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BETTINA SPOERRI / MIKLÓS KLAUS RÓZSA

Zürich

ABSEITS DER PFADE

Eine etwas andere Reise
durch die lebendige Stadt jenseits
der reichen Fassaden

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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1. Auflage 2019

Coverfoto und Fotos: © Miklós Klaus Rózsa

„Viele sagen, Zürich sei eingebildet,
dabei gibt es die Stadt tatsächlich.“

Inhalt

Einleitung

Wasser und Land – von Tiefenbrunnen bis Rote Fabrik

Kommunizierende Röhren – «Chreis Cheib»

Ein fruchtbares Biotop – noch einmal 8004

Plötzliche Stille – im Kreis 3

Jüdisches Zürich

Die grosse Entdeckung der Unorte – Zürich-West

Trends und Widerstandsgeschichten – Kreis 5

Abseits, und doch – in der City

Weiter ausgreifen – neue Topografien

Und zum Schluss – noch einige Akzente

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imageAltstadt/City

imageEnge/Wollishofen/Leimbach

imageAlt-Wiedikon/Sihlfeld/Friesenberg

imageAussersihl (Werd/Langstrasse/Hard)

imageIndustriequartier/Escher-Wyss

imageUnterstrass/Oberstrass

imageHottingen/Hirslanden/Fluntern/Witikon

imageSeefeld/Riesbach

imageAltstetten/Albisrieden

imageWipkingen/Höngg

imageOerlikon/Seebach/Affoltern

imageSchwamendingen/Hirzenbach/Saatlen

Einleitung

«Was genau ist mit «Abseits der Pfade» gemeint?», fragt M.

B denkt nach. «Wie wäre es mit: ‹ein Blick hinter die Kulissen›?

«Das würde voraussetzen, dass man es wirklich mit Kulissen zu tun hat. Ist denn Zürich eine Kulisse?»

«Nun …», B’s Blick schweift gedankenverloren von der Kaffeetasse vor ihr zum Fenster hinaus, wo die Sonne auf die steinerne Weite des Helvetiaplatzes niederbrennt. Ihr fällt auf, dass sie an den überdimensionalen Bronzefiguren dort auf dem Sockel am linken Rand des Platzes zwar schon äusserst oft vorbeigegangen ist, aber sie jetzt zum ersten Mal eingehend studiert. Erst seit Kurzem weiss sie, dass das Denkmal der «Ehrung der Arbeit» von einem Entwurf des Künstlers Karl Geiser stammt.

Hinter zwei Männern, die beide einfache Schirmmützen tragen, geht eine Frau mit einer grossen Tasche, neben ihr steht ein Kind, ein Mädchen mit kurzem Rock. Typisch Fünfzigerjahre, denkt B: Die Frau, in einen schmucklosen Rock gekleidet, geht ein paar Schritte hinter den Männern und hat beide Hände voll zu tun – in ihrer linken Hand hängt die Einkaufstasche, rechts hält sie das Kind –, während die Männer in ebenfalls einfacher, bescheidener Kleidung, aber mit viriler Tatkraft vor ihr in Richtung Platz gerichtet sind. Dennoch vermissten manche Gewerkschafter damals das Pathos! Das «Magazin» des Tages-Anzeigers fragte 1975: «Eine Familie auf dem Weg zur Migros?», und inwiefern das Denkmal mit Arbeit zu tun habe. Na ja, denkt B, immerhin muss man arbeiten, um das Geld zu haben, mit dem man einkaufen gehen kann …

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Kundgebung für Pressefreiheit auf dem Helvetiaplatz bei der Skulptur von Karl Geiser. Links das Volkshaus, rechts hinten das Kanzleiareal.

«Schau», sagt sie zu M und zeigt auf die Figuren: «Der Platz ist für sie wie eine Theaterbühne. Und ich stelle mir vor, die Arbeiter in Aussersihl haben sich mit ihnen identifiziert. So erzählt jedes Denkmal, aber eigentlich jede Planung und Gestaltung einer Stadt davon, wie sich ihre Bewohner sehen wollen. Insofern gibt es in jeder Stadt das, was sie gerne von sich zeigt – und was weniger. Sie produziert ein Bild, eine Inszenierung, ein Image. Davon leben Stadtmarketing und Tourismusbranche.»

«Ok», meint M, «das leuchtet mir ein. «Pfade … – Trampelpfade!»

«In Zürich sind das Bahnhofstrasse, Grossmünster, Fraumünster, Bellevue und Sechseläutenplatz, Uetliberg, Polybahn … all das, was kein traditioneller Reiseführer unerwähnt lassen kann.»

«Damit hast du sie eben erwähnt!», M lacht. «Sehr elegant gelöst, das muss ich dir lassen.»

«Man kann das aber auch anders beschreiben: Nur abseits der Pfade findet man duftende Pilze, die sich verstecken, oder würzigen wilden Bärlauch. Man kann Tiere beobachten, überraschende Entdeckungen machen … nichts ist vorgepfadet, man muss selbst herausfinden, woran man sich orientieren will. Man wagt etwas, erkundet unbekanntes Terrain, und dabei gibt es keinen direktesten Weg …»

«Das gefällt mir», nickt M. «Das ergibt eine andere Landschaft, eine neue Topografie.»

«Peripherie wird Zentrum, und Zentrum wird Peripherie.»

M präzisiert: «Aber weniger geografisch gemeint als im Sinne einer Bedeutungsverschiebung.»

«Dazu gehört für mich, dass ein anderes Netzwerk die allseits bekannten Orte einmal in den Hintergrund treten lässt.»

«… oder bekannte Orte unbekannte Seiten zeigen», M winkt einem Bekannten zu, der eben das Café betreten hat.

«Ja», sagt B, «oder: die Geschichte aus einer etwas anderen Perspektive erzählt.»

V tritt an ihren Tisch heran. «Das ist ja eine Überraschung!», sagt er. «Ihr hier, in diesem Café? Das überrascht mich.»

«Wir sind auch überrascht», sagt M, «dich hier zu sehen!»

Alle drei grinsen. Vielleicht denken sie alle gleichzeitig an die Aussage eines gemeinsamen Freundes, der kürzlich in einer Diskussionsrunde meinte, die gesellschaftlichen Widersprüche und die Arbeiterbewegung seien in dem Gebäude über ihren Köpfen in Sozialhilfe ersäuft worden.

«Wir sind auf Erkundungstour für ein Buch», sagt M beinahe entschuldigend. «Aber warum kommst du hierher?? Ich kann mir nicht vorstellen, dass das hier dein Stammcafé wird!»

«Ja, es ist seltsam», lächelt V geheimnisvoll, «denn der Kaffee hier ist sogar etwas teurer als nebenan.»

«Warum kommst du denn hierher?», mischt sich B ein.

«Im Grunde ist es ganz einfach: Hier drin ist der einzige Ort, von dem aus ich mir dieses hässliche Gebäude nicht anschauen muss.»

B und M lachen.

«Dann hat dir der Platz besser gefallen, als das Sozialzentrum Helvetiaplatz hier monatelang eingepackt war?»

V lächelt geheimnisvoll. «Läppische 50 Millionen hat die Renovation gekostet. Aber das Haus, das so prominent auf dem Platz hier steht, sieht in meinen Augen immer noch genau so aus wie vorher.»

«Was wirklich noch genau so ist wie schon lange, ist der Platz», sagt B.

«Man sieht ihm nicht an, wie geschichtsträchtig er ist!», meint M: «Seit bald hundert Jahren ist er Versammlungsort und oft auch Schlusspunkt fast jeder Demonstration in Zürich.» Und da M dazu so viel Spezialwissen hat, weil er unter anderem Präsident der Journalistengewerkschaft war, legt er los: «Hier fanden schon Anfang des 20. Jahrhunderts Arbeiterdemos statt, im Zweiten Weltkrieg gab es Schlägereien mit Nazis. Die Demos und Besammlungen der Jugendbewegung waren hier und im Volkshaus, die 1. Mai-Demo beginnt oder endet meistens auf dem Platz … italienische Gastarbeiter demonstrierten für ihre Rechte, Kurden für ihre Unabhängigkeit. Der FCZ feierte seine Meistertitel hier, 2018 demonstrierten 18 000 Bauarbeiter für ihre Rechte. Die Klimademos beginnen auch hier, und der riesige Frauenstreik im Juni 2019 fand ebenfalls hier statt. Auf dem Helvetiaplatz feiert man zudem das Caliente-Festival und vieles andere mehr, und regelmässige Markttage und Velobörsen gibt es auch. Wenn diese Steine reden könnten …»

«Und das Volkshaus gleich nebenan muss man mitdenken», sagt V. «Beeindruckt vom ‹People’s Palace› in London hat man in Zürich ein Haus fürs Volk gebaut, mit Bädern, Restaurant, Bibliotheken, Sälen und Büros für Gewerkschaften. Alkoholfrei – und alles unter dem Motto ‹Wer Kultur haben will, muss Bildung besitzen›.»

«Interessant ist, dass das Projekt bei der Abstimmung 1906 eigentlich nur durchkam, weil gleichzeitig das Projekt des Kunsthauses zur Wahl stand. Für dieses brauchte es die Unterstützung der Sozialdemokraten – und diese Unterstützung sicherte man sich, indem selbst die heftigen Gegner des Volkshaus-Projekts Stimmfreigabe beschlossen.»

«So hängt manches in Zürich auf überraschende Weise zusammen», kommentiert B.

«Was ist das für ein Buch, für das ihr hier eingekehrt seid?»

«Ein Buch über Zürich. Wir erzählen von Orten ‹abseits der Pfade›.»

«Hier sitzt ihr sozusagen in der ‹Hochburg› des anderen Zürich: Helvetiaplatz, Volkshaus, dort drüben das Kanzleiareal –»

«Ja! Das Kanzleiareal war eines der Epizentren einer neuen Jugend- und Off-Kultur-Szene.»

«Für manches wird hier exorbitant viel Geld ausgegeben», sagt V und blickt nach oben an die Decke, als wollte er prüfen, ob diese nach der Renovation auch tatsächlich hält, «während es anderswo in dieser Stadt immer fehlt. Zum Beispiel den Leuten, denen vom Sozialzentrum geholfen werden muss.»

«Oh ja…», sagt M, «Kontraste, Diskrepanzen, Widersprüche sind in Zürich fast allgegenwärtig, wenn man genauer hinschaut.»

«Ihr wisst sicher», bemerkt V, «dass Zürich seit Jahren weltweit eine der Städte mit der höchsten Lebensqualität, aber zugleich mit den höchsten Lebenshaltungskosten ist.»

«Oh ja …», nickt M.

«Eine Stadt ist wie ein Organismus, der ständig in Bewegung ist», sagt B, «während die eine Gegend aufgewertet wird, verliert eine andere an Bedeutung. Strassenzüge, die gestern ein Magnet waren, sind heute vergessen, und was heute noch als Pionierlandschaft gilt, wird morgen wahrscheinlich voll im Trend sein. Unser Buch ist in dem Sinne eine Momentaufnahme, die sich aus der bisherigen Geschichte herleitet und da und dort die Zukunft ahnen lässt.»

Mit jedem Tag, an dem Miklós und ich für dieses Buch Erinnerungen hervorgeholt, das Archiv durchforstet, Erfahrungen ausgetauscht, nochmals rekognosziert und recherchiert haben, wurde uns stärker bewusst, wie massiv sich Zürich in den letzten zwanzig, dreissig Jahren verändert hat. Die unterirdischen Verbindungen sind vielfältig, und je mehr Veränderungen ein Ort, ein Stadtquartier durchlebt hat, desto dichter sind heute die Bezugsnetze und Verweise. 1968, aber vor allem die Revolte der Jugend in den 1980er Jahren, hat in Zürich vieles in Bewegung gebracht und an vielen Orten nachhaltige Umschichtungen bewirkt. Doch so, wie die Avantgarde immer wieder von neuem von Etablierung und Kommerz adaptiert und vereinnahmt wird, so sind unkonventionelle, kreative Ideen auch in dieser Stadt kopiert oder gezähmt worden und mussten wieder an anderen Orten Fuss fassen. Wir erzählen von mutigen Initiativen, aussergewöhnlichen Topografien, nomadischen Erscheinungen, die ein vielschichtiges Zürich abseits der Pfade bilden. In der Stadt, in der ich geboren bin und bisher rund 38 Jahre meines Lebens fest gewohnt und gearbeitet habe – und bei Miklós sind es, seit ihn seine aus Budapest fliehenden Eltern als Kleinkind in die Schweiz trugen, mittlerweile wohl rund sechs Jahrzehnte –, fanden in manchen Gegenden tiefgreifende Umwälzungen statt, während sich andere kaum verändert haben, und wieder andere sind so jung, dass sie noch auf der Suche nach einer gefestigteren Identität sind. Wir haben in vielen verschiedenen Stadtkreisen gelebt, von Aussersihl bis Höngg, Seefeld bis Schwamendingen, und waren schon immer neugierig, warum sich wo und wie die Menschen in dieser Stadt einrichten, sich ihre eigenen Orte und Räume schaffen, und wie gleichzeitig Stadtplanung und -verwaltung, Geld und Profit, initiative Gruppen und Vereine wie Genossenschaften mit beeinflussen, was heute neue Zentren und eine neue Peripherie sind. Wir verstehen dieses Buch deshalb nicht nur als Einladung, Zürich da und dort neu und anders zu entdecken oder wieder zu finden, sondern auch als lustvolle, kritische, mehrdimensionale Befragung und Auseinandersetzung mit dieser Stadt, ihren Mechanismen, ihren Eigenwilligkeiten, ihrem traditionellen und konservativen Teil, aber vor allem ihren wilden, frechen, aufmüpfigen Seiten. Wir verzichten dabei bewusst auf Vollständigkeit und Lückenlosigkeit, die es nicht geben kann – was uns alle, die in diesem Buch unbedingt vorkommen wollten, hoffentlich verzeihen. Aber auf unserer Website www.localstories.ch kann man auch immer wieder Neues entdecken, und wenn eine Aktualisierung zu einem unserer Lieblingsorte nötig ist, wird man sie da finden. Der Text in diesem Buch springt, mäandert, assoziiert, folgt manchmal einem zum Spaziergang umsetzbaren Verlauf, dann wieder bevorzugt er kommunizierende Röhren, und zwischendurch bricht er in dialogische Passagen aus. B und M, die da mit oder ohne V diskutieren, haben durchaus gewisse Ähnlichkeiten mit uns, aber die beiden Figuren sind nicht deckungsgleich mit uns. Wie es in Texten eben immer geschieht.

Wasser und Land – von Tiefenbrunnen bis Rote Fabrik

Städte, die an einem See liegen, besitzen eine ganz besondere Atmosphäre. Man geht durch die Gassen und Strassen, vielleicht liegt auch eine Wiese oder ein Park am Weg, ein Fluss oder ein grösserer Platz. Doch wenn sich plötzlich die weite Fläche eines Sees vor einem auftut, verändert sich alles. Wenn ich mir vorstelle, Zürich hätte keinen See – die Stadt wäre einen Quantensprung weniger attraktiv.

Die Entgrenzung ins Offene setzt einen neuen Massstab, lässt die Stadt atmen, im wörtlichen wie im übertragenen Sinn. Mit dem See wird Zürich gelassener, selbstbewusster, stolzer. In der Nähe vom lebenswichtigen Wasser wurden Ortschaften gebaut, aber es ist die ganz spezifische Art der Verbindung von Wasser und Land, die sich auf die Atmosphäre einer Stadt entscheidend auswirkt. Mit anderen Worten: Eine Stadt ist in erster Linie Land, aber sie wird erst durch das Wasser zu der Stadt, die sie ist. Die Themse dominiert London mit ihrer Schlangenform, eine mächtige, stille Donau hat Buda und Pest entstehen lassen, der berühmte Bund, das Wahrzeichen Shanghais, ist erst aus der Distanz, die der Huangpu schafft, in seinem vollen Umfang zu würdigen. So viel kleiner Zürich als diese Weltstädte ist – die weite Fläche des Sees prägt die Form der Stadt, ihre Geschichte, ihre Ruhe ebenso wie ihre Unruhe. Jeden Tag präsentiert sich der See anders: Einmal liegt er da wie ein metallenes Bett und wirkt undurchdringlich wie ein trüber Spiegel, dann wieder peitscht der Wind seine Oberfläche auf und schlägt die Wellen gegen die Länge der Quais, im Sommer leckt das Wasser wie von der Hitze ermattet über die Steine und den Beton der Uferzone. Aber ganz besonders sind für mich jene Tage, an denen sich ein klarer Blick bis zu den Bergen auftut, diese in trügerische Nähe rücken. Für jemanden wie mich, der gerne wandert (wenn auch nicht klettert), wecken auch im Winter die stolzen Kämme und Spitzen von Säntis, Speer, Clariden und allen anderen die Sehnsucht, mit den Wanderschuhen loszuziehen. Und dort links oben leuchtet das Vrenelisgärtli, das sagenumwobene, aber auch in der zeitgenössischen Schweizer Literatur seine Rolle spielende Plateau auf dem Glärnisch: Tim Krohn hat die Geschichte um das Vrenelisgärtli – ein auf den Geliebten seiner Tochter eifersüchtiger Berggeist soll diese in Stein und ihr Gärtchen in Schnee und Eis verwandelt haben – in seinen Büchern «Quatemberkinder» (1998) und «Vrenelis Gärtli» (2007) zu einer hochmelodischen Kunstsprache zwischen Glarner Mundart, Hochdeutsch und Fantasiesprache inspiriert. Das weisse Vrenelisgärtli-Viereck ist wie das unbeschriebene Blatt, die Verheissung, aber auch das Risiko eines Neuanfangs. Der Ausblick von Zürich ist deshalb ein sehr literarischer – und er ist am besten zu sehen, wenn man beim Bürkliplatz vorne an der Brüstung neben der Statue des Ganymed steht. Ebenfalls eine literarische Figur, aus den griechischen Sagen: Der wunderschöne Königssohn Ganymed, Mundschenk der Götter, wurde von vielen begehrt – auch von Zeus selbst. Den in einen Adler verwandelten Göttervater bittet er hier, indem er mit seiner rechten Hand zum Himmel zeigt, um dauerhafte Aufnahme in den Olymp.

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Blick von der Clouds Bar im Prime Tower in Zürich-West über Stadt und See.

Am Seeufer sowie entlang der Limmat in der Altstadt tummeln sich wohl die meisten Touristen – und doch kennen manche Orte in dieser Gegend von Zürich nicht einmal die Einheimischen. Und manche Geschichten werden übersehen, obwohl sie gut sichtbar vor Augen stehen. Auch das ist ein Zürich «abseits der Pfade»: Dass es mitten in der eben nur scheinbar so gut durchleuchteten Zürcher Innenstadt verborgene Geschichten, unbekannte Ecken und Spuren von Existenzen gibt, welche in der offiziellen Stadtschreibung selten zur Sprache kommen. Wenn man am Seeufer unweit von Ganymed, Tonhalle und Kongresshaus am späten Abend noch unterwegs ist, kann man beispielsweise die stumme Choreografie von Blicken und Handzeichen beobachten, mit denen hier Männer kommunizieren, bevor sie im dichteren Teil des kleinen Wäldchens verschwinden. Im Sommer verwandelt sich das Zürcher Seebecken von Tiefenbrunnen bis Rote Fabrik in einen langgezogenen Streifen unterschiedlichster Biotope. Jeder Abschnitt des Seeufers besitzt dabei seine eigene Atmosphäre und Klientel, hier herrschen sowohl geschriebene als auch viele ungeschriebene Gesetze. Die Badi Tiefenbrunnen, mit Kinderplanschbecken, See-Rutschbahn, Sprungplattformen und vielem mehr, ist das Familienbad, die grossen Wiesen zwischen den Tinguely- und Henry Moore-Kunstwerken und vor dem Chinagarten (vom Zürcher Volk ziemlich grosszügig ignoriert und den Touristen überlassen) werden von jungen Leuten, vor allem vielen Studentinnen und Studenten okkupiert, die hier gerne wild baden, chillen und, seit rund zehn Jahren, hier auch gelegentlich sogenannte Botellóns (spontane Saufgelage) veranstalten. In solchen Fällen interveniert ab und an die eher als unzimperlich bekannte Zürcher Polizei und vertreibt sie mit Gummigeschossen und Tränengas. In der rund dreissig Meter langen, von Bäumen gesäumten Bucht zwischen dem Restaurant Fischerstube (das 2021 mit Neubau wieder eröffnet werden soll) und dem Bootshafen reichen Mütter ihren Kindern trockenes Brot, das diese den sogleich herbeischiessenden Möwen, Enten und Schwänen verfüttern. Hier steigen immer wieder neu wie von Geisterhand aufgeschichtete Steintürme in die Höhe, die von Feierabendmetaphysikern bewundert werden. Der Künstler und Fotograf Ueli F. Grass wirkte da von 1993 an, und er scheint eifrige Nachahmer gefunden zu haben. Geradezu unglaublich ist es, wie sich die Türme in einem derart fragilen Gleichgewicht halten können – als ob sie keiner Schwerkraft gehorchen müssten. Grass, Sohn einer jüdischen Mutter und eines jenischen Vaters, war eines jener Kinder, die gewaltsam zu «Kindern der Landstrasse» gemacht wurden, als die Schweizer Stiftung Pro Juventute zwischen 1926 und 1973 mit Hilfe der Behörden den Fahrenden mehrere Hundert Kinder wegnahm und ihre Fremdplatzierung in «Pflegefamilien», aber oft auch in Anstalten und Heimen veranlasste. Die Steintürme kommen und gehen, Wind- und Wellengang, Vögel und manchmal auch ein Mensch bringen sie aus dem Gleichgewicht und sie fallen in sich zusammen. Sie sind ein faszinierendes flüchtiges Kunstwerk hier am See – das offenbar in seiner ganzen Magie auch von der Regulierungswut der Zürcher Stadtbeamten stets verschont geblieben zu sein scheint. In Zürich gibt es solche Kunst, die eines Tages aufgetaucht und mit der Zeit zu einem Teil der Geschichte der Stadt geworden ist – obwohl nie geplant und insofern auch nicht gerade erwünscht von den Stadtplanern und Verwaltern des öffentlichen Raumes. Ein solches Phänomen sind die Kunstwerke in der Sihl. Da gibt es zum einen die feuerrot angemalten Steine im niedrigen Bett der Sihl zwischen Stauffacher und Hauptbahnhof. Eines Morgens, 1998, wurden sie von Passanten bemerkt, dann kamen die Journalisten vorbei, und die Stadt fragte sich, wer diese Nacht-und-Nebel-Aktion unternommen haben könnte.

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Zürcher Quaibrücke vom See aus gesehen.

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Ein von Peter Ott bemalter Stein in der Sihl.

Bis heute stapft der Aktionskünstler Peter Ott mit Fischerstiefeln zu «seinen» Steinen, wenn ihre Farbe verbleicht oder in einer ebenso heimlichen Aktion mit anderer Farbe überstrichen worden sind. Die Sihl wählte auch der Künstler Thierry Garzotto, ein Architekt und Designer, als er 2018 seine Vogel-Skulpturen aus Stahl, Gips, Harz und Fiberglas aufbaute, ebenso ohne offizielle Bewilligung. Wie Ott tat er dies, um auf die vernachlässigte Uferzone aufmerksam zu machen. Geholfen hat es diesbezüglich wenig – während dem Seeufer das ganze Augenmerk der städtischen und kantonalen Behörden gilt, wird die Sihl an ihrem langen Lauf von Sihlcity bis Dynamo und Kornhausbrücke entlang noch immer grösstenteils stiefmütterlich behandelt. Mit den Grossbaustellen Durchstich-Bahnhof und der fantasielosen Grossüberbauung Europaallee ist es noch schlimmer geworden – und wenig Besserung in Sicht.

Solche Aktionskunst gibt es im öffentlichen Raum Zürichs, sie poppt da und dort auf, hat nomadischen Charakter. So wie beispielsweise auch die Sprayereien von Harald Naegeli. Der 1939 geborene Künstler wurde weltberühmt, weil er ab den 1970er Jahren in illegalen Kunstaktionen Wände in Zürich besprühte. Seine schwarzen Strichfiguren erschienen im Morgengrauen auf Gebäuden und Plätzen, und sie wurden gehasst, immer wieder entfernt, auf den damals noch unbekannten Urheber einer Street Art avant la lettre – während sich gleichzeitig in New York die Graffiti-Kunst entwickelte –, wurde ein hohes Kopfgeld ausgesetzt. Naegeli, schliesslich der wiederholten Sachbeschädigung angeklagt, floh vor dem Vollzug des Urteils (eine hohe Geldstrafe und neun Monate Gefängnis) aus der Schweiz nach Deutschland, und daraufhin erging gar ein internationaler Haftbefehl gegen ihn. Dann erfolgte sukzessive ein starker Bedeutungswandel, Naegelis Kunst, in Zürich als «Schmiererei» gescholten, galt bald vielen als Vorbild, und heute erhält er internationale Anerkennung.

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Harald Naegeli (links) kurz vor seinem Strafantritt in Begleitung von Joseph Beuys.

Eine seiner leichten Figuren ist – sogar offiziell restauriert durch den Kanton – an der Nordfassade des heutigen Deutschen Seminars der Universität Zürich zu betrachten; der Fussweg von Neumarkt und Florhofgasse die Treppen des Rechberggartens hinauf lohnt sich auch wegen des Barock-Gartens, in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts angelegt, und der zunehmenden Aussicht über die Stadt.

Auch am See begegnet man Kunstwerken, die heute wie selbstverständlich zu dieser Stadt gehören, aber zuerst oft nicht als dauerhaft willkommen waren. Der steinerne Kugelbrunnen beim Zürihorn und die Henry Moore-Skulptur sind Überbleibsel von Ausstellungen am Seeufer 1976 und 1984. Andere Kunstwerke, die für hier vorgesehen gewesen wären, lösten eine Debatte aus; das wohl berühmteste Beispiel dafür ist der «Cube» von Sol LeWitt. Den fünf mal fünf mal fünf Meter breiten Würfel aus Zementsteinen schenkte die Walter A. Bechtler-Stiftung 1986 der Stadt, doch die Zürcher waren dagegen. Eine «Verarschung» sei das, warum soll solcher «Grümpel» oder dieser «Ziegelstein-Frusthaufen» hier an den See gestellt werden, wurde gezetert, auch Kunstkritiker bekriegten sich, politische Vorstösse wurden eingereicht – bis sich der Stadtrat entschloss, einen neuen Standort für das Kunstwerk zu suchen. Nach einer langen Odyssee steht der «Cube» heute nicht hier in Zürich, sondern im Zellweger-Park in Uster. Es sollte nicht das letzte Mal sein, dass sich Zürich um öffentliche Kunst streiten würde.

Beim Kunstwerk von Henry Moore, inspiriert vom Anblick der Schafherden seiner englischen Heimat, haben viele Musiker ihren Stammplatz; mal klimpert einer auf der E-Gitarre, dann wieder hat einer ein Keyboard und Mikrofon aufgestellt. In der Badi Utoquai, die 1890 als zweiteiliges Kastenbad im maurischen Stil erbaut wurde, zeigt sich heute gerne nur mit Tanga bekleidete C-Prominenz mit Lederhaut, mittags mischen sich unter die Frauen und Männer, die diese Badi jeden Sommer aufs Neue zu ihrem Zuhause machen, sowie die Angestellten aus den Büroetagen in Seefeld und Bellevue: Anwälte, NZZ- und einige Ringier-Redaktoren, dazu die Möchtegern-Bohemiens und -Lebenskünstler. Der Kiosk hat sich seinen Namen von einer wichtigen Kunstausstellung geliehen: «Freie Sicht aufs Mittelmeer»; das war jene legendäre von Bice Curiger kuratierte Ausstellung im Kunsthaus, die mit dem Titel Bezug auf eine Forderung der Zürcher Punks nahm, die in den 1980er Jahren «Weg mit den Alpen, freie Sicht aufs Mittelmeer» forderten, und mit einer Riege der besten Künstler aufzeigte, in was für einem weitläufigen Kontext sich die zeitgenössische Schweizer Kunst mit u.a. Pipilotti Rist, Sylvie Fleury, Fischli/Weiss oder Gerda Steiner bewegte. Manche Quadratmeter in der Utoquai-Badi besetzen Neulinge nicht ungestraft mit ihrem Badetuch – denn allenfalls belegen sie damit genau den Platz, den ein Stammgast zu seinem Privatbesitz erklärt hat; und plötzlich taucht dieser oder diese auf und besteht darauf, dass sie bzw. er den unverschämten Störenfried verjagen kann. Herrlich ist es, an heissen Tagen kalt zu duschen und an den Leitern ins frische Seewasser zu sinken, eine Schwimmrunde zu drehen und auf einem der Holzflosse Zwischenhalt zu machen, bevor es wieder zurück zur Badeanstalt geht. Die Pestalozzi-Bibliothek stellt Lesestoff zur Verfügung. Und während das Wasser unter den Holzplanken der zweistöckigen Badi schäumt, gluckert, schnauft und zischt, stellen sich wechselnde Gruppen von lateinamerikanischen Folkmusik-Kombos daneben auf, schlagen in die Trommelfelle, blasen in die Panflöten. Draussen vor dem Eisverkaufsstand bildet sich eine immer gleich lange Schlange.

«Man beachte», sagt M, «dass die in regelmässigen Abständen aufgestellten Eisverkaufsstände Zürich-genormt sind.»

«Was willst du damit sagen?», fragt B irritiert. Sie spaziert in Zürich gern sowohl an sommerlichen Tagen als auch gelegentlich selbst bei kalter Witterung am Seeufer Zürichs entlang und geniesst den Ausblick auf das jeweils andere Ufer, beobachtet, wie die Schiffe über das Wasser gleiten, die tanzenden Lichterspiele, wenn es eindunkelt. Zugegeben, die öffentliche Anlage am See entlang, die jeder und jede kostenlos betreten darf, ist nicht riesig, denkt sie, doch mit Umsicht gestaltet.

Als hätte er ihre Gedanken gelesen, meint M: «In wohl wenig Städten ist der öffentliche Raum so detailversessen verwaltet wie hier in Zürich. – Schau dir die sogenannten Verkaufsgefährte einmal genau an.»