß. »Ich muß in der Klinik anrufen«, sagte er tonlos.

»Da ist das Telefon, mein Junge«, sagte Liane. »Wenn etwas mit Carolin wäre, hätten sie dich schon benachrichtigt.«

Er sah sie mit leeren Augen an. Seine Hand zitterte, als er nach dem Hörer griff.

Das Gespräch war kurz. Er konnte nur mit dem Stationsarzt sprechen, der Nachtdienst gehabt hatte.

»Es geht ihr den Umständen entsprechend«, sagte er heiser. »Sie ist noch nicht bei Bewußtsein. Ich werde mit dem Direx sprechen.«

*

Dr. Norden griff gleich nach der Zeitung, als er sich an den Frühstücks­tisch setzte.

»Du brauchst nicht lange zu suchen«, sagte Fee. »Es steht eine kurze Notiz darin. Der schuldige Fahrer wurde verhaftet, weil er nicht mal im Besitz einer gültigen Fahrerlaubnis war. Der Taxifahrer konnte nach ambulanter Behandlung entlassen werden. Die werdende Mutter wurde in die Klinik eingeliefert. Sonst nichts, auch kein Name.«

»Sie heißt Heymann«, sagte Daniel gedankenlos.

»Es ist ja leider nicht zu ändern, Daniel«, sagte Fee leise.

»Nein, es ist nicht mehr zu ändern. Ich glaube, ich würde den Kerl umbringen, wenn dir so was widerfahren wäre.«

Fee sagte lieber nichts mehr. Sie wußte genau, wann es besser war zu schweigen. Sie wußte auch, daß solch ein Fall ihren Mann noch lange beschäftigen würde, obgleich er die Pa­tientin nicht persönlich kannte.

Als Dr. Daniel Norden zu seiner Praxis fuhr, sprach Dirk Heymann schon mit dem Direktor des Gymnasiums.

»Das ist allerdings eine böse Geschichte, Herr Heymann«, sagte der, »aber Sie wissen ja, unter welchem Druck wir stehen. Ich habe keine Vertretung für Sie. Die Eltern regen sich schon auf, weil wegen des Lehrermangels so viele Stunden ausfallen müssen. Bitte, nehmen Sie sich zusammen. Sie haben dann ja eine Freistunde und können Ihre Frau in der Klinik besuchen.«

Dirk nickte müde.

Er hatte nun jedoch das Gefühl, ein beliebter Lehrer zu sein. Und ihm wurde eine tröstliche Überraschung von den Vierzehnjährigen bereitet, die er zu unterrichten hatte. Der Klassensprecher kam zu ihm, ein netter Junge, dessen Vater ein Geschäft am Hauptplatz besaß, wo das Unglück geschehen war.

»Wir haben gehört, was mit Ihrer Frau gestern passiert ist, Herr Studienrat«, sagte er leise. »Es tut uns sehr leid. Wir werden uns Mühe gehen, daß wir Ihnen keinen Ärger bereiten.«

»Danke, Klaus«, sagte Dirk leise. Dann herrschte eine Ruhe und Disziplin wie noch nie, und Dirk verteilte die Zettel mit der Schulaufgabe. Mit gesenkten Köpfen saßen sie da. Ab und zu traf ihn mal ein hilfloser Blick, aber niemand murrte. Und pünktlich gaben alle ihre Hefte ab.

Dirk hatte es eilig, in die Klinik zu kommen. Sein Herz klopfte schmerzhaft, als er sich zu Carolin ans Bett setzte. Wie klein und blaß ihr Gesicht war! Seine Kehle war wie zugeschnürt.

Er streichelte ihre blutleeren Hände, aber gleichzeitig hatte er Angst, daß sie die Augen aufschlagen und ihn ansehen könnte. Was sollte er nur sagen? Nein, er konnte es ihr nicht sagen, nicht er.

Er meinte, sie vor sich zu sehen, als sie vom Arzt kam. »Wir bekommen ein Baby, Dirk«, hatte sie jubelnd ausgerufen. »Endlich ist es soweit!«

Und nun drang es wie ein Hauch an sein Ohr: »Mein Baby, was ist mit meinem Baby?«

»Es wird alles gut, Carry«, hörte er sich mit fremder Stimme sagen, »es wird alles gut, mein Liebes.« Hatte er es wirklich gesagt? Wie konnte er es sagen? Wie konnte es wieder gut werden?

Aber Carolin schwieg, und ihre Augen blieben geschlossen. Hatte er ihre vernehmen gemeint, weil er Angst vor dieser Frage hatte? Weil es ihm nicht aus dem Sinn ging, daß es ihre erste Frage sein würde, wie es ihm auch nicht aus dem Sinn gehen konnte, daß es nicht ungeschehen gemacht werden konnte.

Wenn er doch ein Kind herbeizaubern könnte, irgendein Kind, das er ihr in den Arm legen konnte. Aber nein, seine Mutter würde diese Täuschung niemals mitmachen, und dann würde alles noch schlimmer.

Dann kam der Arzt. Es war der Oberarzt, ein noch junger Mann. Mitfühlend sah er Dirk an.

»Es geht schon etwas besser, Herr Heymann. Ich denke, Ihre Frau wird gegen Abend ansprechbar sein.«

»Ansprechbar?« wiederholte Dirk tonlos. »Sie wird es nie begreifen, gar nicht begreifen wollen. Ich weiß nicht, wie es weitergehen soll.«

»Ich kann Sie verstehen, sehr gut verstehen. Wir haben unser erstes Kind auch verloren, Herr Heymann, aber die Zeit heilt auch solche Wunden.«

»Ich muß jetzt wieder in die Schule«, sagte Dirk tonlos.

Und als er ging, traf er seinen Vater. Michael Heymann stand da, bewegungslos und grau im Gesicht.

»Sie hat es mir gesagt, es mir ins Gesicht geschleudert«, murmelte er. »Mir ist elend zumute, mein Junge.«

»Was meinst du, wie mir zumute ist, Paps. Ich muß jetzt wieder zum Unterricht.«

»Kann ich etwas für Carry tun oder für dich?« fragte der Ältere.

Dirk schüttelte den Kopf. »Das müssen wir allein schaffen, Paps«, sagte er heiser.

»Wissen Carrys Eltern Bescheid?«

»Nein, sie sind in Japan. Sie haben ja nicht mal gefragt, wann das Kind kommt. Sie leben ihr eigenes Leben, sie haben ihre eigene Religion, Paps. Und ich weiß nicht mehr, an welchen Gott ich noch glauben soll.«

»Sag mir Bescheid, wenn du mich brauchst«, sagte Michael Heymann.

*

Dann, noch an diesem Tag, wurde Dirk daran erinnert, daß das Kind bestattet werden mußte, das Kind, das nie außerhalb des Mutterleibes gelebt hatte. Und er erfuhr auch erst jetzt, daß es ein Mädchen gewesen war.

Auch diese Formalitäten mußten erledigt werden. Dirk meinte, sein Kopf würde zerspringen, als er dann wieder in der Klinik war.

Diesmal wurde er zum Chefarzt geführt. »Wir mußten es Ihrer Frau sagen, Herr Heymann. Sie hat immer wieder nach dem Kind gefragt.«

»Und?« fragte Dirk tonlos.

»Sie sagt nichts, gar nichts. Wir haben sie in die chirurgische Abteilung verlegt, damit sie das Weinen der Säuglinge nicht hört.«

Carolin weinte nicht, als er zu ihr ging. Sie hatte ihre Hände unter der Bettdecke versteckt und sah ihn nicht an.

»Mir tut es doch auch weh, Carry«, flüsterte er.

»Laßt mich doch in Ruh!« stieß sie hervor. »Ich will niemanden sehen. Geh zu deiner Mutter, die mir mit ihrem Geschwafel auf die Nerven fällt.«

»Sie war schon hier?«

»Du hattest ja keine Zeit und keinen Mut, es mir zu sagen.«

»Ich mußte einiges erledigen, Carry«, murmelte er hilflos.

Sie drehte ihr Gesicht zur Wand. »Geh«, sagte sie wieder.

»Ich liebe dich doch, Carry«, flüsterte Dirk. »Laß dir helfen. Ich bin daran doch nicht schuld.«

Sie begann jammervoll zu schluchzen. »Ihr könnt das doch nicht verstehen, niemand kann das. Mein Baby, wie sehr habe ich es geliebt!«

Dr. Wilhelm trat ein. Er hatte die Injektion schon in der Hand. Er warf Dirk einen bezeichnenden Blick zu, und er trat vom Bett zurück.

Dirk wartete dann draußen auf dem Korridor auf ihn. »Sie werden viel Verständnis für Ihre Frau aufbringen müssen«, sagte Dr. Wilhelm.

Sie will es doch nicht, dachte Dirk. Ich durfte nicht mal ihre Hand nehmen.

Daheim wartete seine Mutter.

»Hast du es nicht erwarten können, auf Carry einzuschwatzen?« stieß er zwischen den blassen Lippen hervor. »Was hättest du denn getan, wenn dir das passiert wäre?«

Sie wich zurück.

»Ich habe es doch nur gut gemeint«, sagte sie klagend.

Er ging an ihr vorbei und schlug die Wohnungstür hinter sich zu und starrte auf den Kalender. In vierzehn Tagen beginnen die Ferien, ging es ihm durch den Sinn. Dann werde ich mit Carry wegfahren. Wir werden die ­Loire-

Schlösser besuchen, das hat sie sich doch schon lange gewünscht. Aber er wußte schon, daß ihr dies auch nicht helfen würde.

*

Die Tage bis zu den Ferien waren zur Ewigkeit geworden und einer so schwer wie der andere. An eine Reise war nicht zu denken. Carolin wollte davon auch nichts wissen.

Dünn wie ein Strich war sie, als Dirk sie nach achtzehn Tagen aus der Klinik holte.

»Bitte, verliere keine Worte mehr«, sagte sie, und dann war wieder großes Schweigen. Die Tür des Kinderzimmers blieb geschlossen, und Dirk hatte das Gefühl, daß sie nie mehr geöffnet würde. Eine Mauer hatte sich zwischen ihnen aufgerichtet, die unüberwindlich schien.

Liane war verreist. Mit Rücksicht auf Carolins Gefühle für sie, hatte sie spitz erklärt, aber Dirk wußte, daß sie sich ihrer selbst nicht sicher fühlte.

»Fahr doch auch weg«, sagte Carolin zu Dirk.

»Carry, ich bitte dich«, murmelte er.

»Ich bitte dich, wegzufahren. Es ist am besten so. Worüber sollten wir sprechen? In mir ist alles zerstört.«

Dann kam ein Telegramm von ihren Eltern.

Sind einige Tage geschäftlich in Hamburg – bitte, komm.

»Ich werde nach Hamburg fliegen«, erklärte Carolin. »Fahr du doch an die Loire.«

Ihr gleichgültiger Ton verletzte ihn. »Wenn du es willst«, sagte er tonlos.

Ein Zucken lief über ihr Gesicht. »Es ist besser so, Dirk. Ich möchte dir nicht die ganzen Ferien verderben.«

»Davon kann doch keine Rede sein«, begehrte er auf. »Meinst du, ich kann es einfach abschütteln, Carry? Ich bin dankbar, daß du mir erhalten geblieben bist. Wir sind doch beide noch jung.«

»Bitte, laß mir Zeit, Dirk«, sagte die gequält.

Komm, hatten ihre Eltern telegrafiert, nicht kommt. Das ging ihm jetzt auch durch den Sinn. Etwas in ihm begehrte auf.

»Also gut, du fliegst nach Hamburg, und ich fahre an die Loire«, sagte er.

»Du kannst ja deine Mutter mitnehmen«, bemerkte sie beiläufig.

»Das fällt mir gar nicht ein. Carry, sei doch nicht so spitz. Ich werde Paps fragen.«

»Es ist ein blödes Gefühl für dich, so zwischen den Eltern zu stehen«, sagte sie nachdenklich.

»Schön ist es nicht«, sagte er.

»Ich werde jetzt für morgen einen Flug buchen«, erklärte Carolin nach einem kurzen Schweigen.

Und tatsächlich flog sie anderntags mit der Mittagsmaschine. Dirk brachte sie zum Flughafen.

»Ich werde vielleicht noch bei Tante Brenda bleiben, wenn sie nichts Besseres vorhat«, sagte Carolin geistesabwesend. »Ich wünsche dir eine schöne Zeit, Dirk.« Sie küßte ihn leicht auf die Wange, und einen Augenblick hatte er das Gefühl, daß sie für immer gehen würde. Und das Gefühl blieb, als sie sich schnell aus seiner Umarmung befreite.

Nach langem Überlegen entschloß er sich, Dr. Norden aufzusuchen und einmal mit ihm zu sprechen. Er hatte den Arzt bei Dr. Wilhelm kennengelernt, und wenn auch nur wenige Worte zwischen ihnen gewechselt worden waren, so hatte er ihn doch in seiner verständnisvollen Art sehr sympathisch gefunden.

Er suchte aus dem Telefonbuch die Nummer heraus und bat um einen Termin.

»Herr Heymann? Haben Sie richtig verstanden, Loni?« fragte Dr. Norden überrascht.

»Freilich, ich habe ihn für fünf Uhr bestellt. Er möchte morgen verreisen.«

Dirk Heymann kam pünktlich. So ein netter Mann, dachte Loni. Sie wußte ja, was mit seiner Frau geschehen war.

Sie sah, wie er ans Fenster trat und auf den Platz hinunterschaute. Sein Gesicht war düster, als er sich umwandte.

Ein paar Sekunden können über ein ganzes Leben entscheiden, dachte er, über Glück oder Unglück.

Dr. Norden verabschiedete den letzten Patienten und hatte nun Zeit für Dirk. Er ahnte, daß er Zeit brauchen würde.

»Eigentlich kennen Sie meine Frau ja auch viel zu wenig«, begann Dirk stockend. »Aber ich hatte das Gefühl, daß Sie mir raten können. Ich weiß nicht mehr weiter.«

»Erzählen Sie mir von Ihren Sorgen«, sagte Daniel.

»Da drunten hat es angefangen«, begann Dirk stockend, »und es kann doch nicht das Ende unserer Ehe bringen. Sie waren gleich bei Carry«, nun geriet er aber ins Stocken.

»Es hängt mir nach, daß ich nicht helfen konnte, Herr Heymann. Es war unmöglich. Ich konnte nur sagen, daß Ihrer Frau schnellstens geholfen werden mußte.«

»Ich will Ihnen doch auch keinen Vorwurf machen. Niemand kann Ihnen einen solchen machen, selbst Carry nicht, die irgendwo noch einen Schuldigen sucht, neben diesem betrunkenen Fahrer. Hätte sie meiner Mutter gesagt, daß sie schon starke Wehen hat, meine Mutter hätte wohl gleich den Krankenwagen gerufen oder wenigestens einen Arzt. Aber Carolin und meine Mutter verstehen sich nicht sonderlich gut. Es ist wohl auch müßig zu überlegen, wie es hätte verhindert werden können. Aber ich will nicht, daß Carry daran zerbricht, daß unsere Ehe zerstört wird. Dr. Wilhelm sagte mir, daß Sie der richtige Arzt wären, meine Frau zu behandeln, wenn sie nicht mehr ins Krankenhaus kommen wolle. Nun ist Carry nach Hamburg geflogen. Sie trifft sich dort mit ihren Eltern, die die meiste Zeit im Ausland leben. Ich konnte sie nicht zurückhalten, obgleich ich schwere Bedenken habe. Carrys Eltern haben sich einer Glaubensgruppe angeschlossen, die ich ablehne. Wenn sie Carry beeinflussen…« Er stöhnte auf.

»Denken Sie nicht gleich das Schlimmste. Ihre Frau befindet sich jetzt in einem Zustand, der mir als Arzt begreiflich ist. Sie hatte sich auf das Kind gefreut, mehr noch, sie hatte sich seelisch, auch körperlich ganz auf die Geburt eingestellt. Die Schwangerschaft verlief normal, wie ich hörte, oder haben Sie feststellen können, daß sich Ihre Frau in irgendeiner Weise sehr verändert hat?«

»Es ging ihr gut, besser als je zuvor. Und sie war immer fröhlich. Nur lehnte sie es ab, mit meiner Mutter zusammenzukommen. Meine Mutter hat sich auch sehr zurückgehalten.«

»Sie wohnen zusammen?«

Dirk nickte. »In einem Haus, aber in getrennten Wohnungen. Meine Eltern sind geschieden. Mit meinem Vater trafen wir uns regelmäßig. Dagegen hatte Carry nichts. Sie war auch öfter mit ihm allein beim Essen, wenn ich länger Schule hatte oder eine Konferenz. Und jetzt ist es so, als stünde eine Mauer zwischen uns.«

»Sie leidet noch unter dem Schock, das ist verständlich«, sagte Dr. Norden behutsam.

»Das verstehe ich doch auch, aber warum zieht sie sich auch von mir zurück?«

»Das tun auch andere Frauen nach einer Schwangerschaft, selbst dann, wenn sie ihr Kind behalten durften. Es ist tatsächlich noch immer nicht erforscht, warum manche Frauen so und andere ganz anders reagieren. Ich kenne Ihre Frau tatsächlich zu wenig, um diesbezüglich eine Prognose stellen zu können. War sie auch früher schwierig?«

»Jedenfalls nicht unkompliziert. Sie war mehr bei einer Tante als bei ihren Eltern, und diese Tante will sie jetzt auch besuchen. Als sie sechzehn war, gingen ihre Eltern nach Japan. Carrys Vater ist dort Direktor einer englischen Firma. Carrys Mutter ist Eng­länderin. Carry wollte in Hamburg bleiben, und sie wohnte weiterhin bei ihrer Tante Brenda. Diese heiratete dann einen jüngeren Mann, als Carry ihr Abitur gemacht hatte, und deshalb entschloß sich Carry, in München zu studieren. Wir hatten uns nämlich während eines Urlaubs an der Ostsee kennengelernt. Ich studierte zu dieser Zeit auch noch. Carry lebte mit einer Kommilitonin in einem Appartement. Diese heiratete aber bald, als sie ein Kind erwartete. Carry ist Patin bei diesem Kind. Sabine bekam bald ein zweites, und Carry dachte wohl, daß es bei ihr auch mal so sein müßte. Wir haben geheiratet, als ich meine erste Anstellung als Assessor bekam. Ihre Eltern kamen nicht zur Hochzeit, aber Carry bekam eine ansehnliche Mitgift. Sie beendete ihr Sprachstudium im zweiten Jahr unserer Ehe und bekam auch gleich eine Anstellung. Ich merkte schon, daß dies eine Trotzreaktion war, weil die von ihr ersehnte Schwangerschaft ausblieb. Inzwischen hatten sich meine Eltem zur Scheidung entschlossen, und wir ließen das Haus umbauen. Bis dahin hatte sich Carry ganz gut mit meiner Mutter verstanden, in der Folgezeit gab es jedoch mehr und mehr Differenzen. Carry warf meiner Mutter wohl auch vor, daß sie mit ihrer Rechthaberei meinem Vater auf die Nerven gegangen sei.«

»Stimmte das nicht?« fragte Dr. Norden, als Dirk in schweigendes Nachdenken versank.

»Doch, in gewisser Weise schon. Ich muß ehrlich gestehen, daß mir dies nie so bewußt geworden war. Mit meinem Vater kann man nicht streiten, und ich bin ihm darin wohl sehr ähnlich.«

»Wollen Sie damit sagen, daß Sie immer derjenige waren, der nachgab?« fragte Dr. Norden.

»Nein, so ist es nicht. Carry ist auch nicht streitsüchtig. Sie litt vielleicht darunter, daß ihre Eltern ein so ganz anderes Leben führten und daß ich zwischen meinen Eltern stand. Sie hat sehr viel Familiensinn. Sie wollte immer eine große Familie um sich haben, aber sie hatte nie einen großen Freundeskreis…«

»Sie auch nicht!«

»Nein. Aber es war merkwürdig, daß sich Carry auch von Sabine zurückzog. Das ist die Freundin, mit der sie zusammenwohnte. Sie schickte der kleinen Carola, deren Patin sie ist, nur Geschenke zu den Festen, nahm aber nie eine Einladung an. Erst, als sie selbst das Baby erwartete, besuchte sie Sabine wieder. Das traf gerade in die Zeit, als ich mit meiner Klasse im Skilager war. Ja, da war Carry eigenartig. Sie sprach nicht viel über diesen Besuch. Sie sagte nur, daß die Kinder sehr lebhaft wären und Sabine dann nervös wurde. So etwas verstände sie nicht. Aber vielleicht käme es daher, daß Fred so wenig Zeit für die Familie hätte. Sie sei jedenfalls sehr froh, mit einem Lehrer verheiratet zu sein, der dann immer Ferien hätte, wenn die Kinder sie auch hätten.«

»Gab es bei der Freundin Eheprobleme?« fragte Dr. Norden.

»Darüber hat Carry nicht gesprochen. Bei uns war ja alles in bester Ordnung. War…«, fügte er dann niedergeschlagen hinzu.

»Sie müssen jetzt Geduld mit Ihrer Frau haben, Herr Heymann. Wenn sie zurückkommt, ergibt sich vielleicht mal die Gelegenheit, daß ich sie auch näher kennenlerne, möglichst in ganz privatem Rahmen. Ich möchte Ihnen wirklich gern helfen. Mir ist es sehr arg, daß ich nicht helfen konnte.«

»Ich bin Ihnen sehr dankbar, daß Sie mir so viel Zeit gewidmet haben. Das Honorar würde ich gern gleich begleichen, damit meine Frau die Rechnung nicht in die Hände bekommt.«

»Betrachten wir es als eine ganz private Unterhaltung. Das war sie ja auch«, sagte Daniel Norden. »Und eine, die mich auch interessiert. Ich bin jederzeit für Sie zu sprechen, und ich wäre sehr froh, wenn ich Ihrer Frau helfen könnte.«

»Soll ich nun tatsächlich an die ­Loire fahren, wie Carry es will?«

»Warten Sie vielleicht noch zwei Tage, und wenn Sie bis dahin nichts von ihr hören, fahren Sie. Ich nehme an, daß sie nicht zurückkommen wird, ohne die Gewißheit zu haben, daß Sie da sind, schon wegen der Schwiegermutter nicht, die dann sicher Fragen stellen würde.«

»Sie wissen sehr gut Bescheid, Herr Dr. Norden.«

»Ihre Ehe ist kein Einzelfall, Herr Heymann, und ich bin oft Seelendoktor.«

*

Carolin stand allein am Flughafen Fuhlsbüttel. Um sie herum schwatzende, freudig bewegte oder aufgeregte Menschen. Alles war anders, seit sie das letzte Mal hier gewesen war.

Sie suchte nach einer Telefonzelle, hatte dann aber solchen Durst, daß sie sich doch erst ins Restaurant setzte.

Jetzt war sie von den widersprüchlichsten Empfindungen bewegt. Waren ihre Eltern überhaupt schon hier, und wo wollten sie eigentlich wohnen? Bei Tante Brenda? Carry konnte sich das plötzlich überhaupt nicht vorstellen. Da würden zwei Welten aufeinander prallen. Brenda nahm doch kein Blatt vor den Mund.

Schließlich wählte sie aber doch Brendas Nummer. Sie wurde von einer müden Stimme wiederholt.

»Tante Brenda?« fragte Carry zögemd.

»Carry? Das kann doch nicht sein. Erinnerst du dich meiner tatsächlich? Wo bist du? Deine Stimme ist so nah.«

»Ich bin in Hamburg auf dem Flugplatz. Ich wollte wissen, ob du da bist und Zeit für mich hast.«

»Aber natürlich, Kind. Ich hole dich gleich ab.«

»Unsinn, ich nehme ein Taxi. Hier ist viel Betrieb.«

»Dann komm, ich freue mich. Bist du allein?«

»Ja, ich bin allein.«

»Ich auch«, sagte Brenda, und das klang sehr eigenartig in Carolins Ohren.

Sie ging zum Taxistand. Die Wolkendecke, die dicht und fast drohend gewesen war, hatte sich gelichtet. Der Taxifahrer machte auch ein freundliches Gesicht, aber Carolin wunderte sich nur, daß sie den Mut gehabt hatte, sich in ein Taxi zu setzen. Sie nannte die Adresse und lehnte sich mit geschlossenen Augen zurück.

Über zwanzig Minuten dauerte die Fahrt, dann hielt das Taxi vor einem bezaubernden Haus. Brenda Hagen stand schon am Zaun mit der Geldbörse in der Hand.

»Ich zahle, Liebes«, sagte sie hastig. Und vorerst bekam Carolin nur einen flüchtigen Kuß.

Carolin stellte fest, daß Brenda nicht nur schlank, sondern dünn war und sehr gealtert schien. Das befremdete sie sehr. Immerhin war sie erst Mitte Vierzig.

Brenda Hagen, geborene von Zepkow, und Carolin Heymann, geborene von Zepkow, betraten dann Hand in Hand das schöne Haus. Es hatte sich nicht viel verändert, nur einige Dinge fehlten, das fiel Carolin gleich auf.

»Du wirst manches vermissen, Carry«, sagte Brenda. »Das hat Conrad zu Geld gemacht, und dann ist er auf und davon. Gleich vorab will ich dir sagen, daß ich die größte Dummheit meines Lebens im fortgeschrittenen Alter beging, und deshalb ist sie unverzeihlich. Deshalb wollen wir auch nicht darüber sprechen.«

»Das sollten wir denn doch, Tante Brenda«, sagte Carolin. »Haben sich die Eltern bei dir gemeldet?«

»Deine Eltern? Wieso? Sie haben mir nie geschrieben, seit ich vor sieben Jahren diese Dummheit beging.«

»Meinst du, daß sie alles richtiggemacht haben?« fragte Carolin. »Sie haben mir telegrafiert, daß sie nach Hamburg kommen und mich treffen wollen. Aber wo, das haben sie nicht angegeben.«

»Und du hast dich ins Flugzeug gesetzt und bist gekommen«, sagte Brenda. »Damit haben sie wohl gar nicht gerechnet. Das war wieder mal so ein Gag von ihnen. Aber ich freue mich, daß du da bist. Warum hast du Dirk zu Hause gelassen?«

»Weil die Eltern nicht ›kommt‹, sondern ›komm‹ telegrafiert haben«, redete sich Caroline heraus, weil sie nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen wollte.

»Wir werden uns viel zu erzählen haben«, sagte Brenda. »Aber alles hübsch der Reihe nach. Niemand wird uns stören. Du bekommst deine Zimmer von damals.«

Kaffee und Toasts hatte Brenda schon vorbereitet. Der Tisch war gedeckt.

»Henner war sehr enttäuscht, daß er nicht an mein Geld herankam«, sagte Brenda beiläufig. »Als ich eine Kur machen mußte, hat er sich unter den Nagel gerissen, was wertvoll war, und seither habe ich nichts mehr von ihm gehört. Das ist jetzt fünf Monate her. Aber vorher gab es auch dauernd Krach. Es lohnt sich wirklich nicht, noch darüber zu reden. Dein Vater, mein fürsorglicher Bruder, der nie viel Vertrauen zu mir hatte, hat jedenfalls dafür gesorgt, daß ich mein Vermögen und das Haus behalten habe.«

»Warst du krank?« fragte Caroline.

»Nein, nur mit den Nerven fertig. Es war ja alles meine Schuld, Carry. Du konntest Conrad nie leiden.«

»Er war zu nett zu mir, jetzt kann ich das ja sagen, Tante Brenda…«

»Und du bist glücklich mit Dirk?«

»Ich kann mich über ihn nicht beklagen.«

»Aber es hat etwas gegeben zwischen euch.«

Carolin starrte blicklos in die Ferne. »Ich habe mein Baby verloren«, sagte sie tonlos.

Brenda griff nach ihrer Hand. »Das tut mir leid«, sagte sie rauh. »Ich bin froh, daß ich vor sieben Jahren eine Fehlgeburt hatte. Jetzt stärke dich erst mal, mein Kleines. Ich hoffe, daß wir viel Zeit haben werden, über alles zu sprechen.«

»Ich habe Zeit«, sagte Carolin. »Dirk fährt an die Loire. Ich habe jedenfalls gesagt, daß er fahren soll.«

»Gut, soll er fahren, aber es wäre mir auch lieber, wenn du ihn anrufen würdest, damit er Bescheid weiß, daß du bei mir bleibst, solange er unterwegs ist.«

»Wenn du darauf bestehst«, sagte Carolin mechanisch.

»Sonst rufe ich ihn an. Ich mag ihn, Carry. Er ist kein Conrad Hagen. Und was immer auch geschehen sein mag, daran trägt er gewiß nicht allein die Schuld.«

»Dann ruf du ihn doch an«, sagte Carolin trotzig, aber irgendwie bereitete ihr das doch eine Erleichterung.

*

Brenda war auf der Hochzeit von Dirk und Carolin gewesen, und Dirk hatte sie in guter Erinnerung behalten. Auch ihre Stimme erkannte er sofort.

»Ist Carry bei dir, Brenda?« fragte er hastig.

»Ja, die schläft jetzt, und deshalb können wir ungestört miteinander reden. Ich bin allein, hier ist kein Conrad Hagen mehr. Dirk, bitte, erzähle mir, was geschehen ist, damit ich Carry ruhig begegnen kann. Sie hat nur gesagt, daß sie ihr Baby verloren hat.«

Dirk erzählte ihr, unter welchen Umständen dies geschehen war, und Brenda war erschüttert.

»Es ist schrecklich, aber es ist gut, daß ich es weiß. Ich werde ihr nichts sagen, daß wir darüber gesprochen haben. Ich werde abwarten, was sie davon sagt. Jedenfalls weißt du, daß sie bei mir gut aufgehoben ist.«

»Was ist mit ihren Eltern?« fragte er.

»Keine Ahnung, aber ich werde sie vor ihnen bewahren. Jedenfalls werden sie wohl sehr erstaunt sein, daß Carry in Hamburg ist, wenn sie mich anrufen. Sie nehmen es wohl als selbstverständlich an, daß ich über Carrys Leben in allen Einzelheiten informiert bin, und ich bin sehr froh, daß dies nun wieder sein wird. Wolltet ihr euch trennen, Dirk? Sei ehrlich!«

»Ich liebe Carry und will sie behalten, genügt dir das?«

»Ja, es genügt mir, und du kannst dich darauf verlassen, daß ich sie zur Vernunft bringen werde. Gib mir Bescheid, wo du bist.«

»Danke, Brenda«, sagte Dirk. »Du hilfst mir sehr.«

Warten wir es ab, dachte Brenda, dann aber brannte in ihr Zorn auf ihren Bruder und ihre Schwägerin empor.

Sie hatten ein Kind, nur eines, aber wann schon hatten sie überhaupt Interesse für dieses Kind gezeigt. Brenda konnte sich nicht erinnern.

Unweit ihres Hauses stand ihr Elternhaus. Wenn sie in die Dachkammer emporstieg, konnte sie die hohen Bäume sehen, die das Grundstück eingrenzten.

Es war vermietet worden, als Adalbert von Zepkow mit seiner Frau Margaret ins Ausland gegangen war. Aus dem Ausland hatte er sich diese Frau geholt. Und wann schon war er mal hier und erreichbar gewesen?

Carolin war in London geboren, aber schon ein Jahr später hatte ihr Vater sie mit einer Nurse nach Hamburg gebracht. Damals hatte die Mutter noch gelebt und Brenda bei ihr in der schönen Villa. Dort war Carolin gewiß gut aufgehoben, während die Eltern in der Welt herumreisten und nur ab und zu mal zu Besuch kamen.

Dann, als sie sechs Jahre alt war, hatte Adalbert die Niederlassung seiner Firma in Hamburg aufgebaut und geleitet. Aber Carolin war der Obhut ihrer Tante Brenda überlassen worden. Margaret hatte ja so viele gesellschaftliche Verpflichtungen.

Nun dachte Brenda über all dies nach. Wenn ich das Kind nicht so liebgehabt hätte, hätte ich damals vielleicht auch einen liebenswerten, anständigen Mann gefunden, dachte sie, nicht einen Conrad Hagen.

Und der mußte ihr ausgerechnet über den Weg laufen, als Carolin erwachsen wurde und auch schon eigene Vorstellungen über ihr Leben hatte.

Glück läßt sich nicht kaufen, dachte Brenda. Es wird einem geschenkt, und dann muß man es sich verdienen. Und man kann immer hereinfallen. Aber Carry ist mit Dirk nicht hereingefallen. Und ich darf nicht so verbiestert sein zu denken, daß es anderen auch ruhig so ergehen kann wie mir.

Auf Zehenspitzen schlich sie hinauf zu Carolins Zimmer, und ihr Gesicht entspannte sich, als sie sah, wie tief sie schlief.

Das kriegen wir alles wieder hin, Kleines, dachte sie.

*

Am nächsten Morgen, Dirk war dabei, seine Sachen in Ordnung zu bringen, läutete das Telefon. Zum erstenmal hatte er Gelegenheit, mit seinem Schwiegervater zu sprechen, den er persönlich noch gar nicht kannte, und Dirk konnte es nicht verhindern, daß kalter Zorn in ihm emporkroch.

»Hat Carolin mein Telegramm bekommen?« fragte Adalbert von Zepkow mit deutlichem, aber sehr akzentuiertem Deutsch.

»Ja, sie ist bereits in Hamburg«, erwiderte Dirk kalt. »Sie sprechen mit Carrys Ehemann.«

Der andere schien augenblicklich doch verblüfft, dann aber sagte er:

»Das habe ich mir gedacht. Wir kennen uns ja nicht. Aber vielleicht bietet sich die Gelegenheit. Ich dachte, meine Tochter würde in München meinen Anruf abwarten.«

»Davon haben Sie aber nichts telegrafiert«, erwiderte Dirk ruhig.

»Wo ist Carolin in Hamburg?«

»Bei Tante Brenda«, sagte Dirk.

Wieder vernehmbare, asthmatische Atemzüge. »Gut, ich werde sie verständigen. Ich hoffe, daß sonst alles in Ordnung ist.«

»Das können Sie meine Frau fragen«, erwiderte Dirk. »Angenehmen Aufenthalt.« Und dann legte er auf.

Er starrte vor sich hin. »Man muß alles in Betracht ziehen, was die Entwicklung eines Menschen betrifft«, hatte Dr. Norden gesagt. »Besonders dann, wenn es sich um eine sensible Frau handelt.«

Aber welchen Einfluß konnten Carrys Eltern auf ihre Tochter nehmen, jetzt, da sie in sich selbst zerrissen war?

Brenda wird helfen, dachte Dirk weiter. Und ich werde nicht aufgeben. Und dann rief er Brenda an und unterrichtete sie von diesem Gespräch, das er mit ihrem Bruder geführt hatte.

»Dieser eiskalte Heuchler«, sagte Brenda. »Sei froh, wenn du ihm nie begegnen mußt, Dirk.«

Aber Carry wird ihn treffen, dachte Dirk. Und vielleicht wird dann alles noch schlimmer.

*

Carry schlief bis in den hellen Vormittag hinein, und Brenda ließ sie schlafen.

AIs Carry dann am Frühstückstisch Platz nahm, machte sie einen ganz ausgeglichenen Eindruck.

»Dirk hat gestern abend noch angerufen«, sagte Brenda.

»Ja?« Carry schaute ihre Tante erwartungsvoll an.

»Dein Vater hatte mit ihm telefoniert. Wieder dummes Gewäsch. Er hätte geglaubt, du würdest seinen Anruf abwarten. Sei mir bitte nicht böse wegen dieser harten Worte, aber ich halte nicht viel von deinem Vater, abgesehen davon, daß er weiß, wie man das Geld sicher anlegt.«