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Benjamin Lahusen

Alles Recht geht
vom Volksgeist aus

Friedrich Carl von Savigny und
die moderne Rechtswissenschaft

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© Dittrich Verlag ist ein Imprint

www.dittrich-verlag.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Inhalt

Prolog

Dichterliebe

Die Zumutungen der Vernunft

Der Klammergriff der Geschichte

Die Freiheit der Rechtswissenschaft

Die Zwänge der Praxis

Epilog: Der Fürst der Rechtswissenschaft

Litertaturverzeichnis

Danksagung

Prolog

Juristen sind flüchtige Wesen. Sie leben von dem, was ihnen von fremder Hand gereicht wird, und müssen weiterziehen, sobald ihnen ihr Gönner die Gunst entzieht. Den Befehlen der Gesetze unterworfen, verliert ihr Handwerk Sinn und Ziel, wenn die politische Opportunität nach neuen Gesetzen verlangt. Das Wankelmütige, Pragmatische, Zufällige, das das politische Tagesgeschäft kennzeichnet, verdammt auch die Rechtsarbeiter zu einer unsicheren Existenz. Sie kleben an Ort und Zeit, an der zerklüfteten, kurzlebigen Welt, die heute so und morgen anders ist. Überzeitliches, Wahrhaftiges, Notwendiges muss man im Juristenwerk deshalb nicht suchen. Juristische Denkleistungen finden in der Gegenwart Anfang und Ende zugleich; ihr Wert zerfällt, sobald die Gegenwart zur Geschichte wird.

Das war nicht immer so. Es gab einmal eine Epoche, in der die Juristen davon träumen durften, ihre Arbeit über die Zeit zu retten, in der sie nicht bloß den Dienstweg an sein Ende verfolgen mussten, sondern selbst verbindliche, autonome, freie Rechtsgestaltung betreiben durften. Der Traum vom selbständigen Dasein des Rechts. Generationen von Juristen haben sich davon beseelen lassen. Aber keiner hat ihn mit solcher Inbrunst gelebt wie Friedrich Carl von Savigny. Unter seiner Führung begann ein Kampf um die Unabhängigkeit des Rechts, in dem sich die Juristen über ein gutes Jahrhundert hinweg die Vorrangstellung vor sämtlichen normativen Gegenkräften erarbeiteten. Das alte Naturrecht mit seiner tiefen Verwurzelung in einer materialen Ordnungsphilosophie wurde endgültig beseitigt. Die aufgeklärten Entwürfe des neueren Vernunftrechts, bis dahin getragen von einem unerschütterlichen Vertrauen in die Regelungsweisheit der menschlichen Ratio, versanken neben dem neuen Juristenrecht in ein düsteres Zwielicht. Der Drang zu politischer Veränderung, der seit der Französischen Revolution immer ungestümer auch auf Preußen übergegriffen hatte, lief in Savignys Reich ins Leere, weil ihm die Zuständigkeit in Rechtsfragen kurzerhand entzogen wurde. Die sich jeder Neuerung verweigernde altständische Gesellschaft erhielt schließlich ein behutsames Modernisierungsprogramm, das den Gesellschaftsaufbau im Wesentlichen unangetastet ließ, gleichwohl die Voraussetzungen für den Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus schuf. Auf all diesen Gebieten, im Kampf gegen Philosophie, Moral, Vernunft, Politik, Gesellschaft und Wirtschaft, eroberte Savigny dem Recht die grundsätzliche Selbständigkeit gegenüber konkurrierenden Ordnungsvorstellungen.

Dies gelang, weil Savigny dem Rechtsstoff eine eigene, historisch begründete Rationalität implantierte. Das Recht konnte nur aus sich selbst heraus begriffen werden, weil es, so Savigny, über Jahrtausende in allmählichem Wachstum herangereift war und in diesem organischen Werden nicht einfach durch fremde Anmaßungen gestört werden durfte – eine Rückbesinnung auf die Rechtsgeschichte, die in ihrem tiefsten Innern vom Begriff des Volksgeistes zusammengehalten wird: Die Zeitalter, denen Savigny die größte Bewunderung entgegenbringt, sind die, in denen das Recht sich unterschwellig, selbstbestimmt, wie Sprache, Sitte und Gebräuche entwickeln und dadurch eine besonders enge Verbindung zu Charakter und Wesen eines Volkes halten konnte. In der ganzen Menschheitsgeschichte findet sich freilich nur eine einzige glückliche Epoche, die sich einer solch hochstehenden Jurisprudenz rühmen darf: die Zeit des römischen Prinzipats zwischen dem 1. und dem 3. nachchristlichen Jahrhundert.

Die Besinnung auf das geschichtliche Reifen des Rechts dient deshalb vor allem einer Revitalisierung des römischen Rechts. Savignys wissenschaftliches Lebenswerk kreist um den groß angelegten Versuch, das Fortdauern einer Traditionslinie zu beweisen, die das römische Recht ohne Unterbrechung vom römischen Reich bis in die Gegenwart transportiert habe und daher noch immer eine tragfähige Grundlage für ein modernes Rechtssystem abgebe. Antikes Recht für eine neue Zeit. Gesetzgeberische Eingriffe verträgt dieses Vorhaben nur in ganz geringem Umfang. Was Savigny als historische Schule der Rechtswissenschaft zusammenführt, ist deshalb sehr viel mehr als nur ein akademisches Programm. Der Volksgeist verlangt eine Wiederbelebung und erneute Durchdringung des römischen Rechtsstoffes und muss aus diesem Grund alle anderslautenden Zukunftsvisionen als unwissenschaftlich zurückweisen – seien sie nun feudaler, demokratischer, liberaler oder gar revolutionärer Art. Das Recht kehrt zurück zu den eigenen Wurzeln. Die Begründungsdiskurse, warum juristische Entscheidungen so und nicht anders ausgefallen sind, benötigen immer weniger Anregungen von außen. Aus der eigenen Systemarbeit ergibt sich eine solche Fülle von Gedanken, dass auch ohne fremde Unterstützung jede Gefahr einer Argumentationsnot gebannt ist.

Damit aber befreien sich die Juristen von ihrem lange so kläglich akzessorischen Dasein. Das subalterne Befehlsempfängertum gehört der Vergangenheit an. Rechtsarbeit ist nicht länger bloßes Anhängsel übergeordneter Mächte, sie tritt selbstbewusst mit eigenen Gestaltungsansprüchen hervor. Eine Verschiebung der gesellschaftlichen Machtverhältnisse muss diese Jurisprudenz genauso wenig fürchten wie eine Veränderung der politischen Rahmenbedingungen. Weil Recht nur aus der Rechtsgeschichte verstanden werden kann und weil diese Rechtsgeschichte seit Jahrtausenden von Juristen betrieben wird, erschließen sich die Rechtsprobleme der Gegenwart nur denjenigen, die mit der Genese des Juristen-Rechts vertraut sind. Juristen-Recht ist Juristen-Sache. Der Bürger wird zum Laien, der Souverän zum Störer; unter der Ägide des Volksgeistes verabschiedet sich das Recht vom Volk.

Seit dieser Zeit heißt die Jurisprudenz Rechtswissenschaft. Der Rechtsstoff selbst trägt in sich die kondensierte Rationalität ganzer Juristengenerationen; sein historisches Wachstum birgt für eine innere Wahrheit, die mit kundigen Griffen zu einem eigenständigen Rechtssystem ausgebaut werden kann. Das Beispiel macht Schule. Ausgehend von Savignys Vorarbeiten übernimmt die deutsche Rechtswissenschaft im 19. Jahrhundert eine Vorbildfunktion auf dem ganzen Kontinent. Auf den dogmatischen Entdeckungen, die dabei zutage gefördert werden, ruhen alle späteren Errungenschaften. Recht wird gesammelt, gesichtet und sortiert, bis daraus ein widerspruchsfreies, lückenloses System geformt ist, genauso freischwebend und selbstreguliert wie die großartige römische Jurisprudenz mehr als eineinhalb Jahrtausende zuvor. Am Ende des Jahrhunderts ist es so weit. Das heutige römische Recht, das Savigny der Welt angedient hat, wird in generationsübergreifender Kommissionsarbeit in Gesetzesform gegossen. Aus der Vergangenheit des Rechts geschöpft, steht nun ein Gesetzbuch da, das kommenden Zeitaltern den Gang in die Geschichte auf ewig abschneiden wird: das Bürgerliche Gesetzbuch. Am 1. Januar 1900 tritt das neue Werk in Kraft und bringt damit Savignys Jahrhundert, das Jahrhundert der Jurisprudenz, zu einem glanzvollen Abschluss: eine eindrucksvolle Summe deutscher Rechtsgelehrsamkeit, die weltweit Bewunderer und Nachahmer findet.

In der Heimat dagegen löst das juristische Meisterstück merkwürdig kühle Reaktionen aus. Seine technische Finesse, seine unbestechliche Präzision, seine strenge Abstraktion finden die lobende Anerkennung des kundigen Publikums, aber nicht die Zuneigung der breiten Massen. Zu kalt sind die Insignien der Wissenschaft, die das BGB trägt. Dem bürgerlichen Recht fehlt das staatsbürgerliche Pathos. Dem gewöhnlichen Bürger muss es wie eine sture Aneinanderreihung technischer Details erscheinen, in der, wer berufsmäßig nicht dazu gezwungen ist, weder lesen kann noch überhaupt nur soll. Aber auch die Juristen entwickeln keine rechte Leidenschaft für ihr neues Arbeitsinstrument. Im Lichte des BGB finden sie sich alsbald in ein langwährendes Prekariat versetzt. Die freie Rechtswissenschaft, die das 19. Jahrhundert ausgezeichnet hat, weicht nun einer Alltagsroutine, in der Juristen ihre Gesetze nicht mehr offen selbst produzieren können, sondern ihrer Freiheit im Rahmen des Gesetzesauslegung ein rhetorisch unauffälligeres Korsett anlegen müssen. Die einstigen Herrscher werden zu Schattenmännern.

Juristen sind flüchtige Wesen, als Menschen noch mehr denn als Rechtsarbeiter. Ein Leben, dessen Werk im Dienste der Vergänglichkeit steht, interessiert noch weniger als seine ephemeren Hinterlassenschaften. Wieder ist es Savignys Erscheinung, die als Ausnahme heraussticht. Seit seinen ersten Tagen als Rechtslehrer übt er auf seine Umwelt eine Anziehungskraft aus, die ihn weit über Juristenkreise hinaus zum bewunderten Intellektuellen werden lässt. Zu seinen Schülern gehören Jacob und Wilhelm Grimm, eine enge Freundschaft verbindet ihn mit Bettina von Arnim und Clemens Brentano, er steht in Austausch mit Johann Wolfgang von Goethe und Wilhelm von Humboldt. Die Gedankenwelt der Romantik hat nicht nur zufällige Spuren in seinem Werk hinterlassen. Aber bestimmend für sein Schaffen bleiben andere Einflüsse. Die Herkunft aus aristokratischem, wohlhabendem, staatstragenden Elternhaus erweist sich als zu prägend, um die Vorboten eines neuen Zeitalters, die sich nach den Befreiungskriegen auch in Preußen zeigen, mit einer liberalen, demokratischen Rechtslehre zu unterstützen. Savigny zieht sich auf die wissenschaftlichen Gefilde der Rechtsgeschichte zurück, um der Politik der Reformkräfte seine eigene Politik entgegensetzen zu können – ein Aristokrat an der Schwelle vom 18. zum 19. Jahrhundert, der die Forderungen der Neuzeit mit den scheinbar neutralen Mitteln der Wissenschaft bekämpft.

In Savignys privilegiertem, elitären Leben ist viel von dem angelegt, was die Verwaltung der Gerechtigkeit bis heute zu einer privilegierten und elitären Angelegenheit macht. Niemand hat die Art und Weise, wie in Deutschland über das Recht gedacht und geschrieben wird, so beeinflusst wie er. Sein Name steht für die Anfänge einer Selbstbegründung des Rechts, die zum Signum der modernen Rechtswissenschaft schlechthin werden sollte. Aber die Bedingungen, unter denen Savigny am Beginn des 19. Jahrhunderts eine eigenständige Wissenschaft vom Recht etabliert hat, können nun, gut zweihundert Jahre später, kaum mehr dieselben sein. Sein Leben und sein Werk geben deshalb Anlass, den Weg des Rechts von einem untergeordneten Dienstleistungsbetrieb hin zu einer autonomen Disziplin erneut abzuschreiten. Nicht alle Richtungsentscheidungen, die Savigny getroffen hat, führen in die Moderne, auch sein Schaffen enthält flüchtiges Beiwerk. Aber wer sich in Savignys Erbe auf die Suche nach dem Bleibenden neben dem Vergänglichen macht, darf sich eine nachhaltige Vergewisserung über den Zustand des gegenwärtigen Rechtsbetriebs versprechen. Dem dienen die folgenden Kapitel.

Dichterliebe

Erlöser

Ein ganzes Leben als Gedicht. In feinen fünfhebigen Jamben formulierte Karl Esmarch 1879 ein Festepos, das von nahezu religiöser Verehrung für den Jubilar getragen zu sein schien. Ein König sei es, dessen man gedenken wolle, ein Kronenträger und Prophet: »Der als Erobrer kam und als Befreier, / Der von des Rechts erlauchtem Götterbild / Mit kühner Rechte riß des Wahnes Schleier – / Der Heros ist es, dem die hohe Feier / In dieses Tempels Hallen gilt.« Aus tiefem Dunkel habe er seine Zeitgenossen ans Licht der Erkenntnis geführt, wo »Eintracht herrscht und Frieden und Versöhnung«. Alle Welt hätte sich dem neuen Helden angeschlossen; die wenigen Ausnahmen – »Buben« mit »Pfeilen giftdurchquollen« –, die gemeint hatten, es besser zu wissen, seien längst »versunken und verschollen«, vergessen hinter dem strahlenden Glanz des Siegers. Kein Wort war zu groß für dessen Taten; der Lobpreis steigerte sich im Fortgang der Ode zu einer Begeisterung, deren Maßlosigkeit selbst dem Schriftbild einige ehrerbietige Anpassungen abnötigte. »Das ist es was die Jubelklänge sagen – / Das braust in der Gesänge Melodie: /S e i th u n d e r t m a ld e rS o n n eg o l d n e rW a g e n/Z uu n s e r mS t e r n ed i e s e nT a gg e t r a g e n/E r s c h i e na u fE r d e nSavigny.« Der gewöhnliche Sperrdruck, üblicherweise zur Heraushebung des Besonderen eingesetzt, genügte nicht mehr, um die Geburt des »Genius« und »Lichtverkünders« angemessen zu würdigen. Erst der Fettdruck wurde der Einzigartigkeit des Heilsbringers gerecht.1

Dabei ist bereits die Existenz des Gedichts an sich Beleg für eine Sonderstellung des Geehrten. Friedrich Carl von Savigny, dessen 100. Geburtstag von Esmarch in Versform verewigt wurde, war Jurist. Und was immer sich über Juristen sagen lässt – der Gegenstand lyrischer Gesänge sind sie nur selten. Savigny aber war anders. Fast 200 Verse widmete ihm allein Esmarch; gut 20 Jahre nach dem Tod des großen Vorbildes entzog er dessen Leben und Werk irdischen Maßstäben und erhob sie ganz in mystisch-märchenhafte Sphären: Mit »Heldenarmen« und »ewalt’gem Schwerte« habe Savigny »das Geschlecht der Drachen« besiegt, den »Lindwurm« zerschmettert; jahrhundertealte Legenden hätten seiner »diamantenklaren« Geisteskraft weichen müssen und endlich überall der wahren Wissenschaft Platz gemacht, »von West und Ost und Süd und Nord«. Alle Himmelsrichtungen folgen einem Juristen. Wie gesagt: Savigny war anders.

In gewisser Hinsicht war aber auch Esmarch anders. Die Hymne galt nämlich nicht nur einem Juristen, sie stammte auch von einem Juristen. Esmarch wurde 1824 auf der Ostseeinsel Alsen geboren, verbrachte die Kindheit in Lübeck, studierte später Rechtswissenschaften in Bonn, Heidelberg und Berlin, begleitete seinen Vater zum Paulskirchenparlament nach Frankfurt, kehrte anschließend nach Kiel zurück, um gegen die Dänen zu kämpfen, wurde nach der Niederlage 1851 Privatdozent in Göttingen und 1854 Professor für römisches Recht in Krakau. Drei Jahre später berief man ihn nach Prag, und dort blieb er bis an sein Lebensende. Die Allgemeine Deutsche Biographie beschreibt ihn als konservativen Gelehrten mit ausgeprägtem Sinn für poetische Formen.2 Neben einer Monografie zur römischen Rechtsgeschichte und einem Lehrbuch zum römischen Zivilrecht schrieb er einige epische Werke und übersetzte Teile der Edda. Dass er mit Savigny jemals zusammengekommen wäre oder auch nur eine einzige Vorlesung bei ihm gehört hätte, ist nicht überliefert. Dem Dichterjuristen Esmarch genügte bereits eine ferne Ahnung, um aus Savignys Großtaten Inspiration für eigene literarische Höhenflüge zu ziehen. Ein Jurist hört von einem anderen Juristen – und dichtet. In der langen Geschichte von Recht und Rechtswissenschaft gibt es außer Savigny wohl niemanden, der ähnlich überschwängliche Reaktionen bei seinen Kollegen hervorgerufen hätte.

Und mehr noch: Savigny fand diese Anerkennung nicht nur bei den Vertretern der eigenen Zunft. Esmarch war lediglich einer von vielen, denen Savignys Schaffen Anlass für eine literarische Auseinandersetzung bot. Nicht alle waren von derselben Anbetung getragen. Aber bereits in jungen Jahren entwickelte Savigny eine Anziehungskraft, der sich seine Zeitgenossen nur selten entziehen konnten. Und da er seit ebenso jungen Jahren in enger Verbindung mit den verschiedensten Dichtern, Schriftstellern, Künstlern, und Gelehrten seiner Zeit lebte, tauchte seine Person mehr als nur einmal in literarischen Verarbeitungen auf. Man sprach von ihm, ob Johann Wolfgang von Goethe oder Heinrich Heine, ob Karoline von Günderrode oder Wilhelm von Humboldt. Ein Jurist inmitten von Denkern. Wer war diese Ausnahmegestalt?

Glückskind

Friedrich Carl von Savigny wird am 21. Februar 1779 in Frankfurt am Main geboren. Die adlige Familie stammt ursprünglich aus dem französischen Oberlothringen, war aber um die Mitte des 17. Jahrhunderts ihres protestantischen Glaubens wegen nach Deutschland gekommen. Hier lebt man über Generationen hinweg in enger Fühlung mit Ordnung und Repräsentanz des alten Reiches. Damit verbindet sich ein ansehnlicher Wohlstand, aus dem schließlich ein Reichtum erwächst, der eine sorgenfreie Existenz garantiert: Savignys Großvater heiratet in die millionenschwere Familie von Cranz ein und erbt einen beträchtlichen Teil des Vermögens, als sein Schwiegervater stirbt. Der Rest geht zunächst über auf seinen Schwager, Johann Carl von Cranz, seinerseits ein hoher Beamter, der fast 20 Jahre am kaiserlichen Hof in Wien dient. Als Johann Carl 1751 kinderlos stirbt, wird Savignys Vater Alleinerbe. Zu den Hinterlassenschaften gehört auch das Landgut Trages bei Hanau, das für die nächsten zweieinhalb Jahrhunderte zu so etwas wie dem Familiensitz der Savignys wird. Wie viele der Vorfahren reüssiert auch Savignys Vater Christian Karl Ludwig in einer Beamtenkarriere, die ihn bis in das Amt eines Geheimen Regierungsrates bringt. 1766 heiratet er die deutlich jüngere Henriette Philippine Groos, eine feinsinnige, gebildete und religiöse Frau, die ein ebenfalls bedeutendes Vermögen mit in die Ehe bringt.

Gleichwohl ist dem Paar kein frohes Leben vergönnt. Der Tod hält die Familie klein. Neun Kinder sterben noch in den ersten Lebensjahren, eine Tochter im Alter von zwölf, ein Sohn mit dreizehn Jahren; so müssen die Eltern elf Kinder zu Grabe tragen, bevor 1791 erst der Vater, nur ein Jahr später auch die Mutter sterben. Obwohl das Schicksal nur ein einziges Kind der Familie am Leben ließ, war es der Welt am Ende wohlgesinnt, indem es gerade dieses eine auswählte – Ernst Landsberg, ein früher Biograf, drückt die Dankbarkeit der Gelehrten so aus: »Mit Glücksgütern zwar reichlich ausgestattet, aber völlig verwaist blieb einzig übrig ein 13jähriger Knabe, der zum Heile der Rechtswissenschaft vom Tode verschonte Friedrich Carl von Savigny.«3

Der frühe Tod seiner Verwandten ist es auch, der dem erwählten Kind erste Erfahrungen mit dem Recht verschafft. Savigny kommt in die Obhut eines nahen Familienfreundes, Johann von Neurath, bei dem er Alternativen zu der vorgezeichneten Beamtenlaufbahn kennenlernt. Von Neurath ist Assessor am Reichskammergericht in Wetzlar, dem höchsten Gericht des alten Reiches, wo er die Tätigkeiten ausübt, die heute einem Richter zufallen. Mit dem praktischen Leben des Rechts ist er deshalb aufs Engste vertraut. Diesen Erfahrungsschatz beginnt er früh an seinen Sohn Constantin und den zwei Jahre jüngeren Savigny weiterzugeben. Schon in jugendlichem Alter erhält Savigny daher Rechtsunterricht, der sich allerdings, glaubt man den Schilderungen, vorwiegend durch Stumpfsinn auszeichnet: Auf eine lange Liste von Fragen ist eine noch längere Liste von Antworten auswendig zu lernen. Für einen freien Geist unerträglich, aber bei entsprechendem Pflichtbewusstsein trotzdem brauchbar für erste Grundkenntnisse. Zu Ostern 1795, gerade einmal 16 Jahre alt, schreibt sich Savigny an der Universität Marburg zum Studium der Rechte ein.

Die hessische Provinz freilich hat ihm keine mitreißenden Persönlichkeiten zu bieten. Bleibenden Eindruck hinterlässt nur Philipp Friedrich Weis, ein gediegener Rechtshistoriker, dessen größte Leistung vermutlich darin besteht, den Genius des Wunderkindes zu entdecken; »ausgezeichnete Talente, scharfe Beurteilungskraft und gründliche Kenntnisse im römischen Recht« veranlassen Weis, seinen jungen Schüler ohne Bedenken zum »vorzüglichsten unter allen meinen Zuhörern während meines akademischen Lehramts« zu erklären.4 Das Wintersemester 1796/97 verbringt Savigny in Göttingen, damals eine der bestangesehenen deutschen Universitäten. Sein besonderes Interesse am historischen Wachstum von Recht und Gesellschaft erhält dort weitere Nahrung durch die packenden Vorlesungen von Ludwig Timotheus von Spittler.

Die akademischen Anregungen in Göttingen sind zwar etwas vielfältiger als in Marburg; dennoch bleibt die Zeit nicht ungetrübt. Savigny begegnet erstmals einem Phänomen, das ihn zeitlebens begleiten soll. Obwohl noch keine 20, erweist sich seine Konstitution als nur eingeschränkt belastbar. Die frühe Bekanntschaft mit dem Tod hat Spuren hinterlassen; »mein Herz hat traurige Schicksale gehabt«, schreibt der junge Savigny einem Freund, nun suche er sich »hinzuhalten mit Zerstreuung und Arbeit«.5 Immer wieder verdunkelt eine tiefe Melancholie sein Gemüt, und immer wieder versucht Savigny, den aufziehenden Seelenschmerz durch besonderen Studienfleiß zu betäuben. Seine ohnehin zerbrechliche Physis ist solchen Anstrengungen auf Dauer nicht gewachsen. Das Studium in Göttingen betreibt Savigny mit einem strengen Ernst, der schließlich zu einem Blutsturz führt. Zur Erholung verbringt er den Sommer 1797 in ruhiger Abgeschiedenheit auf Gut Trages. Auf die Zielstrebigkeit seiner Zukunftspläne hat das kaum Auswirkungen. Er studiert noch knapp zwei weitere Jahre in Marburg und rundet anschließend seine Ausbildung mit einer längeren Kavaliersreise ab. Und hier nun nimmt eine wundersame Wandlung ihren Lauf. Aus dem begabten Juristen wird binnen kurzer Zeit ein allgemein verehrter Kulturschaffender.

Wanderer

Auf einer der ersten Stationen der Reise, Gut Lengfeld im Odenwald, trifft Savigny auf Karoline von Günderrode. Sie ist ein Jahr jünger als er, gleichfalls früh verwaist und hat wie Savigny einzelgängerische Neigungen, die sie jedoch auf andere Weise als er verarbeitet: Sie schreibt, leidenschaftliche, träumerische Gedichte. Savigny hinterlässt einen tiefen Eindruck bei ihr, liebevoll beschreibt sie seine »zauberischen« Augen, seinen »wunderbaren Kopf« und »den sanften Schmerz, den sein ganzes Wesen ausdrückt«.6 Die beiden tauschen einen flüchtigen Kuss, aber als es Zeit wäre, sich zu erklären, schweigt Savigny lange und fragt dann verlegen nach dem Wohlergehen von Karolines Bruder. Auch wenn Savigny sich nach seiner Abreise sogar bei Freunden über die »häuslichen Verhältnisse, Kindererziehung pp.« der Familie Günderrode erkundigt,7 bleibt er zu Karoline letztlich auf sicherer Distanz. Sein Innenleben hält er lieber verschlossen. Diese Zurückhaltung in persönlichen Dingen zeichnet sein ganzes Naturell aus; die Freunde bewundern Savignys »scharfsinnige, besonnene, gewandte, erfindsame […] Hermesnatur«, aber sie vermissen an seinem Wesen das »italienische Colorit«, jene »begeisterte und begeisternde Seligkeit, welche, das Leben verschönernd, dennoch den Tod liebt«.8 Leidenschaften, Abenteuer, Unwägbarkeiten sind seine Sache nicht.

Der verliebten Günderrode empfiehlt Savigny abschließend mit altväterlicher Verbindlichkeit, sie solle »das rechte Verhältnis der Selbständigkeit zur Hingebung« suchen.9 Was immer das heißen mag: Mit den Abgründen der jungen Dichterin will er nichts zu tun haben. Diese fühlt deutlich, »wie weit ich von dem Ideal entfernt bin, daß sich ein S. erträumen kann«;10 was von ihm in ihrem Leben bleibt, ist nicht mehr als »der Schatten eines Traumes«.11 Ein Gedicht der Günderrode erinnert an die schmerzliche Episode: »Es hat ein Kuß mir Leben eingehaucht, / Gestillet meines Busens tiefstes Schmachten, / Komm, Dunkelheit! mich traulich zu umnachten, / Daß neue Wonne meine Lippe saugt.« Der Tag bringe ihr keine Freuden, erst in den nächtlichen Träumen finde sie »süßen Balsam«. »Drum birg’ dich Aug’ dem Glanze irdscher Sonnen! / Tauch Dich in Nacht, sie stillet Dein Verlangen / Und heilt den Schmerz, wie Lethes kühle Fluthen«, schließt die verzweifelte Dichterin, nicht ohne dem Angebeteten das Gedicht mit dem Zusatz zu übersenden: »Solche Dinge träumt das Günderrödchen, und von wem? Von jemand, der sehr lieb ist und immer geliebt wird.«12

Aber Savigny liebt nicht zurück. Vom Treffen im Odenwald zieht er weiter und reist ein gutes Jahr durch Deutschland; er kommt nach Fulda, Wartburg, Gotha, trifft Jean Paul in Eisenach, besucht Christoph Martin Wieland in Oßmannstedt, wo auch dessen Jugendfreundin Sophie von La Roche zugegen ist, über die Savigny kurz darauf mit deren Enkeln Clemens und Christian Brentano zusammenkommt – »eine der schicksalhaften Begegnungen des Zeitalters der Romantik«,13 die zu einer engen Freundschaft zwischen Savigny und Clemens führt. Zwischendurch arbeitet Savigny sich durch die Bibliotheken von Weimar, Leipzig, Jena und Halle, sichtet alte Drucke, sammelt Handschriften, begutachtet den Stand seiner Wissenschaft. Als er im August 1800 nach Marburg zurückkehrt, hat er bereits den Stoff für eine Dissertation im Gepäck, die er in wenigen Monaten fertigstellt. Und irgendwo auf dieser Reise muss der Entschluss zur endgültigen Reife gelangt sein, auf die höchsten Staatsämter, die Herkunft und Begabung in Aussicht gestellt hatten, einstweilen zu verzichten und stattdessen – gegen den dringenden Rat der Freunde – die Wissenschaft zum Beruf zu machen. Damit ehrt Savigny den Professorenstand auf bis dahin unbekannte Weise. In den Staatsämtern des Ancien Régime hatte sich der Adel in der Regel wohler gefühlt als an der Akademie. »Ein Wunder« nennt es Goethes Wilhelm Meister 1796, »wenn ein Mann von Geburt sich den Wissenschaften widmete«.14 Aber Savigny will mehr als nur ein Wunder vollbringen. »Ein Reformator der Jurisprudenz, ein Kant in der Rechtsgelehrsamkeit zu werden«, das sei sein Plan, so schildern Freunde seine begeisterte Ankündigung.15

Und er macht sich gleich an sein grundstürzendes Werk. In Marburg beginnt er eine Lehrtätigkeit, die seine Zuhörer schon wegen ihrer intellektuellen Brillanz unweigerlich fesselt, dazu kommt seine imposante, großgewachsene Erscheinung und das schulterlange Haar. Zu seinen ersten Studenten gehören Jacob und Wilhelm Grimm, die bald eine grenzenlose Verehrung für Savigny entwickeln. »Dieses lehrenden Mannes freundliche Zurede, handbietende Hülfe, feinen Anstand, heiteren Scherz, freie, ungehinderte Persönlichkeit kann ich nie vergessen«, schwärmt Jacob von dem kaum älteren Lehrer,16 dem er brieflich offen bekennt: »Ich werde Sie immerfort lieb haben.«17 Die Deutsche Grammatik, die Jacob 1819 erstmals vorlegt, widmet er dem bewunderten Meister. Und Wilhelm notiert: »Ich würde ohne Bedenken mein ganzes Leben in seine Hände legen. […] Sein Muster muntert mich auf, es macht aber auch mutlos, weil man es nicht erreichen kann.«18 Diese letzte Einschätzung ist durchaus zutreffend – bis heute unerreicht geblieben ist das erste Werk, das der Dozent Savigny 1803 vorlegt: Das Recht des Besitzes, das den 24-Jährigen an die Spitze der deutschen Privatrechtswissenschaft setzt und ihn zudem zum außerordentlichen Professor in Marburg macht.

Studiermaschine

Savigny steht nun im Zentrum eines echten romantischen Kreises. Der Philologe Friedrich Creuzer gehört dazu, mit dem Karoline von Günderrode bald eine neuerlich schmerzhafte Affäre beginnt, die Brüder Grimm, Achim von Arnim, Clemens und Christian Brentano, und natürlich deren Schwestern, allen voran die umtriebige Bettina, die sich von Savignys stillem Wesen ebenfalls angezogen fühlt. Clemens versucht hartnäckig, Savigny mit Bettina zu verkuppeln – »es ist ein Mädchen von Gott gesandt, schüzzen sie die heilige Pflanze«, schreibt er dem gelehrten Freund im Herbst 1800,19 und auch Bettina arbeitet offen und unbekümmert für eine gemeinsame Zukunft. »Denken Sie an mich«, fordert sie von Savigny und moniert mit gespielter Entrüstung sein Desinteresse: »Ihr könnt das Posthorn von meinem Reiswagen hören und wüßtet nicht, daß ich es bin«,20 und weiter: »Ich will wetten, Sie wissen nicht mehr, wie ich aussehe, ob ich braune oder blaue Augen habe«, während sie ihn umgekehrt ausführlich studiert habe: »Sie haben große Blaulichte Augen und einen sehr frommen Mund übrigens haben Sie einen sehr wunderbaren Kopf und um diesen sind Sie großer als viele andre und um 3 großer als ich.«21

Aber alles Werben und Beten hilft nichts. 1804 heiratet Savigny die ältere Brentano-Schwester Kunigunde, die, deutlich spröder als Bettina und vermutlich die Bodenständigste unter den Geschwistern, Savignys Sehnsucht nach Ruhe und Maß am ehesten stillen kann. Der Freundeskreis verbringt viel Zeit bei Savignys auf Trages, man verreist gemeinsam, und Savigny unterstützt manchen seiner nicht immer lebenstüchtigen Freunde finanziell. Vor allem Clemens profitiert davon. Er dankt es auf seine Weise: In den Romanzen vom Rosenkranz, die er wohl 1803 in Savignys Haus in Marburg beginnt, taucht Savigny als »der stolze Jacopone« auf, der »helle Stern am Himmel der Juristen«, wie Clemens erläuternd hinzufügt, gelehrter, belesener, weiser, angesehener, eloquenter als alle übrigen Rechtsgelehrten des Planeten: »Wüßten das, was er vergessen, / Manche andre Professoren, / Wäre ziehenden Studenten / Öfters aus der Not geholfen.«22 Die Kollegen werden es mit Freuden vernommen haben. Brosamen von Savignys Tisch sind für sie noch immer ein Festmahl.

Ganz ungetrübt bleibt das Verhältnis der Freunde untereinander jedoch nicht. Die Günderrode ist tief enttäuscht über Savignys Eheschließung mit Kunigunde, Bettina nennt ihn nun »Habihnnie«23 und Clemens, bei aller Bewunderung für Ausgeglichenheit und Pflichtbewusstsein des Schwagers, zeigt sich doch »angeekelt« von dem »unendlichen Gleichmut«, mit dem dieser »von Morgens bis abends seine Folianten durchbuchstabiert«.24 Obwohl Clemens bekennt, Savigny zu ehren »wie keinen Menschen auf der Erde«, beklagt er sich wehmütig, »die Einsamkeit mit Savigny zerdrückt mich oft«.25 Tatsächlich ist schwer zu sagen, mit wie viel innerer Anteilnahme Savigny seine Freundschaften pflegt. Geselligkeit schätzt er durchaus; doch die Träume und Phantasien der Romantiker bleiben ihm merkwürdig fremd. Das Zauberwort trifft ihn nicht.26 Savigny bleibt in seinem »Schnecken Palast«,27 widmet sich den Büchern, den Studien, seiner Wissenschaft. Clemens empört sich immer wieder darüber, der inniglich geliebte Freund höre ihm nur aus Höflichkeit zu, rede »mit dem Buch in der Hand, ja arbeitet während der ganzen Unterredung fort, und kaum bin ich vor der Thüre, so bewegt sich die ganze Studiermaschine« wieder im alten Gleis.28 Was sich im Innern der Maschine abspielt, bleibt selbst den engsten Freunden verborgen.

Aber das Gleis gibt unbeirrbar die Richtung vor. Savigny fehlt das Material für die weitere Arbeit, er braucht neue Quellen. Mit Kunigunde reist er nach Heidelberg, Stuttgart, Tübingen, Straßburg, Metz; schließlich kommen die beiden nach Paris. Bei der Einreise fällt unbemerkt ein Koffer vom Wagen; die Pläne und Übersichten über Bibliotheken, Quellen, Ausgaben, Manuskripte sind verloren, dazu »tausend Notizen, zufällig gefunden oder componirt«, an die sich »eine Menge unaufgelöster Fragen […] knüpften«, insgesamt ein empfindlicher Verlust für den »Sammlerfleiß«, den Savigny sich selbst attestiert.29 Jacob Grimm kommt nach und hilft, den Rückschlag wieder wettzumachen. Unter widrigen Bedingungen exzerpieren Lehrer und Schüler ein knappes Jahr lang Unmengen mittelalterlicher Handschriften. Über Trier und Koblenz reisen sie Ende 1805 zurück nach Trages. Hier wird die unterwegs geborene Tochter Betine getauft, das erste von insgesamt sechs Kindern der Savignys.

Die Lehrtätigkeit in Marburg nimmt Savigny nicht mehr auf. Im Sommer 1806 bricht die junge Familie zu weiteren ausgedehnten Bibliotheksreisen auf, diesmal nach Süddeutschland. In Nürnberg bringt Kunigunde einen Sohn zur Welt, der nach nur vier Tagen stirbt. »Der Schmerz ist kalt und lähmt alle Kraft«, schreibt Savigny an Bettina.30 Aber damit nicht genug: Zur selben Zeit trifft die Nachricht von Günderrodes Tod ein, die sich wegen der unglücklichen Liebe zu Savignys Freund Creuzer das Leben genommen hat. In der für ihn typischen Nüchternheit gibt Savigny zu Protokoll, er sei »sehr erschüttert« über dieses Schicksal.31 Die Arbeit schützt ihn vor der Trauer; die Studiermaschine läuft bald wieder auf Hochtouren. Er reist nach Erlangen und Altdorf, anschließend nach Landshut, Augsburg, München, bis nach Salzburg und Wien. Überall stöbert er in den Hinterlassenschaften der Geschichte, sucht nach bewahrenswerten und verlässlichen Nachrichten von der alten Welt und schwärmt von einer »Bibliothek, voll von höchst merkwürdigen Sachen«, der er in Wien verfällt.32 Vermutlich dank Bettinas Charme, die in dieser Zeit fast immer mit den Savignys reist, zeigt sich auch Beethoven bei einer Veranstaltung im Hause Savigny und improvisiert »dort unaufgefordert in seiner hinreißenden Weise«.33 Die Rückreise führt über Weimar, wo Savigny mit seiner Familie einige Tage bei Goethe unterkommt. Man nimmt die Mahlzeiten gemeinsam ein, trifft sich zum Tee und geht zusammen ins Theater; der berühmte Gastgeber vermerkt in seinem Tagebuch dazu: »Komische Geschichten aus der Unglücksepoche des Preuß. Staates.«34 Auf besonderen Wunsch Savignys besucht die Gruppe außerdem die herzogliche Bibliothek, in der Goethe selbst die Führung der Gäste übernimmt.35 Ende 1807 kehren die Savignys nach Trages zurück. Nach gut vier Jahren ist die Wanderschaft damit beendet.

Savigny sehnt sich »nach einer ruhigen Stätte für mich und die Meinigen und für meine Studien«.36 Das Verlangen ist so groß, dass er im Herbst 1808 überraschend einen Ruf nach Landshut annimmt, zu dieser Zeit Sitz der bayerischen Landesuniversität und nach Savignys erst kurz zuvor abgegebener Einschätzung »die widerlichste Universität, nichts als Haß und Partey, ein sehr unliterarischer Geist, und entschiedener Widerwille aller Professoren gegen das Leben an diesem Orte«,37 niemand sei dort, »der nicht lieber heute als morgen wo anders seyn möchte«.38 Savigny selbst ist insoweit keine Ausnahme. Die Kleinstadt ist provinziell, die Kollegen bieder, die Studenten rührend, aber nicht besonders anregend. Bleibenden Eindruck hinterlässt wohl nur die Schlacht zwischen Österreichern und Franzosen mit heftigen Feuergefechten im Umland und dem anschließenden Einmarsch der napoleonischen Truppen. Savigny reagiert wie gehabt: »Ich war lange Zeit ganz gelähmt«, schreibt er an Jacob Grimm, »und es wurde mir denn erst wieder wohl, als ich mich in vieler Arbeit ganz verlieren konnte, was aber auch wieder gelernt seyn wollte.«39 Ansonsten gibt es nichts, was ihn in Bayern hält. Zuletzt wird noch die häusliche Ruhe gestört, weil Clemens mit seiner neuen Frau Auguste nach Landshut kommt, wo die wahnwitzigen Eheprobleme der beiden öffentlich und ohne jede Zurückhaltung ausgetragen werden.

Die Gründung der Berliner Universität erweist sich als Segen. 1810 preist Wilhelm von Humboldt Savigny beim König als einen der »vorzüglichsten jetzt lebenden deutschen Juristen«40