Über Dino Minardi

DINO MINARDI ist ein Sonntagskind aus dem vorigen Jahrhundert, fühlt sich aber viel jünger. Den Comer See hat er vor zehn Jahren für sich entdeckt, und vielleicht ist es kein Zufall, dass er danach anfing, Romane zu schreiben. Da auch seine beruflichen Wege ihn immer wieder in die Lombardei führten, verbringt er seine Zeit inzwischen am liebsten dort. Entgegen dem Klischee, dort gäbe es nur Pizza und Wein, machen die Lombarden geniale foccace und ausgezeichnetes Craft Beer. Außerdem ist die Stadt Mailand viel schöner als ihr Ruf und hat zudem einige der besten Eisdielen Italiens. Zu seinem Glück fehlt Dino Minardi eigentlich nur eine palazzina am Wasser, aber bis dahin tut es auch das Familiendomizil mit Hund im nordrhein-westfälischen Flachland.

Ein unerwartet kalter Wind empfing Commissario Marco Pellegrini vor der Tür seines Hauses und fegte ein paar Papierfetzen zu einem Kreisel zusammen. Pellegrinis Blick wanderte die Straße hinab, in der nebelige Fetzen wie unstete Gestalten entlanghuschten, und dann gen Himmel. Es war nicht auszumachen, ob die Finsternis von der frühen Tageszeit oder den düsteren Wolken herrührte. Es sah sogar ganz danach aus, als könnte es jederzeit regnen, und die Prognosen für das Wochenende waren nicht viel besser. Zu dumm, dass er seinen Regenschirm letztens in der Questura liegen gelassen hatte.

Pellegrini zog die Haustür hinter sich zu, schlug den Mantelkragen hoch und setzte sich mit langen Schritten in Bewegung. Die Räder seines Trolleys surrten hinter ihm her, ein einsames Geräusch zwischen den eng stehenden Häusern Brunates. In kaum einem Fenster brannte Licht, die meisten seiner Nachbarn schliefen noch. Pellegrini war selbst selten so früh unterwegs. An sehr heißen Sommertagen konnte es passieren, dass ihn die Hitze im Schlafzimmer seiner Dachgeschosswohnung im Morgengrauen aus dem Bett trieb. Dann joggte er durch die stillen Straßen hinunter zum See, schwamm ein paar Runden und fuhr mit der Standseilbahn wieder hinauf. Aber warum sollte man um diese Jahreszeit früher als nötig das Haus verlassen?

Nach nur wenigen hundert Metern wiesen breite Lichtstreifen in der nebeligen Suppe ihm den Weg. Die

Wärme empfing ihn, kaum dass er die Bar betreten hatte, Kaffeearoma, vermischt mit dem Zitrusduft eines Putzmittels, schlug ihm entgegen, dazu dudelte Musik aus dem alten Radio im Regal, zu leise, um das Lied oder den Sänger auszumachen.

»Ciao, Marco, padrone!«, tönte es ihm entgegen. Paolo schwenkte ein Küchentuch und grinste ihn an, unverschämt gut gelaunt für diese Tageszeit. »Du bist viel zu früh dran.«

Pellegrini lächelte. »Salve, Paolo. Ich bin nicht der padrone, das weißt du ganz genau.« Er nickte den anderen Gästen zu, die freundlich zurückgrüßten, und stellte den Trolley in eine Ecke.

»Ist mir egal, was du sagst, du wirst den Laden eines Tages übernehmen. Ich weiß das. Caffè?« Ohne die Antwort abzuwarten, hielt Paolo bereits den Siebträger in der Hand und wandte sich der Kaffeemühle zu.

»Mach einen doppelten, Barista.«

»Signorsì!«

Pellegrini beugte sich weit vor und schielte über den Tresen. »Liegt hier ein Regenschirm, den ich mir leihen kann?« Er musste sich beherrschen, nicht einfach hinter die Theke zu gehen. Paolo schätzte das ganz und gar nicht, wobei er es dem Sohn des Hauses kaum verbieten konnte. Die einzige Ausnahme machte er morgens gegen halb acht. Dann verzog er sich meistens ins Lager und überließ Bar und Espressomaschine Pellegrini, der üblicherweise um diese Zeit auftauchte und sich gern selbst einen caffè machte.

»Lass nur, danke. Ich muss die erste Bahn nehmen. Meine Kollegin holt mich unten an der Station ab. Wir fahren nach Bergamo.«

»Welche Kollegin? Claudia Spagnoli?« Paolo hob vielsagend die Augenbrauen.

Die Kaffeemühle brummte und knirschte.

Pellegrini lächelte breit. »Mach dir keine Hoffnungen. Sie ist seit ein paar Wochen vergeben. An jemanden, gegen den du vermutlich keine Chance hast. Einen Capitano der Guardia di Finanza.«

»Ach, es gibt genug schöne Frauen.« Paolo warf theatralisch den Kopf in den Nacken, ließ eine fließende Drehung folgen, die einem Profitänzer zur Ehre gereicht hätte, und stellte Pellegrini den caffè vor die Nase.

Marco zupfte ein Tütchen aus der überdimensionalen Tasse, die auf der Theke stand, und ließ braunen Zucker über die Crema rieseln. Er rührte nur kurz um und trank den caffè in einem Zug aus. Heiß und bittersüß rann ihm der Schluck durch die Kehle – perfetto.

»Paolo, du bist ein Virtuose.«

»Ach, übertreib nicht. Mit guten Bohnen und dieser bellezza«, er tätschelte die Espressomaschine, »kann man doch kaum etwas falsch machen.«

»Das stimmt nicht«, warf ein älterer Mann ein, den Pellegrini nicht kannte. Der staubigen grauen Kleidung mit gelben Reflektorstreifen nach war er Straßenarbeiter. »Wenn die alte Signora Pellegrini hier ist, schmeckt er nicht so gut.« Er wandte sich Pellegrini zu. »Mit Verlaub, Signore.«

Umberto Rovelli, der stämmige Inhaber der Metzgerei in Brunate, schnalzte mit der Zunge. »Dagegen kann dich der

»Das Auge trinkt eben mit.« Pellegrini wandte sich Paolo zu, der die leeren Tassen einsammelte und in Windeseile in die Spülmaschine räumte. »Auch in dieser Hinsicht hast du das Nachsehen, caro

Pellegrini wollte ihn nur ärgern. Paolo war Anfang fünfzig, ging jedoch mit seiner sportlichen Figur und der passenden Kleidung für gut zehn Jahre jünger durch. Einzig der beginnende Haarausfall machte ihm etwas Sorgen, wie er Pellegrini einmal anvertraut hatte, doch davon sah man bisher kaum etwas.

Der Barista strich sich eine dunkelbraune Strähne aus dem Gesicht. »Das werden wir ja sehen. Ich werde jeder donna, die heute kommt, mein strahlendstes Lächeln schenken. Die amerikanischen Touristinnen lieben mich.« Er schlug sich mit schmachtendem Blick die Hände vor die Brust.

»Einverstanden. Gute Laune ist immer gut fürs Geschäft.«

Pellegrini griff nach dem Trolley und wandte sich zum Gehen. »Ich empfehle mich fürs Wochenende!«

Ein Mann im Anzug, mit hellblauem Hemd und Krawatte ließ ein paar Münzen auf die Marmorplatte klimpern, griff nach seinem Aktenkoffer und seinem Mantel. Pellegrini hielt ihm die Tür auf und bemerkte beiläufig einen dunklen Fleck am linken Ärmel, als der Mann an ihm vorüberging. Der Straßenarbeiter folgte ihnen. Eine Staubwolke stieg aus seiner Kleidung auf, als er die Bar verließ. Pellegrini unterdrückte ein Niesen.

Er war bereit für den neuen Tag, dabei hatte er sich den caffè nicht einmal selbst machen dürfen. Merkwürdig, wie sehr er diese Kleinigkeit seiner morgendlichen Routine vermisste. Stattdessen blieb ihm nur ein letzter sehnsüchtiger Blick zurück auf die freundlichen Lichter der Bar.

Der Arbeiter steckte beide Hände in die Taschen seiner weiten Arbeitshose. »Wenn das so weitergeht mit dem Wetter, werden wir vor dem Winter nicht mehr fertig.«

Niemand antwortete ihm. Pellegrini war kein Morgenmuffel, aber um diese Uhrzeit mit Fremden über das Wetter plaudern war doch zu viel des Guten. Eine Stunde später kam er auf Touren: Sieben Uhr, das war seine Zeit.

Schweigend betraten sie die Station der funicolare. Die Bahn stand schon bereit, die Türen der roten Waggons waren geöffnet. Knapp ein Dutzend Personen hatte sich Sitzplätze gesucht. Niemand stand an den bodentiefen Frontscheiben, die normalerweise einen sagenhaften Blick über den Comer See boten. Pellegrini trat ans Fenster. Da war kein See, nicht einmal kleine Lichtpunkte der Straßenlaternen oder Häuser unten in der Stadt, nur bleigraues waberndes Nichts und dahinter Dunkelheit. Der Himmel schien sich bis auf das Wasser herabgesenkt zu haben.

Er blieb dennoch am Fenster stehen, die Macht der Gewohnheit. Die Fahrt hinunter nach Como dauert nur wenige Minuten, und er würde gleich im Auto noch lange genug sitzen. Der Arbeiter gesellte sich zu ihm. Pellegrini nickte ihm in freundlichem Einverständnis zu und war dankbar, dass sein Gegenüber es kein zweites Mal mit einer Unterhaltung versuchte. Der Mann grinste, kramte einen Tabakbeutel aus seiner Jackentasche und begann, sich Zigaretten zu drehen, die er anschließend wieder in den Beutel legte.

Gerade als Pellegrini sich nach dem Trolley bücken wollte, kreischte Metall über Metall, und die Bahn kam mit einer letzten heftigen Erschütterung zum Stehen. Pellegrini wurde gegen das Fenster geschleudert und landete unsanft auf dem Hosenboden. Sein Gegenüber taumelte, konnte sich jedoch glücklicherweise auf den Beinen halten. Nur sein Tabakbeutel fiel auf den Boden.

Pellegrini griff danach, rappelte sich auf und strich sich den Mantel glatt.

»Danke, Signore.« Der Arbeiter nahm seinen Tabak entgegen und steckte ihn ein. Dabei zog er eine ratlose Grimasse und starrte aus dem Fenster. Die anderen Fahrgäste redeten aufgeregt durcheinander und rieben sich vereinzelt die Ellbogen oder Knie, doch niemand schien ernsthaft verletzt zu sein. Eher verwundert als besorgt blickten sie umher oder einander an.

Pellegrini reckte ebenfalls den Hals. »Können Sie irgendwas erkennen?«

»Nichts. Hat sich angehört, als ob wir irgendwo gegen gefahren sind.« Er grinste wieder. »Vielleicht ein Baumstamm. Gleich rücken die Banditen an und fordern unser Geld.«

Pellegrini brummte nur, fand den Gedanken alles andere als witzig. Es schien wirklich, als habe etwas die Schienen

Die Sekunden verrannen, dehnten sich zu Minuten. Nichts geschah. Die Fahrgäste schauten sich um, unterhielten sich leise. Jemand meinte, es müsse doch eine Durchsage geben, um sie zu informieren. Doch Pellegrini konnte weder Lautsprecher entdecken noch erinnerte er sich daran, jemals eine Durchsage in der Seilbahn gehört zu haben – was allerdings nichts bedeutete: Er konnte solches Gerede in Zügen und Flugzeugen oder auch laufende Fernseher in Bars mühelos ausblenden.

Der Straßenarbeiter hatte sich eine der selbst gedrehten Zigaretten hinters Ohr geklemmt und zupfte gedankenverloren daran herum. Immer wieder versuchte er, durch den finsteren Nebel etwas zu erkennen.

»Jetzt bräuchten wir eine Drohne«, murmelte er.

»Warum das?«

»So einen Mini-Hubschrauber mit Kamera.«

»Ich weiß, was eine Drohne ist. Aber wie könnte sie uns helfen?«

»Na, um nachzusehen.« Er machte eine kreisende Bewegung mit dem Finger in Richtung Scheibe. »Ich arbeite im Hochbau, wissen Sie? Brückenbau und -sanierung. Die Drohnen prüfen die Brücken auf Risse. Spart uns eine Menge Kletterei.« Er nahm die Zigarette, steckte sie in den Mund. Dann schien er sich bewusst zu werden, wo er war, warf Pellegrini einen verlegenen Blick zu und steckte sie wieder hinters Ohr.

Wider Willen wurde Pellegrini neugierig. »Wollen Sie mir sagen, die Sicherheit der Brücken wird kontrolliert, indem eine Kamera daran vorbeifliegt und Risse fotografiert?«

»Nein, ganz so ist es nicht.« Der Arbeiter lachte, freute sich, endlich die Aufmerksamkeit seines Gegenübers

Pellegrini nickte höflich und wurde vom Klingeln seines telefonino abgelenkt. Er zog es aus der Manteltasche.

»Pronto, Ispettrice. Die funicolare steckt fest.«

»Buongiorno, Signor Commissario!«, erwiderte Claudia Spagnoli in zackigem Ton. Dann lachte sie. »Immerhin bist du wach.«

»Geht so.« Pellegrini schätzte es nicht sonderlich, wenn sie die übertrieben gehorsame Befehlsempfängerin mimte. Gerade weil er sie als Kollegin mochte, war es ein schmaler Grat zwischen einem vertrauensvollen Umgang einerseits und der Wahrung des Machtverhältnisses andererseits.

»Wo bist du? Wann bist du da? Ich parke ziemlich ungünstig und kann hier nicht ewig stehen bleiben.«

»Ich bin in der funicolare.« Er schielte auf den bleigrauen Vorhang vor dem Fenster. »Wir stehen auf offener Strecke, und es geht nicht vor und nicht zurück.«

»Ich könnte hier mal nachfragen, was los ist.«

»Mach das.« Er beendete das Gespräch und seufzte genervt. »Ganz gleich, zu was Ihre Drohnen fähig sind, diese Suppe da draußen können sie auch nicht durchdringen.«

Der Arbeiter legte einen Arm gegen die Scheibe und lehnte die Stirn dagegen. »Auch wahr.«

Die Fahrgäste wurden unruhig, standen von ihren Sitzen auf und stellten sich vor die geschlossenen Türen. Erst nach ein, zwei weiteren Minuten öffneten sie sich, und die Menschen verließen die Kabine.

Jetzt, da der kalte Herbstwind hineinwehte, bemerkte Pellegrini, wie die Anspannung von ihm abfiel. Was wäre gewesen, wenn sie noch länger hätten ausharren müssen? Solche Situationen konnten schnell unangenehm werden. Er atmete einmal tief durch und griff nach seinem Trolley. Vermutlich war er um das Schlimmste herumgekommen, doch auch so war das nicht gerade das, was er als einen guten Start in den Tag bezeichnen würde. Er verließ die Bahn. Die Leute standen unentschlossen vor der Station, ein erstes Taxi hielt an der Straße. Der Straßenarbeiter stand etwas abseits, rauchte und telefonierte.

Pellegrini sah sich ratlos um. Weder in der Station noch davor war jemand zu sehen, den er fragen konnte, ob die funicolare in Kürze fahren würde oder nicht. Er entschied sich, Spagnoli zu bitten, ihn in der Bar abzuholen. Immerhin könnte er dann noch einen weiteren caffè trinken und ein wenig mit Paolo reden. Die Aussicht versöhnte ihn etwas.

Er hatte seiner Ispettrice gerade Bescheid gegeben, da sah er einen älteren Mann eine Metalltreppe heraufkommen, die seitlich vom Bahnsteig auf die Trasse führte. Der Mann bemühte sich vergeblich um einen gefassten Gesichtsausdruck, während er die Stufen mit wankenden Schritten heraufhastete und sich dabei ans Geländer klammerte, als müsse er sich aus Treibsand ziehen.

»Signore, was ist passiert?«

»Bitte?« Der Mann schreckte auf und winkte hektisch ab. »Tut mir leid, ich muss die Polizei rufen. Einen Krankenwagen«, war alles, was Pellegrini verstand.

Im gleichen Augenblick bemerkte er neben der Bahntrasse eine zweite Gestalt, gerade noch so weit entfernt, dass sie als Schemen im Nebel zu erkennen war. Sie stützte sich an der Natursteinmauer ab, die dort an den Gleisen entlangführte, und hielt den Kopf gesenkt. Pellegrini wandte sich wieder an den älteren Mann, der unschlüssig am Ende der Treppe stand und vergessen zu haben schien, was er gerade tun wollte.

»Commissario Pellegrini, Polizia di Stato. Vielleicht kann ich behilflich sein.« Er griff in die Innentasche des Mantels und zog seinen Dienstausweis hervor.

Der Mann nickte und tat nichts weiter.

Pellegrini zwang sich zur Geduld. »Wie komme ich zu Ihnen? Was ist passiert?«

»Selbstverständlich. Verzeihung.« Der Mann ging zu einem Sicherungskasten und drückte ein paar Knöpfe. Die Türen auf beiden Seiten der funicolare öffneten sich, sodass Pellegrini durch die Kabine auf den jenseitigen Bahnsteig gehen konnte. Er stellte den Trolley an einer geschützten Stelle ab und nickte dem Mann aufmunternd zu. Von Nahem sah er noch mitgenommener aus, leichenblass und mit weit aufgerissenen Augen. Doch die Anwesenheit eines Polizisten schien ihm Mut zu machen.

Er wies mit dem Kinn auf die Trasse. »Kommen Sie mit. Ich zeige es Ihnen.«

»Warten Sie. Auf den Schienen, ja? Rufen Sie die Kollegen

Die Erleichterung des Mannes trug nur dazu bei, dass sich seine Vorahnungen weiter verdüsterten. Vielleicht ein Selbstmörder, der sich auf die Schienen geworfen hatte? Er hatte noch nie gehört, dass so etwas hier vorgekommen war, aber was hieß das schon?

Die Stufen der Metalltreppe waren nass und rutschig. Vorsichtig stieg Pellegrini hinunter, ging entlang der Gleise weiter bergab. Dabei war er erstaunt, wie steil diese Trasse war. Nach wenigen Metern näherte er sich der Gestalt an der Mauer. Der junge Mann lehnte keuchend und mit geschlossenen Augen an der Wand, mit der linken Hand umklammerte er eine Taschenlampe. Sein kreideweißes Gesicht mit der spitzen Nase und dem vergeblichen Versuch, sich einen Bart wachsen zu lassen, ließ ihn noch jünger aussehen, als er vermutlich war.

»Buongiorno, Signore. Ich bin Commissario Pellegrini. Ihr Kollege verständigt einen Arzt, es dauert nur noch einen Moment. Kann ich etwas für Sie tun?«

Da er keine Antwort bekam, machte er einen großen Schritt über die Lache Erbrochenes auf den jungen Mann zu. Säuerlicher Atem schlug ihm entgegen. Unruhig blickte Pellegrini sich um, doch der Nebel offenbarte ihm nichts. Das Licht der Lampen am Bahnsteig reichte gerade noch bis zur Brücke, der Hang unter ihnen lag in grauschwarz wabernder Dunkelheit.

Die Augenlider des Mannes flatterten. »Carabiniere«, murmelte er heiser und rülpste. »Verzeihung.« Er schlug die Hand vor den Mund.

Pellegrini runzelte die Stirn. »Nein, ich bin kein

Er hatte noch nie erlebt, dass jemand die beiden Polizeiorgane verwechselte. Die Carabinieri waren militärisch organisiert, den Rang eines Commissario gab es bei ihnen nicht, das wusste jedes Kind.

Der Mann versuchte vergeblich, seinen Blick auf Pellegrini zu richten. Er faselte vor sich hin, das einzig verständliche Wort war Uniform. Pellegrini unterdrückte den Impuls, an sich hinabzuschauen, ob sein Mantel den Eindruck vermittelte, zu einer Uniform zu gehören. Er verstand weder, was daran so wichtig sein sollte, noch, was dem armen Kerl derart auf den Magen geschlagen war. Seine Neugier wuchs, doch auch auf mehrmaliges Nachfragen erhielt er nur unzusammenhängendes Gestammel. Ein letztes Mal blickte er sich um, dann fasste er einen Entschluss. Sanft packte er den jungen Mann an der Schulter und zwang ihn mit freundlichem Nachdruck, die wenigen Schritte bis zur Station zu gehen.

»Enrico! Komm, gib mir deine Hand, ragazzo.« Der ältere Mann tauchte auf der Metalltreppe auf, beugte sich zu ihnen und streckte eine Hand aus.

Enrico blieb am Fuß der Treppe stehen. Seine Unterlippe zitterte. Pellegrini gab ihm einen Schubs, doch vergeblich.

Fluchend kam sein Kollege die Treppe herunter.

»Nun mach schon, der Commissario hat nicht den ganzen Tag Zeit, mit dir Händchen zu halten. Gleich kommt ein Arzt. Ich habe oben eine Decke, du bekommst einen Grappa, und dann vergessen wir das alles. Los!«

Dabei schob er seinen apathischen Kollegen die Treppe hinauf, der es gerade so schaffte, die Füße hoch genug zu heben, um die Stufen zu nehmen, ohne hinzuschlagen.

Der Ältere achtete nicht länger darauf.

»Tut mir leid, dass wir solche Umstände machen,

Pellegrini zwang sich zur Geduld, was ihm zunehmend schwerer fiel. Die gesamte Situation war vollkommen absurd, er kam sich allmählich vor wie in einem schlechten Horrorfilm. Außerdem würde Spagnoli bald an der Bar eintreffen.

»Was ist passiert?«, fragte er, so ruhig er konnte.

Die beiden Männer hielten auf der Treppe inne. Der ältere wandte sich um, betrachtete ihn grübelnd und entwand dann dem jüngeren die Taschenlampe, um sie Pellegrini zuzuwerfen.

»Es ist schwer, in Worte zu fassen, Signor Commissario. Schauen Sie selbst, ungefähr fünfzig Meter hinter der Brücke. Passen Sie auf, wo Sie hintreten.«

Pellegrini fing die Taschenlampe und ging ohne ein weiteres Wort die Bahntrasse hinab. Nachdem er unter der Straßenbrücke hindurch war, wurde es stockfinster. Der Lichtkegel der Taschenlampe reichte kaum zwei Meter weit. Vorsichtig tastete er sich voran. Er hatte auf einmal das Gefühl, vollkommen allein auf der Welt zu sein, um ihn herum nur Stille und graues Nichts. Seine Nackenhaare stellten sich auf. Wenn das hier wirklich ein Horrorfilm wäre, tat er gerade genau das Falsche. Er erinnerte sich sehr genau an solche Momente, in denen er am liebsten vom Kinosessel auf- und in die Leinwand hineingesprungen wäre, um den Filmhelden davon abzuhalten, allein loszuziehen, um die Welt zu retten und stattdessen dem unvorstellbaren Grauen zu begegnen.

Pellegrini lachte laut auf, um sich Mut zu machen. Der Nebel dämpfte den Schall, und es verfehlte seine Wirkung. Sich einen Idioten schimpfend, umklammerte er die Taschenlampe fester. Auf dem Metallgehäuse schlug sich die Feuchtigkeit nieder.

Die Standseilbahn wurde, wie der Name schon sagte, über ein Drahtseil den Berg hinaufgezogen, während sich die zweite Bahn, unterstützt durch den Hangabtrieb, nach unten bewegte. Das Seil verlief in zwei parallelen Strängen zwischen den Schienen, dick wie ein Kinderarm. Pellegrini erinnerte sich sehr gut daran, wie fasziniert er als kleiner Junge von der Bahn gewesen war. Er war zehn gewesen, als seine Eltern aus Deutschland nach Brunate zurückgekehrt waren, und er hatte häufig auf der Brücke vor der Bergstation gestanden, auf die Schienen gestarrt und dem gleichmäßigen Surren des Seils gelauscht, bis die Bahn lautlos in die Station einfuhr, nur um sie wenige Minuten später wieder zu verlassen.

Jetzt fragte er sich, was er sehen würde, könnte er bei besserem Licht und klarer Sicht von der Brücke aus auf die Schienen blicken. Dabei glaubte er, ein Stück weiter hangabwärts einen Arm in einem dunklen Kleidungsstück zu sehen, und hoffte, dass der Eindruck, es wäre nur ein einzelner Arm, ein Trugbild des Nebels war.

Er beugte sich tiefer über das Seil, das still und unbewegt dalag, und leuchtete daran entlang. Winzige Stofffetzen klebten am Metall, dunkle Flecken. Zwischen den Gleisen entdeckte Pellegrini eine Fingerkuppe, mehrere verbogene Metallstücke. Er erhob sich, jeder weitere Schritt fiel ihm schwer. Der Nebel hatte ihn nicht getrogen, dort lag ein einzelner Arm.

Einen abgerissenen Finger konnte ein Mensch überleben, einen abgerissenen Arm vielleicht auch noch. Aber das hier? Die Person lag auf dem Bauch, Pellegrini konnte ihr Gesicht nicht sehen. Das silbergraue Haar am Hinterkopf war blutverkrustet. Pellegrini schluckte gegen das Gefühl an, keine Luft mehr zu bekommen. Er verstand, warum der junge Bedienstete der Bahn sich hatte übergeben müssen. Pellegrini konnte seine Übelkeit normalerweise ganz gut in Zaum halten, doch er hatte sich bis heute nicht an den Anblick verstümmelter Leichen gewöhnt, obwohl er schon einige schreckliche Unfälle gesehen hatte. Nicht erst, seitdem er für die glücklicherweise eher seltenen Morde in Como zuständig war, vielmehr hatte seine Zeit bei der Verkehrspolizei ihm alles abverlangt.

Allmählich konnte er wieder durchatmen. Er leuchtete die gespenstische Szenerie mit der Taschenlampe ab. Und dann begriff er mit einem Schlag, warum der junge Mann »Carabiniere« gesagt hatte. Das Opfer trug die dunkelblaue Uniform der Einheit. War das hier ein tragischer Unfall oder steckte mehr dahinter?

Pellegrini blickte sich um. Immer noch war die Welt um ihn herum still und verlassen. Hier konnte er nicht mehr viel ausrichten. Das war Sache der Spurensicherung und der Rechtsmedizin. Dennoch nahm er sich, wie es seine Gewohnheit war, einen Moment und blickte intensiv auf den Toten, versuchte, ihm die Achtung entgegenzubringen, die

Seine Beklemmung kehrte zurück. Aber nicht, weil die Szenerie ihn abermals an einen Horrorfilm erinnerte, sondern weil er etwas vorhatte, für das die Spurensicherung ihn vermutlich vierteilen wollen würde. Allerdings hatte die Bahn, die den Körper vor sich hergeschoben und teilweise überfahren hatte, schon mehr Schaden verursacht, als er jemals anrichten konnte. Der ursprüngliche Unfallort lag etliche Meter weiter oben am Hang. Pellegrini musste Gewissheit haben, und zwar sofort. Er gab sich einen Ruck und beugte sich über den Körper. Unendlich vorsichtig schob er zwei Finger unter den Aufschlag der Uniformjacke.

Wenn Pellegrini sich nicht irrte, trug der Mann für gewöhnlich ein paar lose Münzen in der Hosentasche, mit denen er seinen caffè an der Theke der Bar della Funicolare zahlte. Sein Portemonnaie steckte in der linken oberen Brusttasche, vermutlich seit über vierzig Jahren und damit länger, als Pellegrini alt war.

Seine Fingerkuppe streifte brüchiges Leder. Er zog das Portemonnaie vorsichtig heraus und klappte es auf. Ein Dienstausweis. Ein altes Foto, der Mann darauf gut zwanzig Jahre jünger, als er heute war – zum Zeitpunkt seines Todes gewesen war.

Pellegrini ließ den Kopf hängen. Das Portemonnaie entglitt seinen Händen und fiel neben den toten Salvatore Bianchi. Warum es dort lag, würde er später erklären.

In der Station wimmelte es von Menschen, Blaulicht flackerte in den Himmel. Vor der Treppe hielt Pellegrini kurz inne. Nach der Stille am Hang waren seine Sinne von dem Lärm und der Hektik einen langen Moment überfordert. Offenbar hatte es sich herumgesprochen, dass es einen Unfall mit einem Toten gab, denn vor der Station, deren Zugänge geschlossen worden waren, drängten sich trotz der frühen Stunde Schaulustige. Auf beiden Bahnsteigen liefen Carabinieri, Männer von der Betreibergesellschaft der Bahn und einige Anzugträger herum. Dazwischen blitzten die roten Jacken der Croce Rossa Italiana auf. Der junge Enrico saß mit einer Decke über den Schultern auf einer Bank und wurde von zwei Sanitätern versorgt. Ispettrice Spagnoli stand vor dem Eingang der Bahnstation, rauchte und beobachtete das Treiben aus einiger Entfernung. Sie trug trotz der Kälte nur einen schwarzen Blazer über einer weißen Bluse und Jeans. Ihre Haare hatte sie zu einem strengen Knoten aufgesteckt. Ihr Anblick tat Pellegrini unterwartet gut, was vielleicht auch daran liegen mochte, dass sie die einzige Frau weit und breit war und ganz unaufgeregt mit einem Mann im Anzug sprach, während alle anderen um sie herum fruchtbar beschäftigt und wichtig taten. Wenn Pellegrini sich nicht täuschte, war ihr Gesprächspartner der Fremde, mit dem er zuvor die Bar verlassen hatte.

Er warf einen letzten Blick zurück auf die Gleise, die bergab im Nebel verschwanden. Wie war Bianchi dorthin

Er kam gerade mal zwei Schritte von der Metalltreppe weg.

»Halt! Wo kommen Sie her? Was machen Sie hier?«

Er fuhr herum und starrte wütend auf die Hand, die sich fest auf seine Schulter gelegt hatte. Sein Gegenüber dachte nicht daran, ihn loszulassen. Pellegrini begegnete einem strengen Blick unter dichten Brauen und schielte auf die Schulterklappe. Ein Sottotenente der Carabinieri. So einer hatte ihm gar nichts zu sagen.

Rüde schob er die Hand weg und rückte seinen Mantel zurecht. »Commissario Pellegrini. Die beiden Männer der funicolare haben mich gebeten, nach unten zu gehen. Dort liegt ein toter Mann.«

»Ein Carabiniere.«

»So ist es.« Pellegrini stockte. »Salvatore Bianchi aus Brunate.« Wie seltsam, da hatte er Bianchi Tausende Male in Uniform gesehen, konnte sich jedoch nicht an seinen Dienstgrad erinnern. Vielmehr sah er in Gedanken den gewaltigen Schnurrbart und das gutmütige Lächeln.

Der Sottotenente verschränkte die Arme vor der Brust. »Was fällt Ihnen ein, da einfach runterzugehen? Das ist ein Tatort! Hat man Ihnen denn gar nichts beigebracht?«

»Ein Tatort? Dann gab es Fremdverschulden? Vielleicht eine Amok laufende Bergbahn?«

»Nicht weniger als Sie. Ich verstehe nicht, warum Sie von einem Tatort sprechen. Bisher ist es der Fundort einer Leiche.«

Der Sottotenente griff sich an den Schirm seiner Mütze und rückte sie zurecht. »Ich bin nicht verpflichtet, Ihnen Auskünfte zu erteilen. Ich hoffe für Sie, dass Sie da unten nichts angestellt haben, was unsere Arbeit behindern könnte. Und jetzt machen Sie, dass Sie wegkommen, Sie haben hier nichts zu suchen. Falls wir Fragen haben, melden wir uns.« Er wedelte mit der Hand, als wollte er eine lästige Fliege verscheuchen.

Pellegrini klappte den Mund auf und wieder zu. Alles in ihm strebte danach zu widersprechen, obwohl er wusste, dass sein Gegenüber recht hatte. Die Spurensicherung stand vor einer beachtlichen Herausforderung, und er hatte ihnen die Arbeit nicht gerade leichter gemacht. Außerdem hatte ihn niemand gerufen, er war nur zufällig vor Ort gewesen, hatte keinen Ermittlungsauftrag. Wenn er es ganz genau nahm, hätte er – Aufforderung des Bahnbediensteten hin oder her – besser nicht sofort nachgesehen, sondern erst einmal Fragen gestellt. Dann hätte er festgestellt, dass keine Gefahr in Verzug gewesen war, niemand in Not. Es wäre klüger gewesen, auf die Kollegen zu warten.

Aber für solche Bedenken war es zu spät. Er erlaubte sich ein letztes boshaftes Grinsen. »Soll ich Ihnen meine Personalien geben?«

»Ich habe mir Ihren Namen gemerkt, Commissario Pellegrini.« Der Sottotenente betonte den Rang wie ein Schimpfwort und ließ ihn ohne ein weiteres Wort stehen. Es war offensichtlich, dass ihm ganz andere Dinge auf der Zunge lagen, allein Pellegrinis Dienstgrad hielt ihn davon ab, sie auszusprechen. Dieses Machtsystem funktionierte zum

Er sah zu Spagnoli, ihre Blicke trafen sich durch die Menschenmenge. Er nickte und bedeutete ihr mit einer Geste, dass er zu ihr kommen würde. Sie beendete ihr Gespräch und zeigte in Richtung Straße, wo sie vermutlich geparkt hatte. Pellegrini holte seinen Trolley. Ein Carabiniere ließ ihn das Tor passieren und riegelte hinter ihm ab. Das metallene Schnappen des Schlosses gab der gesamten Situation etwas Endgültiges. Man hatte sie wortwörtlich ausgeschlossen.

»Wir sind raus«, knurrte Pellegrini ungehalten. »Der Tod eines Carabiniere ist Sache der Carabinieri.«

Spagnoli verzog kurz den Mund. »Zunächst einmal: Buongiorno, Commissario. Das ist ein Stück weit nachvollziehbar, oder?«

Pellegrini blieb stehen. Sie standen auf dem Vorplatz der Bergstation, in dessen Mitte einige alte Umlenkrollen der funicolare ausgestellt waren. Hier zwischen den Gebäuden war der Nebel nicht so dicht, sodass sie den Platz überblicken konnten, über den nach wie vor Blaulicht flackerte. Auf jedem freien Zentimeter standen Autos; Metallkisten und eine Fotoausrüstung wurden aus einem Fiat Ducato ausgeladen. Ein Team der Spurensicherung rückte an. Pellegrini glaubte, in der Ferne Dottor El Gatos Wagen zu erkennen. Der Rechtsmediziner war Frühaufsteher, es durfte nicht viel Mühe gekostet haben, ihn zu erreichen.

Mit einem unzufriedenen Brummen wischte Pellegrini sich eine nebelfeuchte Haarsträhne aus der Stirn.

»Ich kannte den Toten, es ist Salvatore Bianchi, ein Carabiniere aus Brunate.«

Spagnoli stieß einen Fluch aus und legte ihm kurz die Hand auf den Arm. »Tut mir leid, das ist übel. Und was machen wir jetzt?«

»Wenn du meinst.« Spagnoli schnippte die Zigarettenkippe weg und ging zu einem schwarzen Alfa Romeo 159. Fragend hielt sie den Schlüssel in die Luft, und Pellegrini streckte die Hand aus. »Ich kenne mich hier besser aus als du.«

»Es gibt Navigationssysteme.«

Pellegrini lachte gutmütig. »Mit denen du dich im Hinterland zwischen Como und Lecco garantiert in einer viel zu schmalen Gasse festfährst. Glaub mir, meine Ortskenntnis ist unschlagbar.«