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Christina Rummel

Raphael Gaßmann (Hrsg.)

Sucht: bio-psycho-sozial

Die ganzheitliche Sicht auf Suchtfragen

Perspektiven aus Sozialer Arbeit, Psychologie und Medizin

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2020

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-036372-4

E-Book-Formate:

pdf:    ISBN 978-3-17-036373-1

epub: ISBN 978-3-17-036374-8

mobi: ISBN 978-3-17-036375-5

Inhalt

 

 

 

  1. Vorwort
  2. Dr. Raphael Gaßmann
  3. 1 »Bio-psycho-soziales Modell« – Steckbrief und Perspektiven
  4. Felix Tretter
  5. 1.1 Grundfragen zur Theorie der Sucht
  6. 1.2 Das bio-psycho-soziale Modell – die Ursprünge
  7. 1.3 Das bio-psycho-soziale Modell – die Gegenwart
  8. 1.4 Das bio-psycho-soziale Modell – die Zukunft
  9. 1.5 Grenzen des Reduktionismus und Gründe für die Mehrdimensionalität von Krankheitsmodellen
  10. 1.6 Neuere integrierte theoretische Konzepte in der Psychiatrie
  11. 1.7 Perspektiven der Humanökologie
  12. 1.8 Fazit
  13. Literatur
  14. 2 Die Ottawa-Charta zur Gesundheitsförderung – Entstehungshintergründe, Konzept, Umsetzung in Deutschland, Entwicklungsperspektiven
  15. Uwe Prümel-Philippsen
  16. 2.1 Entstehungshintergründe der Ottawa-Charta
  17. 2.2 Das Konzept der Ottawa-Charta
  18. 2.3 Umsetzung in Deutschland
  19. 2.4 Entwicklungsperspektiven
  20. Literatur
  21. 3 Anwendung der ICF im Versorgungsalltag: Potenziale und Herausforderungen
  22. Angela Buchholz
  23. 3.1 Einführung
  24. 3.2 Anwendung der ICF in der Versorgung von Menschen mit substanzbezogenen Störungen
  25. 3.3 Fazit
  26. Literatur
  27. 4 Theorie und Praxis des bio-psycho-sozialen Modells: Rolle und Beitrag der Medizin
  28. Ulrich Kemper
  29. 4.1 Sucht als Krankheit
  30. 4.2 Die Rolle des Arztes
  31. 4.3 Exkurs: Alles bio oder was?
  32. 4.4 Medizinalisierung der Suchthilfe?
  33. Literatur
  34. 5 Theorie und Praxis des bio-psycho-sozialen Modells: Rolle und Beitrag der Psychologie
  35. Clemens Veltrup
  36. 5.1 Was wirkt – evidenzbasierte Psychotherapieverfahren
  37. 5.2 So kann man es machen – psychotherapeutische Manuale zur Behandlung der Sucht
  38. Literatur
  39. 6 Theorie und Praxis des bio-psycho-sozialen Modells: Rolle und Beitrag der Sozialen Arbeit
  40. Katrin Liel
  41. 6.1 Die Makroebene: Gesellschaftliche Aspekte
  42. 6.2 Die Mikroebene: Individuelle Aspekte
  43. 6.3 Die Praxis Sozialer Arbeit in der Suchthilfe
  44. 6.4 Wird das Soziale großgeschrieben?
  45. Literatur
  46. 7 Soziale Unterschiede als Schlüssel zur Reduktion von Krankheit
  47. Ulrich John, Jennis Freyer-Adam, Sophie Baumann, Sabina Ulbricht, Hans-Jürgen Rumpf, Christian Meyer
  48. 7.1 Soziale Unterschiede als Krankheitsursache
  49. 7.2 Soziale Unterschiede in der Reduktion von Krankheiten
  50. 7.3 Fazit
  51. Literatur
  52. 8 Soziale Unterschiede im Alkoholkonsum von Jugendlichen und Erwachsenen
  53. Thomas Lampert, Cornelia Lange, Benjamin Kuntz
  54. 8.1 Soziale Unterschiede im Alkoholkonsum von Jugendlichen
  55. 8.2 Soziale Unterschiede im Alkoholkonsum von Erwachsenen
  56. 8.3 Diskussion
  57. Literatur
  58. 9 Warum Jugendliche sich mit Alkohol vergiften – Soziale Einflussfaktoren und Perspektiven struktureller Gesundheitsförderung
  59. Heidi Kuttler
  60. 9.1 Rauschtrinken im Jugendalter
  61. 9.2 Trinkmotive von Jugendlichen
  62. 9.3 Mit Alkoholvergiftung im Krankenhaus
  63. 9.4 Prävention von Rauschtrinken bei Jugendlichen – Wo ansetzen?
  64. 9.5 Alkoholprävention im Spannungsfeld von Gesundheits- und Wirtschaftsinteressen
  65. 9.6 Alkohol ab 16 – kein Problem!?
  66. 9.7 Alkohol und die Werbung
  67. 9.8 Verfügbarkeit von Alkohol: fast immer und überall
  68. 9.9 Alkohol ist billig
  69. 9.10 Politik und Alkoholindustrie
  70. 9.11 Make healthy choices easy choices – Macht gesunde Entscheidungen zu einfachen Entscheidungen!
  71. Literatur
  72. 10 Möglichkeiten und Grenzen bei der Evaluation der Effekte des bio-psycho-sozialen Modells aus der Perspektive der Sozialarbeitswissenschaft
  73. Benjamin Löhner und Robert Lehmann
  74. 10.1 Einleitung
  75. 10.2 Wirkungsforschung und evidence based practice (EBP) in der Sozialen Arbeit
  76. 10.3 Das Konzept der gesundheitsbezogenen Lebensqualität und seine Bedeutung in der Suchthilfe
  77. 10.4 Ist Lebensqualität messbar?
  78. 10.5 Ansätze der Wirkungsforschung in der Sozialen Arbeit
  79. 10.6 Messung von Lebensqualität in der Suchthilfe – Qualimeter
  80. 10.7 Die Realistic Evaluation am Beispiel des Wirkungsradars
  81. 10.8 Fazit
  82. Literatur
  83. 11 Ist das bio-psycho-soziale Modell mehr als eine Metapher?
  84. Peter Sommerfeld
  85. 11.1 Rahmung
  86. 11.2 Zur Wirkmächtigkeit der sozialen Dimension: die sozialepidemiologische Evidenz
  87. 11.3 Zur Komplexität bio-psycho-sozialer Dynamik und ihrer theoretischen Modellierung
  88. 11.4 Ein Fallbeispiel
  89. 11.5 Die soziale Dimension, die Soziale Arbeit und die interprofessionelle Zusammenarbeit
  90. Literatur
  91. 12 Reden wir vom ganzen Menschen?! Der Beitrag des bio-psycho-sozialen Modells für ein modernes Verständnis der Suchterkrankung
  92. Simone Bell-D‘Avis
  93. 12.1 Vom mehrdimensionalen Verständnis und multifaktoriellem Entstehen einer Sucht
  94. 12.2 Emanzipation der helfenden Berufe und heilsame Entsakralisierung
  95. 12.3 Die Rückkehr der höheren Macht und einer Respiritualisierung der helfenden Berufe
  96. Literatur
  97. 13 Ausblick
  98. Christina Rummel
  99. 13.1 Weiterentwicklung der Hilfesysteme gefordert
  100. 13.2 Bio-psycho-sozial-digital?
  101. 13.3 Das Soziale muss großgeschrieben werden
  102. Literatur
  103. Autorinnen und Autoren

Namentlich gekennzeichnete Beiträge entsprechen nicht unbedingt der Meinung der Herausgeber oder der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen e. V.

Vorwort

Dr. Raphael Gaßmann

 

Wohl keine chronische Erkrankung zeigt neben medizinischen und psychischen derart umfassende soziale Ursachen und Folgen, wie der weit verbreitete Missbrauch oder die Abhängigkeit von Suchtstoffen. Partner und Kinder; Freunde und Bekannte; das gesamte Umfeld am Arbeitsplatz; völlig außenstehende Personen in allen Bereichen der Öffentlichkeit, ob in Freizeitzusammenhängen, als Verkehrsteilnehmer oder Geschäftspartner, sind regelmäßig und wider Willen involviert in Entstehung und Verlauf der Krankheit. Und die Liste ist noch wesentlich länger.

Zugleich werden Verlauf und Heilung nur weniger chronischer Erkrankungen derart grundlegend ermöglicht und befördert von sozialen Interaktionen, Gesprächen, Gruppenerfahrungen, Begleitung, Krisenintervention, Motivation und Unterstützung.

Vor diesen Hintergründen erlebt das Feld der Suchtprävention, -beratung und -behandlung derzeit (bisweilen offensiv) geführte Neu-Verteilungsprozesse. Gegenstand der Auseinandersetzungen sind vor allem die Zuständigkeiten medizinischer, psychologischer und sozialer Berufe und Institutionen in Suchtfragen. Wem obliegen welche Kompetenzen? Wer übernimmt welche Leistungen? Wie kooperieren welche Versorgungsbereiche? Wer bindet welche Nachbarprofession wie in sein Vorgehen ein?

Verbände und Funktionäre aus dem Bereich der Psychotherapie befassen sich gegenwärtig erstmals intensiver mit Suchtfragen. Sie proklamieren berufsständische Kompetenz und Zuständigkeit, wo doch niedergelassene Psychotherapeuten bislang die ambulante Behandlung abhängiger Klienten regelmäßig ausschließen, bis deren Sucht mit anderer Hilfe erfolgreich bearbeitet wurde. Und auch an psychologischen Fakultäten fristen Suchttherapie und -forschung kaum ein Nischendasein.

Ähnlich in der medizinischen Versorgung. Im gesamten Studium findet das Thema meist allenfalls für ein bis zwei Stunden im Kursus Allgemeinmedizin statt. Nennenswerte Forschungsgelder werden vorwiegend in praxisferne Grundlagenforschung, den Aufbau einer DNA-Datenbank oder die Markteinführung von Medikamenten investiert, deren Effekte diejenigen bereits vorhandener Arzneien nicht einmal übertreffen. Erstaunlich: Auch Jahrzehnte nach Thure von Uexküll, Nestor des Bio-Psycho-Sozialen in der Medizin, wirken medizinische wie psychologische Forschung immer noch dem Dogma verhaftet, ihre Rechenevidenz-Basierung wäre zur Darstellung »objektiver Realität« geeignet.

Als Folge werden in der allgemeinen ärztlichen wie in der psychologischen Praxis Konsum und Abhängigkeit von Suchtmitteln überwiegend erst dann besprochen, wenn sich das Problem unverkennbar in den Vordergrund drängt.

In diesem Umfeld trägt Soziale Arbeit seit den 1970er Jahren, abgesehen vom medizinischen Entzug an Allgemeinkrankenhäusern, einigen spezialisierten Abteilungen der Psychiatrie und den Angeboten von Suchtkliniken, die Hauptaufgaben in Verhaltensprävention, Frühintervention, Beratung, Begleitung und Behandlung von Süchten und Suchterkrankten. Sie arbeitet mit Klientinnen und Klienten interaktiv und unmittelbar beteiligungsorientiert in Einzel- und Gruppenarbeit. Gemeinsame Zielfestlegung, Wissensvermittlung, Erarbeitung von Handlungsalternativen und Strategien im Umgang mit psychosozialen Prozessen, Fallmanagement über Phasenverläufe hinweg oder der Aufbau interprofessioneller Kooperation sind Grundlagen ihres Handelns und seit Jahrzehnten auch sozialarbeiterischer Suchthilfe. Die meisten ihrer Erfolge basieren dabei auf sozialpädagogischen Kernkompetenzen und umfassendem Erfahrungswissen.

Die Ergebnisse klinischer Grundlagenforschung können Soziale Arbeit wenig bereichern, da ihr quantitatives Evidenz-Verständnis kaum praxisrelevante Erkenntnisse für sozial-orientiertes Handeln generiert. Eine eigene, qualitativ-evidenzbasierte Forschung der Sozialen Arbeit mit vorwiegend sozialwissenschaftlichen Methoden aber befindet sich, vor allem aufgrund ihrer Kostenintensität und meist anders gelagerten Kompetenzen der Lehrenden, nach wie vor allenfalls in den Anfängen.

Antonovskys Untersuchungen zur Salutogenese identifizierten Risiko- und Schutzfaktoren und deren Zusammenwirken in Prozessen von Gesundheit und Krankheit. Als insgesamt ausschlaggebend beschreibt er »Kohärenz«, das menschliche Vermögen, gesundheitlichen Risiken und Belastungen zu widerstehen, sie zu be- und verarbeiten. Menschliche Kohärenz wird vor allem durch die Intensität dreier subjektiver Empfindungen geprägt: 1. die Zusammenhänge des eigenen Lebens zu verstehen, 2. es gestalten zu können und 3. eine Bedeutung, einen Sinn darin zu erkennen.

Diese für das gesamte Leben von Grund auf richtungweisenden Empfindungen und Überzeugungen werden wesentlich in den persönlichen und gesellschaftlichen Bereichen des sozialen Lebens begründet, entwickelt und stabilisiert. Verhalten und Erfahrungen im Umgang mit Familie und Freunden, Nachbarn und Kollegen sowie in vielen anderen sozialen Bezügen prägen unsere Kohärenz – und befinden sich bei Suchterkrankten meist in kritischem Zustand. Hier setzten Unterstützung und Begleitung durch Soziale Arbeit erfolgreich an.

Medikamentöse Therapien helfen dabei, indem sie (psycho-)somatische Risiken und Belastungen mindern oder heilen. Damit ermöglichen sie neben sozialen oft auch erst psychologische Prozesse, die Selbstwert, Zuversicht und konstruktive Handlungsfähigkeit fördern oder gar erzeugen.

Theorie und Praxis der Suchthilfe bestätigen nachdrücklich, dass dauerhafte Erfolge ein bio-psycho-soziales Behandlungsverständnis voraussetzen. Keiner dieser Ansätze kann das Fehlen eines anderen auch nur unzulänglich kompensieren. Ein in diesem Sinne nicht ganzheitliches, integratives Vorgehen wäre weder effektiv noch effizient. Es hilft eher den Helfern als den Hilfesuchenden.

Die derzeitige Situation der Suchtbehandlung wird umfassend beklagt. Dabei fehlt es grundlegend keineswegs am Geld allein. Sie ist defizitär auf allen drei Gebieten des Bio-Psycho-Sozialen und mangelhaft hinsichtlich deren gleichberechtigter Integration. Ihre Verbesserung im Interesse der Klientinnen und Klienten wird durch die angesprochenen berufsständischen Neu-Verteilungsprozesse behindert statt gefördert, weil sie professionelle Hegemonien statt Integration anstreben. Vielmehr bedarf die Suchthilfe in Deutschland dringend und vor allem

•  der Integration von Suchtfragen und entsprechender Handlungskompetenzen in die allgemeine ärztliche und psychotherapeutische Ausbildung und Praxis

•  der wissenschaftlichen Fundierung Sozialer Arbeit in Forschung und Lehre

•  eines weiter ausgebauten Netzes sozialarbeiterischer Suchtberatung und -behandlung als Regelleistung für alle Bürgerinnen und Bürger

•  integrierter Versorgungszentren unter gemeinsamer Verantwortung und Leitung von Ärzten, Psychologen und Sozialarbeitern

•  der allseitigen Kooperation mit Suchtselbsthilfe und

•  der bio-psycho-sozial ausgerichteten Erforschung von Suchtfragen mit qualitativen Methoden

Angesichts der bekannt extremen Ungleichverteilung von Gesundheitslasten auch bezüglich Suchterkrankungen sollte dabei nicht zuletzt eine konsequente Berücksichtigung von Armutsfolgen in allen Bereichen der Suchthilfe selbstverständlich sein: bio, psycho und sozial. Das legendäre WHO-Programm »Gesundheit für alle bis zum Jahr 2000« scheiterte an der national wie global durch Armut bedingten Unzugänglichkeit von Gesundheitsleistungen. Lernen wir daraus.

Der vorliegende Band vereint Beiträge zu einer ganzheitlichen Sicht auf Suchtfragen aus einer ausgesuchten Fülle wissenschaftlicher und professioneller Blickrichtungen. Er will Impulse für eine wirksame, klientenzentrierte Suchthilfe in Deutschland geben; jenseits von Begehrlichkeiten, tatsächlichen und scheinbaren Sachzwängen des Geschäfts. Weit mehr als Grundlagenforschung bedarf jegliche Suchthilfe dieser Grundlagendiskussion.

Wir danken allen, die unserem Band ihr Wissen, ihre Erfahrungen, Zeit und Geld zur Verfügung gestellt haben. Vor allem aber danken wir unseren Leserinnen und Lesern für ihr Interesse und wünschen eine angenehme Lektüre.

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Der Sammelband folgt, neben langjähriger Beschäftigung aller Beteiligten, auch auf eine Tagung, gefördert durch das Bundesministerium für Gesundheit. Hierfür sei diesem gedankt.

1          »Bio-psycho-soziales Modell« – Steckbrief und Perspektiven

Felix Tretter

1.1       Grundfragen zur Theorie der Sucht

Bei Überlegungen zur Bedeutung des theoretischen bio-psycho-sozialen Modells (BPSM) für die praktische Suchtarbeit ist die Klärung, von welcher Position aus man diese Frage behandeln will, wichtig. Insofern man mit dem BPSM Krankheit und Gesundheit (z. B. Suchtphänomene) in einem integrativen Rahmen verstehen, erklären, vorhersagen und letztlich kausal behandeln und verhindern will, ist das BPSM eine rahmenstiftende Theorie, die Orientierungen zum Phänomen Sucht liefern soll (Schurz 2006).

Für eine derartige »Metareflexion« ist eine Theorie über Theorien zweckmäßig, eine Aufgabe, der sich Erkenntnistheorie, Wissenschaftsphilosophie, Wissenschaftshistorik, die Science Studies u. a. Spezialdisziplinen widmen. Für diese Metaperspektiven sind die Wissenschaften Untersuchungsgegenstand und sie werden hier teilweise beansprucht, um die integrierte Mehrdimensionalität des BPSM gegen den vorherrschenden neurobiologischen Reduktionismus zu verteidigen.

Drei-Faktoren Modell der Sucht

Wenn Sucht, hier als Kurzform für Abhängigkeit und Missbrauch verstanden, als krankheitswertige Störung definiert ist, dann kommt die Frage auf, wie Suchttheorien in allgemeine Krankheits-/Gesundheitstheorien eingebettet sind. Die einfachste und spezifische Form der Suchttheorie ist das Drei-Faktoren-Modell, das das Zusammenwirken von Merkmalen der Droge, der Person und der Umwelt betrachtet. Der kausalen Kraft der Droge wurde dabei generell für die Entstehung von Abhängigkeit ein hohes Gewicht beigemessen. Das Modell wurde bereits in den 1960er Jahren u. a. von dem Alkoholismus-Spezialisten Wilhelm Feuerlein als konzeptueller Verständnisrahmen vorgeschlagen (Feuerlein 1969). Bemühungen um eine differenzierte, aber integrierte Theorie der Sucht finden sich zuletzt 1986 bei der Tagung der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) in Tutzing, die auf Betreiben von Wilhelm Feuerlein veranstaltet wurde (Feuerlein 1986). Seither dominierte in der Suchtforschung die empirische psychologisch-sozialwissenschaftliche Humanforschung und im Bereich »Theorie« die tierexperimentelle Grundlagenforschung, die, in Korrespondenz mit den psychologischen Lerntheorien, nun zunehmend neurobiologische Erklärungen anbietet. Die empirische Suchtforschung zielte hingegen auf die Abklärung der Erklärungskraft anderer Faktoren und führte über korrelationsanalytische Verfahren zu einem unüberschaubaren Bild des multifaktoriellen Bedingungsgefüges der Sucht. Hier kann das BPSM integrative Orientierungen stiften.

1.2       Das bio-psycho-soziale Modell – die Ursprünge

Die ideellen Wurzeln des BPSM kann man bei der WHO erkennen (image Kap. 2). Sie hat bereits kurz nach dem Zweiten Weltkrieg die Vielfalt der Ebenen menschlichen Befindens im Hinblick auf Gesundheit erkannt und eine bio-psycho-soziale, Konzeption von Gesundheit (und auch Krankheit) zum Ausdruck gebracht.

Die medizinische Forschung hat sich damals allerdings weiterhin an der biologischen Vorkriegsforschung ausgerichtet und auf die Identifikation genetischer Ursachen von Krankheiten fokussiert. Es zeigte sich jedoch vor allem in der klinischen Forschung immer häufiger, dass psychosoziale Faktoren wie familiäre Konflikte und Brüche, Schichtzugehörigkeit, kulturelle Besonderheiten usw. für einen hohen Anteil der Streuung in den Untersuchungsergebnissen verantwortlich sind. Diese Befundlage hat der Internist und Psychiater George Engel in den 1950er Jahren anhand von klinischen Fällen erweitert. Schließlich formulierte er eine Kritik an dem biomedizinischen Krankheitsmodell in einem einflussreichen Artikel in dem renommierten Journal »Science« und plädierte stattdessen für ein integratives systemisch gedachtes »biopsychosoziales Modell« (Engel 1977): Krankheit und Gesundheit beruhen auf der systemhaften Wechselwirkung biologischer, psychologischer und sozialer Faktoren. Damit war ein starker Impuls gesetzt.

1.3       Das bio-psycho-soziale Modell – die Gegenwart

Das BPSM wurde nach seiner Publikation zum Leitkonzept für die integrierte Psychosomatik und »psychosoziale Medizin«. Vor allem der Psychosomatiker Thure von Uexküll und der Internist Wolfgang Wesiack haben bereits Ende der 1980er Jahre eine standardsetzende Theorie der Humanmedizin formuliert, die sich ausführlich auf das bio-psycho-soziale Modell bezieht (Uexküll und Wesiack 1998). Der Medizinpsychologe Josef W. Egger hat dieses Modell im Rahmen der »psychosozialen Medizin« bis heute konzeptuell weiter ausdifferenziert (Egger 2015).

Die biologische Forschung setzte sich jedoch durch. Vor allem die »mittlere Ebene« des BPSM, die Psyche, bot bereits über die Lerntheorie in allen Varianten ein therapierelevantes integratives Erklärungsmodell, insbesondere das Konzept des operanten Konditionierens, des klassischen Konditionierens und des Lernens am Modell. Auch Sucht ist in diesem Sinne erlerntes Verhalten. Die Lerntheorie lässt sich auch leicht in Tierexperimente transponieren, sie beruhte sogar darauf, sodass die neurobiologische Forschung an der behavioristischen Lerntheorie gut anschließen konnte. Im Anschluss daran formulierte in den 1980er Jahren Nancy Andreasen, Anglistin und Psychiaterin, die von den technischen Fortschritten in der Hirnforschung beeindruckt war, eine breit wirksame Legitimation der biologischen Psychiatrie (Andreasen 1983). Sie veröffentlichte auch 2001 das einflussreiche Buch »Brave New Brain« (Andreasen 2001). Darüber hinaus hat die Pharmaindustrie mit vielen Versuchen, neue Medikamente für psychische Krankheiten einzusetzen, diese biologische Forschungswelle mit verstärkt. In der Folge wurde auch im Bereich der Suchttherapie ein pharmakotherapeutischer Optimismus verbreitet, der u. a. zur Propagierung von Medikamenten zur Abstinenzstablisierung geführt hat.

Dieser Trend zur »Biologisierung« der Psychiatrie dauert noch an, wenngleich die pharmazeutische Industrie sich gerade wieder aus der Erforschung des Nervensystems zurückzieht. Auch in der allgemeinpsychiatrischen Grundlagenforschung dominieren weiterhin biologische substratbezogene Methoden der Bildgebung, die sich aktuell mit der Analyse von Netzwerken, anstatt wie bisher von Zentren, befasst. Daher ist auch die Suchttherapie, etwa in Hinblick auf verschiedene Methoden der Hirnstimulation, an Fortschritten der Neurobiologie interessiert.

Es ist also ein de-facto biologischer Reduktionismus in der psychiatrischen und der suchtmedizinischen Forschung eingetreten, und zwar mit dem Anspruch, auch die klinische Realität durch Hirnmechanismen besser zu verstehen. Nur wenige wie Robert West haben seither eine eigenständige psychologische Suchttheorie formuliert, die auf das Wechselspiel von Faktoren wie Bedürfnisse, Gefühle, Erwartungen usw. fokussiert und auch integrativ erfasst, wobei auch metatheoretische Perspektiven berücksichtigt werden (PRIME-Modell; West 2006).

Die aktuelle Situation zusammenfassend muss daher festgestellt werden, dass das Drei-Faktoren-Modell der Sucht kaum mit dem BPSM verknüpft ist. Eine Integration beider Modelle ergibt allerdings ein Vier-Faktoren-Modell der Sucht, das den Faktor »Person« in eine biologische und eine psychologische Domäne ausdifferenziert, während der Faktor Umwelt der sozialen Domäne zugeordnet und nicht weiter untergliedert wird. Darüber hinausgehend hat der Autor dieses Kapitels (F.T.) Ende der 1990er Jahre ein humanökologisches Modell der Sucht vorgeschlagen, das auf Störungen der Person-Umwelt-Interaktion aufbaut, etwa im Sinne einer bio-psycho-sozialen »Ökologie des Stress« (Tretter 1998). Auf diese Ansätze hat sich allerdings die Suchtforschung kaum bezogen (s. Tretter 2017; image Abb. 1.1).

In der Praxis der psychiatrischen Suchtkrankenversorgung, vor allem in der Entzugsbehandlung, hat sich jedoch mittlerweile eine pragmatische »multiprofessionelle« Zusammenarbeit etabliert, die Psychologen mit ihrer Psychotherapiekompetenz und Sozialpädagogen als Sozialtherapeuten konstitutiv einbezieht. Diese verschiedenen therapeutischen Professionen beziehen sich allerdings in der Regel auf unterschiedliche theoretische Erklärungsmodelle von den Ursachen der Sucht. Jedenfalls gibt es wenige suchtspezifische Ausarbeitungen eines praxisintegrativen bio-psycho-sozialen Modells. Eines dieser Modelle hat Hilarion Petzold im Rahmen seiner »Integrativen Therapie« entwickelt, die grundlegend auf Elemente der Gestaltpsychologie und -therapie zurückgreift. Diese Theorie soll einen integrativen Rahmen für die Psychotherapie, Leibtherapie und Soziotherapie und andere Therapieansätze bieten (Petzold 2004). Methodisch bezieht sich dieser Ansatz auf sozialhermeneutische Verfahren und

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Abb. 1.1: Die Transformation der verschiedenen Erklärungsmodelle der Sucht, vom Drei-Faktoren-Modell (A), über das (modifizierte) bio-psycho-soziale Modell (B u. C) zum ökologischen Person-Umwelt-Modell (D); (modifiziert nach Tretter 2017)

auch auf die Systemtheorie von Luhmann. Sie wurde in letzter Zeit von Petzold in ein weiter ausgearbeitetes Konzept einer »Ökopsychosomatik« übergeführt (Petzold 2006).

1.4       Das bio-psycho-soziale Modell – die Zukunft

Die weitere Entwicklung der Medizin bzw. Psychiatrie wird sicher biologisch orientiert bleiben. Dafür sorgt auch die in den letzten Jahren vom amerikanischen Nationalen Institut für Psychische Gesundheit (NIMH) vorgegebene Forschungsagenda der Research Domain Criteria (RDoC), deren Berücksichtigung Voraussetzung für die Forschungsförderung ist (NIMH 2017). Dabei sollen Gene, Moleküle, subzelluläre Strukturen, Zellen, lokale Netzwerke, neuronale Schaltkreise, Verhaltensexperimente und Selbstberichte Gegenstand der Forschung sein. Untersucht werden sollen in dieser Hinsicht Funktionen der Systeme der Bewusstseins-Regulation, der Systeme der positiven bzw. negativen Valenz, der kognitiven Systeme und der Systeme für soziale Prozesse. Dieses einfache Strukturmodell der RDoC steht in keinem theoretischen Zusammenhang mit der psychiatrischen Klassifikationssystematik, der DSM-5, die allerdings in ähnlicher Weise nur eine Symptomklassifikation und Systematik psychiatrischer Störungen darstellt. In dieser Systematik sind für die Sucht vor allem Störungen von Systemen für positive Valenz, also Prozesse der Belohnung, relevant. Auf diese Weise soll letztlich eine konzeptionelle Umformulierung dessen erfolgen, was im klinischen Bereich zur Psychopathologie der Sucht beschrieben wird: Impulsivität, Schwierigkeiten mit der Affektkontrolle, niedrige Frustrationstoleranz, süchtiges Verlangen, Kontrollverlust, Schamgefühle, labiles Selbstbild etc. Diese klinischen Phänomene decken sich jedoch nur teilweise mit der neuen begrifflichen Strukturierung des »psychischen Apparates«, wie sie das RDoC vorsieht. Deutlich wird auch, dass die Psychiatrie kein übergeordnetes theoretisches Modell der Prinzipien der menschlichen Informationsverarbeitung nutzt, denn mehrere Begriffe scheinen nur zwei Seiten derselben Münze zu sein, insofern beispielsweise »mangelnde Affektkontrolle« in »Impulsivität« resultiert. In der Konsequenz ist eine weitere Fraktionierung psychiatrischen Denkens zu erwarten, mit der Reduktion auf immer komplexer werdende Hirnmodelle zur Erklärung von Sucht und anderen psychiatrischen Störungen. Wird damit das BPSM bedeutungslos?

1.5       Grenzen des Reduktionismus und Gründe für die Mehrdimensionalität von Krankheitsmodellen

Der Vorschlag von Engel, die Krankheitsursachen in drei Bereiche aufzugliedern, ist pragmatisch zunächst einsichtig und philosophisch nachvollziehbar (Popper 1973; Searle 2011). Diese grundlegende Dreidimensionalität widerspricht allerdings Grundannahmen der gegenwärtig dominierenden Hirnforschung (Neuroscience), die das Geistige auf das Körperliche reduzieren will. Einige Protagonisten meinen, dass sogar das Soziale als molekulares Geschehen verstanden werden kann, wie es manche Vertreter der Social Neuroscience und Cultural Neuroscience nahelegen (Bickle 2006). So wird versucht, neuronale Korrelate bei sozialen Prozessen wie Empathie zu identifizieren (Cacioppo und Decety 2011) und Besonderheiten der Informationsverarbeitung im Gehirn bei Zugehörigen unterschiedlicher Kulturen zu finden (Ames und Fiske 2010). Unter dieser Vorstellung wird also grundlegend versucht, nicht nur für mentale Prozesse und Zustände, sondern auch für soziokulturelle Differenzen korrespondierende Prozesse und Zustände bzw. Differenzen in der Gehirnaktivierung zu finden, die allerdings kausal interpretiert werden. Dieser Anspruch der Neurowissenschaften auf einen sogenannten »naturalistischen Reduktionismus« prägt die heutige Forschungspolitik stark und so wird mehr oder weniger ausdrücklich ein ontologischer Monismus vertreten.

Dieser neurobiologische Reduktionismus hebt prinzipiell die Untrennbarkeit, und somit die Identität der Bereiche Körper und Seele hervor und lehnt die klassische Leib-Seele-Differenz als unzutreffende Unterscheidung ab. Diese Position verwechselt allerdings oft methodologische und ontologische Argumente und hat vor allem Schwierigkeiten zu erklären, wie Leben aus den Molekülen hervorgeht, und daraus wieder Bewusstsein und letztlich das Soziale entsteht (dreifaches Emergenz-Problem; vgl. Tretter und Grünhut 2010). Aufgrund dieser metatheoretischen und theoretischen Probleme und aus praktischer Sicht erscheint daher das diese drei Dimensionen beibehaltende, aber integrative Drei-Faktoren-Modell bzw. BPSM sehr brauchbar. Um dies zu verdeutlichen, sollen hier einige tiefer greifende Begründungen angeführt werden.

1.5.1     Das Mentale lässt sich nicht schlüssig auf das Körperliche zurückführen

Wenn man einen ontologischen Monismus vertritt, hat man das Problem, dass das signifikant neue Auftreten (Emergenz) von Leben aus der unbelebten Materie (Atomen und Molekülen) und des Bewusstseins aus Biomolekülen und des (erlebten) Sozialen aus Gehirnen erklärt werden muss. Das ist bisher nicht gut gelungen (Tretter und Grünhut 2010). Es muss nämlich angenommen werden, dass der unbelebten Materie letztlich bereits das Potenzial für das Psychische innewohnt (»Protopanpsychismus«). Damit wird das Gesamtkonstrukt wieder stark metaphysisch, d. h. empirisch nicht mehr überprüfbar. Es ist daher eher als Metapher nützlich, kollidiert aber wohl mit naturwissenschaftlichem Denken.

Es ist aus pragmatischen Gründen deshalb sinnvoll anzunehmen, dass das Mentale, also vor allem das Bewusstsein, mit dem Körper verbunden ist, aber mit ihm nicht identisch ist, auch nicht, wenn man das Gehirn zu dieser Frage in Betracht zieht. Bewusstsein ist das zum Erleben erwachte Leben und ist beobachtbar als Disposition zum Verhalten, aber es besteht auch ohne Verhalten zu zeigen (Coma vigile). Das Mentale ist also vor allem durch »Bewusstsein« im Sinne von Wachsein und Gewahrsein charakterisiert, aber es umfasst auch unbewusste Prozesse (Tretter und Löffler-Stastka 2018).

Die Frage ist: Welche Neuronennetze »produzieren« Bewusstsein? Zwar benötigt das Bewusstsein das Gehirn, aber es gibt Gebiete im Gehirn (bzw. dem gesamten Nervensystem), die, wie das Kleinhirn, ohne Bewusstsein funktionieren. Auch schwere Kleinhirnverletzungen führen nämlich nicht zu wesentlichen Bewusstseinsveränderungen, zumindest nicht im Sinne der Wachheit. Aber bereits der Umstand, dass das subjektive Erleben der betreffenden Person selbst nur unzulänglich verfügbar ist (erste Person-Perspektive und Unbewusstes), verunmöglicht es, selbst über »Cerebroskope«, die der Wissenschaftsphilosoph Herbert Feigl bereits vorausschauend fingierte, Mentales vollständig neuronal zu identifizieren (Feigl 1958): Die Innensicht entspricht nicht der Außensicht. Der Philosoph Thomas Nagel hat diese Erklärungsgrenzen der Physiologie, die als Qualia-Problem bezeichnet werden, in dem Aufsatz »What is it like to be a bat?« überzeugend behandelt (Nagel 1976), ähnlich wie Jackson (Jackson 1986). Ebenso hat Levine mit der Identifikation der Erklärungslücke (»explanatory gap«) zwischen Psychologie und Physiologie diese Differenz grundlegend verdeutlicht (Levine 1983). Das Gehirn ist also eine notwen dige, aber keine hinreichende Bedingung für bewusstes mentales Erleben. Entscheidend sind auch die Inhalte des Bewusstseins, als der »intentionale Gehalt« von Gefühlen, Wünschen usw. Nachdem der Autor mit 14 weiteren Autoren aus einem disziplinären Spektrum von der Systemtheorie, der Neurobiologie, Psychologie, Psychiatrie bis zur Philosophie reichend die Möglichkeiten und Grenzen der neurobiologischen Reduktion der Psychologie/Psychiatrie für eine »Integrative Neuroscience« kritisch diskutiert hat (Kochoubey et al. 2016), sei ein harter Vergleich gestattet: Die biologische Hirnforschung untersucht gewissermaßen die Form des Küchengeschirrs, ohne über die Inhalte differenzierte Aussagen machen zu können: Größe und Form des Geschirrs erschweren es zwar, bestimmte Speisen zuzubereiten, wenn man etwa mit einer Pfanne eine Suppe kochen oder im Kochtopf eine Pizza backen will, aber es ist nicht unmöglich. Die Speise als Inhalt des Geschirrs ist nicht aus der Form des Geschirrs völlig herleitbar. Sinngemäß herrscht demnach kein starker Determinismus der Funktion durch die Struktur. Dieses Problem, aus der – auch prozessualen – Gehirnform, Inhalte des Bewusstseins in Form sozialer Sachverhalte hinreichend ableiten zu können, soll hier genauer beleuchtet werden.

1.5.2     Das Soziale lässt sich nicht auf das Psychische oder gar auf das Physische zurückführen

Der Begriff »Soziales« betrifft zunächst andere Menschen (Mitwelt), als Mitglieder der umgebenden Gemeinschaft, Organisation usw., in der sich ein Mensch aufhält, also vor allem die personelle Umwelt. Die soziale Welt erscheint aber auch als Objektbereich, die den Kontextbezug der betreffenden Person im sozialen Raum charakterisiert, und die nahezu »objektiv« zugänglich ist, fast wie das Körperliche: Beschäftigungsstatus, soziale Schicht (image Kap. 7 und 8) usw. sind entsprechende Kategorien der empirischen Sozialforschung. Somit lassen sich beispielsweise schichtenspezifische Suchtrisiken identifizieren.

Man versteht in der Sozialforschung allerdings, vor allem bei der Diskussion von Gesellschaft, unter dem »Sozialen« als eigene irreduzible Entität das »Interpersonelle«. Dies betrifft Kommunikationen im weiteren Sinne, vor allem aber Verhaltensoptionen und -friktionen in Form von ordnungsstiftenden Regularien wie Normen, Regeln, Wissen. In dieser Domäne hat dann u. a. das Körperliche der damit angesprochenen Menschen keine besondere Bedeutung, außer bei Verhaltensregeln, die speziell das Biologische, wie z. B. Mann oder Frau zu sein, adressieren. Manche Soziologen haben deshalb »Texte« (Brown 1987) und andere »Kommunikation« (Habermas 1981; Luhmann 1984) als den Hauptgegenstand der Sozialforschung angesehen. Auf der Makroebene, also die Gesellschaft betreffend, ist dieses indirekte »Suprapersonelle« das eigentlich Soziale, im Mikrobereich hingegen, bei Interaktionen sind nicht die individuellen Interaktionspartner relevant, sondern deren Handlungen, also das unmittelbare »Interpersonelle«.

All das wirft die Frage auf, »wie das Soziale in den Kopf« kommt. Dass die Gehirnforschung hier wesentliche Erklärungen liefern kann, ist methodologisch betrachtet kaum zu erwarten. Diese grundlegende Frage hat einer der bedeutendsten deutschen Sozialtheoretiker, der Soziologe Niklas Luhmann, mit dem Brückenbegriff der »strukturellen Kopplung« zwischen Sozialsystem und Bewusstsein beantwortet (Luhmann 1984). Das wäre in etwa so verstehbar: Durch Wahrnehmungen wird über gedanklich-sprachliche Verarbeitung und unter Beteiligung von Affekten ein relativ persistentes bewertetes Abbild der äußeren sozialen Realität konstruiert, welches rückwirkend das weitere Erleben und Handeln bestimmt. Die Abbildung korrespondiert dabei aber strukturell mit der Außenwelt, was sich in Phänomenen der Resonanz manifestiert, ähnlich wie das der Soziologe Hartmut Rosa beschreibt (Rosa 2017). Darüber hinaus ist eine Top-down Kausalität ersichtlich, insofern das »soziale Bewusstsein« das Handeln durch das Kontextwissen steuert. Allerdings ist auch grundlegend methodologisch einzuschränken, dass jeder Mensch seine (soziale) Umwelt anders wahrnimmt bzw. anders bewertet. Es ist also davon auszugehen, dass im mentalen Modell, das die Person von sich und der Umwelt mehr oder weniger bewusst konstruiert, die soziale Welt repräsentiert ist. Hier kann die Psychologie anschließen, etwa mit dem Konzept des »Lebensraums« von Kurt Lewin, das eines der am stärksten ausgebauten theoretischen Modelle einer derartigen mentalen Repräsentation darstellt (Lewin 1936). Dieses Konzept korrespondiert mit jenem der neueren Psychoanalyse, nämlich der »Objektbeziehungstheorie« von Otto Kernberg (Kernberg 1979): die Repräsentation von (Umwelt-)Objekt und Subjekt geht mit mehr oder weniger starken Abgrenzungen und affektiven Ladungen einher. Die Qualität dieser Struktur als »inneres Modell« determiniert die Verhaltensoptionen und damit auch die Pathologie-Risiken.

1.6       Neuere integrierte theoretische Konzepte in der Psychiatrie

Trotz der erwähnten reduzierenden biologistischen Tendenzen der (psychiatrischen) Forschung ist bereits heute absehbar, dass die nahezu totgesagte klassische Psychopathologie wieder einen stärkeren Anschub bekommen wird. Das liegt auch daran, dass von der biologischen Psychiatrie keine therapierelevanten Erkenntnisdurchbrüche zu erwarten sind. Es geht aber vor allem um die in der Therapie nötige anthropologische Dimension, die in besonderem Maß in der Phänomenologie verankert ist. Hierbei zeichnet eine Phänomenologie der »4 E’s« als eine (alte) neue Sichtweise ab: das Subjekt ist verkörpert (embodied), der Körper ist eingebettet in die Umwelt (embedded) und zwar ausgeweitet in die Umwelt (extended), die sich durch das Einwirken auf sie auch teilweise konstituiert (enacted). Durch diese Sichtweise kommt der ganze Mensch wieder in den Blick. Auch steht das bewusst erlebende Subjekt im Vordergrund, aber nicht als isoliertes Geistwesen oder Gehirn, sondern in seiner Eingebundenheit in den Körper, und Eingebettetsein in die Umwelt. Auf diese Weise kommt auch die Umwelt ausdrücklich und integriert in den Blick, und zwar in ihrer Subjektgebundenheit. Diese Position wird in Heidelberg, insbesondere um Thomas Fuchs in Kooperation mit internationalen Zentren wie dem Center for Subjectivity Research in Kopenhagen mit Joseph Parnas ausgearbeitet und findet im Kreise der Psychiater und Psychotherapeuten weltweit zunehmende Akzeptanz (Fuchs 2017; Zahavi und Parnas 1999). Wenngleich das Soziale in diesen Theoriekontext nicht spezifisch ausgearbeitet erscheint, wird zumindest die kategorische Leib-Seele-Differenz, wie auch die Person-Umwelt-Differenz durch diesen integrierten Ansatz aufgehoben (Clark 1997). Hier bestehen theoretische Korrespondenzen zum parallel existierenden »ökologischen Modell«.

1.7       Perspektiven der Humanökologie

Der »ökologische« Ansatz ist ein integrativer Denkansatz, der breite Wurzeln in den Human- und Sozialwissenschaften hat. Er stützt sich als Rahmenmodell auf die »Humanökologie« als eine Ökologie des (oder der) Menschen bzw. als »Ökologie der Person« (Tretter 2008). Dazu kurz (Tretter 2008): Die Humanökologie basiert zum Teil auf Ökopsychologie, etwa im Sinne von Kurt Lewin. Diesen Ansatz haben Roger Barker, James Gibson und Uri Bronfenbrenner ausgebaut. Methodisch stützt sich die ökologische Psychologie auf Skalen der Umweltbeurteilung wie sie von Rudolf Moss, Paul Insel u. a. entwickelt wurden. Es wurden aber auch phänomenologische Ansätze ausgearbeitet (Ernst Boesch, Carl-Friedrich Graumann u. a.). Die Sozialökologie, wie sie in den 1920er Jahren in der Stadtsoziologie von Robert Park, Ernest Burgess, Amos Hawley u. a. konzipiert und in der Sozialpädagogik weiterentwickelt wurde, nutzt ebenfalls die Phänomenologie im Sinne von Edmund Husserl und Alfred Schütz (Wendt 1982; Mühlum et al. 1986; Oppl und Weber-Falkensamer 1986; Thiersch 2015). Dabei ist das Konstrukt »Lebenswelt« von zentraler Bedeutung, ein Begriff, der mit »erlebter Umwelt« bzw. teilweise mit »Lebensraum« nach Lewin übersetzbar erscheint.

Bereits mit dieser Differenzierung wird deutlich, dass die ökologische Perspektive noch eine breite und tiefe begriffliche Ausarbeitung vor sich hat, vor allem im Anschluss zum BPSM. Beispielweise hat Bronfenbrenner ein recht praktisches zwiebelschalenförmiges Strukturkonzept von der Umwelt als einwirkendes und zu erschließendes System vorgeschlagen, das die unmittelbare Mikroumwelt, die Mesoumwelt und die distante Makroumwelt unterscheidet. Darüber hinaus gibt es die ExoumweltGeben-Nehmen-Relationunpassende Person-Umwelt-Relation.