Eine Geschichte über

rein gar nichts

 

Roman

 

Thomas Arndt


 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Copyright: © 2014 Thomas Arndt

Verlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

ISBN 978-3-7375-1612-9


 

Erster Teil

Siebenundzwanzig Worte

Zwanzig Jahre

Ein vergessener Gott

Träumen

Erwachen

Ein Freund

Hochzeitsfoto mit Dämon

Feiertage

Die Einsamkeit der Gedanken

Zweiter Teil

Bekanntschaften

Robert

Unerhörte Ereignisse

Erklärungsversuche

Verwicklungen

Robert

Dritter Teil

Rebellion der Figuren

Vierter und Fünfter Teil

A: Ein Lied über rein gar nichts

B

C

1

D

2

E

3

4

F

5

6

7

8

 

Erster Teil

Siebenundzwanzig Worte

 

 

Wie tief fühlst du noch den Schmerz

Wie tief trifft dich noch ihr Blick

Denkst du immer noch du lebst

Denkst du immer noch die Hoffnung lebt

 

Diese vier Zeilen hatte Paul auf ein Blatt Papier geschrieben, ohne darüber nachzudenken, was er gerade tat. In diesen Sekunden war er nicht Herr über sich selbst, sondern Werkzeug der Worte, durch das sie auf Papier gebracht werden wollten, um in die Welt hinauszutreten. Die erste Strophe eines Gedichtes wollten sie sein und hofften, noch weitere Worte, Verse und Strophen würden sich schon bald zu ihnen gesellen; doch nichts dergleichen geschah und nach einer kurzen Weile legte Paul den Stift aus der Hand. Nun mussten die Worte erkennen, dass sie selbst nur Werkzeuge waren – Werkzeuge seiner Seele, durch die sie etwas loswerden wollte, sich auszudrücken suchte, auch wenn niemand da war, dem sie sich hätte mitteilen können.

Gerne hätte Paul weitergeschrieben. Doch verhinderte seine emotionale Verfassung, dass er all die Gedanken, die ihm durch den Kopf gingen, greifen, festhalten, ordnen und niederschreiben konnte. Er war zwar erstaunt und – soweit man das in diesem Augenblick sagen konnte – erfreut darüber, dass ihm die Verse recht gut gefielen, spiegelten sie doch in stark komprimierter Form seine Gefühlslage bemerkenswert treffend wider, doch nichts Schreibenswertes fiel ihm mehr ein; seine Seele schwieg, hatte sich der schwersten Last für den Moment entledigt. Nun suchte sie nicht mehr nach Worten, die ihrerseits Paul als Medium nicht länger benötigten.

Den eigenen Kopf trotz des darin herrschenden Gedankenchaos’ eigenartig gedankenverlassen empfindend, sah Paul noch einmal auf die Zeilen. Er wusste nicht, ob die Hoffnung und er noch lebten, obschon ihm hätte klar sein müssen, dass er nicht tot war. Denn er spürte noch immer ihren Blick, der wie eine dumpfe Last auf ihm lag, und er fühlte diesen ganz besonderen Schmerz, der ihm durch Leib und Seele fuhr, noch in den entlegensten Winkeln seiner selbst. Sogar die Worte, die er niedergeschrieben hatte, begannen zu leben und stachen ihm mitten ins Herz; und als er diesen Schmerz bewahren wollte, ohne zu wissen warum, löste er sich auf in einem anderen Schmerz, den zu ertragen er kaum in der Lage war.

Langsam verschwanden die vier Zeilen aus seinen Gedanken und nichts anderes als Leere blieb zurück. Sie wuchs heran, breitete sich aus, nagte ihn an, um Halt zu finden, sie kratzte, schlug und biss, trat ihm vom Kopf aus in den Magen – anders hätte er nicht beschreiben können, wie er sie empfand. Rasch lernte er, diese Leere zu fürchten. Er fand einfach keine Mittel, gegen sie anzukommen. Ihm kam es so vor, als läge sie mit tonnenschwerer Last auf ihm, obwohl sie nichts anderes als Leichtigkeit sein sollte. Doch so unbeweglich wie ein eisiges, schneebedecktes Gebirge schien sie ihm und sich ebenso kalt anfühlend lähmte sie seinen Körper. Unter ihrem Einfluss versagte sein Verstand, sodass er sich vollkommen ausgeliefert fühlte. Einzig Gedanken an Tania vermochten es, in diese Leere einzudringen und ihr Inhalt zu geben, nur noch sie, nur noch die Worte, die sie ihm vor einigen Tagen gesagt hatte und die Dinge, die unmittelbar danach geschehen und verantwortlich waren für siebenundzwanzig Worte in vier Zeilen auf einem Blatt Papier. Doch wie sehr wünschte er, was würde er nicht gegeben haben, hätten seine um Tania kreisenden Gedanken und die Inspiration zu diesen Zeilen eine andere Ursache gehabt.

Stunde um Stunde verrann, die Zeit verging, die Leere blieb und Paul fand keinen Weg, wie er sie loswerden konnte. Er versuchte sie auszuhusten, dachte daran sie auszukotzen, er hätte sich zur Ader gelassen, wenn auch nur die geringste Aussicht auf Erfolg bestanden hätte. Doch in seiner Situation waren Zuversicht und Hoffnung zu Begriffen geworden, deren Bedeutung und Sinn im Verborgenen lagen. Längst fühlte er sich paralysiert und wusste, dass Bitterkeit, Verständnislosigkeit, Sehnsucht, Verlangen, Wut sowie andere Gefühle und Emotionen begonnen hatten, die Leere zu füllen; eine Leere also, die keine war und die aus nichts anderem als aus einer wahren Gedanken- und Gefühlsflut bestand – welche Möglichkeiten gab es denn, sich ihrer zu erwehren? Am schlimmsten aber war, dass Tania diese Qualen ausgelöst hatte. Seit beinahe einem Jahr waren sie zusammen.

Vor etwa sechs Monaten war sie zu Paul gezogen, noch bis vorgestern hatten sie zusammen gelebt. Zuvor hatte er sich die Wohnung mit einem Kommilitonen geteilt, der die Universität gewechselt hatte. Sofort hatten beide erkannt, dass sie diese Gelegenheit nicht verstreichen lassen durften und in Windeseile war Tanias Einzug beschlossene Sache. Die WG-Ordnung wurde aufgelöst. Pauls Zimmer diente als Schlafzimmer, während der Raum des ehemaligen Mitbewohners zum Wohnzimmer umfunktioniert wurde. Mehr oder weniger war es aber die gesamte Wohnung, die kräftig durcheinandergewirbelt und neu arrangiert werden musste. Der ehemalige Mitbewohner hatte seine Möbel, Gegenstände und Geräte mitgenommen, die einen Großteil des Hausrats ausgemacht hatten. Mit einer Unmenge verschiedener Einrichtungsgegenstände ließ Tania die entstandenen Lücken rasch verschwinden und sorgte dafür, dass die Wohnung nicht wiederzuerkennen war. Das Ergebnis war ein gemütliches Heim gewesen, das nun leer und einsam wirkte.

Es wäre besser, wenn sie sich eine Zeitlang nicht sehen würden, lauteten die Worte, mit denen sie Paul aus heiterem Himmel ihren Auszug angekündigt hatte.

An jenem Tag war sie vor ihm nach Hause gekommen, verwehrte ihm den üblichen Begrüßungskuss, sagte, dass sie mit ihm reden müsse (da lächelte er noch), bat ihn, sich zu setzen und teilte ihm ihre Entscheidung mit. Ruhig und sachlich schilderte sie die vollendeten Tatsachen, vor die sie ihn stellte. Im Wesentlichen waren das der Auszug und der Termin desselben, verbunden mit der eindringlichen Bitte, er solle an diesem Tag nicht in der Wohnung sein. Das wäre das Allerbeste in dieser Situation.

Paul glaubte seinen Ohren nicht trauen zu können. Er versuchte ihr ins Wort zu fallen, sie aus der Fassung zu bringen in der Hoffnung auf ein plötzlich ausbrechendes Lachen, das ihm zeigen sollte, dass sie nur spaße (Aber was sollte das für ein Spaß sein?). Tania allerdings ließ ihn nicht zu Wort kommen. Abwehrend hob sie ihre Hände, wenn er versuchte, gegen das, was sie sagte, zu protestieren oder wenn er zu nahe an sie herantrat. Sie flüchtete regelrecht vor ihm durch die Wohnung. Paul verfolgte sie von der Küche auf den Balkon, zurück in die Küche, dann ins Wohnzimmer, ins Schlafzimmer, in den Flur und ins Bad. In jedem dieser Räume nahm sie einige Gegenstände ihres täglichen Bedarfs und stopfte sie hastig in eine große Sporttasche. Ihre Stimme wurde laut, hart und bestimmt, ohne dass sie schrie, wenn er sich ihr in den Weg stellte; und bevor sie ging, drückte sie ihm einen Zettel in die Hand, auf dem das Datum des Auszugs vermerkt war, damit er es nicht vergaß, und sagte, er solle nicht fragen, wohin sie gehe, sie würde sich bei ihm melden, wolle aber nicht, dass er sich bei ihr melde. Leise zog sie die Tür hinter sich zu. Er öffnete den Mund, so als ob er etwas sagen wolle, schloss ihn wieder, setzte sich im Flur auf den Boden und verstand nicht, was gerade geschehen war.

Kurz vor dem Auszug rief sie an, um sicherzugehen, dass er wirklich nicht in der Wohnung sein werde. Paul musste sich zusammenreißen, um ihr nicht zu sagen, was er von alldem hielt und wie es ihm ging, um nicht einfach loszuschreien, um sich Luft zu machen wegen der Art und Weise, auf die sie ihn behandelte. Außerdem warteten zahllose Fragen darauf, beantwortet zu werden. Er verstand nicht, warum sie überhaupt ausziehen wollte. Und dass sie nicht mit ihm darüber sprach, erzeugte ein Gefühl, als werde ihm der Boden unter den Füßen weggezogen. Da er vermutete, sie lege auf, sobald er gesagt habe, was sie hören wollte, antwortete er nicht auf ihre Fragen. Er konzentrierte die ihm gebliebene Kraft und nahm seinen gesamten Mut zusammen, um anzusprechen, worüber sie nicht mit ihm reden wollte.

Er wollte wissen, ob er etwas falsch gemacht habe, wohin sie gehe, was aus der Beziehung werde. Tania wich seinen Fragen aus. Sie sprach von persönlicher Entfaltung und Freiheit, sie brauche ein wenig Abstand, Zeit und Raum. Wie lange wisse sie nicht, versicherte jedoch, dass sie die Beziehung nicht beende. Mehr könne sie im Augenblick nicht sagen.

Er wusste nicht, was er davon halten sollte. Für ihn ergab das keinen Sinn. Er hielt ihre Worte für Ausflüchte, er fühlte sich abgefertigt und nicht ernst genommen. Mehr Freiheit forderte sie? Hatte er sie denn auf irgendeine Art und Weise eingeschränkt? Nie hatte sie etwas gesagt, das auch nur andeutungsweise in diese Richtung gewiesen hätte. Doch am meisten irritierte ihn, dass Tania ihn nicht verließ, indem sie aus der gemeinsamen Wohnung auszog und sie zusammen blieben, indem sie auseinander gingen.

Seit einigen Tagen war Paul allein. Tania hatten ihn im Regen stehen lassen, dachte er oft, hatte ihn zurückgelassen in tiefer und auswegloser Ratlosigkeit, in der seine Gedanken unentwegt einzig um sie kreisten. Krampfhaft suchte er nach einem Ausweg aus seinem Leid, nach einer Möglichkeit, wie er mit der Situation umgehen konnte, doch es gelang ihm nicht. Er liebte sie, seit er sie zum zweiten, dritten oder vierten Mal gesehen hatte, daran würde sich so schnell nichts ändern, und genau das war sein Problem, wie er meinte.

Trotzdem fragte er sich, ob er egoistisch sei, wenn er nur an sich dachte und sie bei sich wünschte. Um nichts in der Welt wollte er sie verlieren. Allein die Vorstellung, ohne sie zu sein, war für ihn ganz und gar absurd. Er fragte sich allerdings auch, ob nicht vielmehr sie egoistisch handelte, denn offensichtlich nahm sie keine Rücksicht auf ihn. Doch bei diesem Gedanken fiel ihm plötzlich wieder ein, dass sie noch zusammen waren und folglich alles nicht so dramatisch sein konnte. Sie hatte sich nicht von ihm getrennt und das war wichtiger als die Tatsache, dass sie ausgezogen war. Sie hatte ihn verlassen, ja, aber groteskerweise bedeutete das lediglich, dass die Beziehung weiterhin bestand. Er klammerte sich an die Vorstellung, dass sie seine Freundin war und blieb. Vielleicht brauchte sie wirklich nur etwas Abstand und Zeit.

Die Wohnung war leer, nicht nur wegen der fehlenden Möbel. Paul betrat den Balkon, vor dem sich in etwa einhundert Meter Entfernung der Dom befand. »Der steht schon seit über siebenhundert Jahren auf der selben Stelle.«, murmelte er halblaut vor sich hin. Der Anblick von Beständigkeit tat ihm gut, gab ihm doch das uralte Bauwerk ein Gefühl von Sicherheit. Es beruhigte ihn schon allein deshalb, weil es noch immer auf seinem angestammten Platz stand.

Der Dom wurde von Menschenhand konstruiert, über einen langen Zeitraum erbaut und bis heute beherrscht er das Bild der Stadt. Immer wieder musste und muss etwas ausgebessert und repariert werden, doch das war weder etwas Unmögliches noch etwas Ungewöhnliches, und der Dom machte den Eindruck, als wolle er auch den nächsten siebenhundert Jahren trotzen, komme, was da wolle. Diese Gedanken verglich Paul mit seiner Liebe zu Tania. Denn auch diese Liebe wurde konstruiert und erschaffen von Menschenhand und bedurfte sorgfältiger Pflege, wie er meinte. Hin und wieder muss etwas ausgebessert, verändert oder wiederhergestellt werden, um sie dauerhaft erhalten zu können. Vielleicht kümmerte sich Tania gerade jetzt um den Erhalt ihrer Liebe viel mehr, als er es tat. Sicher war er dessen jedoch nicht. Sie hätte mit ihm reden sollen, dachte er betrübt.

Vergeblich bemühte er sich, den unerwünschten Gedanken beiseite zu schieben, dass das Fundament des Doms aus Steinen, Mörtel, Erde und vielleicht aus Holz bestand, während sich das Fundament ihrer Liebe aus etwas anderem zusammensetzte, worüber sie nie gesprochen hatten. Vielleicht war das der Grund, warum der Dom noch immer stand, dachte Paul und war sicher, dass es viel einfacher ist, materielle Dinge zu pflegen, die man in die Hand nehmen oder wenigstens berühren kann, als immaterielle, die sich nur allzu gern einem direkten Zugriff entziehen. Trotzdem stimmte ihn der Grundtenor seiner Gedanken optimistischer, denn Tania und er konnten an ihrer Liebe arbeiten. Sie waren noch zusammen, sie ist nur für eine unbestimmte Zeit ausgezogen, sagte er sich, das verwirrte und bedrückte ihn sehr, doch nicht alles war verloren.

Anschließend lief er ruhelos in der Wohnung umher und versuchte vergebens, sich mit verschiedenen Betätigungen abzulenken: er kochte Kaffee, aß etwas, blätterte in einem Buch, in der Fernsehzeitung, drehte sich eine Zigarette und rauchte sie halb, schaltete den Fernsehapparat ein und sofort wieder aus, spülte Geschirr (einen Teller, eine Tasse, ein Messer und einen Löffel), las die bereits gelesene Tageszeitung, ohne dass ihm auch nur ein einziges Wort im Gedächtnis blieb, schloss ein Fenster . . . all das tat er innerhalb von etwa sieben Minuten. Paul war allein.

Quälend langsam vergingen die Minuten, die Stunden währten ewig, Tage spürte er nicht mehr. Schließlich bemerkte er, wie sich sein Verstand, sein Gefühl und seine Intuition verselbständigten. Die sensible Abstimmung zwischen ihnen ging verloren, sie begannen einander zu blockieren, sodass er zusehends in Lethargie versank, jedoch ständig unruhig war. Alles, was seine Situation bestimmte, staute sich auf, konnte nicht verarbeitet werden, nahm an Dichte zu und füllte ihn schon bald in solchem Maße aus, dass es ihn lähmte und zugleich eine innere und äußere Spannung erzeugte, die ihn jederzeit auseinanderreißen konnte. In solch einem Augenblick betrat er den Balkon. Er sah, dass sich der Tag langsam verabschiedete und, die Sonne mit sich nehmend, seines Weges ging. Apathisch sah er sie an und hätte mit Sicherheit nicht bemerkt, hätte sie in einer anderen Farbe gestrahlt. Bedrückt blickte die Sonne auf ihn herab und wünschte ihm eine gute Nacht, wissend, dass ihr Wunsch nicht in Erfüllung gehen würde.

Nur selten verließ Paul in diesen Tagen seine vier Wände. Tat er es doch, dann lediglich, um den Briefkasten zu leeren oder Lebensmittel zu besorgen, auch wenn er kaum etwas zu sich nahm. Er zog sich zurück und brach den Kontakt zur Außenwelt beinahe vollkommen ab. Er hatte schlicht keine Lust, irgendjemanden zu sehen, geschweige denn mit jemandem zu sprechen, es sei denn, es handelte sich um Tania. Er meldete sich weder bei seinen Freunden, noch bei seiner Familie, und auch für die Nachbarn, denen er zufällig im Treppenhaus begegnete, was er zu vermeiden suchte, fand er nur ein kurzes klangloses Grußwort.

Verspürte er doch einmal den Drang, sich ein wenig Bewegung zu verschaffen und verließ aus diesem Grunde die Wohnung, dann kam es vor, dass er, unten angekommen, sich umsah, die Umgebung kurz betrachtete, auf der Türschwelle kehrtmachte und wieder nach oben ging. Ein Blick hatte ihm genügt, um irgendwo einen lachenden Menschen zu entdecken, der seiner Meinung nach sein Lachen in seine Richtung geworfen hatte. Paul war sehr empfindlich in diesen Tagen und fühlte sich von fröhlichen Menschen entdeckt, verraten und verfolgt. Auch wenn er genau wusste, dass sie keine Gelegenheit gehabt hatten, ihn im Hauseingang wahrzunehmen, ließ sich seine Empfindlichkeit dadurch nicht stören und ignorierte erfolgreich seinen Verstand, der noch immer recht kraftlos war.

Selbst wenn es ihm gelang, die Türschwelle und die eingebildeten Blicke zu überwinden, verflog sein Bewegungsdrang schon nach kurzer Zeit. Ein paar Straßen überquerte er, ein paar hundert Meter lief er in eine beliebige Richtung und erreichte nach einigen Minuten wie von unsichtbarer Hand geführt die Straße, in der er wohnte. Nun genügten wenige Schritte, um das Haus zu erreichen, die Treppe emporzusteigen, die Tür zu öffnen und anzukommen in den halbleeren Räumen, denen es gleichgültig war, ob er kam oder ging, die sich ebenso wie er nach Tania, ihren Möbeln und den vielen Gegenständen sehnten, von denen sie vollgestopft gewesen waren. Nun atmete er wieder den beißenden Geruch der Verlassenheit, der in den Atemwegen und der Lunge ätzte und ihm die eine oder andere kleine Träne in die Augen trieb, den er aber freiwillig eintauschte gegen den Geruch der Straße, der der Geruch des Lebens und der Welt außerhalb der Wohnung war, den er jedoch nicht riechen konnte oder wollte, weil er ihm nichts bedeutete, da Leben und Welt für ihn zu Begriffen geworden waren, die einzig in Verbindung mit Tania einen Sinn besaßen. Nun war er wieder in der Wohnung, die ihm ohne sie fremd und unbehaglich vorkam, jedoch Ruhe schenkte und ihn versteckte. Paul verkroch sich in die Stille der Räume. Er bemerkte nicht, wie die Luft in ihnen stickig und auf eigentümliche Weise sauer und bitter zugleich wurde. Er atmete ein, was er ausgeatmet hatte.

Langsam, geradezu unmerklich, vollzog sich ein gewisser Wandel in seinem Befinden. Er gewöhnte sich an seinen Zustand, da dieser sich einfach nicht veränderte. Das heißt nicht, dass es ihm nun etwa besser ging, er wurde lediglich gelassener und gefasster. Seine Gefühle beruhigten sich soweit, als dass sie davon abließen, seine Gedanken ständig um Tania kreisen zu lassen. Paul erlangte seine Geisteskraft zumindest ansatzweise zurück, wodurch die Ereignisse der letzten Tage von der seelischen Ebene gelöst und der rationalen zugänglich gemacht werden konnten. Die damit beginnende Verarbeitung der Geschehnisse ging zwar nur schleichend und nicht ohne emotionale Achterbahnfahrten vonstatten, doch wenigstens hatte sie überhaupt begonnen.

Ihm fiel auf, dass Tania ihr Vorgehen allem Anschein nach sorgfältig geplant hatte. Der Termin des Auszugs musste bereits einige Zeit festgestanden haben. Zu kurz war die Spanne, die zwischen dem Tag der Ankündigung und dem Tag verging, an dem ihre Möbel aus der Wohnung verschwunden waren. Es musste eine Wohnung oder ein Zimmer gegeben haben, wo sie einziehen konnte. Außerdem hatte sie offensichtlich Freunde oder Verwandte organisiert, denn allein hätte sie die Arbeit nicht bewältigen können. Angesichts dieser Vorstellung wurde Paul sogar ein wenig froh darüber, die Aktion nicht miterlebt zu haben. Vermutlich war ihnen dadurch eine üble Situationen erspart geblieben, wie er meinte, und erinnerte sich, dass er nicht nur einmal von nun getrennten Paaren gehört hatte, die ihr Auseinandergehen auf diese Weise vollzogen hatten; Tanias Auszug folgte also Vorbildern.

Nur wenige Augenblicke später wurde ihm klar, dass er es nur ihrer Gnade zu verdanken hatte, überhaupt über ihre Absichten in Kenntnis gesetzt worden zu sein. Denn genauso gut hätte sie ihn ohne ein einziges Wort verlassen können. Er stellte sich vor, wie er an jenem Tag nach Hause gekommen wäre und weder sie noch ihre Möbel vorgefunden hätte – einige Sekunden wurde ihm schwarz vor den Augen, dann wurde er wütend. Dass sie ihm keine Gelegenheit gab, mit ihr zu reden, steigerte seine Wut, und dass sie sich ihm entzog, indem sie verschwieg, wo sie nun zu erreichen war, ja dass sie nicht zu erreichen sein wollte, machte alles noch schlimmer. Und trotz allem trennte sie sich nicht von ihm, wollte, wie sie sagte, die Beziehung nicht aufgeben. Voller Zorn dachte er, es wäre besser gewesen, wenn sie Nägel mit Köpfen gemacht und ihn verlassen hätte. Obwohl er genau das nicht wollte, hätte er damit etwas anfangen können. Eine richtige Trennung sei etwas Handfestes, selbst wenn man die geliebte Frau verliert, sagte er sich, dann könnte man wütend sein und hassen, sich betrinken, etwas kaputt machen und vielleicht sogar weinen, aber man kann etwas tun, weil es einen konkreten Anlass gibt.

Weg war sie, seine Freundin. Irgendwo anders und er wusste nicht wo. In den Armen eines anderen vielleicht? Und schon stach der Schmerz unerbittlich zu: ihm verkrampfte sich das Herz, ihm wurde schlecht. »Nein! Es gibt keinen anderen!«, stieß er schreiend in die leere Wohnung aus. So gut kannte er sie, in diesem Fall hätte sie Schluss gemacht. »Bleib still! Komm runter! Denk nicht mal dran!«, versuchte er sich zu beruhigen. Doch seine Wut über sie und ihre in seinen Augen unbegründete und unberechtigte Flucht überwand er nicht.

Pauls Zorn hielt nicht lange vor. Sein Verstand wurde müde und wollte keinen weiteren Gedanken fassen. Doch all die im Herzen erlittenen Stiche hörten nicht auf, ihm weiterhin Schmerzen zu bereiten. Ihm war klar, dass er nichts anderes tun konnte, als möglichst wenig an sie zu denken. Andernfalls würde er sich den Gefahren neuerlicher Vermutungen und Erkenntnisse aussetzen. Je besser es ihm jedoch gelang, sich auf andere Gedanken zu bringen, desto heftiger spürte er seine Sehnsucht nach Tania. Was nützte es ihm also, mit größter Anstrengung seinen Geist zu manipulieren, solange seine verletzte Seele ihr kochendes Blut auf sein Herz schüttete? Paul wähnte sich in einer Falle. Er hetzte sich wie ein Tier mit seinen eigenen Gedanken, Emotionen und Gefühlen. Er drehte sich im Kreis, ihm wurde schwindlig und schlecht, er konnte nicht bremsen und auszubrechen vermochte er erst recht nicht; allein Tania konnte dieses perfide Karussell zum Stillstand bringen. Warum tat sie es nicht? Als er dieser Frage nachging, schoss ihm ein ganz anderer Gedanke durch den Kopf: Von wegen nicht erreichbar! Seit Tagen ist sie schon weg und ich Idiot denk nicht mal dran, sie auf dem Handy anzurufen...

Umständlich hielt er sein Handy in der Hand. Er musste darauf achten, dass er es nicht fallen ließ. Er wunderte sich und bemerkte, wie stark er zitterte. Sein gesamter Körper war in Aufregung geraten und seine Nervosität steigerte sich noch, als er Tanias Nummer suchte. Er fand sie schließlich, nachdem er sie einige Male absichtlich überblättert hatte; er zögerte und wählte nicht sofort.

Soll ich es wirklich tun?, fragte er sich. Gegen ihren Willen anrufen? Etwas Abstand und Zeit brauche sie, fiel ihm wieder ein. Sollte er ihren Bedürfnissen zuwiderhandeln? Er war sich nicht sicher. Er respektierte ihre Wünsche und stellte sich hinten an, obwohl er nichts sehnlicher wünschte, als einfach nur mit ihr zu reden. All die negativen Dinge, die er eben noch über sie gedacht hatte und die durchaus im Bereich des Möglichen lagen, spielten schon keine Rolle mehr. Er bemerkte, wie die Sehnsucht an ihm hinauf kroch. Durch Mund und Nase würde sie in sein Inneres gelangen, würde sich einen Weg direkt zu seinem Herzen bahnen, würde hinein beißen, würde es zerfetzen und es sich in den Überresten gemütlich machen.

Paul starrte auf sein Handy. Es war idiotisch, sie anzurufen. »Was soll ich ihr sagen? Was fragen?«, stammelte er unruhig. Doch auf diese Fragen fand er keine Antworten. Er kam sich lächerlich vor. Sie würde nicht abnehmen, wenn sie seine Nummer sah, dachte er, und falls doch, werde sie nur wiederholen, was sie ihm bereits gesagt hatte und auflegen. Vielleicht würde sie sogar böse werden. Die Tania, die er kannte, war eine andere gewesen, als die, die er gerade kennengelernt hatte; ihr einst klares Bild verschwamm vor seinen Augen. Ihn verließ der Mut. Er sackte zusammen, ließ das Handy aus den Fingern gleiten und starrte ins Nichts.

In dieser Weise wechselten sich Verlangen und Unentschlossenheit einige Male ab. Doch nicht nur wuchs das Bedürfnis, ihre Stimme zu hören, sondern auch die Kraft, tatsächlich einen Versuch zu wagen. Alle Gründe, die gegen einen Anruf sprachen, wurden mehr und mehr verdrängt, und als er endlich soweit war, erneut das Handy in der Hand hielt und nur noch wählen musste, begann es zu läuten. Er starrte auf das Display – doch es blieb schwarz.

Festnetz und Tania, schoss ihm durch den Kopf. Sie meldete sich also wirklich! Und obwohl endlich der Moment gekommen war, auf den er solange gewartet hatte, zögerte er, den Anruf entgegenzunehmen. Wie versteinert stand er mitten im Zimmer, starrte auf das klingelnde Telefon und war kurz davor, sich die Gelegenheit entgehen zu lassen. Was hätte sie zu sagen, fragte er sich. Könnte sie nicht anrufen, um einen Schlussstrich zu ziehen? Das würde sie nicht am Telefon tun, meinte er, hielt es aber für unwahrscheinlich, dass sie ihm mitteilte, alles sei wieder in Ordnung. Im Grunde genommen konnte es sich nur um einen Kontrollanruf handeln. Eine Pflichterfüllung derart, wie man jemanden nach dem Befinden fragt, von dem man weiß, wie es ihm geht oder es sich zumindest ausmalen kann. Er nahm an, dass sie nicht miteinander darüber sprechen würden, worüber sie dringend sprechen müssten. Er würde sich genötigt fühlen, so zu tun, als gehe es ihm gut, als würde er mit der Situation zurechtkommen. Er würde vortäuschen, über ihren Anruf überrascht und erfreut zu sein, wie man es ist, wenn sich ein Bekannter nach langer Zeit wieder einmal meldet. Er jedoch wollte mit ihr über das Geschehene sprechen, über die Gründe des Auszugs und darüber, was nun werden sollte.

All dies fuhr ihm innerhalb weniger Sekunden durch den Kopf. Es war wie ein Blitz, der in seinem Gehirn einschlug und nichts als Chaos stiftete, der alles versengte und verbrannte, der alles mit sich riss, was ihm in die Quere kam – seine Gedanken.

Pauls Kopf war leer, sein Körper starr, sodass nicht daran zu denken war, den Hörer abzunehmen. Nach einer kurzen Weile schaltete sich der Anrufbeantworter ein. Paul hatte nicht daran gedacht, hatte ihn regelrecht vergessen und nun verschlug es ihm in Erwartung ihrer Stimme den Atem. Als er dann die Worte hörte »He, was ist? Warum gehst du nicht ran, bist du wirklich nicht zu Hause? Nun nimm schon ab . . . «, erkannte er die Stimme nicht. Das war nicht Tania, soviel stand fest, es war eine Männerstimme. Er solle sich gefälligst einmal melden, schließlich seien Semesterferien, gab der Anrufer noch von sich, dann legte er auf und es wurde still. Paul setzte sich auf den Boden und begann wieder zu atmen, ganz langsam und zaghaft, so als erwache er aus einem Alptraum und begreife, dass er nur geträumt hatte. Doch es war kein Traum. Nicht Tanias Stimme hatte er vernommen, sondern die seines Freundes Stefan. Die falsche Stimme und Ferien, dachte Paul. Es sind ja Ferien. Wie schön! Zurückrufen wollte er aber nicht.

Paul war am Ende. In seinen Gliedern fühlte er eine große Müdigkeit aufsteigen. Samtweich und warm breitete sie sich aus. Er empfand ein längst vergessenes wohliges Gefühl und ihm wurde klar, dass er seit Tagen kaum ein Auge zugetan hatte. Durchwachte Nächte, durchwachte Tage – wie viel Kraft musste ihm das gekostet haben? Doch Luna hatte ihn nicht vergessen, auf sie war Verlass und nun kam sie, sang ihm ein Wiegenlied, deckte ihn zu und schenkte ihm Stunden der Ruhe, in denen er nicht denken und empfinden musste; so unsagbar süße Stunden des Vergessens.

Ferien, dachte Paul noch einmal. Zeit, um endlich auszuschlafen. Dann schlossen sich seine Augen und blickten ins Dunkel und nur sein Körper blieb in der Welt zurück. Er fiel in einen Schlaf, der ganz und gar kein gewöhnlicher war. Nicht genug, dass Luna über ihn wachte, sorgte fortan Morpheus dafür, dass Paul, während er ruhte, all das nachholte, wozu er in den letzten Tagen nicht in der Lage gewesen war. Der Gott der Träume bewirkte, dass sich Paul träumerisch mit seiner Situation auseinandersetzte. Er ließ Seele und Geist des Gemarterten zur Ruhe kommen, wodurch die Lethargie, der Schmerz und die Sehnsucht, die sich in seinem Herzen festgebissen hatten, in ihrer lähmenden und destruktiven Wirkung ein wenig abnahmen. Auch Pauls Körper erholte sich, selbst wenn das nicht mehr als ein angenehmer Nebeneffekt war.