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Originalcopyright © 2020 Südpol Verlag, Grevenbroich

Autor: Simak Büchel

Illustrationen und Gesamtgestaltung: Corinna Böckmann

E-Book Umsetzung: Leon H. Böckmann, Bergheim

ISBN: 978-3-96594-052-9

Alle Rechte vorbehalten.

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Für Malin, Henrik und Danny!

1. Kapitel

Es goss wie aus Eimern und die schweren Tropfen schlugen Krater in den aufgeweichten Boden zwischen den Gräbern.

Unmittelbar über Samuel Smuts’ Kopf breitete ein moosbewachsener Engel seine Schwingen aus. Trotzdem rannen dem Agenten Regentropfen am glattrasierten Gesicht hi­­nab, das blonde Haar klebte strähnig an seinen Schläfen. Smuts hatte die Augen zusammengekniffen, um sich auf die Stimme in seinem Ohr zu konzentrieren.

„Die Zeit drängt, Smuts!“

Es knisterte in dem knopfartigen Kommunikator und Samuel presste den Finger gegen seine Ohrmuschel. Bei der kleinsten Bewegung seines Oberkörpers knarzte das Le­­der seines wadenlangen schwarzen Mantels.

Mimesis ist kurz davor zuzugreifen, der Wagen ist ge­­rade aufgebrochen. Es bleiben uns weniger als zwanzig Mi­­­nu­­­­­ten, um den Jungen zu kontaktieren! Nur noch ein Durchgang mit dem Auserwählten ist nötig, dann ist das Projekt vollendet. Hören Sie, Smuts? Wir müssen den Jungen abfangen, bevor die ihn in die Finger bekommen, er ist unsere letzte Chance, einen Virus einzuschleusen!“

Die Stimme in seinem Ohr klang dunkel und herrisch, Samuel zwang sich, erst einmal tief durchzuatmen.

„Aber“, begann er dann, „ist der Junge auch wirklich be­­­­reit? Ich meine, nach allem, was er schon durchgemacht hat.“

Ein wildes Schnauben ertönte im Kommunikator. „Be­­reit? Was spielt das für eine Rolle? Seitdem Annabel ver­­­­­­­schwunden ist, macht Projekt Mimesis gewaltige Fort­schritte. Es ist nicht auszudenken, was erst passiert, wenn die Maschinen auf die Menschheit losgelassen werden, Smuts. Es ist völlig egal, ob der Junge bereit ist, er ist unsere letzte Chance! Die allerletzte!“

Smuts seufzte. Sein Blick glitt die glänzend kalten Fassaden der Hochhäuser hinab, bis er die Kronen der uralten Bäume und dann die Grabkreuze des Friedhofs erreichte. Am Ende des Kieswegs, an dessen Rand der Agent im Schutz des steinernen Engels stand, sah er den Jungen. Voller Zweifel atmete Samuel tief durch, denn der Junge wirkte nicht gerade wie ein Auserwählter.

„Ich weiß nicht recht“, murmelte er.

„Was wissen Sie nicht, Smuts? Ob wir die Möglichkeit nutzen müssen, die Welt vor Mimesis zu retten? Ob wir Doschs Schule sabotieren sollen? Ob Annabel es verdient, dass wir ihr Verschwinden aufdecken? Was, Smuts? Was in drei Teufels Namen wissen Sie immer noch nicht?“, bellte die Stimme in seinem Gehörgang.

„Ich weiß einfach nicht, ob der Junge stark genug für diese Aufgabe ist“, zischte er und wischte sich die Regen­tropfen aus dem Gesicht. Wieder knirschte der Ledermantel.

„Samuel.“ Die Stimme seines Vorgesetzten klang schneidend, ihm war fast, als könne er dessen heißen Atem im Nacken spüren. „Er ist der letzte Name auf der Liste, er ist Doschs Schlussstein im Mimesis-Mosaik. Wenn wir ihn in den nächsten zehn Minuten nicht auf unsere Seite ziehen, dann ist die Welt, wie wir sie kennen, verloren!“

Samuel Smuts schluckte schwer und betrachtete aus der Ferne die Gestalt des Jungen, der Projekt Mimesis zur Vollendung führen sollte – er war also ihre letzte Chance, das Unheil abzuwenden. Der Regen fiel unbeirrt weiter in kalten Tropfen aus dem bleigrauen Himmel und sickerte in seinen Nacken. Nein, der Junge sah so gar nicht wie ein Auserwählter aus, wie er dort mit dem Kopf nach unten von ein paar Typen festgehalten wurde.

2. Kapitel

Jorin Flugbrands Welt stand Kopf, seine gletscherwasserblauen Augen blitzten vor Wut. Unter sich sah er seinen zusammengeknüllten Schlafsack und darauf die Ausbeute an geschnorrtem Kleingeld der letzten Tage. Gleich dane­ben lagen der zerschlissene Rucksack und Jorins Hab­selig­keiten, die sich über den Boden verteilten: ein Dietrich­set, seine Stirnlampe, ein rostiges Taschenmesser, ein hell­blauer Plastikstreifen mit seinem Namen darauf und ein zerknittertes, angesengtes Foto in einer Klarsichtfolie. Es zeigte Jorins verstorbene Eltern inmitten einer Schar von Forschern, die in weiße Kittel gekleidet waren. Seit Edda und Cord Flugbrands tragischem Laborunfall, der sich kurz nach Jorins zweitem Geburtstag zugetragen hatte, war dieses Foto das einzige Erinnerungsstück, das ihm von den beiden geblieben war. Alles andere hatte der Brand zerstört. Wie einen Schatz hatte Jorin das Foto gehütet, heimlich über dessen Kanten gestrichen, wann immer es Ärger mit seiner Pflegefamilie gab. Von klein auf waren seine Tage durchgetaktet gewesen wie in einer Fabrik, vom Aufstehen über die Pflichten im Haus bis zum Zähneputzen. Jeden seiner Schritte hatten die Pflegeeltern überwacht. Dabei war nichts, was Jorin tat, gut genug für ihre Ansprüche. Der kleinste Fehler wurde bestraft, mit Hausarrest und Eisduschen. Und als vor Wochen seinem Pflegevater die Hand im Streit ausgerutscht war, hatte dies das Fass zum Überlaufen gebracht. Mit glühender Wange hatte Jorin seine Kostbarkeiten und einen Armvoll Klamotten zusammengerafft und war abgehauen.

Und nun spürte Jorin, wie ihm auch noch die letzten Münzen aus den Hosentaschen glitten und an seinem Gesicht vorbei zu Boden fielen.

„Ist das etwa alles, Jo?“, fragte eine schnarrende Stimme auf Höhe seines linken Fußknöchels, woraufhin Jorin das Kinn auf die Brust legte, um zum Sprecher aufsehen zu können. „Ob das alles ist, Fleischklops, hab ich gefragt?“

Jorin nickte.

„Verdammter Orang-Utan, was wiegst du eigentlich?“, ächzte eine zweite Stimme an seinem rechten Fuß und Jorins Körper begann bedrohlich hin und her zu wanken. Drei Jungs aus Aidens Gang hatten ihn an den Beinen gepackt und auf den Kopf gestellt, während ihr Boss die Münzen aufsammelte, die vor dem Gittertor der Gruft auf den Boden gepurzelt waren. Nachdem das letzte Geldstück in Aidens Tasche verschwunden war, durchwühlte er noch einmal Jorins Besitz. Als seine dreckigen Finger nach dem Foto griffen, lief ein Beben über Jorins Gesicht.

„Hey Aiden, warum nehmt ihr nicht einfach das Geld und haut ab?“, fragte er und zwang sich zur Ruhe, obwohl er wie eine übergewichtige Fledermaus kopfunter hing.

„Was’n los, Jo?“, krächzte Aiden und faltete das Foto auf. „Willste nich’, dass ich mir die Penner hier angucke?“

Die Gang fand Jorin urkomisch, seine lehmbraune Prinz-Eisenherz-Frisur, die etwas zu lang geratenen Arme und Jorins Pausbacken, vor allen Dingen jetzt, da er zu stram­­peln begann.

„Ich will mich hier nur ungern als Ratgeber aufdrängen“, sagte plötzlich eine Männerstimme und das Lachen der Jungs brach ab, „aber ich an Ihrer Stelle würde mir Jorins Vorschlag ernsthaft durch den Kopf gehen lassen.“ Scheinbar aus dem Nichts war eine hochgewachsene Gestalt in schwarzem Ledermantel an die Gruft herangetreten. „Ich finde nämlich, dass es durchaus vernünftig klingt, was der junge Mann Ihnen da unterbreitet hat.“ Samuel Smuts Gesicht wirkte kalt, wie aus Stein gemeißelt, während Regen von seiner Nasenspitze und den wie zum Duell neben dem Körper gehaltenen Händen troff. Von seiner Gestalt ging eine Bedrohung aus, wie von einem leicht mit den Brustflossen fächelnden Barrakuda.

„Was willst’n du?“, fauchte Aiden und baute sich vor dem Neuankömmling auf. „Ärger, oder was?“

„Was ich will?“, wiederholte Agent Smuts und seufzte. „Es wäre mir ein Fest, wenn ich ein paar Minuten mit Jorin sprechen könnte, wissen Sie, es geht um die Rettung der Welt. Also, wenn Sie so gütig wären, das Geld einzupacken und sich zu verziehen ...“

Aidens Mund klappte auf, er wurde das Gefühl nicht los, der Mann mache sich über ihn lustig, dabei hatte er nur die Hälfte von dem verstanden, was dieser gesagt hatte.

„Sonst was, he?“ Aidens Augenlid begann zu flackern, während sich über Samuels Gesicht der Hauch eines Lä­­chelns legte, unverkennbar ein Barrakuda-Lächeln. Dann hatte sich der Anführer der Gang wieder im Griff, ließ das Foto achtlos fallen und schnippte mit den Fingern. „He, Jungs!“

Sofort ließen die Kerle Jorin zu Boden gleiten und pflanz­­­ten sich neben ihrem Boss auf.

Samuel sah die vier zerrissenen Gestalten nacheinander an und schüttelte den Kopf, ganz leicht nur. „So, und jetzt holen wir alle einmal tief Luft und zählen bis drei. Eins!“ Agent Smuts hob die Hände bis auf Brusthöhe, schlug bei Zwei mit der Linken das Leder seines Mantels zurück und hielt bei Drei eine matt schimmernde Pistole in der Rechten.

Einen Augenblick lang herrschte Totenstille auf dem Friedhof, nur das Tröpfeln des Regens auf Smuts’ Leder­mantel war zu hören.

„Oh Mist, Aiden, der Typ hat ’ne Waffe!“

„Lass uns verschwinden, Mann!“

„Los jetzt! Der hat sie doch nicht alle!“

Schritt für Schritt wich die Gang vor Samuel zurück, drehte sich schließlich hinter der Gruft um und stürzte Hals über Kopf davon.

„Ach, diese Jugend von heute“, sagte der Agent, steckte die Waffe zurück ins Holster und half Jorin auf die Beine. Eindringlich musterte er den durchnässten Jungen, dessen Finger sich um ein vergilbtes Foto schlossen, und legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Wir müssen reden, Jorin.“

3. Kapitel

Aus der Nähe sah Jorin Flugbrand noch weniger wie der Aus­­­erwählte aus, seine Statur erinnerte an einen jungen Orang-Utan, was womöglich an dem kurzen, stämmigen Hals auf dem tonnenförmigen Rumpf liegen mochte oder den etwas zu lang wirkenden Armen. Außerdem schien sich der Elfjährige die Haare selbst zu schneiden. Nur dieser Blick.

Samuel erschauderte, als er merkte, dass er Jorins un­­­­natür­­lich hartem Blick nicht länger als ein paar Sekunden stand­­halten konnte; die Augen des Jungen hatten die Farbe von rauschendem, milchig blauem Gletscherwasser und strahl­ten so hell, als könnten sie alle Lügen, Masken und Intri­gen durchdringen. Vielleicht hatte er sich doch in ihm ge­­täuscht ...

„Jo“, sagte der Junge und zog die Nase hoch, „einfach nur Jo, niemand nennt mich Jorin.“

„Ausgezeichnet – Jo“, erwiderte der Agent und nickte freundlich, „mein Name ist Samuel Smuts, ich bin im Auftrag der A.KI.A. hier, der Anti-KI-Allianz, die sich im Untergrund formiert hat.“ Er hielt Jorin einen Ausweis vor die Nase und bedeutete dem Jungen, ihm den Kiesweg hinab Richtung Haupttor zu folgen. „Lass uns ein paar Schritte gehen, Jo.“

Argwöhnisch warf Jorin einen Blick zurück auf seine Habseligkeiten, folgte dann aber doch dem Agenten.

„Du musst wissen, dass wir von der A.KI.A. uns dem Wohl der Menschheit verschrieben haben, und nun brauchen wir deine Hilfe in einer etwas heiklen Angelegenheit ...“ Er machte eine Pause, um Jorin die Möglichkeit zu geben, eine Frage zu stellen, aber der sah nur starr vor sich hin.

„Wir möchten dich für einen Undercover-Einsatz gewinnen. Leider drängt die Zeit, sodass ich dir nicht alle Details erklären kann.“ Samuels Blick streifte verstohlen Jorins Finger, die sich um das Foto krampften. „In wenigen Minuten wird sich dein Leben von Grund auf verändern, du kannst dich nur noch entscheiden, ob du auf der Seite der Guten oder der Bösen stehen willst.“ Smuts’ Ledermantel knarzte, während er mitten im Schritt innehielt, um sein Gewicht bedeutungsschwer von einem Bein auf das andere zu verlagern.

„Und Sie gehören zu den ...?“, fragte Jorin.

„Den Guten natürlich, ich dachte, das läge auf der Hand.“

Jorin schnalzte mit der Zunge. „Der schwarze Mantel, die Waffe, Sie haben recht, wie konnte ich nur daran zweifeln, dass Sie einer von den Guten sind“, sagte er spöttisch.

„Cleveres Kerlchen!“ Agent Smuts lächelte. „Du hast ver­­­­mutlich noch nie von Borax Dosch und Projekt Mimesis gehört, oder?“ Er wartete Jorins Antwort gar nicht erst ab, sondern sprach gleich weiter: „Dosch gibt sich gern als Menschenfreund und Gönner, er ist ziemlich häufig in den Nachrichten. Sein Projekt betreibt eine Schule für hilfs­­bedürftige Kinder auf einer entlegenen Insel. Und du bist von ihm höchstpersönlich auserwählt worden, in das Schul­­programm aufgenommen zu werden. Doschs Wagen ist in diesem Augenblick auf dem Weg hierher, um dich abzu­holen.“

Jorin heftete einen ungläubigen Blick auf den Agenten.

„Die ganze Schulgeschichte ist natürlich nur Tarnung“, fuhr Smuts fort. „Projekt Mimesis verfolgt ganz andere Pläne. Finstere Pläne! Eine unserer Agentinnen, Annabel Biron, war dort als Lehrerin tätig, bis sie vor Kurzem spurlos ver­­schwand. Vorher gelang es ihr noch, uns eine Liste zu­kommen zu lassen, mit den Namen der Kinder, die an der Schule aufgenommen werden sollen. Du stehst als Letzter auf der Liste, bist offenkundig ausgewählt worden, um Pro­jekt Mimesis zu vollenden.“ Samuel warf einen hektischen Blick über die Schulter, ihm war, als habe er ein Ge­­­räusch gehört; schließlich fuhr er hastig fort, während er sich näher zu Jorin hinabbeugte. „Für dich, für mich, für die gesamte Menschheit bedeutet die Vollendung von Mimesis eine große Gefahr. Dein Auftrag: Finde heraus, was mit Annabel passiert ist! Wird sie womöglich noch auf der Insel festgehalten?“ Der Agent streckte ihm die Fotografie einer jungen, braunhaarigen Frau entgegen, die mit ihren großen, katzengrünen Augen und dem Mittelscheitel selbst fast wie ein Mädchen aussah. „Annabel weiß, wie Projekt Mimesis zu stoppen ist! Finde sie! Was danach zu tun ist, werden wir dir zeitnah durch­­geben. Ein Schritt nach dem anderen, okay?“ Samuel steckte Annabels Foto wieder ein und schenkte Jorin ein Lächeln.

„Moment mal“, sagte dieser langsam und hob abwehrend eine Hand. „Nur damit ich das richtig kapiere, ich soll in eine Schule gehen, um dort nach einer verschwundenen Lehrerin zu suchen? Echt jetzt? Warum ich?“

Samuel fixierte die hellen Augen des Jungen, biss sich dann aber auf die Lippen. Mit einem Blick auf seine Uhr re­dete er schneller und leiser weiter. „Wenn ich dir zu viel erzähle, kannst du nicht mehr unvoreingenommen rea­­­gieren. Du würdest dich verdächtig machen und das ganze Unterfangen gefährden. Gerade nicht zu wissen ist deine größte Stärke, Jo! Deswegen muss ich dich um dein Ver­trauen bitten. Annabel ist nicht irgendeine Lehrerin, sondern unsere Agentin. Die Schule ist auch nicht irgendeine Schule ... Bedrohliche Dinge gehen hinter ihren Mauern vor sich, es ist äußerst ... gefährlich.“ Mit diesen Worten zog der Agent eine Halskette aus der Tasche, ein ledernes Band, an dem ein Muschelanhänger hing.

„Das hier ist ein hochgradig leistungsfähiger Kommu­nikator“, sagte Smuts, drehte die Muschel aus der silbernen Hal­terung und zeigte Jorin das Meisterwerk technischer Inge­nieurs­kunst. „Stoßfest und wasserdicht! An dieser Ker­­be schaltet man das Sender-Empfänger-Modul ein und steckt sich dann die Muschel ins Ohr. So kannst du jederzeit über einen Verbindungsmann auf der Nachbarinsel mit uns Kontakt aufnehmen. Sollte etwas Unvorhergesehenes ein­treten, sind wir sofort zur Stelle.“

Eine heiße Welle spülte über Jorins Gesicht hinweg, als Samuel ihm das Schmuckstück in die Hand gleiten ließ.

„Auf der Nachbarinsel?“ Jorin schob das Ohrstück des Kom­mu­­nikators zurück in die Halterung, bis es einrastete.

Samuel nickte.

„Etwas Unvorhergesehenes?“, fragte Jorin.

„Na, du weißt schon, ein Angriff, Hinterhalt oder Mord­an­schlag, etwas Unvorhergesehenes eben.“ Der Agent lä­­chelte aufmunternd.

„Mord-an-schlag?!“

„Jo, es ist unheimlich wichtig, dass du kein Sterbens­wörtchen über mich oder unser Treffen verlierst, wenn du gleich abgeholt wirst. Sollte alles gut gehen, werden wir beide uns am Ende wiedersehen. Es geht um nichts weniger als die Rettung der Welt, wie wir sie kennen. Und für dich ...“ Smuts stockte. „Projekt Mimesis darf unter keinen Umständen vollendet werden!“

Mittlerweile hatten die beiden das Haupttor des Alten Friedhofs erreicht und blickten durch das eiserne Gitter auf einen Vorplatz, der an eine stark befahrene Straße grenzte. Jorin holte tief Luft. Er sah auf die Muschelkette und das Foto seiner Eltern hinab und ließ den Blick über den Kies­weg bis zur Gruft schweifen, wo er die letzten Nächte in seinem klammen Schlafsack verbracht hatte. Obwohl der Re­gen etwas nachgelassen hatte, waren seine Klamotten klitschnass.

Eine Insel, dachte Jorin. Undercover-Einsatz, dachte er. Die Rettung der Welt.

Schließlich drehte er sich zu Smuts um und sagte: „Okay, ich mach’s!“

Doch der Agent war wie vom Erdboden verschluckt.

4. Kapitel

„Verdammte Hacke ...“ Jorin Flugbrand stand der Mund vor Staunen offen, als er sich einmal um die eigene Achse drehte, aber von Samuel Smuts fehlte jede Spur. Der Fried­hof lag einsam und verlassen da.

„Smuts?“ Seine Stimme zitterte leicht. Die einzigen Ge­­­räusche, die an Jorins Ohr drangen, stammten vom Ver­kehr und seinem immer schneller schlagenden Herzen.

„He, Smuts!“

War das alles nur ein Tagtraum gewesen? Eine Hallu­zination? Jorin atmete flach und hob seine rechte Hand; als er die Finger öffnete, kam das lederne Band mit der Muschel zum Vorschein. Ungläubig schob er den Anhänger mit dem Daumen hin und her, friemelte den Verschluss auf und hängte sich die Kette um den Hals. Im nächsten Moment fuhr ein Schlag durch seinen Körper. Hinter Jorin hupte ein Auto und noch während er den Kopf über die Schulter drehte, bog eine elegante Limousine auf den Vor­platz des Alten Friedhofs ein.

Der Lack des Wagens strahlte in dem schmelzendsten Perlmuttweiß, das Jorin jemals zu Gesicht bekommen hatte. Die Fenster waren getönt, sodass er nichts im In­neren erkennen konnte, bis die Fahrertür aufging und ein uniformierter Chauffeur ausstieg. Der Fahrer warf einen Blick in Jorins Richtung, versenkte sich kurz in das Dis­play seines Tablets und lächelte dann. Er machte einen ent­schlossenen Schritt auf den Jungen zu und lupfte die Schirm­mütze.

„Jorin Flugbrand, nehme ich an?“

Jo nickte nur und schob das Foto seiner Eltern unauffällig in seine Gesäßtasche. Seit etwa einer halben Stunde kam es ihm vor, als sei er im völlig falschen Film unterwegs – woher kannten auf einmal alle seinen Namen?!

„Jo“, murmelte er, „einfach nur Jo.“

Der Chauffeur setzte sich die Mütze wieder auf, griff mit beiden Händen in die Jackentaschen seiner Uniform und ließ eine Konfettisalve über Jorins Kopf regnen. „Heute ist Ihr Glückstag, junger Mann! Sie haben den Jackpot geknackt, den Vogel abgeschossen! Es ist eine Fügung des Schicksals, ein strahlender Stern steht über dieser Stunde und Fortuna meint es wahrlich gut mit Ihnen! Sie, junger Mann, wurden von Borax Dosch höchstpersönlich ausgewählt, um eine zweite Chance in seiner Mimesis-Schule zu erhalten.“ Diesem Redeschwall ließ der Chauffeur eine zweite Konfettisalve folgen und überreichte Jorin anschließend eine aus kostbarem Papier gefertigte Urkunde, auf der ein goldenes Siegel prangte. Regentropfen perlten von der Oberfläche ab.

„Sie, junger Mann, erhalten ein Vollstipendium, Aus­bil­dung, Unterkunft, Verpflegung – alles inklusive! Ihre Pfle­­­ge­familie wurde bereits informiert. Das Jugendamt sucht nicht länger nach Ihnen. Auch die Polizei war bereit, die Delikte der letzten Monate aus Ihrer Akte zu streichen. Ja, Sie haben recht, das ist der Hammer! Aber sagen Sie nichts, junger Mann, steigen Sie lieber ein, unterwegs wird Ihnen alles Weitere erklärt.“

Jorin zwinkerte einmal, er zwinkerte zweimal, doch der breit grinsende Chauffeur und die perlmuttweiße Li­­mou­sine wollten sich einfach nicht in Luft auflösen.

„I– ich müsste noch meine Sachen holen“, stammelte er und deutete mit dem Daumen über die Schulter.

„Nichts leichter als das, junger Mann!“ Federnden Schrittes begleitete ihn der Chauffeur durch das Haupttor bis zur Gruft, in deren Grabkammer sich Jorin bückte, um das Dietrichset, das kleine hellblaue Armband und den Rest seiner Habe in den Rucksack zu stopfen. Vor­sichtig friemelte er auch das Foto aus der Hosentasche und schob es ins Seitenfach des Rucksacks. Bevor er den Reiß­verschluss zuzog, betrachtete er für einen Moment die Ge­sichter seiner Eltern. Seine Mutter und sein Vater hatten im Moment der Aufnahme nicht zum Fotografen geschaut, sondern sich angelächelt, ihre Handrücken berührten sich leicht. Behutsam strich Jorin über die hellen Ovale ihrer Gesichter, doch bevor die Beklemmung in seiner Brust noch größer werden konnte, zog er den Reißverschluss zu und richtete sich auf.

„Bin soweit“, murmelte er und prüfte ein letztes Mal, dass nichts von ihm in der Gruft zurückblieb.

Mit spitzen Fingern ergriff der Chauffeur Jorins Schlaf­sack, rümpfte die Nase und trug ihn erhobenen Hauptes zum Wagen zurück. Als alles im Kofferraum verstaut war, hielt ihm der Fahrer die Tür zum Rücksitz auf und deutete eine Verbeugung an.

„Und wo bringen Sie mich jetzt hin?“, fragte Jorin.

„Zum Flughafen, junger Mann! Machen Sie sich keine Sor­gen, es wird Ihnen alles erklärt werden.“ Der Chauffeur wies mit seiner behandschuhten Hand ins Innere der Limou­sine und Jorin folgte seiner Aufforderung mit heftig hol­perndem Puls.

Die Sitze des Wagens waren aus cremefarbenem Leder, die Griffe und Konsolen poliertes Wurzelholz. Als Jorin sich in das Polster gleiten ließ, kam er sich auf einmal sehr klein und leichtgläubig und vor allen Dingen ungewaschen vor. Die Tür neben ihm sauste ins Schloss. Kurz darauf rutschte der Chauffeur hinter das Lenkrad und lächelte ihm durch eine schmale Luke zu.

„Möchten Sie etwas trinken, junger Mann?“, fragte er und startete den Wagen.

„’Ne Cola?“, fragte Jorin und zuckte zusammen, als sich in der Seitenverkleidung ein Schiebefenster öffnete und da­­hinter eine Minibar mit Kristallgläsern und diversen Soft­­drinks zum Vorschein kam.

„Bedienen Sie sich.“ Geschmeidig setzte sich der Wagen in Bewegung und alles, was auf dem Friedhofsvorplatz noch an Jorin Flugbrand erinnerte, waren bunte Konfetti­schnip­sel, die in den Pfützen schwammen.

5. Kapitel

Wie versteinert saß Jorin in der Limousine und wagte kaum sich zu bewegen, aus Furcht, den Innenraum mit seinen schlammigen Schuhen oder der durchnässten Jeans zu verdrecken. Ab und zu nippte er an seinem Glas und strich sich ein letztes Konfettifitzelchen aus den Haaren. Das konnte alles nicht wahr sein, vor ein paar Stunden hatte er sich noch aus seinem Schlafsack geschält und sich gefragt, woher er etwas zu essen bekommen sollte. Sein Leben war ein einziges Chaos gewesen, das Jugendamt, die Pflegefamilie, Aiden und die Polizei. Jorin betrachtete den Dreck unter seinen Fingernägeln und schüttelte den Kopf. Und nun sollte sich all das von einem Augenblick auf den nächsten geändert haben? Agent Smuts tauchte auf und bat ihn, einen Undercover-Auftrag anzunehmen. Ein echter Agent! Mit einem Auftrag für ihn, Jorin Flugbrand! Der Wahnsinn!

Wenig später fuhr diese Limousine vor, um ihn in eine Privatschule zu bringen, die auf einer Insel lag.

Jorin kniff sich fest in den Unterarm, um endlich aufzuwachen, aber außer dem roten Abdruck auf seiner Haut änderte sich nichts, alles war echt. Warum nur passierte das ausgerechnet ihm? Am liebsten hätte er das blaue Plas­tikarmband aus seiner Tasche geholt, um es durch seine Finger laufen zu lassen, das tat er immer, wenn er besonders nervös war. Aber ein Blick des Chauffeurs über den Rück­­spiegel hinderte ihn daran.

„Unter Ihrem Sitz finden Sie übrigens einen Koffer, junger Mann, ein kleines Willkommensgeschenk von Borax Dosch.“ Der Fahrer zwinkerte ihm zu.

Jorin stellte das Glas ab, beugte sich vor und entdeckte einen glänzenden, tropfenförmigen Schalenkoffer, der ihn an eine außerirdische Raumkapsel erinnerte. Auf der Ober­seite prangte das gleiche Logo, das auch auf dem Siegel der Urkunde war: ein Insekt, ein wandelndes Blatt, glaubte Jorin, goldfarben auf einem goldenen Kreis. Darum schmiegte sich der Schriftzug PROJEKT MIMESIS. Mehr nicht.

„Da ist kein Schlüssel“, sagte er.

Der Chauffeur wackelte nur mit dem Daumen. „Ver­su­chen Sie’s damit, junger Mann.“

Um den Koffer eingehender zu betrachten, zog Jorin ihn ganz unter dem Sitz hervor. Unterhalb des Haltegriffes war ein rechteckiges, flaches Feld in das Metall der Hülle eingelassen. Probehalber platzierte er die Fingerkuppe seines Daumens darauf und sog geräuschvoll die Luft ein, als das Feld rot aufleuchtete. Ein winziger Scanner nahm seine Arbeit auf, bis die Fläche endlich ihre Farbe änderte und grün vor sich hin glomm. Im Inneren des Koffers klackte es, das Schloss entriegelte sich und der Deckel klappte auf.

Jorin schnappte nach Luft. „Wie krass ist das denn?“