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In Erinnerung an Dr. Chang Sin Liu
Ich liebe dich, Daddy

Ying Chang Compestine

Revolution
ist keine Dinnerparty

Ein Roman

Aus dem Englischen von Nicola T Stuart

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Inhaltsverzeichnis

Teil 1Kleine Blume
Sommer 1972–Winter 1973

Zöpfchen für Vater

Verschwendung ist ein großes Verbrechen

Tauschhandel mit Genosse Li

Hausgemachtes Eis und deutsche Schokolade

„Blutsaugende Gutsherrin“

Ob die Schmetterlinge wieder zu mir kommen?

Der entsetzliche Geburtstag

Unter dem Absatz zerquetscht

Teil 2Bambus im Wind
Frühjahr 1974–Winter 1976

Revolution ist keine Dinnerparty

Eine Trennungslinie zwischen sich und dem Klassenfeind ziehen

Dunkle Wolken

Würde ich ihn jemals wiedersehen?

Der lange weiße Strick

Einkaufen mit Mutter

Teil 3Die Brücke hinter Mao
Frühlingsende 1976–Herbst 1976

Wütender Tiger

Zu stolz, um nachzugeben

Warten auf Vater

Der heulende Wolf

Fetter Speck

Golden Gate Bridge

Epilog

Anhang

Historischer Hintergrund

Quellen

Vita

Teil 1

Kleine Blume
Sommer 1972–Winter 1973

Zöpfchen für Vater

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Im Sommer 1972, kurz vor meinem neunten Geburtstag, begann das Unheil, in ganz China an die Türen zu klopfen.

Meine Eltern waren Ärzte im Städtischen Krankenhaus Nr. 4. Es galt als das beste Krankenhaus in Wuhan, einer großen Stadt in Zentralchina. Mein Vater war Chirurg. Meine Mutter Ärztin der Traditionellen chinesischen Medizin, das heißt, sie behandelte ihre Patienten mit homöopathischen Mitteln, wie Kräutermedizin und Akupunkturnadeln. Wenn meine Puppen krank wurden, behandelte ich sie mit Bonbons.

Wir wohnten in einem dreistöckigen Backsteingebäude auf einem Gelände, das zum Krankenhaus gehörte, nahe beim Jangtse – dem längsten Fluss Chinas. Während des ganzen Jahres wurden wir durch den Fluss und die Eisenbahnschienen mit süßen Datteln und Tee aus dem Osten, mit wunderschöner Seide und Bonbons aus dem Westen, mit tropischen Früchten aus dem Süden Chinas sowie mit gerösteter Ente aus Peking, also dem Norden Chinas, versorgt. Vater sagte oft zu mir: „Unsere Stadt ist wie ein menschliches Herz: Das gesamte Blut des Körpers reist hindurch.“

Eines Abends tanzten die weißen Spitzengardinen, wie so oft, in der Brise, die vom Hof durch unsere offenen Fenster wehte. Unsere weiträumige Wohnung im zweiten Stock war erfüllt vom süßen Duft der Rosen aus dem Hof sowie dem vertrauten Aroma von Knoblauch, Ingwer und Sesamöl. Wir saßen um unseren viereckigen Esstisch im Wohnzimmer vor dem großen Panoramafenster, das zum Hof hinausblickte, und aßen zu Abend.

Die Küche und die Schlafzimmer waren auf der anderen Seite der Wohnung. Auch diese Räume hatten große Fenster, aus denen wir in den Rosengarten und auf die Mauern des Krankenhausgeländes blicken konnten.

Mutter stellte eine kleine blaue Schüssel mit dazugehörigem Löffel vor mich hin. „Ling, dein Haar ist so trocken wie totes Gras. Also, iss deine Suppe.“ In der Suppe schwammen Stückchen von Tofu, Spinat und Algen. Eigentlich wollte ich keine Suppe, aber ich hütete mich davor, das zu sagen. Ich steckte mir ein kleines Stück Tofu in den Mund, in der Hoffnung, dass das genug wäre. Ich hatte mich nämlich schon an meinen Lieblingsspeisen satt gegessen: gebratene Teigtaschen, pfannengerührter Eierreis und gedünsteter Fisch mit Mutters leckerer Schwarze-Bohnen-Sauce. Ich hatte sogar ein Stückchen vom Orangen-Sesam-Hühnchen probiert, ein besonderer Gaumenschmaus für Vater. Heute aß er jedoch nur zwei Häppchen davon, der Rest blieb unberührt.

„Los jetzt, beeil dich, Ling!“, sagte Mutter mit Schärfe in der Stimme, während sie den Tisch abräumte. Sie wartete auf meine Schüssel – und zwar meine leere Schüssel. Fragend blickte ich meinen Vater an, ob ich diese schreckliche braune Suppe wirklich aufessen musste.

Er lächelte, so wie er es immer tat. Kleine Fältchen zeigten sich in seinen Augenwinkeln. „Es ist sehr heiß heute. Du brauchst Flüssigkeit und Salze, Ling. Dann trink doch wenigstens die Brühe aus.“

Ich holte tief Luft, schloss meine Augen und schlürfte die Brühe, dabei biss ich meine Zähne fest aufeinander, damit nichts von dem schleimigen Spinat oder den Algenblättchen in meinem Mund landete.

Mutter brachte gerade die Stäbchen und Teetassen in die Küche, und so konnte ich schnell die Algen und den Spinat auf meinen Löffel schieben und ihn vor Vaters Mund halten. Er zog kurz die Augenbrauen in die Höhe, doch dann entspannte er sich wieder.

„Aufmachen, bitte, Papa!“, flüsterte ich.

Vater öffnete seinen Mund, und das eklige Grünzeugs verschwand darin.

„Ich hab dich lieb, Papa,“ flüsterte ich. Dann trug ich meine Schüssel mit beiden Händen in die Küche.

Ich war froh, wenn Vater zum Abendessen zu Hause war, denn er rettete mich immer vor Mutters seltsamen Essen. An den Abenden, an denen Vater im Krankenhaus operierte, musste ich alles essen, von dem Mutter meinte, dass es gut für mich war: Quallen würden meine Sommersprossen vertreiben; Fischschwänze würden mir dabei helfen zuzunehmen; Schweineleber würde mich klüger machen; bitterer Tee würde meine Haut samtig machen. Und all das schmeckte grauenvoll. Ich sagte Mutter einmal, dass, wenn wir einen Hund hätten, selbst der keine Schweineleber fressen würde. Sie tippte mir mit ihren Essstäbchen auf den Kopf und legte ein zweites Stück Leber in meine Schüssel.

Als ich wieder ins Wohnzimmer trat, saß Vater noch immer am Esstisch und hielt einen Teebecher aus blauem Porzellan in den Händen. Der Deckenventilator drehte sich langsam über ihm. Seine Augen hatten den Becher fixiert, als würde er ihn untersuchen.

Ich mochte es nicht, wenn er so war. Schon seit Monaten war er immer wieder völlig in Gedanken versunken, selbst mitten in unseren Englischstunden. Um ihn aufzuheitern, schlich ich auf Zehenspitzen zu unserem Bambusbücherregal, das neben dem breiten gemauerten offenen Kamin stand. Ich holte eine gelbe Zeitschrift von ganz oben aus dem Regal, auf der das Bild eines menschlichen Gehirns prangte. Die Zeitschrift war erst letzte Woche aus Amerika eingetroffen.

Dann ging ich am Kamin vorbei und kletterte auf Vaters schwarzen Sessel. Es war wunderbar, meine verschwitzten Beine auf dem kühlen weichen Ledersessel auszustrecken.

„Papa, es ist Zeit für Zöpfe!“

Er drehte sich zu mir und lächelte. Dann stellte er seinen Teebecher neben das dazugehörige Geschirr, stand auf und schob seinen Stuhl unter den Tisch, wie Mutter uns geheißen hatte.

„Lies das.“ Ich umarmte meine Beine und rückte für Vater ein wenig zur Seite.

Vater nahm sich die Zeitschrift und ließ sich neben mir nieder. Ich setzte mich auf die breite Sessellehne und kringelte mich zusammen wie eine kleine Katze. Vorsichtig nahm ich eine Strähne von Vaters Haar und band sie mit einem roten Gummiband, das ich um mein Handgelenk trug, zu einem Zopf zusammen. Vater saß ganz ruhig da und grinste.

Vor zwei Jahren, als ich sieben geworden war, hatte Mutter aufgehört, mir die Haare zu flechten. Sie hatte mir gesagt, dass ich nun alt genug wäre, es selbst zu machen. Aber ich bekam es nicht gut hin. Mein dickes langes Haar verhedderte sich immer. Es war schwer, es in drei gleich dicke Stränge zu teilen, und meine Arme wurden immer ganz lahm vom nach hinten Greifen. Ich bettelte Mutter an, mir beim Flechten wieder zu helfen, aber sie weigerte sich, und so trug ich viele Wochen lang einen ganz losen, unordentlich geflochtenen Zopf. Dann hatte ich die Idee, an Vaters Haaren zu üben. Sein glattes Haar war viel kürzer als meins, viel zu kurz für geflochtene Zöpfe, aber ich konnte das Haar vorne, wo es am längsten war, zu kleinen Zöpfchen zusammennehmen und mit einem Gummiband festbinden. Ich hatte immer Angst, zu stark zu ziehen und ihm damit wehzutun, aber Vater beklagte sich niemals, sondern saß immer ganz still da. So konnte ich also schon seit letztem Jahr sehr gut Zöpfe binden, doch Vater ließ mich weiterhin an ihm üben, wenn er abends zum Essen nach Hause kam.

Durch die offenen Fenster trug die warme Brise die Stimme einer Nachbarin, die eines der neuen revolutionären Lieder übte, herüber.

Geliebter Vorsitzender Mao,
Großer Führer unseres Landes,
Die Sonne unseres Herzens,
Du bedeutest uns mehr, als Mutter und Va-a-a-ter
Va-a-ter
Va-a-ter …

Sie konnte den hohen Ton in Vater nicht erreichen, und deshalb wiederholte sie immer wieder und wieder Va-a-ter … Va-ter, wie eine Schallplatte mit einem Sprung.

Wie konnte jemand mir mehr bedeuten als mein Vater? Würde der Vorsitzende Mao mir erlauben, ihm Zöpfchen zu binden?

Ich fing an zu kichern bei dem Gedanken wie lauter kleine Zöpfchen, die mit roten und gelben Gummibändern zusammengebunden waren, vom viereckigen Schädel des großen Vorsitzenden abstanden.

Ich streifte ein Gummiband über den ersten Zopf, den ich aus Vaters rutschigem Haar geflochten hatte. Würde sich meine Nachbarin so fröhlich fühlen wie ich jetzt, wenn sie endlich die hohe Note erreicht hatte? Ich wünschte mir, das wäre sehr bald, oder aber, dass sie ein anderes Lied ausprobieren würde.

Ich rieb meine Nase an dem Zöpfchen und atmete tief ein. Er roch nach Desinfektionsmittel, so wie das Krankenhaus. Dieser bestimmte Geruch machte es mir immer leicht, Vater zu finden, wenn wir Verstecken spielten.

Ein lautes Krachen und Klirren aus der Küche schreckte mich auf. Das Geräusch von fließendem Wasser war weiterhin zu vernehmen, aber das Kratzen des Spatels im Wok war verstummt. Mein Herz sank. Mutter hatte schon wieder eine Essschüssel zerbrochen, die zweite in dieser Woche. Ich sah sie vor mir, wie sie ganz tief einatmete und ihre Lippen aufeinanderpresste, um ihren Ärger zu kontrollieren. Ihre schlechte Laune machte mich immer nervös. Und nun kühlte mich der Sessel auch nicht mehr, und meine ärmellose weiße Baumwollbluse klebte an meinem verschwitzten Rücken. Vater sagte, dass heißes Wetter jeden reizbar machte. Aber Mutter war nun schon seit dem Winter so.

Vater hörte auf zu lesen und tätschelte mir sanft die Schulter. Als ob er wüsste, wie ich mich fühlte, streckte er die Hand zu dem großen rechteckigen Radio aus, das auf dem runden Beistelltisch stand. Augenblicklich war unsere Wohnung von amerikanischen Folksongs erfüllt. Ich wippte zur Melodie und wurde gleich wieder fröhlich. Es muss etwa halb sieben gewesen sein, denn um diese Zeit spielte Voice of America zwischen den englischen Nachrichtensendungen immer leichte Musik.

Ich nahm nun ein rosafarbenes Gummiband von meinem Handgelenk und band damit Vaters zweiten Zopf zusammen. Nun sah er aus wie ein Clown im Zirkus.

„Papa, ich werde nett sein. Heute bekommst du nur zwei.“

„Dann erinnere mich aber daran, dass ich sie nicht vergesse.“ Vater blickte auf seine Armbanduhr. „In zwei Stunden muss ich operieren, und ich möchte nicht wieder mit Zöpfchen im Krankenhaus erscheinen.“ Er brach in tiefes lautes Gelächter aus. Ich fing auch an zu lachen.

„Natürlich, Papa.“ Ich blickte ihm geradewegs in seine freundlichen Augen und konnte wirklich nicht verstehen, warum manche Kinder auf ihre Füße blickten, wenn sie mit ihren Vätern sprachen.

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Vater hatte mit meinen Englischstunden begonnen, als ich sieben war. Ich hasste es, mir all die Regeln für die englische Sprache zu merken, etwa für die Endungen s, es oder ies. Aber aussprechen tat ich die englischen Wörter gerne. Sie hörten sich genauso an wie die Frösche, die hinter dem Krankenhaus quakten. Während meines Unterrichts mit Vater erzählte er mir Geschichten aus Amerika, die er wiederum von seinem amerikanischen Lehrer gehört hatte. Und er brachte mir englische Lieder bei. Aber was mir am besten gefiel, war, dass ich während dieser Stunden Vaters ganze Aufmerksamkeit für mich allein hatte, abgesehen von wenigen Unterbrechungen durch meine Mutter.

Wir begannen den Unterricht oft mit dem Bild in dem schweren Goldrahmen über dem Kaminsims. Wir gingen hinüber zum Kamin und auf Zehenspitzen versuchte ich, das Bild zu greifen. „Heute staube ich es ab, Papa.“

Vater nahm das Bild ab und reichte es mir. Langsam fuhr ich mit einem blauen Seidentaschentuch über das Glas. Darunter war eine Fotografie einer langen orangefarbenen Brücke, die in den Wolken lag. Ich träumte immer, mit diesen Wolken mitzufliegen.

„Papa, warum sind da so viele Kabel über der Brücke?“

„Sie sind dafür da, die Hängebrücke zu stabilisieren.“ Er nahm mir das Bild ab und hängte es wieder über den Kaminsims. Dann hob er die Medizin-Zeitschrift, die unter seinen Ledersessel gefallen war, auf und setzte sich.

Ich kletterte neben ihn. „Es heißt – ich weiß es, ich weiß es – sus-pen-sion1.“ Nachdem ich das schwierige englische Wort ausgesprochen hatte, sprang ich auf und ab.

„Vorsicht. Du fällst gleich runter.“ Vater hielt mich fest.

„Aber du kannst mich doch immer wieder zusammenflicken, oder?“ Ich blinzelte ihm zu.

Vater lächelte. „Erinnerst du dich an den Namen der Brücke?“

„Of course. It’s called the Golden Gate Bridge in San Francisco, America2.“ Stolz sagte ich diesen ganzen Satz auf Englisch ohne einmal Luft zu holen.

„Very good3.“ Vater tätschelte meine Schulter.

Ich hatte die Geschichte schon oft gehört. Dr. Smith hatte Vater dieses Bild als Abschiedsgeschenk gegeben, bevor er wieder nach San Francisco zurückgegangen war. Und er hatte Vater eingeladen, nach Amerika zu kommen und dort in einem Krankenhaus in der Nähe der Golden Gate Bridge zu arbeiten. Aber Vater hatte sich entschieden zu bleiben und beim Aufbau des neuen China zu helfen.

Das Gebäude, in dem wir jetzt eine Wohnung hatten, bewohnte Dr. Smith früher komplett allein. Und was jetzt unsere ganze Wohnung war, diente ihm früher als Wohn- und Arbeitszimmer. Und hier war es auch, wo Dr. Smith meinem Vater und anderen Ärzten westliche Medizin gelehrt und Geschichten von seiner Heimatstadt an der Golden Gate Bridge erzählt hatte. Vater erinnerte sich gern an diese Geschichten, und erzählte sie wieder und wieder.

„Papa, ich weiß, warum du das Bild in den dicken goldenen Rahmen getan hast. Weil die Brücke so schwer ist!“, rief ich und musste laut lachen.

Vater lachte auch.

„Ling!“, rief Mutter aus der Küche. „Wie oft muss ich dir noch sagen, dass du nicht so laut lachen sollst?“ Das Geschirr klapperte missbilligend.

Vater hielt sich die rechte Hand vor den Mund.

Auch ich hielt mir schnell die Hand vor den Mund, so wie Mutter es mir beigebracht hatte, obgleich ich gar nicht mehr lachte. Ich konnte nicht verstehen, warum Vater mein Lachen gefiel, Mutter aber nicht.

Sie nörgelte oft an mir herum: Ich lachte zu laut und vergaß beim Lachen, die Hand vor den Mund zu halten und zeigte damit auf unanständige Art meine Zähne. Ich vergaß, die Beine übereinanderzuschlagen, wenn ich mich setzte, und den Rock zurechtzuziehen. Ich redete zu viel. Ich aß zu schnell. Meine Füße waren zu groß, und mein Haar war zu trocken.

Ich hätte ja versuchen können zu lachen, ohne meine Zähne zu zeigen. Aber die Größe meiner Füße, die fast so groß waren wie ihre, konnte ich nicht ändern. Und was sollte ich denn wegen meiner verknoteten und zu trockenen Haare tun? Ich aß schnell, weil ich Essen liebte. Und wenn ich so kleine Häppchen wie Mutter zu mir genommen hätte, würde es die ganze Nacht dauern, bis ich aufgegessen hatte. Und obendrein wäre ich dabei die ganze Zeit hungrig. Ich wünschte mir so sehr, dass sie mich einfach so liebte, wie ich nun mal war, so, wie Vater das tat.

Ich glaubte, Mutter war unzufrieden mit mir, weil sie niemals eine Tochter gewollt hatte. Sie hatte unserer Nachbarin, Frau Wong, erzählt, dass sie versucht hätte, noch einen Sohn zu bekommen, wenn sie nur jünger gewesen wäre.

Aber Vater liebte mich. Ich war sein Ein und Alles.

Mutter kam mit einem Bambustablett ins Wohnzimmer. Ich beobachtete sie, während sie an den Esstisch trat. Ihre weiße Spitzenschürze war um ihre schlanke Taille geschlungen und verbarg einen Teil ihres schwarzen Seidenkleides. Wie immer war ihr seidiges schwarzes Haar ordentlich nach hinten gesteckt, jede Haarsträhne genau an ihrem Platz. Ihre Perlenkette schimmerte im letzten Licht des Tages, das durch die Fenster kam. Der Duft ihres Jasminparfüms wehte zu mir herüber. Sie war sehr viel schöner als die Frau auf den Milchpulverdosen, die uns Vaters Freunde in Amerika schickten. Wie konnte ich bloß jemals so wunderschön und perfekt werden wie sie?

Mutters Augen verengten sich, als sie zu mir herübersah.

„Ling, du bist wirklich zu alt, um noch mit den Haaren deines Vaters zu spielen. Gleich nach der Stunde machst du sofort die Zöpfe wieder raus.“

Mein Bauch verhärtete sich. Es war Vaters Haar, und er hatte mir nicht gesagt, dass ich zu alt wäre.

Mutter stellte die blauen Reisschalen, die mit kleinen Lotusblumen verziert waren, auf das Tablett, eine neben die andere. Ich erinnerte mich, wie sie mit mir geschimpft hatte, als ich die Schalen ineinander gestellt hatte.

Wie konnte ich bloß Mutters Regeln lernen, sodass sie nicht immer unzufrieden mit mir war?

Sowie Mutter aus dem Zimmer war, streichelte Vater meinen Rücken und flüsterte: „Deiner Mutter gehen zur Zeit viele Dinge durch den Kopf, die sie bedrücken. Du musst geduldig mit ihr sein. So, und jetzt beginnen wir mit den neuen Wörtern.“

Ich wollte Vater fragen, was es war, das Mutter bedrückte. Vielleicht weil sie einen Jungen gewollt hatte? Aber ich hatte Angst, sie würde meine Frage in der Küche hören.

Ich bemühte mich sehr, die neuen englischen Wörter, die Vater mir vorsagte, richtig auszusprechen. „Pick, pike, big, beg, dig4.“ Und wieder musste ich an das Quaken der Frösche denken.

„Fountain, mountain5 …“

Ich sah zu ihm hoch und musste wieder loslachen – ich hatte nämlich seine Zöpfchen ganz vergessen.

1Auf-häng-ung

2Natürlich. Sie heißt Golden Gate Bridge in San Francisco, Amerika.

3Sehr gut.

4Wählen, Hecht, groß, bitten, graben.

5Brunnen, Berg …

Verschwendung ist ein grosses Verbrechen

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Der Sommer endete damit, dass es drei Wochen lang ununterbrochen regnete. Überall roch es modrig. Wenn ich die schlammigen Straßen entlangging, versuchte ich, nicht auf die Propagandaplakate zu treten, die der Regen von den Wänden gewaschen hatte. Und ich verabscheute es, mir die Hände schmutzig machen, wenn ich das schmierige Papier von meinen Schuhen abziehen musste.

Mutter hatte die Bambusmatte in meinem Bett durch eine Baumwollmatratze ersetzt.

Eines grauen Herbstnachmittags kamen ein fremder Mann und eine fremde Frau in unsere Wohnung, während Vater im Krankenhaus war. Mutter stellte die Frau als die Sekretärin der kommunistischen Partei in der Stadt vor und den Mann als Genossen6 Li.

Die Frau hatte kurze Beine und lange Arme. Ihre schlabbrige blaue Hose war über ihren braunen Gummistiefeln aufgerollt. Sie und Genosse Li hatten ihre Schuhe nicht ausgezogen und während sie durch unsere Wohnung gingen, hinterließen sie überall dreckige Schuhabdrücke.

Als sie durch das Wohnzimmer zum Kamin gingen, klopfte die Parteisekretärin mit einem eingerissenen Fingernagel gegen unsere blaue Blumenvase auf dem Kaminsims. „Ist das was Ausländisches?“, fragte sie mit nasaler Stimme.

Ohne Mutters Antwort abzuwarten, drehte sie sich um und verschwand im Schlafzimmer meiner Eltern. Genosse Li folgte ihr. Die Beine seiner blauen Militärhose hingen an ihm herunter wie schlaffe Ballons. Im Schlafzimmer öffnete die Frau den Schrank und rieb den Stoff von Mutters Kleidern zwischen ihren dicken Fingern.

Ohne die Schranktür wieder zu schließen, ging sie weiter in mein Zimmer. Sie strich über die gelbe Seidendaunendecke, die auf meinem Bett lag. Die Schwielen an ihrer Hand blieben an den gestickten Pfingstrosen hängen.

Ich blieb dicht bei Mutter, die den beiden gefolgt war. Sie hatte ihr Lächeln aufgesetzt, das für Besuch reserviert war, aber sie rieb dabei die ganze Zeit am dritten Knopf ihrer weißen Bluse, etwas, das sie nur tat, wenn sie beunruhigt war.

Als die Parteisekretärin nun in Richtung Küche ging, winkte sie den Genossen Li zu sich. „Nun komm schon, lass mich nicht die ganze Arbeit allein machen.“

In der Küche angekommen begann Genosse Li mit einem Essstäbchen in unserem Reiskrug herumzustochern. In Vaters Arbeitszimmer griff er sich Vaters elfenbeinerne Zigarettenspitze und drückte sie, als ob er erwartete, dass gleich eine Zigarette herauskatapultiert käme. Vielleicht hatte er so etwas noch nie zuvor gesehen. Es war ein besonderes Geschenk für Vater von Dr. Smith aus Amerika.

Die Parteisekretärin drehte einige von den Büchern auf den Kopf und schüttelte sie. Notizzettel und Lesezeichen fielen wie tote Blätter auf den Fußboden. Sie zeigte darauf und gab Genosse Li den Befehl: „Sammle die ein, die nehmen wir mit.“

Genosse Li ging in die Hocke, hob die Zettel und Lesezeichen auf und stopfte sie in die großen Taschen seiner Armeejacke.

Die Notizen waren auf Englisch geschrieben. Ich verstand nicht, warum sie diese Notizen haben wollte. Vater hatte viele Stunden damit verbracht, diese Bücher zu lesen und sich Notizen zu machen. Ich war mir sicher, dass er nicht begeistert davon wäre, wenn er gesehen hätte, wie Genosse Li sie zusammengeknüllt hatte.

„Alle Schuhe untersuchen!“, befahl die Parteisekretärin.

Am Wohnungseingang nahm Genosse Li Vaters braune Lederschuhe aus dem Regal. Mit dem Knöchel klopfte er auf die Absätze, dann blickte er in die Schuhe, bevor er sie wieder ins Regal zurückstellte. Wonach könnte er denn wohl suchen?, fragte ich mich.

Nachdem sie gegangen waren, schloss Mutter die Tür ab und warf all die Kleidung, die sie berührt hatten, ins Spülbecken, sogar ihr Seidenkleid. Ich fragte sie, ob sie das tat, weil die beiden schmutzige Hände gehabt hatten.

Als Antwort zischte sie nur: „Stell jetzt keine Fragen!“

Wenn Mutter nicht gewollt hatte, dass sie unsere Sachen anfassen, warum hatte sie es denn dann zugelassen?

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An dem folgenden Wochenende räumte Vater die Möbel und Bücher aus seinem Arbeitszimmer, und quetschte die Bücher in die Bücherregale beim Kamin. Mutter erzählte mir, dass Genosse Li ab jetzt in Vaters Arbeitszimmer wohnen würde.

Während Vater die Tür zwischen unserem Wohnzimmer und dem Arbeitszimmer zunagelte, fragte ich: „Wer ist Genosse Li? Und wieso lässt du ihn hier einziehen?“

Mit ernstem Gesichtsausdruck schlug Vater den nächsten langen Nagel in die Tür. „Er ist der neue Politbeauftragte für das Krankenhaus und braucht eine Unterkunft.“

„Was macht ein Politbeauftragter?“, fragte ich.

„Er lehrt uns die Ideen des Vorsitzenden Mao. So, und jetzt lass mich das zu Ende bringen.“ Mit strengem Blick schraubte er einen Messingriegel auf den oberen Teil der Tür. Und mir war klar, dass ich keine weiteren Fragen stellen durfte.

War Genosse Li also ein Lehrer? Müsste Vater sich jetzt von ihm unterrichten lassen? Aber wer sollte denn klüger sein als Vater?

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In der darauffolgenden Woche wurde Vaters Arbeitszimmer zu Genosse Lis Zu Hause. Um in sein neues Zu Hause zu kommen, brach er ein Loch in die Wand, die zum Treppenhaus führte, und baute dort eine Eingangstür ein. Dann beklebte er die gesamte Tür mit Lehrsätzen des Vorsitzenden Mao. Die Tür sah nun aus wie die politischen Wandzeitungen7, die inzwischen in der ganzen Stadt an Ständen, an Wänden und an Mauern hingen.

Ich hatte Angst, dass Genosse Li jetzt ständig unsere Sachen durchstöbern würde. Aber in jenem Herbst betrat er unsere Wohnung nicht wieder. Er grüßte immer freundlich, wenn ich im Treppenhaus an ihm vorbeikam. Eine gute Sache hatte das Ganze auch, denn Mutter schimpfte mich jetzt nicht mehr laut aus. Und so hatte ich mich schon bald daran gewöhnt, dass er neben uns wohnte.

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Als der erste Schnee den Boden bedeckte, schrieb Genosse Li einen Lehrsatz des Vorsitzenden Mao auf ein großes Plakat und hängte es an eine Wand unseres Gebäudes.

Verschwendung ist ein großes Verbrechen.
Hebt die Rohstoffe auf, um ein neues China zu bauen
.

Am nächsten Tag hatte jemand den Heizungskessel im Keller ausgestellt, und somit hatten wir weder Heizung noch heißes Wasser mehr in unserem Gebäude. In unserer Wohnung war es so kalt, dass wir während des Tages mehrere schwere Baumwolljacken übereinander trugen. Das Schlimmste war jedoch das Baden. Einmal in der Woche kochte Mutter Wasser auf dem Herd und mischte es mit kaltem Wasser in einem großen Holzbottich, damit ich darin ein Bad nehmen konnte. Sowie ich meine Winterkleidung auszog, war ich übersät von Gänsehaut. Wenn das Wasser zu heiß war, musste ich warten, bevor ich in den Bottich steigen konnte. Und wenn es gerade kalt genug war, um hineinzusteigen, war es, bis Mutter damit fertig war, mich einzuseifen, schon wieder kalt geworden.

Ich wehrte mich gegen das wöchentliche Bad, bis eines Tages Frau Wong hörte, wie wir stritten. Sie lud mich ein, in ihrem Badezimmer zu baden, denn sie hatten eine richtige Wanne und ein elektrisches Heizgerät, das wie ein Flugzeug geformt war und das ganze Badezimmer warm machte. Von da an war ich jeden Samstag ein glückliches kleines Teigtäschchen, das in warmer Suppe schwamm.

Die Wongs waren die einzige Familie auf dem Gelände, die über ein elektrisches Heizgerät verfügte. Frau Wong hatte es gekauft, nachdem Genosse Li die Heizung ausgestellt hatte. Viele Nachbarn auf dem Gelände kamen, um sich das Gerät anzusehen. Genosse Li gefiel das gar nicht. Er sah sich das Heizgerät auch nicht an, und ich hörte, wie er zu anderen Mietern sagte, dass er den Wongs das Heizgerät eines Tages wegnehmen würde. Ich fand das ziemlich dumm, denn die Wongs würden sich doch ihr Gerät nicht wegnehmen lassen. Und wann immer sich die Wongs und Genosse Li begegneten, war er Luft für Dr. Wong, und Frau Wong drehte ihren Kopf weg.

Als ich Mutter fragte, warum die Wongs Genosse Li nicht mochten, antwortete sie ernst: „Wer hat das denn behauptet? Sag nie wieder solche Sachen.“

„Können wir ein Heizgerät kaufen?“, fragte ich als Nächstes.

Mutter zeigte mit dem Finger nach oben zur Wohnung der Wongs. „Nur eine Familie, die Verwandtschaft im Ausland hat, kann sich solch teure Geräte leisten.“

Dr. Wongs Bruder schickte ihnen von Hongkong jede Woche Geld und Pakete. Wir bekamen auch Post aus dem Ausland, aber zu Beginn des Winters, nachdem einer der Briefe geöffnet bei uns ankam, sagte Mutter, dass Vater seinen Freunden nicht mehr schreiben sollte.

Wieso machte jemand unsere Post auf? Hofften sie, Geld in den Briefen zu finden? Und wenn sie wüssten, dass Vaters Freunde niemals Geld schickten, würden sie dann damit aufhören?

Einmal, als ich an Genosse Lis Wohnung vorbeiging, war die Tür geöffnet. Ich linste hinein und sah einen Stapel Briefe auf einem Stuhl liegen. Der eine, der ganz oben lag, war an den Zahnarzt gerichtet, der mir ein Loch gefüllt hatte. Dieser Zahnarzt war vor kurzer Zeit zum Volksfeind ausgerufen worden.

War etwa Genosse Li derjenige, der die Briefe öffnete? Könnte das sein?

6Genosse bezeichnet eigentlich einen Kameraden oder Gefährten. Genosse wird als politische Form der Anrede besonders unter Mitgliedern und Aktivisten sozialistischer und kommunistischer Parteien verwendet.

7Wandzeitungen sind eine zu einem bestimmten Thema zusammengestellte Informationsquelle in Form von Zeitungsausschnitten und handgeschriebenen Parolen oder Artikeln, die an Wänden angebracht werden. Mit Meine Erste Wandzeitung leitete Mao Zedong im Jahr 1966 die Kulturrevolution ein.

Tauschhandel mit Genosse Li

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Als das Wetter im Frühjahr 1973 wieder wärmer wurde, fiel in unserem Gebäude häufig der Strom aus. Als dies an einem heißen Nachmittag gleich zweimal nacheinander passierte, verließ ich unsere Wohnung, um nach einem kühleren Plätzchen Ausschau zu halten. Während ich die Treppe hinunterlief, grüßte mich Genosse Li vom Treppenabsatz.

„Wie geht es dir heute, Ling?“, fragte er mit einem Affengrinsen.

„Hallo, Genosse Li.“ Da Mutter nicht bei mir war, beschloss ich, dass es in Ordnung wäre, mit ihm zu sprechen. „Mir ist so heiß! Der Strom ist wieder ausgefallen. Ohne den Ventilator jucke ich mich wegen der Hitzepickel zu Tode.“

„Du musst eben außerhalb deines Treibhauses wachsen, kleine Blume!“ Er kratzte sich am Hals. „Wir müssen ein wenig Schmerz und Not ertragen, um ein neues China zu erbauen.“

Eigentlich wollte ich ihm erklären, dass mein Hitzeausschlag mehr als wenig Schmerzen machte, aber Mutter hatte mir beigebracht, dass es unhöflich ist, Erwachsenen zu widersprechen.

„Der Strom, den wir sparen, wird dazu genutzt, mehr Eisen und Stahl für die Revolution herzustellen.“ Er wedelte mit der Hand wie ein Zauberer. „Schon bald werden wir die nächste Supermacht sein!“

„Was ist eine Supermacht?“, fragte ich.

Er lachte laut. „Eine mächtige Nation, die alles besitzt, was gebraucht wird, insbesondere Elektrizität.“

„Wirklich?“, fragte ich.

Ich wollte gerade fragen, wie lange es noch dauerte, bis wir eine Supermacht wären, als er sagte: „Wir können doch unsere kleine Blume nicht welken lassen, oder? Ich seh mal, was wir tun können, um die Revolution zu beschleunigen.“

Ich dankte ihm mit meinem besten Lächeln. Ich konnte es kaum abwarten, wieder Strom in unserer Wohnung zu haben.

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Inzwischen hatte sich mein Englisch weiter verbessert, und ich konnte schon viele kurze Sätze sagen und schreiben. Aus Vaters alten Zeitschriften hatte ich Tiere, Menschen, Häuser, Essen und Blumen ausgeschnitten und auf Papier geklebt, um kleine Bücher daraus zu machen.

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Eines Abends, als Vater Voice of America hörte, las ich in meinem kleinen Buch A Story About a Happy Girl8.

A girl lives near the Golden Gate Bridge.
She wears a pretty red dress.
She has curly brown hair.
She has big eyes.
She likes to eat ice cream.
She plays with her dog on the green lawn
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Plötzlich ertönte das geheime Klopfzeichen, das ich mit Genosse Li vereinbart hatte.

Während ich zu der Tür rannte, die unser Wohnzimmer von seinem Wohnbereich trennte, machte Vater sofort das Radio aus.