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Ein Bergdorf im Tessin. Das frisch gestrichene Gemeindehaus, die Bar, wo der Alkohol fließt, der Schulbus aus Acquarossa, der Bauer Sosto, der letzte, der Kühe hat. Das Dorf von Felice. Vor dem ersten Hahnenschrei bricht er auf, der alte Kauz, der meistens barfuß läuft, um in einer Gumpe weit oben hinter dem Kiefernwald zu baden. Auch bei Regen, auch bei Schnee. Danach hackt er Holz, pflückt im Garten Kakis, und wenn er im Wald Pilze findet, kommt er mit Käse zurück. Wir dürfen uns Felice als glücklichen Menschen vorstellen.

Tage mit Felice ist ein minimalistisch erzählter Roman über die Kunst des einfachen Lebens und zugleich das Porträt eines Dorfs im Bleniotal. Dort oben, den Härten der Jahreszeiten ausgesetzt, wo niemand ein leichtes Auskommen hat, sind die Menschen rau und wortkarg und lieber mit den Tieren zusammen. Und doch ist da eine starke Gemeinschaft, die Leben und Tod und den Einbruch des technischen Zeitalters ganz selbstverständlich teilt. Eine ergreifende wie entschleunigende Lektüre.

Fabio Andina

Tage mit Felice

Roman

Aus dem Italienischen
von Karin Diemerling

Edition Blau im Rotpunktverlag

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REIHE

Literatur aus der Schweiz in Übersetzung

Dieses Buch erscheint mit Unterstützung der ch Stiftung für eidgenössische Zusammenarbeit dank der Beteiligung aller 26 Kantone. Die Übersetzung wurde von Pro Helvetia subventioniert.

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Der Verlag bedankt sich dafür.

Der Rotpunktverlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016–2020 unterstützt.

Die Originalausgabe ist 2018 unter dem Titel La pozza del Felice bei Rubbettino Editore erschienen.

© 2018 Rubbettino Editore, Soveria Mannelli

Lektorat: Daniela Koch

Der vorliegende Roman ist zwar von wahren Begebenheiten inspiriert, aber dennoch ein rein fiktionales Werk. Jegliche Übereinstimmungen mit realen Tatsachen, Orten oder Personen sind daher rein zufällig.

Inhalt

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Eins

Er ist es, der klopft und mich weckt. Es ist noch nicht einmal halb sechs. Ich steige die Treppe hinunter, mache die Tür auf und sehe ihn dort im Dunkeln unter einem Schirm, das Hemd offen, kurze Hose, barfuß. Kalte Luft strömt herein, es regnet. Ich ziehe mich an und gehe hinaus. An einem Nagel in der Hauswand hängt das Thermometer, das Vittorina mir geschenkt hat. Fünf Grad. Ist gar nicht mal so kalt, sage ich mir. Muss wohl daran liegen, dass ich es nicht gewohnt bin, so früh aufzustehen.

Gestern hatte ich Felice vor meinem Haus getroffen, es war ein sonniger Nachmittag, um die Berggipfel zogen sich die ersten grauen Wolken zusammen, die den Himmel noch vor Sonnenuntergang verdunkeln sollten. Ich lasierte gerade die Tür des Holzschuppens, er ging vorbei, genauso angezogen, barfuß und mit einer Plastiktüte voller Kakis. Wir wechselten einige Worte, dann fragte ich ihn, ob ich ihn ein paar Tage lang begleiten dürfe. Um ein bisschen so zu leben wie er.

Wir gehen die drei Steinstufen hinunter und tauchen schnellen Schrittes in den Nebel ein, in die Nässe und die kopfsteingepflasterte Gasse, die sich zwischen den niedrigen Häusern hindurchschlängelt. Häuser jahrhundertealt und eindrucksvoll wie die Steine ihrer Mauern. Die Dachbalken krumm gebogen unter dem Gewicht der Steinziegel und die kleinen Fenster noch dunkel. Eine von der Gemeinde aufgestellte Straßenlaterne leuchtet uns schwach den Weg.

Seit eh und je munkelt man im Dorf, dass Felice sich jeden Morgen noch vor dem ersten Hahnenschrei aufmacht, um splitterfasernackt, weiß der Teufel wo, in einer eiskalten Gumpe in einem Wildbach zu baden. Manche sagen, er habe das schon immer gemacht. Andere, er habe nach seiner Russlandreise in den sechziger Jahren damit angefangen. Wieder andere behaupten, er mache es erst, seit er in Rente ist. Für manche liegt diese Gumpe im Gurundin, nahe dem Selvaccia-Kiefernwald. Für andere im Bach Altaniga, zwischen dem Hof von Celso und den Tognola-Höfen. Wieder anderen zufolge sogar oben bei der Alpe del Gualdo, auf eintausendsechshundert Metern Höhe.

Nachdem wir das Dorf hinter uns gelassen haben, biegen wir in die Kantonsstraße ein, die von Leontica hinauf Richtung Nara führt. Das Klatschen von Felices bloßen Füßen auf dem nassen Asphalt und das Wiehern von Vittorinas Maultier in seinem Pferch ein Stück weiter vorn.

Dort angekommen, erwartet uns das Muli bereits, und Felice streichelt es. Ich ebenfalls, ausgiebig. Sein grobes, nasses Fell, schon das Winterfell, und das Trommeln des Regens auf dem Blechdach.

Wir gehen weiter, er in seinem sommerlichen Aufzug versucht, den Schirm auch über mich zu halten. Wir passieren das Haus von Floro und seinem Kater Rasta. Eine elende Hütte, jetzt im Dunkeln fast unsichtbar, die er vor rund zwanzig Jahren mehr schlecht als recht hergerichtet hat. Eternitdach, kein Strom, eigentlich nicht bewohnbar, der Wasseranschluss ein Gummischlauch von einem Bach ins Haus. Als Toilette der nahe Eschenwald. Die Fenster dunkel, Floro schläft noch, wir gehen weiter.

Floro hat mal zu mir gesagt, dass das mit Felices Gumpe totaler Quatsch sei. Ja, es stimme, dass er ständig durch die Gegend laufe wie ein alter herumstreunender Wolf. Vor Jahren, solange er es schaffte, sei er sogar die Berge rauf- und runtergerannt, das sei der einzige Sport, für den man nichts weiter brauche, hätte er gemeint. Er ging aus dem Haus und fing an zu rennen. Oft weiß er aber nicht mal selbst, wohin er läuft, erzählte Floro weiter. Wie damals, als er um neun Uhr abends oben in Cancorì in der Nähe des Genzianella mit einem Beutel in der Hand gesehen wurde. Er würde Wildspargel suchen, hatte er behauptet.

Wir verlassen die Kantonsstraße bei der Kehre der Alten Lärche, eines hundertjährigen, allein stehenden Baums, und nehmen die Abkürzung über einen Schotterweg zur Pian di Sella hinauf. Eine viereckige Hochebene von einem Kilometer Seitenlänge, die sich vom oberen Dorfrand bis zum unteren Rand des steil abfallenden Selvaccia-Kiefernwalds erstreckt. Rechts wird sie von der tiefen Schlucht des Gurundin, links von den Serpentinen zum Nara hinauf begrenzt. Eine Ebene mit Viehweiden, ein paar Ställen und zwei, drei Ferienhütten. In der Ferne ist der Stall des Bauern Sosto zu sehen. Ein heller Spot außen an der Fassade führt uns zum Eingang.

Man erzählt sich auch, dass Felice im Winter das Eis aufschlagen muss, das sich auf der Gumpe bildet, und dass er eine Seife mitnimmt, um sich zu waschen, und dass er früher oder später dort drin bleiben wird, in dieser eisigen Wanne, klapperdürr wie er ist. Und wer soll ihn dann finden, die Füchse werden ihn auffressen.

Sosto, fünfundvierzig Jahre alt, Statur eines Bauern, Bart und Haare ungepflegt und eine Parisienne im Mund, hantiert mit dem Melkapparat herum und grunzt Flüche ohne Ende, weil sich die Schläuche verwickelt haben und es nicht richtig saugt. Also grüßen wir ihn nur und machen uns wieder auf den Weg.

Wir gehen im ersten Morgengrauen voran und lauschen dem Geräusch unserer Schritte im Matsch. Das gelbe Licht einer Straßenlaterne beleuchtet die kleine Holzbrücke über den Altaniga. Ich frage mich, wo diese Gumpe bloß sein kann, ob wir jetzt an diesem Wasserlauf entlang bergauf steigen, doch wir gehen geradeaus weiter.

Vorn kommt der andere Steg, der über den Gurundin führt. Wir überqueren ihn. Hier endet der Schotterweg in einem Wendeplatz, und das trübe Licht der letzten Straßenlaterne spiegelt sich in den schwarzen, zitternden Pfützen. Vor uns der dunkle Kiefernwald.

Felice klappt den Schirm zusammen, schwenkt nach rechts und verschwindet, verschluckt von der Finsternis. Ich will ihn einholen, aber nach ein paar Schritten bleibe ich erschrocken stehen. Ich sehe nichts mehr. Warte darauf, dass meine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnen. Fehlanzeige. Ich halte den Atem an und spitze die Ohren. Höre ihn einige Meter weiter vorn. Wenigstens bin ich hier vorm Regen geschützt.

In langsamem Tempo steigen wir einen steilen und rutschigen Weg hinauf, von dem ich nichts erkennen kann. Ich versuche, ihn mir vorzustellen. Ich trete auf den Absatzkanten auf und hebe die Knie an, um nicht über einen Stein oder eine Tannenwurzel oder sonst was zu stolpern, und halte die Hände vors Gesicht aus Angst, dass ein Zweig sich mir ins Auge bohrt. Felice, rufe ich.

Ho, ertönt seine Antwort aus dem Schwarz.

Nichts, ich wollte nur wissen, wo du bist. Es sind die ersten Worte, die wir miteinander wechseln. Nach einer langen Weile sagt er, pass gut auf, dass du nicht auf den Arsch fällst, jedoch leise, vielleicht aus Achtung vor der Stille, die im Wald herrscht.

Wie fast alle Bewohner von Leontica spricht Felice nur den Dialekt des Bleniotals, das auch Valle del Sole genannt wird.

Felice, rufe ich wieder, ebenfalls gedämpft.

Ho.

Hast du keine Taschenlampe?

Taschenlampe? Hm, kann sein, dass ich eine hab, irgendwo.

Wir sind vielleicht eine Viertelstunde bergauf gegangen, als es plötzlich ein lautes Krachen gibt, wie vom Brechen eines Asts, gefolgt von einem Getrappel, das sich schnell entfernt. Überrascht bleibe ich stehen. Hirsch?, frage ich.

Aé. Wird schon ein Hirsch gewesen sein. Ist voll von Hirschen hier. Seine Stimme klingt beruhigend. Wir gehen weiter. Es gelingt mir, dicht hinter ihm zu bleiben, indem ich auf seinen Atem und das schwache Geräusch seiner Schritte höre.

Minuten später erkenne ich allmählich seine Waden, grau, zwei oder drei Meter vor mir. Und die schwarzen Baumstämme ringsherum. Der dichte Kiefernwald über unseren Köpfen beginnt, sich zu lichten. Wie viel Uhr es wohl ist. Es wird langsam Tag, sage ich mir. Dann ist ein ferner Glockenschlag zu hören, dann noch einer und noch einer. Das Ave-Maria-Läuten der Glocken von Leontica um halb sieben. Eine klare, fröhliche Melodie. Er bleibt stehen, wendet sich dem Talgrund zu und verharrt so, ganz versunken, bis die letzten nachhallenden Töne verklungen sind.

Nach dem Kiefernwald wird die Steigung etwas sanfter, und Felice beschleunigt seine Schritte. Wir gehen durch eine Fülle von Heidelbeersträuchern und Alpenrosen und vielleicht auch Alpenazaleen hindurch. Im Dunkeln sehen sie alle gleich aus. Hier und da sind die schwarzen niedrigen Umrisse von Latschenkiefern zu erkennen und die hohen schlanken einzeln stehender Tannen. Es regnet immer noch, und der fast unerträglich raue Wind peitscht mir ins Gesicht. Meine Nase läuft, und ich wische sie mit dem nassen, kalten Ärmel meines Wollpullovers ab. Mein übriger Körper ist erhitzt.

Inzwischen ist der Pfad unter meinen Füßen halbwegs sichtbar. Eine Furche von einer Handbreit Tiefe und dreimal so breit. Wie sie die Kühe auf den Alpen treten. Rechts von mir höre ich den Gurundin raunen, kann ihn aber nicht sehen. Grob geschätzt müssten wir jetzt etwa auf fünfzehnhundert Metern Höhe sein. Sicher bin ich allerdings nicht, weil ich mich immer noch nicht orientieren kann und das Zeitgefühl verloren habe. Ich trage keine Uhr, und das Handy habe ich zu Hause gelassen. Wer soll mich um diese Zeit schon anrufen? Felice hat auch keine Uhr. Federnd und barfuß geht er vor mir, trägt nur die Shorts aus einer abgeschnittenen Jeans, das kurzärmelige, offene Flanellhemd und hält den aufgespannten Schirm über dem Kopf.

Letzten September ist Felice neunzig Jahre alt geworden.

Das Gurgeln des Gurundin begleitet uns, während ich mit jedem Schritt die Formen wie auch die Distanzen besser unterscheiden kann. Wolken steigen auf, und die Berge zeichnen sich schemenhaft vor dem ganz allmählich heller werdenden Himmel ab.

Schließlich, nach endlosem Schweigen, sagt Felice bòn und bleibt stehen. Auch ich bleibe stehen und verschnaufe, und dann sehe ich sie.

Ein bleigrauer Fleck zwischen den schwarzen Felsen.

Die Gumpe.

Er zieht sich aus. Seine Haut scheint im Kontrast zu der Dunkelheit ringsum zu leuchten. Keine Unterhose. Die Shorts und das Hemd hängt er an einen nahen Tannenzweig, und dann steigt er ohne Zögern in das Becken, ganz hinein, ganz nackt, genau wie man es sich erzählt. Ich stehe reglos da und halte den Atem an aus Furcht, dass selbst die kleinste Bewegung mich von diesem Moment ablenken könnte.

Er ist vollständig ins Wasser eingetaucht, nur die Nase schaut heraus. Die Dampfwölkchen auspustet. Ich stelle mich unter die Tanne, obwohl ich inzwischen schon fast durchnässt bin. Und warte erst mal. Meine Schultern werden kalt, Frostschauer überlaufen mich. Ich schlage mit den Armen, reibe mir die Hände, stampfe mit den Schuhen auf. Warte.

Felice richtet sich auf, steigt aus dem Becken, spannt den Schirm auf und stellt sich auf einen Felsen, um die weißen Punkte der Straßenlampen unten im Tal zu betrachten. Er kehrt mir den Rücken zu. Ich mustere das düstere Becken. Wer zwingt mich denn dazu, sage ich mir, ich friere, es regnet, es ist dunkel. Aber ich habe es selbst gewollt. Ich ziehe mich aus und tauche mit einer Art Sprung hinein, schreie auch irgendwas. Und schramme mir die Knie an dem steinigen Grund auf.

Wie er würde ich gern nur die Nase herausschauen lassen, aber ich schaffe es nicht, es ist zu kalt. Mit einem Satz bin ich neben ihm. Er hebt den Schirm ein wenig an und hält ihn auch über mich. So stehen wir da, nackt und schweigend, um uns vom Wind trocknen zu lassen.

Der jetzt den Himmel aufreißt, sodass es aufhört zu regnen, während es hinter dem Simano immer heller wird. Als wir trocken sind, ziehen wir uns wieder an und gehen in den jungen Tag hinein.

Nebelstreifen steigen rasch vom Talgrund auf und lassen sich herumschwebend von den Spitzen der Tannen den Bauch kraulen. Dann erreichen sie uns und hüllen uns sanft ein, kalt und feucht, bis ich höchstens noch drei oder vier Meter weit sehe. Hier oben auf dem Berg könnte man sich verirren bei einem solchen Nebel, oder man könnte sich noch einsamer fühlen.

Felice zupft die zarte Spitze vom Zweig einer wie aus dem Nichts aufgetauchten Latschenkiefer ab und kaut darauf herum, jedoch ohne sie zu schlucken. Er kaut sie wie Kaugummi. Der Nebel verzieht sich, die Wolken lösen sich auf, und ein Sonnenstrahl trifft uns, das Tal fängt Feuer.

Ab dem Wendeplatz gehen wir leichtfüßig und gleichmäßig über die ungepflasterte Straße, die zwischen Reihen von kahlen Kastanien und Eschen verläuft. Eschen mit sichtbaren Narben auf der Höhe der Mäuler von Hirschen, die in vergangenen Wintern aus Hunger die Rinde angenagt haben. Wir vermeiden die von den Traktoren hinterlassenen schlammigen Furchen. Unsere Fußabdrücke von vor einer knappen Stunde sind zum Teil noch sichtbar und zum Teil vom Schlamm aufgesogen. Ringsherum vom Regen gewaschene Viehweiden und ein frischer Geruch in der Luft.

Ehe er den Stall betritt, spuckt Felice einen grünen Brei aus. Die Latsche. Mittlerweile melkt die Melkmaschine auf vollen Touren, und Sosto steht da und kontrolliert die Höhe der Milch in einer Kanne.

Fleißig, fleißig, ruft Felice ihm zu, worauf der Bauer mit Jo antwortet, den Blick fest auf die Literzahlen gerichtet.

Sosto, begrüße auch ich ihn. Er dreht sich um und taxiert mich mit seinen Äuglein. Ich will ihm sagen, dass es die Gumpe wirklich gibt, dass sie oben hinter dem Selvaccia-Wald liegt, im Gurundin, aber Felice wirft mir einen strengen Seitenblick zu. Bòn, sagt er. Auf.

Ciao, dann.

Ciao, Sosto.

Also ciao.

Draußen vor dem Stall steht sein Haflinger-Geländewagen mit dem kleinen Anhänger für den Transport der Milchkannen. Ohne Kennzeichen, vor Jahrzehnten von seinem seligen Vater Anselmo bei einer Auktion der Schweizer Armee in Thun erstanden. Wir gehen im Marschschritt hinunter ins Dorf. Ich stampfe mit den Schuhen auf, um den Schlamm abzuschlagen. Felices Füße waschen sich von allein im nassen Gras am Straßenrand.

Floro, scheint es, schläft immer noch, nichts regt sich, nicht mal im Schornstein. Inzwischen ist seine Hütte, der notdürftig ausgebesserte Stall, gut sichtbar. Hingespuckt zwischen vier Ferienchalets mit geschlossenen Fensterläden, Parabolantennen auf den neuen Dächern aus gleichmäßig zugeschnittenen Natursteinplatten, Lattenzäunen aus Kastanienholz und Schutzdächern für die Autos. Wieder einmal denke ich, dass Floros Behausung wirklich das schwarze Schaf von Leontica ist.

Das in der beißend kalten Luft dampfende Muli kommt erneut auf uns zu, um sich streicheln zu lassen. Wir tun ihm den Gefallen. Aus seiner Nase schnaubt es übel riechende Wassertropfen.

Im Dorf angekommen, verschwindet er in seinen Schuppen, um Holz zu holen, und ich gehe auf einen Sprung zu mir, um etwas Trockenes anzuziehen, dann bin ich wieder bei ihm. Er sitzt auf einem Stuhl, die Beine übereinandergeschlagen und den Blick auf einen Riss in der kalkverputzten Wand geheftet. Ich sage nichts, rücke einen Stuhl an den kleinen Tisch ohne Tischdecke und setze mich. Der Sparherd ist angefeuert. Das Holz knistert, und es ist angenehm warm.

Als das Wasser in einem Töpfchen überkocht, steht er auf. Er nimmt eine Handvoll getrocknete Kräuter aus einer Pappschachtel und wirft sie hinein. Öffnet dann eine Schublade des Küchenschranks und holt einen Schokoriegel heraus. Aus der anderen Schublade nimmt er ein in Zeitungspapier eingewickeltes Stück Brot, packt es aus und legt das Papier mitten auf den Tisch, um geröstete Marroni aus einer weiteren Pappschachtel darauf zu verteilen. Er macht ein Fenster auf, nimmt einen Joghurt im Glas von der Fensterbank und stellt ihn vor mich hin. Gießt den dampfenden Aufguss in eine Tasse, sagt bòn, dreht den Stuhl um und setzt sich mir gegenüber. Im Nu hat er mir Frühstück gemacht. Kräutertee, Nussjoghurt, dunkle Schokolade, Brot und ein paar Marroni, kalt und hart wie Stein. Der Tee ist bitter, wärmt aber immerhin und vertreibt sofort das innere Frösteln, das ich noch im Körper hatte. Während ich mir eine zweite Tasse einschenke, legt er ein Scheit in den Herd, regelt mit dem Hebel den Rauchabzug und geht hinaus, lässt die Tür offen.

Der Himmel hat sich jetzt völlig aufgeklart, der Wind sich gelegt. Die milde Sonne steht eine Handbreit über dem Simano. Ich schiebe meine Pulloverärmel hoch und mache es mir auf der Granitbank rechts der Haustür bequem. So sitzen wir da, still und stumm wie zwei Eidechsen. Die Rücken an die unverputzte Steinwand gelehnt.

Ein Nebelstreif unten im Tal verbirgt die Dörfer Dongio, Acquarossa und Lottigna. Hinter uns bellt der Hund der Lehrerin Sabina, weiter entfernt antwortet ihm ein anderer. Auch heute über unseren Köpfen ein ständiges Hin und Her und Gezwitscher von Mehlschwalben. Hunderte und Aberhunderte. Sie bilden Kolonien zum Wegzug. Von unsichtbarer Hand gelenkt, lassen sie sich alle auf einmal auf den Stromleitungen nieder, fliegen dann auf, drehen eine Runde knapp über den Steindächern und kehren schließlich auf die Leitungen zurück. In den letzten Jahren sind sie immer später aufgebrochen. Die Erderwärmung ist auch hier oben in Leontica angekommen.

Felice sitzt auf der linken Bank, die geschlossenen Augen zur Sonne gehoben. Das alte Gesicht von den Jahreszeiten gezeichnet, die Arme kräftig und die Füße schwielig und rau wie die Rinde der Alten Lärche. Vielleicht weil er meinen Blick spürt, bewegt er die Lippen und sagt, die Kälte ist da, als würde er laut denken. Ich sehe weg. Der Schnee ist im Anzug, höre ich ihn sagen, der Winter ist da. Ich betrachte den grauen Gipfel des Simano, dann wieder den Flug der Mehlschwalben mit ihrem kreischenden Zwitschern und schließlich seinen Gemüsegarten. Ein gut gepflegter Garten mit rechtwinklig gestochenen Beeten, Gemüsepflanzen mit gesunden Blättern und fetter, aufgelockerter Erde, die feucht riecht. Salat, Radieschen, Lauch, Kartoffeln, Zwiebeln, Knoblauch, Petersilie, Sellerie, Mangold, Rosmarin, Salbei, Lavendel, Minze, Thymian, Malven. Birken- und Buchenlaub, wo im Sommer die grünen Bohnen wuchsen. Ich hatte ihm ein Tütchen Samen geschenkt, aus denen so viele Pflanzen gesprossen waren, dass er herumging und die Bohnen in alten Farbeimern verschenkte. An der Gartenmauer der Komposthaufen. In der linken Ecke steht ein alter Birnbaum, der sich zum Tal hin neigt. Oben etwa ein Dutzend Birnen. In der rechten Ecke ein schöner Kakibaum, so voll mit Früchten, dass manche Äste fast den Boden berühren. Ich stehe auf und pflücke mir eine. Esse sie, wobei ich achtgebe, mich nicht vollzukleckern.

Möchtest du was aus dem Garten?, fragt er mich, regungslos bis auf den Mund.

Von hier aus sieht man ein Stück von meinem Haus. Die Eingangstür und die des Holzschuppens, das Steindach, den Schornstein. Das Haus war einmal die Käserei. Da wurden früher, vor dem Krieg, Käse und Butter gemacht. Nach Kriegsende war es dann nur noch die Milchsammelstelle. Die Milch aller Kühe des Dorfes kam dorthin, in einen riesigen Kühlbehälter, doch alle sagten weiterhin die Käserei. Bis heute, da ich dort wohne.

Emilio hat mir einmal erzählt, dass es früher hier in Leontica überall Kühe gab. Ställe an jeder Ecke. Hinter dem Dorfplatz. Unterhalb des Friedhofs. Hinter der Bar. An den Hängen hinauf zum Nara, auf der Sella-Ebene und bis hinüber nach Negrentino. Überall. Auch wer kein Bauer war, hatte mindestens eine Milchkuh hinterm Haus. Und Mastschweine. Und Schafe und Ziegen und Kaninchen und Hühner. Von September bis Juni, wenn die Kühe nicht auf der Alp waren, wurden bis zu tausend Liter Milch am Tag zur Käserei gebracht. Tausend. Emilio hat viele Jahre dort gearbeitet. Von Ende der fünfziger Jahre bis Anfang der siebziger fuhr er die Milch von Leontica nach Biasca. Ein Lieferwagen. Hin und her. Zweimal am Tag. Bis fast das Dach der Käserei auf ihn herunterkrachte und meine Eltern das Haus kauften. Um in den Ferien hier heraufzukommen. Felice hat es renoviert, als ich noch ein Kind war. Jetzt ist es eine Edelhütte. Und seit einem Jahr wohne ich darin, geflüchtet aus der Stadt.

Die Milchsammelstelle hat man dann an ihren heutigen Platz verlegt, ein Raum im Erdgeschoss des Gemeindehauses. Viel moderner, viel hygienischer. Vorschriftsmäßig. Isothermischer Kühlbehälter aus Edelstahl, viertausend Liter Fassungsvermögen. Ein Kühlwagen kam zwei- bis dreimal die Woche von Biasca herauf, um ihn zu leeren. Heute kommt er nur noch montags und nur für die Milch von Sosto. Und Emilio, der seine Anstellung verloren hatte, verkaufte den Lieferwagen und schlug sich bis zur Rente durch, indem er zusammen mit Felice Hütten und Ställe renovierte, Mauern hochzog und Steindächer reparierte.

Felice hat sein ganzes Leben lang als Maurer gearbeitet, das Bleniotal rauf und runter. Eine seiner letzten Arbeiten war das Dach des alten Waschhauses hier vor seiner Hütte. Das Wasser läuft darin das ganze Jahr, auch im Winter. Es gefriert nie. Hin und wieder wird es noch von jemandem benutzt, um Decken zu waschen, die zu groß für die Waschmaschine sind. Als Kind habe ich zusammen mit den anderen Dorfkindern den Abfluss verstopft und zum Spaß dort drin gebadet.

Nein, antworte ich ihm und schaue wieder in den Garten. Ich brauche nichts. Sonst frage ich dich.

Da holt er tief Luft und sagt, weiter gehts. Er macht drei Schritte und fängt an, das Lauchbeet mit bloßen Händen aufzulockern, benutzt die Finger wie eine Harke. Präzise und methodisch, von links nach rechts, gräbt er um jedes Pflänzchen einen Kreis. Bevor er sich wieder aufrichtet, nimmt er ein wenig Erde in die Hand und presst sie zusammen. Öffnet die Faust und begutachtet die dunkle, feuchte, feste Kugel, schnuppert daran, lässt sie zerkrümelnd fallen. Schließlich reißt er ein Unkraut aus, das einzige, das ich entdecken kann. Der Garten ist wirklich gut in Schuss. Er pflückt zwei Rosmarinzweige und geht ins Haus. Gleich darauf kommt er mit der zusammengerollten Zeitung und dem kleinen Topf wieder heraus und wirft die Marronischalen und die für den Tee verwendeten Kräuter auf den Kompost. Dann geht er wieder hinein. Nach einem Moment folge ich ihm, mache die Tür hinter mir zu.

Er sitzt am Tisch und hackt den Rosmarin auf einem Brett und mit einem vom vielen Schleifen ganz abgenutzten Messer. Ich setze mich, um ihm zuzusehen. Den zerkleinerten Rosmarin gibt er in das fast bis zum Rand mit Wasser gefüllte Töpfchen und fügt eine Prise Salz hinzu. So, nicht zu viel, weil zu viel Salz nicht gut ist, denkt er laut. Er stellt den Topf auf die weniger heiße Seite des Herds, wäscht Messer und Brett im Spülbecken ab, holt einen Reisigbesen hinter der Tür hervor und fegt den Steinplattenboden, dann sagt er, auf, und verlässt das Haus.

Im Garten ist Emilio aufgetaucht, achtundachtzig Jahre alt, distinguierte Erscheinung, der mit einem Salatblatt in der Hand herumgeht und den Boden mustert, als suche er etwas. Felice beobachtet ihn interessiert, sagt dann, bisschen kühl heute Morgen, worauf Emilio antwortet, schon, aber einen werde ich schon finden.

Felice geht los. Ich hinterher. Rechts von seinem Haus ist der Schuppen, in dem er das Holz stapelt und sein Auto abstellt. Einen alten Suzuki, blau, klein und schmal, mit dem er zwischen den Häusern hindurch die enge Gasse entlangfahren kann, um an meiner Hausecke auf die Gemeindestraße abzubiegen.

Wir steigen in den Suzuki, schnallen uns an, Felice steckt den Zündschlüssel ins Schloss und dreht ihn auf der ersten Kerbe. Mit einer Hand am Lenkrad und der anderen an der Handbremse sieht er mich an und fragt, schiebst du? Ich öffne den Gurt und steige aus. Felice löst die Handbremse, woraufhin das Auto langsam rückwärts aus dem Schuppen rollt. Mit einem Schub helfe ich ihm, die richtige Richtung einzuschlagen, mit einem nächsten, dass es Fahrt aufnimmt, er legt den Gang ein, und der Motor springt an. Ich werfe noch einen Blick auf Emilio, der weiter irgendetwas zwischen den Beeten im Garten sucht. Dann steige ich ein, und wir fahren los. Ich frage mich, wohin. Lehne mich zurück.

Wir fahren vielleicht dreihundert Meter und parken auf dem Dorfplatz. Am Brunnen füllt ein Radfahrer seine Wasserflasche auf. Er ist verschwitzt und rot im Gesicht. Gerade vom Tal heraufgestrampelt. Etwas über vier Kilometer enge, in den Fels gehauene Serpentinen. Vor der Bar Gallo Cedrone, Zum Auerhahn, stehen zwei, drei Bauern mit einem Rotwein in der einen Hand und einer Zigarette in der anderen. Wir grüßen sie und gehen in den Laden von Marietto Del Negozietto.

Er ist fast fünfzig und wohnt unten in Corzoneso mit seiner Mutter Giacinta, verwitwet, schwerbehindert und ans Bett gefesselt, nahe achtzig. Seit jeher arbeitet er im Dorfladen, den einst sein seliger Vater Evelino eröffnet hat. Er ist ein bisschen begriffsstutzig, der Marietto. Gibt nichts von sich preis und redet wenig. Und wenn er Schinken schneidet, redet er gar nicht mehr. Obendrein steht ihm der Ruf einer Tranfunzel auf die Stirn geschrieben.

Das Messinglöckchen an der Tür kündigt uns bimmelnd an. Ein Touristenpaar aus Luzern, das in einem Chalet oberhalb des Parkplatzes der Sesselliftstation wohnt, lässt sich gerade belegte Brötchen machen. Er ein unauffälliger Vierzigjähriger, Trekkingschuhe und Rucksack. Sie eine üppige Blondine, ganz Beine und Hintern. Marietto tut so, als hätte er uns nicht hereinkommen sehen, und hält den blöden Blick mit dem rechten Auge auf die Schneidemaschine gerichtet, während er mit dem linken auf die Arschbacken der Deutschschweizerin schielt. Felice stellt seine Einkäufe auf der Kassentheke ab. Schokolade, Joghurt, Brot, Streichhölzer und eine kleine Seife und wartet. Die Zubereitung der Schinkenbrötchen zieht sich in die Länge, also holt er einen Zwanzigfrankenschein aus seiner Shortstasche, legt ihn neben die Kasse, nimmt seine Sachen, und wir lassen wieder das Glöckchen bimmeln.

Er hat den Suzuki leicht abschüssig geparkt. Gurte, Zündschlüssel, Kupplung, er schaltet in den Zweiten und löst die Handbremse, wir rollen, er lässt die Kupplung kommen, und der Motor springt an. Wir lassen Leontica hinter uns und fahren talwärts. Nach ein paar Kehren aber fährt Felice rechts ran, stellt den Motor ab, zieht die Handbremse und steigt aus. Entlang eines schon seit ewigen Zeiten trockenen Bachbetts stehen ein paar hundertjährige Kastanienbäume. Ich beobachte, wie er zum ersten geht, eine Plastiktüte aus der Hosentasche zieht und beginnt, Kastanien aufzusammeln, wobei er darauf achtet, nicht mit seinen bloßen Füßen auf eine der stacheligen Schalen zu treten. Ich steige ebenfalls aus und helfe ihm. Ich sammle eine Handvoll, betrachte sie. Sie sind klein. Zu klein, sage ich mir.

Das hier sind die mickrigen, die nach den anderen fallen. Sind späte Marroni, das hier, sagt er. Als hätte er meine Gedanken gelesen.

In Corzoneso halten wir und parken hangabwärts vor der Kirche. Felice nimmt die Tüte mit den Spätmarroni und läuft los. Ich folge ihm wortlos. Zwei alte Frauen mit ihren an den Ellbogen abgescheuerten und vorn etwas speckigen Kittelschürzen sitzen auf einer Bank und sehen dem Flug der Mehlschwalben zu. Wie im Theater.

Wir gehen am Gemeindehaus vorbei, im vergangenen Jahr pastellgelb gestrichen, und biegen in eine gepflasterte Gasse ein, die zu einem Grüppchen Natursteinhäuser führt. Die ersten drei sind neu hergerichtet und gut gepflegt, exotische Gärtchen mit Pergolen voller Kiwis, dazu Palmen und Olivenbäume, ich frage mich, wie die den Winter hier oben überstehen. Die Zäune aus gedrechselten Lärchenpfählen, die geschlossenen Fensterläden blau und rot und gelb lackiert, Parabolantennen auf den neuen Steindächern, Überdachungen für die Autos, Briefkästen. Ich lese Van Basten, Hitz und Windmüller. Deutsche und holländische Urlauber. Wir gehen weiter. Die letzten beiden Häuser sind alt und heruntergekommen, aus den Schornsteinen steigt eine Rauchfahne auf, und Briefkästen gibt es nicht.

Felice klopft bei dem schäbigeren an. Nach langem Warten öffnet uns eine alte Dame mit dunkelblauer Schürze.

Bondì, grüßt Felice sie und gibt ihr die Tüte, die sie nimmt und sich mit mèrsi bedankt. Wir verabschieden uns und kehren zu dem Suzuki zurück, er legt den Gang ein, der Motor springt auf Anhieb an, und wir fahren los. Hier im Tal sagt man mèrsi statt grazie. Eine Abwandlung des französischen Worts, mitgebracht von ausgewanderten Kaminfegern, die mit etwas Geld aus Paris zurückkehrten. Einige kehrten zurück. Von anderen hingegen verlieren sich die Spuren, und niemand weiß, auf welchen Friedhöfen sie nun begraben liegen, hat Felice mir mal erzählt.

Im Talgrund angekommen, fahren wir am Restaurant Valle del Sole in Acquarossa vorbei und halten an der Kreuzung zur Kantonsstraße. Felice blickt nach rechts zur Pizzeria Da Beppe und der Praxis von Doktor Gianmaria, dann nach links zur Brücke über den Brenno. Die Straße ist frei. Wir biegen nach links ab, überqueren die Brücke und fahren gemächlich in nördliche Richtung. Wir kommen am Museum von Lottigna vorbei, dann an der alten Schokoladenfabrik Cima Norma in Torre, dann an Aquila.

Felice, wohin gehts?

Rivöii.

Eh?

Rivöii, wiederholt er entschiedener, glaubt wohl, ich hätte ihn nicht gehört.

Wir erreichen Olivone, Rivöii, und parken leicht abschüssig vor der Bar Posta. Auch hier sammeln sich die Mehlschwalben zum Abflug und machen ein Heidenspektakel. Wir betreten die Bar. Die junge Bedienung kennt ihn. Buongiorno, Felice.

Bondì.

Wie gehts?

Na, solange man sich plagt, gehts weiter. Wenn man sich nicht mehr plagt, amen.

Amen, wiederholt die junge Bedienung und legt ihm La Regione und einen Beutel Pfefferminztee auf den Tisch. Felice beginnt, in der Zeitung zu blättern, wobei er sich den Finger leckt und bei der letzten Seite anfängt, wie es die Alten machen. In dieser Bar bin ich bestimmt schon zehnmal gewesen, aber die junge Kellnerin habe ich noch nie gesehen. Ich mache ihr ein Zeichen und bestelle einen Kaffee. An den Tresen gelehnt trinken drei Bauern mit mistbeschmierten Gummistiefeln einen Roten und reden laut übers Wetter.

Der Erste fragt die anderen beiden, und ihr, was meint ihr, ist der Winter da, he?

Der Zweite antwortet, hm, weiß nicht, ist auch nicht einer wie der andere.

Der Dritte fügt hinzu, klar, aber wer von euch beiden, du oder das Wetter, schlechter aussieht, weiß ich nicht, nè?

Sie lachen glucksend.

Ich angle mir den Giornale del Popolo vom Nachbartisch und schlage ihn auf, muss ihn aber gleich wieder zusammenfalten und die Schultern einziehen, um die junge Bedienung hinter mir durchzulassen, die meinen Espresso und eine Tasse heißes Wasser mit einem Löffel darin auf den Tisch stellt. Felice nimmt den Teebeutel aus der Papierhülle und taucht ihn an der Schnur in die Tasse. Tunkt ihn beim Lesen immer wieder ein. Das Wasser färbt sich zusehends dunkler. Dann zieht er den Beutel heraus, drückt ihn mit den Fingern aus und wickelt die Schnur drum herum, ehe er ihn auf die Untertasse legt, rührt anschließend mit dem Teelöffel um, obwohl er keinen Zucker hineingetan hat. Er rührt und liest. Ohne Eile. Bei der Seite mit den Todesanzeigen zuckt er zusammen. Den hier hab ich gekannt, sagt er und tippt mit seinem kräftigen, knorrigen Zeigefinger auf die Todesanzeige eines Mannes Jahrgang neunzehnhundertneunundzwanzig. Besser er als ich, fügt er hinzu und blättert die Seite um. Wenigstens muss er sich nicht mehr plagen.

Ein Artikel beschäftigt sich mit der Arbeitslosigkeit im Kanton Tessin. Die Arbeitslosigkeit nimmt zu, murmle ich, woraufhin Felice seine Zeitung zuschlägt. Die Politik ist eine einzige große Sauerei, machen wir uns nichts vor, und die Welt ist in der Hand von lauter Halunken, sagt er in einem Atemzug und sieht mir dabei in die Augen.

Stimmt. Und die ganze Welt ist ein Dorf, sagt die junge Bedienung.

Felice stürzt seinen Pfefferminztee hinunter, steht auf, bezahlt und geht. Machs gut, sagt er und ist mit seinen bloßen Füßen schon zur Tür hinaus.

Okay, ciao Felice, ruft die junge Bedienung ihm nach.

Ich falte meine Zeitung zusammen und hole ihn ein. Wir steigen ins Auto. Er schaltet in den Leerlauf, wir rollen und beschleunigen, er legt den Gang ein, und der Suzuki fährt los. Richtung Süden.

Wir lassen Olivone hinter uns. Am Fenster ziehen die typischen alpinen Postkartenansichten des Hochtessins an einem Spätherbsttag vorbei. Auf der Höhe von Lottigna biegen wir nach rechts unten ab und fahren zwischen den Weiden und Feldern der Ebene von Castro hindurch. Ställe, Traktoren, Hunde, Kühe, Kälber, Esel und Pferde. Wir parken am Ufer des Brenno. An diesem Abschnitt strömt er durch ein Bett mit dicken Felsbrocken, die dicht an dicht herausragen. Bis zu einem Meter tiefe Becken, weiße, tosende Gischt und ein Dutzend Sprünge, um ihn zu überqueren. Felice setzt sich auf einen Stein und steckt die Füße ins eiskalte Wasser. Ich tue es ihm nach, sobald ich Schuhe und Strümpfe ausgezogen habe. Das Wasser strömt von rechts nach links an uns vorbei, beständig und zuverlässig wie das Vergehen der Zeit.

Ich schaue nach oben. Der enge Himmel, die hohen Berge. Die Tessiner Alpen. Ich orientiere mich. Rechts, im Norden, der Pizzo Sosto mit seinem felsigen, spitz aufragenden Gipfel, auch das Matterhorn des Bleniotals genannt. Links führt das Tal zu den voralpinen Regionen des Tessins hinab, die sich schließlich zur italienischen Poebene hin öffnen. Hinter mir, im Osten, ragen der Adula und der Simano auf. Vor mir die Gipfel des Pizzo Erra und der Bassa di Nara und auf halber Höhe Leontica mit seinen Steinhäusern, ein paar Chalets. In der Mitte des Dorfs springt die romanische Kirche San Giovanni Battista aus dem zwölften Jahrhundert ins Auge. Wenn ich mich anstrenge, kann ich sowohl mein Haus als auch das von Felice erkennen.

Rechts vom Dorf, einsam auf den Wiesen jenseits des Negrentino, der in tiefen Schluchten talwärts stürzt, sieht man die kleine, San Carlo geweihte romanische Kirche aus dem elften Jahrhundert. Aber alle sagen Negrentino-Kirche. Gleich darüber die Talstation des Sessellifts zum Nara-Skigebiet mit ihren Parkplätzen. Die neuen gelben Fiberglassessel glänzen an ihrem Drahtseil in der Sonne. Die alten waren aus verzinktem Eisen mit drei rot lackierten Brettern, dazu gab es eine Armeedecke, um die Knie vor der Kälte zu schützen. Unterwegs wurde die Decke meist zum Eisbrett, und der Sicherheitsbügel fror mindestens bei jedem zweiten Mal fest, bei der Ankunft oben in Cancorì mussten sie den Lift anhalten, um einen zu befreien. Als die alten Sessel ersetzt wurden, hat man sie für fünfzig Franken das Stück verkauft, sodass manch einer als Zierde im Garten eines Ferienhauses im Tal endete, mit Geranientöpfen darin. Oder als Sitzbank für Touristen an einem Wanderweg oder Gott weiß wo sonst. Floro hat auch einen in seinem Haus.