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JADETRÄNE

EIN ROMAN VON ANJA BAGUS

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GEDANKEN DER AUTORIN >> Dieses Buch ist entstanden, weil die Autorin das Spiel »Tsukuyumi - Full Moon Down« so begeisternd fand. Man kann den Roman aber gänzlich ohne Kenntnisse über das Spiel lesen. Umgekehrt geht das selbstverständlich auch.

Wäre aber schade.

Beides.

IMPRESSUM

Tsukuyumi - Full Moon Down ist eine Welt von Felix Mertikat.
Alle Rechte vorbehalten.

ISBN Printausgabe: 978-3-96658-050-2

www.kingracoon.com

Vertriebspartner

www.Tsukuyumi.com

www.cross-cult.de

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>> INHALT

Einführung

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Epilog

Die Oni

Glossar

EINFÜHRUNG IN DIE WELT

Geboren als Herrscher der Nacht, war Tsukuyumi ein mächtiges Götterwesen — ein Kami. Doch er verriet seinesgleichen, als er mit einem Bogen aus Drachenbein und einem Pfeil aus Licht die Göttin der Nahrung tötete. Zur Strafe wurde er auf ewig an den Nachthimmel verbannt.

Äonen der Einsamkeit ließen den Kami ermüden, bis er schließlich einschlief und umhüllt von Gestein, Asteroiden, Kometen und Sternenstaub zu dem wurde, was die Menschen Mond nannten.

Die Menschheit begann die Kami, von denen sie einst erschaffen wurden, zu fürchten und zog aus, um die alten Götter zu vernichten. Als diese begriffen, was geschah, war es bereits zu spät: Ars Humana — die Ära des Menschen auf der Erde war angebrochen.

Die Geheimnisse um die Kami wurden von Generation zu Generation weitergegeben.

Technischer Fortschritt machte den Mond immer zugänglicher. Im Jahr 2078 wagten die Japaner von ihrer Mondstation Doragon aus schließlich den entscheidenden Vorstoß. Die Kami-Jäger sollten eine Lanze mitten ins Herz Tsukuyumis treiben, um ihn ein für alle Mal zu vernichten.

Doch die Lanze traf ihr Ziel nicht, sondern blieb in der Flanke des Drachen stecken – die Mission scheiterte. Drei Tage später landete die Notkapsel der einzigen überlebenden Astronautin auf japanischem Gebiet. Ihre Botschaft: »Er ist erwacht. Der Drache kehrt zurück!«

Langsam aber stetig näherte sich der weiße Drache der Erde, um Rache zu nehmen – noch immer gefangen in seiner Hülle aus Sternenstaub die wir Mond nennen. Zunächst hielt man es für ein kosmologisches Problem, war interessiert und berichtete in den Medien darüber. Doch schon bald wich das Staunen der Angst. Die Gezeiten wurden stärker, die Erdbeben häufiger. Endzeitstimmung ergriff von den Menschen Besitz, aber weder Panik, noch Gewalt, noch rauschhafte Exzesse konnten die Berührung der beiden Himmelskörper verhindern.

Ein Beben erfasste alles und in wenigen Momenten versanken Landmassen, andere wurden emporgehoben. Knirschend und splitternd kehrte sich das Unterste zuoberst.

Der Mond hinterließ eine Schneise der Zerstörung, zerschnitt ganze Landzüge, zerbrach Kontinentalplatten, ließ Berge bröckeln und seine Hülle brach an den eisigen Gipfeln des Himalaya auf. Dann kam er, gewaltige Erdwälle vor sich herschiebend und Wassermassen verdrängend, auf dem kahlen, morastigen Boden des Pazifik zu liegen.

Nichts ist mehr wie zuvor. Dort, wo einst das mächtige Weltmeer wogte, bilden nun angehobene Erdmassen den trockenen, kargen Schauplatz an dem das neue Zentrum der Macht ruht.

Der Rand des Kraters türmt sich zu einem tausende Meter hohen Gebirge aus Landmasse und Erdkruste auf, das nur noch vom Mond selbst überragt wird – der mit seinen rund 3.000 Kilometern Durchmesser weit über die Erdatmosphäre hinausreicht.

Ein tiefer Graben zieht sich von Asien über Europa und Nordamerika bis hin zum Pazifik. Die großen Zentren menschlicher Zivilisation sind von der Erde getilgt. Menschen, Tiere und fruchtbare Erde sind begraben unter dem salzigen Morast, mit dem die riesige Flutwelle die Landmassen überzog. Ehemalige Inseln, wie die des japanischen Archipels, ragen seither als feine Felsnadeln aus dem kargen Ozeanboden – die ausgestorbenen Häfen kilometerweit über dem trockenen Meeresgrund.

Die Nacht ist finster geworden. Die Menschheit ist nahezu ausgelöscht. Nur versprengte Gruppen, selten größer als 100 Personen, kämpfen um das nackte Überleben und klammern sich an jede noch so kleine Hoffnung. Die Natur hat sich verändert – sie schlägt zurück – und der Mensch muss wieder lernen was es bedeutet, Beute zu sein.

Klima, Landschaft, Lebensumstände, alles ist extremer geworden. Im Norden und Süden schieben sich riesige Eismassen über die Kontinente, der grüne Gürtel des Äquators wurde von der Flut vertilgt und das Land besteht nur noch aus kargen, eisigen Ebenen und hitzetrockenen Steppen.

Mitten im Chaos ruht Tsukuyumi und wartet auf seine Befreiung. Er, der einst Leben erschaffen hatte, erschafft sich nun eine Armee aus zerstörerischen Kreaturen, die zäher, stärker und überlebensfähiger sind, als alle Erdenwesen zuvor.

Wo immer seine Pheromone auf Leben treffen, setzen sie eine rasante Evolution in Gang. Doch sein Plan geht nicht auf. Während Menschen, die ihm zu nahe kommen, seinem Bann verfallen und zu hochintelligenten, aber destruktiven Oni werden, widersetzen sich andere Lebewesen seinem Einfluss. Seine stärksten Gegner sind seine eigenen Schöpfungen: Unter ihnen die Insektenschwärme der Dark Seed, die Schweinehorden der Boarlords, die Biester der Children of the Lion und die massigen Landwale der Lords of the Lost Sea.

Der Pazifikboden, eine von tiefen Erdrissen durchzogene Hügellandschaft, ist ein einziges Schlachtfeld: Wer die Kontrolle über den Mond erringt, erringt zugleich die Kontrolle über die neue Welt. So kämpfen die verschiedensten Fraktionen von Menschen und evolutionär weiterentwickelten Tierwesen darum, Tsukuyumis Einfluss abzuschütteln, darum, als die dominanteste Spezies aus dem Kampf hervorzugehen und darum, der neuen Ära ihren ganz eigenen Stempel aufzudrücken.

>> PROLOG

IN DER UNTERWELT

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DIE UNTERWELT. Der Ort der ewigen Schwärze, des Todes. Aus buntem Leben wird hier brauner Moder und schließlich nichts als die finstere Essenz, die übrig bleibt, wenn alles andere vergangen ist.

Hal erwachte aus der Starre, die sie oft lang befiel. Sie erhob ihren schneeweißen Schlangenleib und glättete die Federn auf ihrem Rücken mit vielen Händen. Warum war sie diesmal erwacht? Ihr leichter Schlaf wurde immer wieder gestört durch den Lärm des Krieges, Gefühle des Todes, die sie spüren konnte. So viel zu tun. Sie hatten dort oben begonnen, ihre Heiligen zu töten. Hal war es recht. Die Seelen der Kami waren besondere Kost — lang gehegt wollten sie ihr nicht mehr ewiges Leben nicht loslassen. Wenn sie dann starben, blieb reine Energie so kostbar wie schwarze Diamanten.

Etwas anderes hatte Hal aber jetzt geweckt. Sie horchte und spürte, die schwarzen Augen durchforschten Dunkelheit, die ihr Licht war. Ihre Haare, die wie Sturmfrostgespinst über ihren Leib glitten, waren feinste Antennen. Sie hörte eine Stimme. Keine Worte, nur ein Stöhnen, ein Rufen ohne Namen.

Es war Tsukuyumi, ihr Vater! Er kam und er war verletzt! Sie richtete sich ganz auf und schrie. Ihre Kinder hörten sie.

»Er kommt! Wir müssen alles vorbereiten!«

Es würde ein Fest. All die Energie, die sie gesammelt hatte, würde endlich ihrem Zweck zugeführt werden. Die finstere Essenz, die ihm die Kraft verleihen würde, aus den Lebenden seine Diener zu machen.

Sie würden endlich den Platz einnehmen, der ihnen zustand. Hal freute sich.

>> 01

GEGENWART

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Mitsuko war zu spät dran. Der Schlaf hing an ihr wie klebrige Spinnweben, aber der Computer rief dringend zum Morgentraining.

<<System Neustart <<

Sie spannte ihre Muskeln an, um aufzuspringen, sich schnell zu waschen und dann in den Dojo zu hasten, aber es geschah nichts, außer dass sie mit dem Gesicht in Erde fiel und ihre Nase empfindlich anstieß. Erde? Dabei war sie doch in ihrem Zimmer, im Bunker. Tokio. Oder nicht?

<<Datensuche. Keine Verbindung zum Otomo-Kern möglich. Keine Daten erhältlich<<

Sie drückte sich hoch und irgendetwas in ihrem Kopf erlosch.

<<Systemfehler. Multiple Fehlfunktionen<<

Ihr Körper krümmte sich spastisch. Die Implantate gehorchten ihr nicht. Muskeln wurden zu weit gedehnt, Sehnen rissen fast, die Samurai schrie vor Schmerzen. Sie war verletzt! Es musste einen Kampf gegeben haben. Jeder Instinkt in ihr, gereift in tausenden Jahren menschlicher Evolution und weiterentwickelt durch implantierte Cyberware, schrie nach Flucht. Nicht hierbleiben. Weg! Nur weg!

Mühsam öffnete sie die Augen, richtete sich auf und sah sich um. Wo war sie?

<<Keine Daten verfügbar. Keine Verbindung zum Otomo-Kern möglich<<

Warum war es so still? Ihr Kopf war leer, sie sah nur graue Steine. Die Samurai griff sich an den Kopf. Ihr Implantat war noch da. Ein Spasmus schleuderte sie erneut zu Boden.

<<Systemfehler<<

Eine Rückkopplung sensorischer Daten und ausgesendeter Datenbefehle schleuderten sie in ein Feedbackschleife und ihr Gehirn schaltete zum Schutz ab.

<<Error. Systemabschaltung<<

..

.

<<Systemneustart<<

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Staff Sergeant Jackson wachte auf. Etwas hatte ihn angestoßen, er zuckte instinktiv zusammen und wurde fast sofort wieder ohnmächtig vor Schmerz. Nach ein paar Minuten heftigen Keuchens konnte er langsam die Augen öffnen. Die Sonne stand hoch und blendete ihn trotz des ewigen Dunstes, der sonst allgegenwärtig über allem lag, seit der fucking moon auf good ol‘ earth gelandet war. Er saß in seinem Fahrzeug. Das war gut. Warum hatte er solche Schmerzen? Ok, da waren seine beiden Beine. Sein rechtes Sprunggelenk sah allerdings aus, als hätte sich ein Elefant daraufgestellt. Dann war dessen Freund, der Gorilla, auf die lustige Idee gekommen, das zermatschte Endprodukt nochmal mit richtig viel Schwung in die andere Richtung zu drehen. Jetzt hing der Fuß leb- aber nicht schmerzlos an seinem Bein.

Je wacher er wurde, desto schlimmer wurden die Schmerzen. Da war ein Kampf gewesen. Wer hatte gekämpft? Er erinnerte sich. Die Fuckbugs — alles war voller Scheiß-Insekten gewesen. Der Colonel hatte den Rückzug befohlen. Wo war sein Squad jetzt? Jackson suchte nach den letzten Nachrichten auf dem Touchscreen seines Fahrzeugs, aber er konnte die kleinen Buchstaben nicht lesen. Verdammt! Er war über und über mit Staub und Sand bedeckt. Wie lange war er bewusstlos gewesen? Der Soldat versuchte, sich höher zu drücken und sah durch die Scheibe seines Fahrzeugs. Scheiße, überall waren Käfer so groß wie Schäferhunde und stritten sich mit ebenso riesigen Ameisen um Leichenteile! Er duckte sich schnell wieder.

Keiner der anderen war aber bei dem kurzen Blick zu sehen gewesen. Kein Soldat, kein Fahrzeug, nur ein Teil der Base des Doc. Sie hatten sich zurückgezogen! Er musste ihnen folgen! Jackson versuchte, sie anzufunken, aber alle Frequenzen sendeten nur Statik zurück. Waren sie alle tot? Unmöglich. Der Gedanke tat mehr weh als dieser Klumpen, den er bis gestern noch seinen Fuß nannte und diesem Drecksack von Colonel Bloch jetzt gerne tief in den Arsch gerammt hätte. Sie hatten nicht die geringste verschissene Chance gegen die Fuckbugs gehabt! Sie hätten einen größeren Umweg fahren sollen!

Er war allein. Wer hatte ihn aber gerade angestoßen? Die Beifahrertür war offen. Wer war noch hier? Jackson verstand nichts, außer, dass er es nicht mehr aushielt. Der Rest seines Körpers war ebenfalls dieser Meinung und der Soldat wurde wieder ohnmächtig.

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Jemand schrie. Wieso hörte er das? Wenn Hagen im Kampfanzug saß, stellte er die Außengeräusche meist ab. Im Gegensatz zu manchen anderen weidete er sich nicht an den Todesschreien seiner Gegner. Sein Anzug schien aber eine Fehlfunktion zu haben, denn es war stockdunkel. Verdammt, da stimmte etwas nicht. So finster dürfte es nicht sein. Niemals. Es gab mehrere redundante Failsafe-Systeme. Selbst wenn er in dem Anzug eingeschlafen war, müssten die Anzeigen immer noch leuchten.

Der Ritter hob den Kopf und öffnete die Augen. Sein Gehirn wütete. Was war mit seinen Augen? War er blind? Licht explodierte durch seine Netzhaut. Er konnte einen Aufschrei nicht verhindern, Schmerzwellen zuckten durch seinen Körper, als er versuchte, sich zur Seite zu drehen, nur weg von dem grellen Licht und der sengenden Sonne. Sein Körper fühlte sich falsch an. Arme und Beine zuckten wie bei einem Veitstanz. Jeder Nerv funkte quälende Schmerzen an sein Gehirn. Nichts war, wie es sein sollte! Er konnte nicht aufhören zu schreien. Eine Hand fühlte Blut und feuchtes Fleisch an seiner Flanke. Sie grub sich in den Schmerz, unwillentlich, als ob es ihn aufwecken sollte, als ob er sein Innerstes herausreißen wollte. Dann zappelte er wieder nur wie ein Fisch auf dem Trockenen.

Er war verletzt. So schwer, dass sein Körper ihn im Stich ließ und er wieder ohnmächtig wurde.

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Mondohr grunzte. Das war ein schlimmer Traum gewesen. Sie hatte Hunger. Ihr Bauch war leer, so leer. Die Rotte gönnte ihr nichts. Er war falsch. Man biss und schlug sie. Alles tat weh. Sie waren gemein und böse. Mondohr würde es ihnen zeigen. Sie würde weglaufen und wiederkommen. Stark und groß. Stärker als die Boarmutter. Ihre Beine schlugen die Luft, dann ertasteten sie Metall. Sie war eingesperrt in dieses Fahrding! Nein, der Einstieg war nicht ganz zu. War der Mann tot? Sie stupste ihn an, aber er stöhnte nur. Sie war allein, allein, allein! Die junge Boar sprang auf und rannte panisch weg.

Es roch nach Blut und Verwesung. Viele Lichter waren ausgegangen. Warum hatte sie solche Angst? Der Kampf war vorbei. Es war nicht ihr Kampf gewesen, und doch hatte sie sich eingemischt. Sie war noch hier und das war nicht gut. Die Insekten waren auch hier. Sie legten ihre Eier in die Toten.

Mondohr hielt an und sang das Lied des Verbergens. Die Käfer und Ameisen, welche sich um die Überreste stritten, beachteten sie nicht. Sie hörte den Schwarm. Er war nicht weit entfernt. Die Erde resonierte das Brummen der riesigen Menge an Insekten, die in dem Berg dort hinten wohnte. Der Boden unter ihren Füßen war sicher auch durchlöchert von Gängen, in denen die sechsbeinigen hartschaligen Ameisen wohnten. Deren Krieger konnten selbst einem ausgewachsenen Boar Schaden zufügen, die Beißwerkzeuge waren hart und sie verspritzten ätzende Säure.

Mondohr wollte schnell hier weg, wo war der Weg? Warum fand sie keinen Weg? Aber dann erinnerte sie sich an etwas, was die Furcht sie hatte vergessen lassen. Es war wichtiger als Flucht. So wichtig, dass sie der Versuchung widerstand, obwohl diese ihr in den Eingeweiden wühlte. Sie hasste es, in dem Fahrding eingesperrt zu sein!

Krabbelnd, langsam und unsicher, wie ein Frischling es täte, suchte sie ihn. Sein Licht zeigte ihr den Weg. Sie sang ihr Lied immer weiter. Da war er, schwer verletzt. Sie legte sich wieder neben ihn. Er seufzte und stöhnte. Vorsichtig berührte sie ihn, kuschelte sich ganz eng an. Nicht böse, lieb. Liebe! Ganz fest. Mehr schlafen. Mondohr war angekommen. Durch Schmerz und Leid. Schicksal. Sie quiekte leise und gab sich dann der Erschöpfung hin.

>> 02

VERGANGENHEIT

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In ihrem Kopf summte Mitsuko ein Lied, welches ihre Mutter ihr immer vorgesungen hatte.

<<Suche nach Musikstück. Abspielen<<

Der Chip in ihrem musikalischen Cortex erkannte die Melodie und synthetisierte ihre Klänge begleitet direkt in ihrem Gehirn. Niemand musste sich mehr an Musik erinnern. Die junge Frau hätte es sehr gerne laut geschmettert, aber das wäre nicht angemessen gewesen. Außerdem durfte sie sich nicht bewegen. Der Tätowiermeister duldete das nicht. Schließlich schuf er ein Kunstwerk. Mitsuko zweifelte das nicht an, obwohl sie es nicht sehen konnte, nur spüren.

Tock tock tock, jeder einzelne Punkt wurde nach der klassischen Methode gestochen, obwohl der Mann Hightech-Farben benutzte. So konnte er einen dreidimensionalen Effekt hervorrufen, der so fantastisch aussah, dass es den Tätowiermeistern dabei dann plötzlich nicht mehr nur um die Reinheit einer alten Kunstform ging. Mit einem Lasertattoo wäre das Bild schmerzfrei und in wenigen Minuten auf ihrem Rücken entstanden, aber vielleicht machten das Handwerk, Geduld und Erdulden das Kunstwerk erst wertvoll.

Die junge Samurai spürte den Atem des Mannes sehr weit unten auf ihrem bloßen Rücken und war ein wenig erregt. Es war eine höchst intime Sache und sie hatte zuvor die Blicke des Künstlers bemerkt, die nicht nur die zu bebildernden Stellen gestreift hatten. Mitsuko wusste, dass sie eine gute Figur hatte. Ihre Beine waren lang, die Glieder schlank, aber dennoch gut bemuskelt. Ihre Implantate waren fast übergangslos verwachsen, es gab keine hässlichen Narben. Die Kriegerin war eins mit ihrem Körper, er gehorchte ihr, und sie pflegte ihn gut.

Das Bild auf ihrem Rücken war in drei Sitzungen bis fast auf die Pobacken gewachsen, so dass der Meister heute auf dem Steißbein begonnen hatte. Das schmerzte sehr, wie jede Stelle, an der die Knochen so nah unter der Haut liegen. Mitsuko versuchte sich an einer der Feedback-Techniken, die ihr eine Meditation ermöglichen würden. Es funktionierte und die KI blendete sich aus.

Stille.

Nicht jeder Bewohner des Bunkers konnte das — sich ausblenden. Auch viele der Samurai waren ständig mit der KI verbunden. Sie — die künstliche Intelligenz namens Amaterasu — sorgte dafür, dass man sich in dieser neuen Welt wohler fühlte. Jeder Bewohner des Bunkers wurde von Kindheit an verbunden. Warum auch nicht? Schließlich gab man der KI damit die Möglichkeit, das Leben aller zu verbessern. Die KI veränderte die Art, wie man die Welt sah, wie man sich fühlte, sie regulierte Stimmungen, kontrollierte den Biorhythmus, steuerte das Training, verbesserte den Schlaf und sorgte für Unterhaltung und Kommunikation. Sie bekam dafür Informationen über die Bevölkerung in den Bunkern, über die Außenwelt und die Bedingungen dort, über Feinde und den Zustand der Waffen, eben alles, was die KI für wissenswert hielt. Das half allen, noch besser zu planen. Denn irgendwann sollten die Menschen wieder an der Oberfläche wohnen. Das war das Ziel: Überleben und sich gleichzeitig verbessern.

Alle arbeiteten an diesem Ziel. Jeder einzelne Bewohner der Bunker. Alle waren vernetzt, vom gerade geborenen Kleinkind bis zum Greis. Die Katastrophe hatte sie unter die Erde gezwungen, aber das musste ja nicht so bleiben. Um den Fortschritt zu gewährleisten, arbeiteten die Bunker zusammen, auch wenn der Informationsaustausch über die Satelliten nicht immer funktionierte.

Die Samurai waren ein Teil dieser Struktur, aber sie hatten dennoch eine Sonderstellung inne. Eine spezielle Eigenart ihres Genoms machte sie zu ausgesuchten Kriegern. In ihnen befand sich ein Kami-Gen — quasi der Keim der Göttlichkeit — welcher zugunsten der restlichen Bevölkerung genutzt werden musste. Die Ehre, einer der besonders ausgebildeten Krieger zu werden, konnte niemand ablehnen.

Mitsuko wusste, dass sie als Samurai privilegiert war. Nicht jeder war so gesund wie sie. Viele normale Menschen litten unter dem künstlichen Licht und der schlechten Verpflegung. Obwohl man in den riesigen unterirdischen Bunkern hydroponisch viel anbauen konnte, so blieb das Nahrungsmittelangebot doch begrenzt und Menschen waren einfach nicht für das Leben unter der Erde gemacht. Dennoch lebte es sich unterirdisch immer noch besser als an der Oberfläche: Dort trieben sich in den Ruinen nicht nur Ratten herum. Die Gefahr ging von den neuen Lebensformen aus, die der Mond und sein Bewohner der Erde bescherten.

Weil das Leben an der Oberfläche gefährlich war und die kleinen übriggebliebenen Menschenansammlungen beschützt werden mussten, gab es die Samurai. Mitsuko war als eine solche sofort zu erkennen. Sowohl der haarlose Teil ihres Kopfes mit dem Implantat, als auch die Tätowierungen zeigten jedem sofort ihren Status — der Harnisch sowieso.

Die High-Tech-Rüstung war Privileg, Pflicht und Verantwortung gleichermaßen. Besseres Essen, Freizeit, Zerstreuung und Bildung könnte man quasi als empörende Ressourcenverschwendung anprangern. Wären da nicht das konstante Training, Disziplin, die Implantate und nicht zuletzt das Risiko, im Kampf oder durch eine Beschädigung des Anzugs an der Oberfläche, zu sterben. Manch junger stolzer Krieger zog kurz nach seiner letzten Prüfung aus, zurück kam aber nur der Harnisch und eine Warnung: Hochmut war ein Ideal der alten Welt. Der Welt vor dem Fall.

Mitsuko war zwölf Jahre alt, als der Mond fiel. Man hatte damals schon gewusst, dass sie Kami-Gene hatte und so waren sie und ihre Familie schnell in den vorbereiteten Bunker gebracht worden. Zunächst hatte sie das nicht verstanden. Aber während den schlimmen Tagen der Katastrophe hatten alle in den schützenden Gängen und Stuben gekauert und der beruhigenden Stimme von Amaterasu gelauscht, die ihnen versichert hatte, dass alles gut werden würde. Mitsuko erinnerte sich an den Moment, als die Tore das erste Mal wieder geöffnet wurden und ein trauriges Seufzen durch die Gänge hallte. Die schlimmen Nachrichten von der weltweiten, nahezu kompletten Zerstörung der menschlichen Zivilisation. Auch der Tag, als sie selbst die Oberfläche das erste Mal wieder gesehen hatte, war unvergesslich. Wo vorher Tokio gewesen war, gab es nur noch Ruinen. Das Zentrum der Stadt schwelte in einiger Entfernung nach diesen langen Tagen immer noch, obwohl Regenstürme stetig peitschten und alles mit schmutzigen Tropfen erstickte.

Aber das Leben in den Bunkern spielte sich ein. Jetzt, nach sieben Jahren, waren sie für viele ein Zuhause geworden. Gänge und Hallen, die kleinen Räume, all das war voller Leben. Nicht mehr wie früher, aber es ging weiter. Kinder wurden geboren. Nachrichten aus anderen Bunkern trafen ein, Satelliten, die verloren geglaubt waren, schufen Kontakt und Austausch. Man würde es schaffen.

Sobald Überleben nicht mehr die höchste Priorität hatte, begann man, die Samurai und andere Technologien, die die neue Welt zurückerobern sollten, stetig zu verbessern und weiterzuentwickeln. Mitsuko war stolz, Teil dieser Armee zu sein. Sie durchlebte alle Operationen ohne Klagen und arbeitete täglich daran, besser zu werden, Perfektion zu erreichen. Sie liebte das Training, ob mit oder ohne Unterstützung der KI.

Es gab so viele Möglichkeiten! Die Implantate erlaubten es, sich mit den Trainern und anderen Auszubildenden zu verbinden und gemeinsam zu üben. Das Ziel eines jeden Schülers war es ja, vom einfachen Aufführen der Katas, vom Omote und schließlich ins Ura zu gelangen — die Stufen des tiefsten Verständnisses von Körper und Bewegung. Die kurzen Momente der Erleuchtung in die tiefsten Zusammenhänge der Kampfkünste musste man sich aber immer wieder neu erarbeiten. Mitsuko wartete noch darauf, diese zu erreichen.

Es gab für sie nichts Befriedigenderes, als etwas, was man unzählige Male geübt hatte, immer präziser zu begreifen. Bewegungen, die ins Muskelgedächtnis übergegangen waren, dann auch mit den spirituellen Sinnen zu erfassen und ihnen dadurch neue Transzendenz zu geben. Sie lächelte bei diesen Gedanken. Das hörte sich so überheblich an, sie würde von Meister Noo eine Abreibung bekommen, wenn er ihre Gedanken kennen würde. Er hatte ihr ihren Samurai-Namen Mitsuko gegeben, weil er fand, sie wäre wie ein kleines Kind, welches alles zu leicht nahm.

Autsch! Ein Stich im unteren Rücken holte sie zurück in den kleinen, mit grellem LED-Licht erhellten Raum und auf die abgegriffene Liege aus memory foam. Zurück zu den Schmerzen und der Langeweile. Aber für heute war der Meister der Nadel zufrieden. Mitsuko stand auf und betrachtete sein Werk im Spiegel. Die Schlange wand sich nun von ihrem rechten Schulterblatt über den Rücken auf den linken Oberschenkel. Sie war zunächst noch nicht farbig, das kam später. Im Moment war sie schwarz, welches mit der Zeit dunkelgrün würde, da der Meister die traditionelle Tinte für die Linien nahm.

Nachdem er eine Salbe aufgetragen und eine Folie aufgelegt hatte, durfte sie sich anziehen. Die Samurai rannte durch die düsteren Gänge, es gab keinen Grund, länger in diesem Teil des Bunkers zu verbleiben. Die muffige Luft war geschwängert von den ewig brodelnden Ölwannen, in denen Dinge frittiert wurden, die niemals Namen bekamen. Es war Essen. Die Menschen wichen bei ihrem Anblick beiseite und so war die Samurai schnell in den Gängen der Kriegerschule, wo die Lampen heller leuchteten und nicht flackerten. Die Wände waren hier nicht mit Graffiti, sondern mit historischen Szenen dekoriert, denn niemand hätte gewagt, hier seinen Schriftzug anzubringen. Die ehemaligen U-Bahnschächte und Gänge waren früher Orte des Durchgangs. Heute sind sie Heimat. Niemand ist nur kurz da, um eigentlich weiterzuhasten — heute fahren keine Züge mehr. Wohin auch? Wer sich über die Dunkelheit beschwerte, war noch niemals oben in den Ruinen. Und die KI machte alles heller, angenehmer. Sie bot einem Illusionen, wenn man sie wollte.

»Wie war es?«, fragte Akiko, ihre Stubenkollegin. Zwölf Quadratmeter gönnte man ihnen. Luxus.

»Man sieht jetzt nicht viel. Das weißt du doch.« Mitsuko mochte Akiko, aber manchmal fragte sie zu viel.

»Ich hasse das Tätowieren.«

»Du stellst dich an. Ich hab das mit dem Feedback gemacht, das war super!«

»Ich komm damit nicht so gut klar«, gestand ihre Mitbewohnern. Sie lag auf ihrer Matte und hatte offenbar geschlafen, rieb sich nun die Augen und gähnte.

»Ich finde es großartig«, sagte Mitsuko und legte sich ebenfalls hin. Man musste schlafen, wenn es eine der seltenen Gelegenheiten gab. Schlaf vertiefte das Gelernte. Heute war sie sogar dazu verpflichtet worden, damit das Meisterwerk heilen konnte.

»Na toll, jetzt hast du mich geweckt«, beschwerte Akiko sich.

»Sorry.«

»Spiel mit mir eine Runde Tic-Tac«, forderte ihre Freundin und stand auf.

»Ich mach mir dabei die Nägel.«

Akiko kramte in der kleinen Kommode, die jede von ihnen als einziges Möbelstück zur Verfügung hatte. Mitsuko erinnerte sich daran, wie begeistert sie gewesen war, einen Raum fast für sich allein und eine leere Schublade vorzufinden, als sie damals — drei Jahre war das jetzt her? — hier eingezogen war. Weg von der Familie, die zu viert auf dem gleichen Platzangebot gelebt hatte. Darin hatte sich sogar noch die Kochstelle befunden. Das brauchten die Auszubildenden natürlich nicht, sie bekamen Essen in der Mensa.

Akiko hatte ein paar Bilder aufgehängt. Sie war recht begabt in Tuschemalerei. Auch das gehörte zur Ausbildung. Meister Noo, der für solche künstlerischen Fähigkeiten zuständig war, sagte immer: »Nur ein ästhetisch geformter Geist kann die Kampfkünste wirklich verstehen.«

Die Zimmerkameradinnen riefen das gleiche Programm auf und in ihrem visuellen Kortex entstand das Bild des Tic-Tac Spieles. Es war ein wenig anspruchsvolle Version von Go, mit ein paar Spielereien aufgepeppt. Mitsuko blieb einfach auf dem Bauch liegen und spielte halb dösend, während Akiko sich ihre Finger- und Fußnägel verschönerte.

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Am nächsten Tag spannte das Tattoo natürlich, aber das war kein Grund, nicht zu trainieren. Meister Hayato schickte sie zunächst einmal in die Meditation. Die Ruhe des Geistes war immer die Vorbereitung zum effektivsten Training.

<<Tiefe Verbindung mit Otomo-Kern gestartet<<

Mitsuko hatte die Augen nicht geschlossen, aber der Gong holte sie aus einer tiefen Trance und sie nahm die Umgebung erst jetzt wieder wahr.

»Zunächst üben wir ohne Link«, sagte Meister Hayato zu seinen 15 Schülern nach der Meditation. Mitsuko und die anderen stellten sich in Formation, um die Katas zu üben. Egal, wie weit oder tief man in die Kampfkünste eingedrungen war, die Katas zu absolvieren war wie atmen. Nach einer halben Stunde war der Meister zufrieden.

Mitsuko stand still und spürte ihrem Atem nach. Der Geruch nach Staub, Schweiß und den Reisstrohmatten war ihr der liebste. An der Wand hingen ein paar antike Waffen, die die Meister manchmal nutzten, wenn sie den Schülern etwas ganz besonderes zeigen wollten. Sie selbst hatte zwar eine eigene Naginata, aber die Schüler wurden in allen Waffengattungen unterwiesen und mussten mit den Trainingsgeräten Vorlieb nehmen, die schon hunderte vor ihnen benutzt hatten. Schließlich, so sagte Meister Hayato, fände man auf dem Schlachtfeld auch nicht immer die perfekt ausgewogene Waffe, falls man seine verlöre.

Die Kriegerin verbeugte sich zusammen mit den anderen und übte mit dem ihr zugewiesenen Partner den Kampf mit verschiedenen Waffen, bis Sensei Hayato sie unterbrach.

»Heute will ich mit dir einmal ein paar Übungen mit dem Link versuchen.«

Die Samurai wurden dabei zusammengeschaltet. Die KI versuchte damit, die Leistung nach dem Prinzip »Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile« zu verbessern. Das Ziel war es, eine Kampftruppe komplett durch den Link verbunden in die Einsätze ziehen zu lassen und ihnen zu ermöglichen, zusätzlich noch die Cyberoids zu steuern — die Kampfroboter.

Mitsuko liebte es — eigentlich. Das Lenken eines der wertvollen Kampfroboter war eine wahrhaft erhebende Sache. Dennoch gelang es ihr bisher noch nie. Es war nicht das erste Mal, dass der Meister sie für so etwas aussuchte, denn er verstand nicht, warum sie dabei jedes Mal versagte. Zwei Gegner sollten sie angreifen. Zusammen übten sie noch einmal ohne Link und dann aktivierte Hayhato die Zusammenschaltung.

<<Verbindung aktiviert - Kampfmodus<<

Der Raum um sie herum verschwand. Die Informationen wurden nun direkt über den Link ins Gehirn gespeist, die anderen Sinnesorgane quasi abgeschaltet. Mitsuko sah, hörte und fühlte nur noch das, was die KI ihr zeigen wollte. Einzig den Geruchssinn konnte man nicht abschalten. Er saß zu nah am Hirnstamm und eine Einmischung durch chirurgische Eingriffe war auf dieser tiefen Ebene nicht ratsam.

<<Verbindungsstärke 25%<<

Das Feedback war immer weiter herunter getuned worden. Es war natürlich auch eine Sache der Übung, Rücken an Rücken zu kämpfen und somit durch den Link auch zu sehen, was hinter einem geschah — oder durch drei und mehr Paar Augen auch was neben einem passierte — war überwältigend. Mitsuko hatte damit große Schwierigkeiten, auch auf diesem niedrigen Level.

Der imaginäre Feind erschien. Der Oni, den die KI simulierte, war riesig und schwerfällig. Er kämpfte hauptsächlich mit einer Naginata, hatte aber in den anderen drei Armen unter anderem auch ein Schild. Er brüllte und stampfte, die tönernen Masken, die manchen seiner Körperteile möglicherweise als Schutz dienten, klapperten gegen Trophäen — Knochen und abgeschlagene, modifizierte oder schlicht verfaulende Gliedmaßen. Er war so unglaublich echt, der Boden vibrierte, wenn er aufstampfte.

Mitsuko bekam bei dieser Übung direkte Informationen eingespeist, so dass sie die Art, wie ihre Klinge sich in sein Fleisch fraß, wirklich spürte. Alles begann wie ein normaler Kampf. Meister Hayato war mit zwei Katanas schnell und aggressiv, Mitsuko stach mit ihrer Naginata zu wie ein Skorpion und sprang dann flink aus der Reichweite der Arme. Man durfte die Schnelligkeit dieser Wesen nicht unterschätzen, die schiere Größe und Masse ließ sich nicht mit einem Menschen vergleichen. Oni hatten übermenschliche Fähigkeiten. Dennoch wusste Mitsuko während des harten Kampfes, dass der Raum, in dem sie trainierten, Wände hatte, die Simulation daher darauf Rücksicht nahm und das Zentrum des Scharmützels nicht zu nah an einer Begrenzung stattfinden ließ.

Obwohl sie es ignorieren sollte, nutzte sie das Wissen automatisch. Es war kaum möglich, nicht jeden erdenklichen Vorteil zu nutzen, darauf waren sie doch spezialisiert! Sie zog sich also immer ein Stück zu weit von ihm zurück, dahin, wo er ihr nicht folgen würde, und sie Zeit hatte, einen kostbaren Atemzug zu nehmen, bevor sie wieder in die Reichweite sprang.

Die KI wusste das. Später, wenn der Kampf ausgewertet würde, war es nicht abzustreiten. Es war wie ein kleiner Verrat und gleichzeitig nichts weiter als opportun. Ein Krieger musste jede Chance nutzen, das Blatt zu seinen Gunsten zu wenden. Gleichzeitig war das hier eine Übung, sich dabei auch vollständig auf seinen Partner verlassen zu können, so dass das ganze mehr als die Summe seiner Teile wurde.

Aber es klappte wieder nicht vollständig: Obwohl Mitsuko durch den Link die Information bekam, dass der Meister eine Ausweichbewegung machen würde, damit sie einen langen Schwung von links oben nach rechts unten machen konnte, traf ihr Bokutô sein Schienbein, weil sie zu spät abbremste.

»Ich werde offenbar zu alt«, sagte er hinterher nassgeschwitzt.

Mitsuko sagte nichts dazu, das wäre nicht schicklich gewesen. Der Meister war sicher nicht zu alt in dem Sinne, dass es ihm an Kampfkunst gefehlt hätte. Hayato war unglaublich schnell und präzise. Aber die Link-Technologie und das Verarbeiten der dazugehörigen Informationen bedeutete für ihn, dass er manches neu lernen musste. Sie ahnte, wie schwer das für ihn war, nach fast 35 Jahren, die er größtenteils ohne Link verbracht hatte.

Für die neuen, jungen Krieger, vor allem für die Frauen, war es eigentlich leichter. Man schob es bei ihnen darauf, dass das weibliche Gehirn von vorneherein vermehrt beidseitig dachte, also die Brücke zwischen den Hirnhälften öfter benutzt wurde. Das Verarbeiten von Informationen aus verschiedenen Quellen wurde dadurch einfacher, noch mehr Datenmengen aufzunehmen schien kein Problem. Das machte sie nicht zu besseren Kämpfern, da Männer trotz allem immer noch entschlussfreudiger und zielstrebiger waren. Sich Zehntelsekunden vor anderen zu entscheiden, konnte den Sieg bringen, auch wenn man nicht alle Möglichkeiten erkannt hatte. Man arbeitete daher in den verschiedensten Konstellationen, auch wenn die Auswertung der Daten sicher noch viel Zeit in Anspruch nehmen würde.

Mitsuko war begeistert dabei, aber ihre Ergebnisse blieben unter dem Durchschnitt. Sie versuchte das nicht zu werten, aber es bedrückte sie schon. Andere fanden das alles sowieso zu neumodisch und zweifelten den Wert an — man solle doch die Traditionen ehren und jeden Kämpfer für sich die Perfektion erstreben lassen. Sie nahmen aber selbstverständlich an den Übungen teil, da nur alle gemeinsam das Leben und das Kämpfen weiter verbessern konnten. Amaterasu KI bestätigte ihnen immer wieder, dass dies der beste Weg wäre. Ihre Stimme war das, was einem Anführer am nächsten kommt. Sie war die überwachende Mutter KI, die alle Informationen zusammenträgt, das Herz und das Hirn der Cybersamurai.

In vielen Dingen war sie tatsächlich wie eine Mutter. Sie machte, dass man zu essen hatte, es warm war und frische Kleidung bereit lag. Ihre Stimme weckte alle Morgens, ihre Anerkennung belebte die Schüler nach den Übungen und Prüfungen und begleitete alle bis in die Träume. Tatsächlich fanden einige Software Updates während des Schlafes statt, unbemerkt vom Schläfer, der allerhöchstens schöne Träume hatte.

»Was für ein Scheißtag. Ich kämpfe lieber ohne diese Verschaltung. Wir sollten uns nur auf uns selbst verlassen«, sagte Chiko beim Abendessen.

Die 15 Krieger der Gruppe saßen zusammen. Frisch geduscht, die Haare bei manchem noch feucht, knieten sie vor einer langen niedrigen Tafel, auf der die verschiedensten Speisen zu ihrer Verfügung standen. Mitsuko hatte es eilig gehabt und sich daher das Tattoo nicht sorgfältig genug eingeölt. Jetzt spannte es in dieser Haltung sehr, vermutlich hatte sie auch ein paar Schläge auf die frischen Wunden bekommen. Aber es waren ja nur die äußeren Linien, da konnte nichts zerstört sein. Nach der Farbschicht würde sie sicher eine Woche nicht in den Nahkampf dürfen.

Sie musterte Chiko, der auf der anderen Seite des Tisches saß und wie immer gleichzeitig redete und aß. Er war klein und massiv gebaut und stets missmutig. Aber ein Riesenangeber. Er hatte sich sogar schon sein Gesicht tätowieren lassen, um zu zeigen, dass er des Drachens würdig und somit unglaublich großartig war. Das Bild war allerdings dort mit einem Laser hineingebrannt und zusätzlich mit augmented reality verstärkt, sodass der grüne Lindwurm stetig auf seiner Wange zum Hals und zurück kreiste. »Völlige Konzentration ist der Schlüssel. Wenn jeder sein Bestes gibt, können wir uns blind auf die anderen verlassen, auch ohne so einen Link. Mich lenkt das nur ab, wenn die Weiber ihre Tage haben.«

»So ein Quatsch«, sagte Mitsuko. Sie ging erst gar nicht auf das provozierende Element ein; Chiko mochte Frauen nicht. Frauen mochten Chiko nicht. »Und die Cyberoids? Wer soll die dann steuern? Sie sind unschätzbar gegen Feinde, die viel stärker und größer als wir sind. Du weißt, was da draußen alles lauert! Dort draußen sind wir es, die Ordnung im Chaos schaffen. Ordnung wird uns wieder an die Oberfläche führen. Und ich glaube, da ist noch viel mehr. Wir müssen jeden Vorteil nutzen, den wir bekommen können.«

»Wir sollten die Oberfläche schneller erobern«, sagte Chiko mit vollem Mund. Nudelstücke flogen über den Tisch. »Jetzt, so lange wir noch können. Bevor andere das tun.«

»Bevor?«, fragte Mitsuko. »Das ist doch schon lange geschehen! Denk mal an die Landwale, die Insektenschwärme oder gar die Drachen! Menschen sind doch gerade abgemeldet.«

»Ein echter, menschlicher Kaiser muss wieder auf dem Jadethron sitzen«, sagte Chiko. »In einem Palast. Und die Sonne muss scheinen.« Er drehte sich um und stach mit den Essstäbchen nach einer Bediensteten, die sein Lieblingsessen nicht schnell genug nachfüllte. Ein Schwall Beleidigungen trieb die Frau im Laufschritt durch die Halle. Niemand drehte sich deswegen um. Samurai durften das.

Mitsuko seufzte, wusste aber, dass Chiko mit seinen Forderungen vielen aus der Seele sprach. Das machte es auch oft schwierig, sich mit normalen Bewohnern des Bunkers zu unterhalten. Die Menschen litten und wollten Lösungen. Die KI´s sollten die Zustände von früher so schnell wie möglich wieder herstellen. Das Kaiserpaar war ein Symbol, und die Menschen hassten es, dass ihre gottgleichen Figuren nicht mehr existierten. Es würde ihnen weniger ausmachen, wie Würmer oder Maulwürfe zu hausen, wenn wenigstens ein Herrscher wieder in einem prächtigen Palast leben könnte. Aber der Tenno und seine Frau waren seit dem großen Unglück der Mondlandung verschollen. Manche dachten, sie wären tot. Andere glaubten fest, dass sie irgendwo lebten, vielleicht sogar in Form der KI namens Tenno, die gemeinsam mit den anderen KIs ihr Leben überwachten und verbesserten.

Vielleicht gab es tatsächlich irgendwo eine Maschine, ein neuronales Netzwerk, welches die Seele oder den Geist des Tenno beinhaltete. Wie ein Shintai. Aber niemand bestätigte diese Spekulationen.

Mitsuko wusste, dass die KI versuchte, den Menschen, die an sie angeschlossen waren, ein schöneres, freundlicheres Bild der Umgebung zu vermitteln. Und sie wusste auch, dass es innerhalb der Samurai einige gab, die forderten, sich von den Weisungen der künstlichen Eltern zu lösen und endlich zu tun, wofür Krieger da waren, nämlich gegen alles und jedes auf der Oberfläche zu kämpfen. Aber dann würden sie Ronin — Ausgestoßene, Geächtete. »Zum Glück hast du nicht zu bestimmen, Chiko.«

»Die Oberfläche ist nicht mehr so schlimm wie noch vor ein paar Jahren«, behauptete Chiko. »Wir könnten schon lange wieder oben bauen.«

»Es gibt immer noch regelmäßig Erdbeben und schlimme Unwetter«, widersprach Mitsuko. »Wir sind hier unten sicherer. Und denk an die Oni des weißen Drachen.«

Chiko stand auf. Er beugte sich vor und sein Gesicht war nun ganz nah an Mitsukos. Sie konnte die Essensreste zwischen seinen Zähnen sehen. »Wir sind Samurai, weil wir zum Teil Kami sind. Wir müssen nicht kuschen und uns verstecken. Wir müssen nicht wie Feldmäuse in Löchern kauern. Die Oni sind unsere Feinde und ich werde mein Schwert mit ihrem Blut adeln.« Er richtete sich auf und ging.

»Vollidiot«, sagte Akiko.

»Ja«, sagte Mitsuko. Sie war sich aber nicht sicher, ob sich nicht doch ein winziges Körnchen Wahrheit in Chikos Worten befand.

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WUI WUI WUI … die Sirenen schallten durch das Schiff. Der Stahlkoloss zitterte. Es war der heftige Wellengang, welcher den Flugzeugträger seit Stunden beutelte. Die stetig hin und her eilenden Mannschaften verstopften die Gänge und Leitern. Jackson prallte mit der Schulter gegen eine Wand, stieß sich ab, und versuchte die Gegenbewegung zu kompensieren, um endlich vorwärts zu kommen. Er musste doch … er musste doch …

Der Staff Sergeant wachte auf. Die Welt taumelte. Wie so oft war sein Gleichgewichtssinn gestört und die Welt schwankte noch ein wenig länger. Die Katastrophe der USS Nomad hatte ihm dieses spezielle Geschenk überlassen. Natürlich hatten auch viele andere an diesem Tag Geschenke bekommen, wenn man das so sehen wollte. Die Erde selbst hatte ein Geschenk bekommen: Der Mond war auf sie herunter gefallen.

Das hatte quasi auch den Gleichgewichtssinn der Erde Nachhaltig gestört. Wo einstmals der Pazifik gewesen war, gab es nun Land. Der landende Gesteinsbrocken hatte bei seinem Eintreffen das Wasser verdampfen lassen und vieles enthüllt, was bisher für Menschenaugen unsichtbar gewesen war. Leider war der Meeresgrund jetzt übersät mit den Überresten des ehemaligen Unterwasserlebens und mitten drin in dem gigantischen stinkenden Schlammloch lag der Koloss des Flugzeugträgers — wie ein winziges Plastikmodell neben kilometerhoch aufragenden Steilwänden, dem Mond und der Weite des Pazifiks.

Seit fünf Jahren jetzt schon. Jackson erinnerte sich noch an den Geruch des ersten Jahres. Als die Milliarden Fische, Krebse und Pflanzen verrotteten, Regen aus der Gülle giftig brodelnde Teiche und dann Seen machte. Viele wünschten sich da, einfach einen Schalter in der Nase umlegen zu können, so wie man die Augen zu machen kann. Gerüche mit Gegengerüchen zu kontern war auch keine Lösung gewesen. Verwesung mit Lavendelgeruch war immer noch eklig. Jetzt roch es nicht mehr. Nur manchmal, wenn einer ein falsches oder zu tiefes Loch grub, oder man in Windrichtung zur Latrine stand. Vielleicht war man auch einfach abgestumpft.

Dennoch waren die Gerüche damals das kleinste Problem gewesen. Wenn man schlicht überleben will, dann ist es einem egal, ob man selbst stinkt, die Umgebung, oder beides. Die Bedrohung der Zerfallsprodukte war schlimmer gewesen. Der kleinste Spritzer der Drecksbrühe konnte endlosen Durchfall hervorrufen, der einige Menschenleben gekostet hatte. Wenn Jackson heute manchmal die kleinen Kinder rumrennen sah, dann fragte er sich, wie jemand bei den ganzen Widrigkeiten Sex haben wollte und wie seltsam es war, in diese Welt Kinder setzen zu wollen. Aber so war das wohl. Circle of life, oder so. Er summte das Lied automatisch. Immer wenn ihn etwas an einen Songtext erinnerte, konnte er nicht anders, als das Lied zu singen, zu pfeifen oder wenigstens zu summen. Er vermisste Musik. Natürlich hatte fast jeder irgendwelche Speichermedien, die immer die gleichen Lieder der verschwundenen Welt hoch und runter dudelten, aber da war noch so viel mehr gewesen …

Nur gut, dass er in seinen Oshkosh — jedenfalls bezeichnete er eines der Mehrzweckfahrzeuge als seinen eigenen, obwohl natürlich irgendwie allen alles gehörte — Alles für die Nomads! und so weiter, Go Nomads go! — jedenfalls hatte er in den Wagen, den er meistens benutzte, Lautsprecher eingebaut. Zugegebenermaßen ein bisschen versteckt, aber die meisten, die ihn gut kannten, waren schon einmal bei Erkundungsfahrten in den Genuss von zünftigem Country und Western gekommen. Er hatte auch Soul und ein bisschen Jazz, aber da standen nicht viele drauf. Die meisten Soldaten mochten es härter. Dafür hatte Jackson natürlich auch ein bisschen Rock. Der gute Highway to hell ging immer. Sein Musikgeschmack ging bis etwa 1980, alles danach war nur noch verschissene Nachmache, seichtes Gedudel, mit dem ihm niemand kommen sollte.

Jackson hatte damals nach dem Unglück ein paar Tage nicht laufen können, und wenn, dann war er im Kreis gegangen und hatte nach ein paar Minuten sein weniges Essen ausgekotzt. Doc Roc hatte den Kopf geschüttelt und ihm geraten, das nicht zu tun. Also zu laufen und den Kopf zu schütteln. Jackson hatte in dieser Zeit gelernt, neben kleineren mechanischen Reparaturen auch Strümpfe zu stopfen und zu stricken. Ohne Scheiß, er machte das heute noch gerne, auch wenn er inzwischen wieder geradeaus laufen konnte. Marschieren, besser gesagt. Und fahren. Und alles, was man eben als Soldat so tat. Genauer gesagt als Staff Sergeant von den US Marines. Marines mit großem M. Semper Fi! und so.

Das waren sie ja immer noch, also Soldaten, auch wenn sie sich inzwischen Nomads nannten. Ein hartes Gemisch aus Navy, Marines und Air Force. Jackson war nur zufällig auf der Nomad gewesen, als es geschah. Eigentlich gehörte er zur Besatzung des Begleitschiffes USS Wild Horse, die kleineren Schiffe waren von den Tsunamis noch unbarmherziger gebeutelt worden. Fast niemand war von deren Besatzung übrig geblieben. Keiner wusste, wo das zu dem Flottenverband gehörige U-Boot geblieben war. Von insgesamt 10.000 Mann Besatzung der Einheit waren nur knapp 250 übrig geblieben. Von denen waren im ersten Jahr nochmal 53 gestorben. Sie hatten inzwischen einen großen Friedhof.

Im zweiten Jahr war das erste Kind geboren worden. Man hatte es sinnigerweise Adam genannt. Jackson erinnerte sich an eine Feier mit vergorenem Getränk — niemand fragte, was da drin war, alle brauchten die Momente guter Laune zu dringend. Niemand fragte, was man zu essen vorgesetzt bekam. Es war Essen. Es hielt einen am Leben. Manche behaupteten, es hielte einen nur am Scheißen, aber damit hatte Jackson wenig Probleme.

Meistens war er nur der Mechaniker und Fahrer. Der Tsunami, der die Nomad schließlich auf dem baren Meeresgrund hinterließ, hatte die im Unterdeck eingeschlossenen Flugzeuge stark beschädigt. Die Reparaturen wären aber irgendwann so weit, dass sich wieder jemand in die Luft erheben konnte, sagten die Kommandanten. Ja, der Mensch braucht Pläne und Zuversicht in die Zukunft, um weiterzuscheißen und nicht einfach mit unterzugehen. Die begleitenden Schiffe hatten einige der Multifunktionsfahrzeuge in ihren Bäuchen gehabt — Humvees und Oshkoshs. Die waren überlebensnotwendig — denn die neue Welt hatte Bedrohungen hervorgebracht, mit denen keiner gerechnet hatte.

Jackson hielt die Fahrzeuge, für die er verantwortlich war, so gut in Schuss wie er konnte. Die Batterien waren immer gut geladen, das war das wichtigste. Aber es war auch nötig, sie kontrolliert zu entladen, darüber musste genau Buch geführt werden. Unterwegs konnte man die Fahrzeuge mit Sonnenenergie tanken, was aber bei dem Staub in der Atmosphäre nicht so effizient war, wie es sein konnte. Blieb man im Radius des Flugzeugträgers, so lud man die Wagen selbstverständlich dort. Wie alle Geräte, die Saft brauchten. Niemand wagte darüber nachzudenken, was geschehen würde, wenn das nukleare Herz der Nomad erstarb.

Immer, wenn Jackson von einer Mission zurückkam, und den auf der Seite liegenden Flugzeugträger von weitem erblickte, erschauerte er innerlich. Es war bittersüß. Was für ein Weg von den endlosen Maisfeldern aus Indiana zu diesem Koloss auf dem baren Staub, der ehemals Meeresboden war. Aber Heimat ist Heimat. Und die ist da, wo man lebt. Manche kamen ja wieder auf das beliebte Thema Scheiße zurück und behaupteten, Heimat wäre dort, wo man hinscheißt. Es war alles eine Frage der Sichtweise. Leben und Scheißen gehörten halt zusammen.