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Erich konnte die Studierenden in der ersten Reihe gut erkennen, die in der zweiten Reihe nur mehr schlecht, und die in der dritten waren von all den vorderen verdeckt. Bis auf einen, der trug seine Kappe tief im Gesicht und sah zu Boden. Das Bild ruckelte und ein knarzendes Geräusch erfüllte den Raum. Axel fragte, ob es jetzt besser funktioniere. Erich nickte mit dem Kopf, was Axel nicht sehen konnte, und setzte sich vor die Kamera.

Alle waren sie jetzt da, von der Kamera in einem Rahmen eingefangen. Eine Perspektive, die üblicherweise nur Vögel einnehmen. Schön waren Menschen nicht von oben, wo ihre Nähte in der Mitte zusammenliefen. Einer hatte richtig schütteres Haar. Erich konnte die Ansätze einer zukünftigen Glatze identifizieren, tiefe Geheimratsecken und nackt werdende Stellen. Führte unweigerlich zu einer Glatze. Eine Angst, die ihn jahrelang geplagt hatte, wenn er Haare auf seinem Kopfpolster gefunden hatte. Danach hatte er im Spiegel analysieren müssen, ob sich seine Geheimratsecken vergrößert hatten. Damit einhergehend hatte er Stunden damit verbracht, im Internet zu suchen, wie Haarausfall begann und ob es schon ein probates Mittel dagegen gab. Aber je älter er wurde, desto gleichgültiger waren ihm die paar Haare auf dem Polster. Wahrscheinlich hatte er schon lange das Alter überschritten, in dem es gefährlich war, und das, was er am Kopf hatte, in die sichere Hälfte herübergerettet.

„Yep, ist gut“, sagte Erich, „für mich geht das jetzt gut. Und könnt ihr mich auch sehen?“

Axel ging um den Computer herum und stellte sich vor die Gruppe in der ersten Reihe. „Ja, that’s okay“, sagte er, „we can start.“

Die Stunde verging wie im Flug. Jeder in der Gruppe erzählte, wer er war, wo sein Schwerpunkt lag, und stellte ein paar Fragen. Die meisten waren ein wenig schüchtern und sprachen so leise, dass sie über den kleinen Lautsprecher am Laptop dünn und blechern klangen. Nicht alles, was auf diese Weise zu ihm durchdrang, konnte er verstehen. Insgeheim fragte er sich, ob es an seinen mangelnden Sprachkenntnissen lag oder nur an der Übertragung. In beiden Fällen war er zuversichtlich – vielleicht auch, weil er der Situation generell positiv gegenüberstand –, dass er im Laufe der Zeit ihr Vertrauen noch gewinnen würde. Schon in zwei Wochen würde die Lehrveranstaltung beginnen, und seine Vorfreude war so immens, dass er jeden Moment, der mit der Vorbereitung und der neuen Lebenssituation zu tun hatte, bewusst genoss.

Nicht, dass er intensiv an einer Karriere im Ausland gearbeitet oder es je forciert hatte, einen Forschungsauftrag andernorts zu erhalten. Sein innigster Wunsch war es trotzdem immer gewesen, in eine andere Stadt zu ziehen, Wien hinter sich zu lassen, Wien, eine Stadt, die er eigentlich nur in den Herbstmonaten leiden konnte.

Einmal, auf einer Urlaubsreise nach Vietnam, hatte er einen jungen Physiker kennengelernt, der seinen Job in Princeton an den Nagel gehängt hatte, um auf Reisen von der Hand in den Mund zu leben. Wochenlang war ihm der Mann nicht mehr aus dem Kopf gegangen, hatte in ihm Mechanismen in Gang gesetzt, die seinen Schlaf störten und seine Konzentration raubten, wenn er sie am nötigsten gebraucht hätte. Dachte er an die Vietnam-Reise, hatte er das Gesicht dieses Mannes vor Augen, mit seinen blitzblauen Augen und seinem zur Analyse jeglicher existenzieller Frage fähigen Verstand. Er selbst würde nie in ein Land wie Vietnam auswandern. Die Urlaubsreise dorthin war schon ein Experiment und Wagnis gewesen. Er meinte, ein Mensch für kühles Terrain zu sein, bereiste am liebsten den Norden von Sibirien bis Kanada. Dorthin, rechtfertigte er sich innerlich, konnte man eben nicht so leicht auswandern wie nach Südostasien, wo alles billiger und einfacher war für einen Auswanderer. Insgeheim aber wusste er, dass es vollkommen belanglos war, wohin man ging. Man musste es nur tun, das hatte der Princeton-Abbrecher auch gesagt. Alles, was man will, muss man tun, hatte er gemeint, man kann es sich nie ersparen oder erarbeiten.

Dass er Axel noch so knapp vor dessen Pensionierung auf einer Konferenz kennengelernt hatte, führte zu genau so einem Fall. Es kam ihm wie ein Geschenk vor, etwas, von dem er gar nicht mehr erwartet hätte, dass es je eintreten könnte. Dabei waren es nur ein paar Worte, die sie gewechselt hatten, einige schnell so über ein paar Köpfe hingeworfene Stichwörter, Vortrags- und Buchtitel: More and the Tudors, 3001: The Final Odyssey, Technological Utopias. Alles Dinge, die sie später gar nicht mehr thematisierten. Vermutlich funktionierte es einfach auf menschlicher Ebene, perfekte Chemie.

Sie gingen in der Hektik des Welcome Drinks, während eine schottische Professorin in ihren Eröffnungsworten über den Brexit und die Folgen für den wissenschaftlichen Austausch und das Erasmus-Programm sprach, und fanden sich in einem Pub mit Blick auf einen Fudge-Laden auf der anderen Straßenseite wieder. Erich trank Earl Grey, atmete die heiße Bergamottefeuchte ein, während Axel vom Küstenschwund Britanniens erzählte. Der heiße Fudge, der drüben in großen Blechschüsseln angerührt wurde, duftete herüber ins Pub und mischte sich mit dem abgestandenen Bierdunst zu einem seltsam angenehmen Geruch. Ein typisch englischer Schnürlregen tippte an die Panoramafenster. Während Axel angeregt etwas schilderte, das er schon beim Verlassen der Eröffnung als sein derzeitiges Kernthema angekündigt hatte, sah Erich den Passanten dabei zu, wie sie ihre Kragen aufrichteten, Schirme aufspannten, Bücher und lose in den Händen Gehaltenes in ihre Taschen steckten und alles, was wasserfest, leicht und groß war, über ihre Köpfe hielten – der Schnürlregen war binnen Sekunden zu einem Guss geworden. Axel, abgelenkt von Erichs Aufmerksamkeit, unterbrach sich selbst, machte eine Handbewegung zum Fenster hinaus und meinte: „You see, that’s England.“

Es war nicht nur dieses Intermezzo, sondern die Assoziation, ausgelöst durch den Wolkenbruch, der niederging und die unmittelbare Gewalt einer brechenden Welle hatte, die ihn zurück ins Gespräch holte, mehr noch, in den Fokus von Axels Aufmerksamkeit, der in der Chronologie der Ereignisse um das Phänomen Küstenschwund bei einer Studie des ungekrönten Königs Edward angelangt war. Erichs augenblickliche Hellhörigkeit war auch der Tatsache geschuldet, dass ihn die tragischen und skurrilen Figuren der Geschichte faszinierten, die, wie er feststellte, in ihrem Nachleben oft stärker wirkten als die Schlächter und Exekutoren. Noch etwas kam hinzu, das er nie öffentlich zugegeben hätte: Das britische Königshaus gehörte zu seinen heimlichen Leidenschaften, vielleicht weil er mit seiner Großmutter die Klatschseiten und die Revuen durchgeblättert hatte und sie ihm von der englischen Königin vorgelesen hatte, wenn er auf ein Bild von ihr gestoßen war. Er bildete sich im Laufe der Jahre ein, die Großmutter habe sogar eine äußerliche Ähnlichkeit mit Elizabeth II., was natürlich nicht der Fall war. Von Edwards Abdankung zugunsten von Elizabeths Vater – der Liebe zu einer geschiedenen Schauspielerin ohne Adelstitel wegen –, darüber hatte er zuletzt im Wohnzimmer der Großmutter vor vielen Jahren gesprochen. Er erinnerte sich an die Überschrift eines Artikels: Der Cocktail-König.

Er sprach es aus: „The Cocktail King.“

Axel lachte lauthals auf. „No, no, not Edward VIII., it’s number seven I was talking about. But I guess number seven had many cocktails as well. They called him Bertie.“ Er seufzte, machte eine Pause und erzählte weiter: „Oh boy, Bertie in his young years was a gambler, a drinker, a dandy. There was this tragic story. He was studying in Cambridge, no, he was partying in Cambrigde. One day, his father, the prince consort, came to visit him and talk to him about his debauched lifestyle. Two weeks later the prince consort passed away. Although he was ill, Queen Victoria, mourning immensely, always blamed Bertie for his death. Thank god he stopped partying and succeeded her as the next King.“

Erich hatte noch nie vorher von König Edward VII. gehört. Axel nahm einen Schluck Bier und erzählte die eigentlich für seine Ausführungen relevante Episode, als der König bereits im Amt war. Im neunzehnten Jahrhundert ließ das Meer in der Grafschaft East Riding im Norden von England einen ganzen Küstenabschnitt mit dreißig Ortschaften verschwinden. Edward VII. ließ das Phänomen von einem ganzen Stab von Wissenschaftlern untersuchen. Seither hatte die Erosion stark zugenommen – der Eingriff in die Küstenlandschaften, der Anstieg des Meeresspiegels. In Happisburgh an der Ostküste hatte das Meer vor wenigen Jahren mehr als zwei Dutzend Häuser verschlungen. Axel nannte es klingend die Küstenschwund-Apokalypse, quittierte damit seinen Erzählfluss und schwang dabei sein Glas so heftig, dass das Bier auf Erichs Hemdsärmel schwappte. Axel entschuldigte sich, während sich Erich mit einer Serviette abtrocknete, und lachte laut auf: „You see, the waves eat us english men away, for gods sake, until the empire has gone down.“

Erich lachte und meinte etwas holprig: „The empire wants to go down alone, without the rest of Europe, as it seems.“

„We were always so convinced that we don’t need Europe“, meinte Axel und ließ seine Stimmung einknicken. Nachdenklich hob er sein Glas an den Mund, trank es aus und schlug vor, noch eine Runde zu bleiben. Erich bestellte dieses Mal Bier, ohne den Tee ausgetrunken zu haben.

Zurück in Wien ging Erich sofort in die Nationalbibliothek, brachte zweieinhalb Tage im Keller zu und schaute Mikrofilme mit alten Zeitungen durch. Er suchte nach Artikeln zum englischen Küstenschwund im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert, wobei er sich vor allem für die Rezeption in den deutschsprachigen Medien interessierte. Von allem, was er fand, fertigte er eine Kopie an. Ein Artikel aus dem Jahr 1908 gefiel ihm so sehr, dass er mit dem Mobiltelefon ein Foto davon machte, hochfuhr ins Erdgeschoss, wo er Netzempfang hatte, und es Axel schickte. Die Überschrift lautete: Wann versinkt England ins Meer? Der Journalist fasste im Wesentlichen einen Artikel, den er in der französischen Tageszeitung Le Gaulois gefunden hatte, zusammen. Darin ging es um den wissenschaftlichen Ausschuss, den Edward VII. gebildet hatte, um den Küstenschwund zu untersuchen. Der Journalist beschrieb darin das „Benagen der Küsten durch das Meer“ und nannte das Ganze eine „für das übrige Europa ja nicht uninteressante Frage“.

Axel schickte ihm einen erhobenen Daumen zurück.

Obwohl er tausend andere Dinge zu tun hatte, setzte er sich in seinem Büro noch am selben Tag hin, ordnete die Artikel und schrieb einen Aufsatz mit dem Titel Die Rezeption des Naturphänomens des englischen Küstenschwunds in ausgewählten deutschsprachigen Medien der Donaumonarchie im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert. Ein Text, für den er eigentlich keine Verwendung hatte. Wie oft hatte er schon solche Texte oder Fragmente solcher Texte verfasst und sie nachher in die Schublade legen müssen. Nächtens begann er den Aufsatz noch einmal von vorne, dieses Mal in englischer Sprache, und zitierte Axel mit dem Begriff „Küstenschwund-Apokalypse“. Während des Schreibens schenkte er sich so oft vom Laphroaig nach, bis er es im Kopf stechen spürte. Er tippte oberhalb der Überschrift Draft und schickte es umgehend an Axel. Zwar bereute er seine Hast noch während des Zähneputzens, konnte kaum ein Auge zutun, weil er sicher war, dass er mit einer unreflektierten, unkorrigierten Schnellschussversion seines wahrscheinlich vor akademischen Lücken nur so strotzenden Textes die gute Bekanntschaft mit Axel ruiniert hatte, wurde aber schon kurz nach dem Aufwachen überrascht: Axel lud ihn ein, nach Bath zu kommen und einen Vortrag über das Thema zu halten.

Nach dem Vortrag vor einer großen Gruppe von Leuten, die er alle nicht gekannt hatte, fragte Axel während eines entspannten Abendessens in einem indischen Restaurant in eine ganze Gruppe von Dozenten, was sie von Erichs Vortrag hielten. Für Erich war das ein Affront, innerlich verfluchte er Axel für diese Bloßstellung, nicht wissend, dass der Dekan am Tisch saß, mit dem Axel schon ein breiter angelegtes Projekt zur Küstenschwund-Apokalypse diskutiert hatte. Natürlich stellte Axel eine rhetorische Frage, im Wissen, dass es nur wohlwollende Rückmeldungen gab, und im Wissen, dass er auf diese Weise beim Dekan erwirken konnte, Erich in das Projekt einzuladen.

„Man muss das Thema in einem europäischen Kontext betrachten“, sagte Axel, „gerade in Zeiten wie diesen.“ In England war der Mann eine wissenschaftliche Legende. Zwar hatte Erich noch nie vor ihrer ersten Begegnung von Axel gehört, was damit zusammenhing, dass er im falschen Institut saß, in einem Prekariat, in dem es mehr administrative als akademische Fragen zu klären gab und wenig Austausch möglich war. Er war Literaturwissenschaftler, der eine Vorlesung auf dem Institut für Geschichte hielt und eigentlich ein Feld bearbeitete, das niemand anderen interessierte: Weltuntergangsszenarien als gesellschaftliches Phänomen, das war zu nahe an der Wiener Realität, wie er vermutete. Schließlich lebte er im Land des Weltuntergehens, der herbeigesehnten Apokalypse. Es konnte ihm Albträume bereiten, sich das einzugestehen, so sehr wünschte er, eigentlich ein Optimist zu sein.

Nach dem Abendessen mit Axel wurde er es zwischenzeitlich. Die Küstenschwund-Apokalypse begann als zu beforschendes Konstrukt Gestalt anzunehmen. Es dauerte zwei Semester, bis die Mittel beisammen waren und sich in Bath ein kleines Team formieren konnte, bestehend aus einer Politologin, einem Ökologen, Axel und ihm. Zu seiner Enttäuschung sah es allerdings so aus, als hätte er seine Arbeit von Wien aus zu erledigen; die Kollegen aus Bath besuchten ihn öfter als er sie. Eines Abends öffnete er an seinem Computer ein Schreiben, in dem Axel wieder einmal ankündigte, nach Wien zu kommen, und ausführte, wie froh er sei, dort jemanden sitzen zu haben. Erich griff sich an den Kopf, es durchfuhr ihn im ganzen Körper: War das eine suggestive Aussage? Wollte Axel ihm damit jede Hoffnung auf eine Forschungszeit in England nehmen? Schließlich verwaltete Axel das ganze Geld. Er konnte tagelang nicht schlafen, empfand das Projekt, das ihm weniger Geld einbrachte als seinem von ihm nun profitierenden Institut, als Bürde, die er sich aufgeladen hatte ohne zu denken und zu planen, verfluchte sich als leichtgläubig. Dennoch machte er am nächsten Morgen weiter, arbeitete an seinem Anteil des Projekts, bis ein Aufsatz über die Küstenschwund-Apokalypse in einer amerikanischen Zeitschrift erscheinen konnte, für den er sich derart ins Zeug legte, dass daraus eine kleine Sensation samt Einladungen zu zwei Tagungen wurde und seine Kollegen mit dem Erfolg eine Publikation in Buchform an der Universität Bath durchsetzen konnten. Jetzt wurde ihm ein Lehrauftrag in Aussicht gestellt.

Es konnte trotz der Vorfreude vorkommen, dass ihm bei seinem eigenen Thema mulmig wurde. Auslöser dafür war vielleicht ein Gespräch mit einem Politologen bei seinem letzten Besuch in Bath, bevor er in Wien mit der Wohnungsauflösung begonnen hatte. Der Mann hatte ihm erzählt, er werde mit seinen Studierenden eine Videokonferenz mit Guy McPherson durchführen, einem Klimaforscher, der sich zur Ruhe gesetzt hatte und der Welt nur mehr wenige Jahre gab bis zum Kollaps, der schließlich die Menschen auslöschen werde. Guy McPherson war einer der heftigsten Apokalyptiker. Allerdings war er einmal ein ernstzunehmender Professor gewesen; die Grundlage seiner Thesen war rational gebildet. Obwohl gerade er mit Apokalyptikern umgehen hätte können müssen, mit Guy McPherson konnte er es nicht. Der Politologe hatte ihm sogar angeboten, sich zur Videokonferenz dazuzuschalten. Davor war ihm derart bange geworden, dass er eine schlaflose Nacht hatte. Seither versuchte er das Thema zu verdrängen, damit es ihm nur keinen Schatten über Bath warf. Dort würde er um den Kollegen einen großen Bogen machen. Die christlichen Vorstellungen vom Weltuntergang, denen er sich lange und ausgiebig gewidmet hatte, waren von den realen Bedrohungen weit entfernt. Wie konnte die Hölle eine schlimmere Bedrohung für den Menschen gewesen sein als die rational berechenbaren Katastrophen, die der Mensch sogar selbst hervorrief? Der Küstenschwund war über die Jahre mehr und mehr real geworden, als behielten die Ängstlichen der Vergangenheit und Gegenwart recht, obwohl sie ganz andere Gründe anführten. Dabei war es eine Folge des Fortschritts, die stetige Klimaverschlechterung, die den Küstenschwund zum Teil zehn Mal schneller fortschreiten ließ als noch vor hundert Jahren. Wenn ihm derartige Dinge im Kopf herumgingen, suchte er Ablenkung in seinem Freundeskreis.

Dort war er – nicht zuletzt wegen seines schrulligen Forschungsthemas – in den letzten Jahren ins Hintertreffen geraten. Einige hatten Kinder bekommen und waren von seinem Radar verschwunden. Sie hatten sich Reihenhäuser gekauft, sich bis über beide Ohren verschuldet und lebten in Angst um ihre Jobs. Davon angetrieben arbeiteten sie in Banken, Rechtsanwaltskanzleien und Krankenhäusern, den Stützen des Systems.

Nur Paul war ihm über die Jahre geblieben, sein ältester Freund aus der Schulzeit. Wie er war Paul nie an größerem Risiko interessiert gewesen. Er hatte schon früh Linda kennengelernt, und nachdem ein Antrag von ihr gekommen war, hatten die beiden geheiratet. Linda hatte ein bisschen Geld von einem Erbe, das sie in ein Start-up investierten, eine Internetplattform für Hundesitter, die Paul mit den beträchtlichen Programmierfähigkeiten aus seinem abgebrochenen Informatik-Studium auf die Beine stellte. Ein Angebot von einem Konzern lehnten sie mit zitternden Händen ab, und aus ihrer kleinen Plattform begann gegen jede Prognose das Geld auf ihre Konten zu fließen. Zwar interessierte sich Erich nicht für Hundesitting und konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wie man sich den ganzen Tag damit beschäftigen konnte oder wie man eine App programmierte, irgendwelche Bugs beseitigte, gegen Geschäftskonkurrenten vorging, Mitarbeiter motivierte und eine eigene Buchhaltungsabteilung unterhielt, aber was Paul und Linda in ihrer Freizeit machten, konnte er nachvollziehen. Vielleicht, dachte er, reichte das auch vollkommen.

Am Anfang hatte ihnen der Erfolg nicht gut getan. Paul hatte sich zu Veranstaltungen mit dem Medienminister gezwungen und versucht, sein Netzwerk zu pflegen. Wenn Erich mit Paul zusammensaß, waren es nicht mehr die Lebensreformer des neunzehnten Jahrhunderts, die ersten Kommunen oder andere utopische Themen, die sie besprachen, sondern Designagenturen, Backend, Frontend, Interfaces und dergleichen, was in Erichs Augen nur interessant war für Marketingmenschen. Pauls Vorliebe für Weine und dass er sich als Geschäftsmann neu definierte, sündteure Führungskräfteseminare mit echten Wölfen besuchte, die ihm beibringen sollten, entschieden aufzutreten, all das nervte Erich. Aus Wein hatte er sich nie etwas gemacht, und Wirtschaft interessierte ihn nur dann, wenn sich daraus ein apokalyptisches Szenario ableiten ließ wie aus der Weltwirtschaftskrise nach dem Börsencrash 1929.

Linda zog mit Pauls neuen Interessen mit; vielleicht war es auch sie, von der die stetige Veränderung in der Beziehung ausging. Je länger er die beiden kannte, desto weniger konnte er darüber eine klare Aussage treffen. Das, was sie geworden waren, davon war er überzeugt, hatte Wien aus ihnen gemacht. In letzter Konsequenz, dachte er, machte die Stadt älter werdende Menschen zu um ihren Besitz und ihre Privilegien besorgten Fremdenhassern oder zu Bobos, die sich langweilten und in Selbstgerechtigkeit zerflossen. Die Alternative dazu, schien ihm, waren verbissene Menschen, die sich an irgendetwas für sie Richtigem festzuhalten versuchten. Eine Verbissenheit, gegen die er tagtäglich ankämpfte. Er war heilfroh, die Stadt endlich verlassen zu können.

Bevor das Skype-Gespräch endete, kam kurz eine lockere Stimmung auf. Axel verrückte die Kamera, sodass nicht mehr alle zu sehen waren. Die Studierenden hatten noch kleinere Fragen, hauptsächlich organisatorischer Natur, die sie individuell stellen konnten. Eine Studentin fragte ihn nach einer Literaturliste, damit sie schon beginnen könne, sich die Bücher für die Lehrveranstaltung zu besorgen. Er versprach, etwas zu schicken, und Axel meinte, er könne ihm die E-Mail-Adressen der Studierenden zukommen lassen.

Als sich die Studentin bedankte und sich die Gruppe im Hintergrund aufzulösen begann, sah er den Raum erstmals genauer. An der Seite war ein langes Fenster, durch das in der Dämmerung ein Baum zu erkennen war. An der Stirnseite hing eine Grafik, auf der The Principles of Political Thinking stand, darunter eine Aufzählung dieser Prinzipien, die er im Einzelnen nicht zu erkennen vermochte. Erst jetzt sah er auch den Tisch mit Keksen, Chips und Getränken in Tetrapaks, den Axel offenbar für das Gespräch hergerichtet hatte. Ein paar Studenten standen drumherum und lachten. Einer vor ihnen, der mit dem Gesicht zu ihm stand, erinnerte ihn an jemanden. Es kam wie ein kurzer Blitz; er konnte einfach nicht sagen, an wen. Erst als der Student sich wieder wegdrehte, seinen Rucksack vom Boden hob und federnd durch die Tür ging, kam Erich der Gedanke, einen Screenshot von der Situation zu machen. Er drückte zwar die Tasten, sah aber nichts mehr von dem Studenten, der bereits den Raum verlassen hatte.

Axel verabschiedete sich und kappte die Verbindung. Erich öffnete daraufhin den Screenshot mit dem Bild und der Leerstelle des ihm bekannten Gesichts. Er betrachtete den Raum noch einmal und freute sich, dort bald selbst zu stehen. Er stellte es sich im Detail vor, dieses akademische Neonlicht, die nüchtern eingerichteten Räume. Er stellte sich dazu die kleinen Büros vor, die er von Besuchen auf der Universität kannte, vollgestopft mit Büchern und ein paar Erinnerungen. Eine akademische Behaglichkeit erfasste ihn, die ihm Sicherheit gab. An wen ihn der Student erinnert hatte, wollte ihm dennoch nicht einfallen.

Er holte sich eine Packung Hafermilch aus dem Kühlschrank und machte einen großen Schluck, der ihm beinahe wieder bei der Nase herausgekommen wäre. Es gab eine Liste mit ein paar Dingen, die er noch erledigen wollte oder musste, ehe er in das Flugzeug nach London stieg.

Wenn er die Wohnung vor Weihnachten übergeben konnte, erließ ihm der Vermieter die letzte Monatsmiete. Seine Tochter hatte sich von ihrem Freund getrennt und brauchte so rasch wie möglich ein Dach über dem Kopf. Er hatte das Angebot angenommen, und auch jenes von Paul und Linda, inzwischen in ihrem Haus in Irrlitz unterzukommen. Sein Hab und Gut, das er einstweilen nicht brauchte, ließ er in einem Lagerraum verwahren.