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DIE
PLASTIK-WENDE

Die Last des Plastiks – Ausmaß und Auswege

Albert Bates

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Titel der Originalausgabe Transforming Plastic: From pollution to evolution

erschienen bei GroundSwell Books

Book Publishing Company, Summertown, TN

© 2019 Albert Bates

Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Annika Tschöpe

1. Auflage 2019

www.windpferd.de

Inhalt

Danksagung

Einführung

KAPITEL 1Arithmetik

KAPITEL 2Sucht

KAPITEL 3Buchstabensuppe

KAPITEL 4Recycling

KAPITEL 5Fantastisches Plastik

KAPITEL 6Der Stoff, aus dem die Gesellschaft ist

KAPITEL 7Mit Plastik leben lernen

KAPITEL 8Der (einzige) Ausweg

Literaturverzeichnis

Über den Verfasser

Danksagung

Ein Buch kann nur entstehen, wenn viele daran mitwirken. Bei diesem Buch wurde ich anfangs von Gayla Groom unterstützt; mit Slack und Scrivener konnten wir unsere Aufzeichnungen weiterleiten und unsere Forschungsergebnisse zusammenfassen, während wir in der ganzen Welt unterwegs waren, manchmal ganze vierzehn Zeitzonen voneinander getrennt. Kindle war mir unentbehrlich, wenn ich an Flughäfen und Bahnhöfen herumsaß oder im Flugzeug oder Zug unterwegs war. Ich bin den Verfassern unzähliger Schriften und Interviews dankbar, vor allem aber Susan Freinkel und Michael Tolinski, die mit ihrer Diskussion des Themas weit über die üblichen Verhaltensmaßregeln hinausgehen. Die Endfassung wurde schließlich von Google Docs zu Microsoft Word übertragen und mit Grammarly überprüft, bevor sie an den Verlag ging. Für die Kosten dieser Hilfsmittel und Abos gab es keine Vorschüsse, und vermutlich werde ich sie niemals mit Tantiemen zurückerstatten können. Daher gilt mein Dank Sponsoren wie Ross Jackson, Geoff Oelsner, Ian Graham, Doug Guyer und Bruce und Roslyn Moore sowie den vielen anderen, die mir in kleinerem oder größerem Maße geholfen haben. Im Lektorat machten Kathy Hill, Gayla Groom und Jo Stepaniak aus der Rohfassung ein flüssiges Werk. Bob und Cynthia Holzapfel von Book Publishing Company unterstützten mich von Anfang an mit guten Ideen und Zuspruch und zeigten die nötige Geduld, als ich Termine platzen ließ. Mein besonderer Dank gilt Alexandre Lemille von Wizeimpact, Renate Dauvarte und dem Team von The Ocean Cleanup, Anne-Sophie Garrigou von der Zeitschrift The Beam, Pete Kelly bei Okefenokee Glee & Perloo, Jason Deptula und Millie Kellems-Otto, Carolina Erminy, Veronica Valenzuela Gibson, Maria Martinez Ros, Sandra Thomson und Leobardo Velazquez.

EINFÜHRUNG

Wenn sich jemand für dieses Thema interessiert, ist das meist auf ein bestimmtes Bild zurückzuführen: vielleicht eine Meeresschildkröte mit einem Plastikstrohhalm in der Nase, ein Robbenbaby, erstickt in einem Plastikbeutel, ein toter Pelikan oder ein Wal, der Berge von buntem Plastik-Schnickschnack im Leib hatte. Vielleicht haben Sie schon gelesen, dass auch Sie Mikroplastik in Nieren und Leber haben und Ihre Kinder und Kindeskinder davon nicht verschont bleiben werden. Das macht uns Angst, zu Recht! Wir werden wütend, aber können wir etwas daran ändern?

Ich bin über meine Tätigkeit im Bereich regeneratives Design an dieses Thema geraten. Ob ich nun Permakultur unterrichte, mit begabten jungen Studenten an der Gaia University arbeite oder mit dem Global Ecovillage Network Gemeinschaften der Zukunft entwickele – ich setze immer darauf, mit Hilfe der erstaunlichen Energie und Kreativität der Jugend eine bessere Zukunft zu gestalten. Schließlich haben junge Leute am meisten zu verlieren, und falls sich die Lage tatsächlich bessern sollte, werden sie dazu beitragen.

Das Plastikproblem wird für sie eine enorme Herausforderung darstellen und sich Jahr für Jahr weiter verschärfen.

Ich bin ein PNT: Planeten-Notfall-Techniker. Dieses Buch ist Teil einer Reihe, die sich mit den aktuellen Krisen unseres Planeten beschäftigt und geeignete Sofortmaßnahmen aufzeigt. Wenn deutlich mehr Menschen meinem Beispiel folgen und ebenfalls Planeten-Notfall-Techniker werden, besteht durchaus Grund zur Hoffnung, dass der Patient stabilisiert werden kann.

Dieses Buch geht zwar auf die vielen Probleme ein, die Plastik mit sich bringt, doch das dient nur als Vorbereitung. Der Schwerpunkt liegt auf Lösungen – was Sie selbst tun können, was Regierungen tun müssen und was kluge Unternehmer tun werden, um Gewinn zu machen. Ich zeige Ihnen, was ich auf meiner Reise zur Erkundung der aktuellen Notlage und der verschiedenen bislang erforschten Lösungsansätze festgestellt habe.

Dass wir uns erst jetzt mit diesem Thema befassen, ist nicht der optimale Zeitpunkt. Wir hätten es besser schon vor fünfzig oder hundert Jahren getan. Manche der Probleme, die durch Plastik entstanden sind, lassen sich nicht mehr beheben, sondern werden uns immer begleiten. Einen besseren Zeitpunkt als jetzt wird es aber nicht mehr geben, also gehen wir es an.

KAPITEL 1

ARITHMETIK

Wenn es einen Weg zum Besseren geben soll, erfordert das einen umfassenden Blick auf das Schlimmste.

THOMAS HARDY

Der mittlerweile verstorbene Mathematikprofessor Albert Bartlett von der University of Colorado soll seine berühmte Vorlesung zur Exponentialfunktion mehr als tausend Mal gehalten haben. Ich zeige das YouTube-Video dieser Vorlesung als Auftakt zu meinen Veranstaltungen zur Permakultur, und vermutlich machen viele andere Lehrer es ganz genauso. Seit Bartletts Tod steigt die Anzahl der Zuschauer Jahr für Jahr. In seinem einstündigen Vortrag sagt der Professor:

Der Legende nach wurde das Schachspiel von einem Mathematiker erfunden, der für einen König arbeitete. Der König war sehr erfreut und sagte: „Ich will Euch belohnen.“ Der Mathematiker erwiderte: „Ich brauche nicht viel. Legt einfach auf das erste Feld meines neuen Schachbretts ein Weizenkorn. Auf dem nächsten Feld verdoppelt Ihr dieses eine Korn, sodass zwei darauf liegen. Auf dem nächsten Feld verdoppelt Ihr diese beiden auf vier. So verdoppelt Ihr dann Feld für Feld weiter – das wäre eine angemessene Bezahlung.“ Vermutlich dachte der König: „So ein Dummkopf. Ich hätte ihm bereitwillig eine echte Belohnung gegeben, aber er will nur ein paar Weizenkörner.“

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Aber schauen wir uns einmal an, was das genau bedeutet. Wir wissen, dass auf dem vierten Feld acht Körner liegen. Acht ist das Ergebnis, wenn man drei Zweien miteinander malnimmt, also 2 x 2 x 2; das ist eine Zwei weniger als die Nummer des Feldes. So geht es Feld für Feld weiter – die Anzahl der Körner auf dem letzten Feld kann man ermitteln, indem man 63 Zweien multipliziert.

Welche Gesamtzahl ergibt sich dann? Wenn wir ein Korn auf das erste Feld legen, befindet sich insgesamt eines auf dem Brett. Legen wir zwei Körner hinzu, sind es insgesamt drei. Wir geben vier weitere Körner dazu und haben nun insgesamt sieben. Sieben Körner sind eins weniger als acht, also ein Korn weniger als drei miteinander multiplizierte Zweien. Fünfzehn Körner sind eins weniger als vier miteinander multiplizierte Zweien. So geht es immer weiter, und die Gesamtzahl der Körner beträgt letztendlich ein Körnchen weniger als die Zahl, die ich erhalte, wenn ich vierundsechzig Zweien multipliziere. Nun stellt sich die Frage: Wie viel Weizen ist das?

Haben Sie eine Ahnung, wäre das ein ordentlicher Kornhaufen hier im Raum? Wäre das ganze Gebäude gefüllt? Würde die Menge das ganze Land zwei Meter tief unter sich begraben? Über wie viel Weizen reden wir hier?

Die Antwort lautet: Es wäre etwa das Vierhundertfache der weltweiten Weizenernte des Jahres 1990, vermutlich mehr Weizen, als die Menschheit in ihrer gesamten Geschichte jemals geerntet hat. Sie mögen sich fragen: „Wie kommt diese ungeheure Zahl zustande?“, und die Antwort lautet: Das war ganz einfach. Ein einziges Korn machte den Anfang, doch die Anzahl ist kontinuierlich angestiegen und hat sich letztendlich nur dreiundsechzig Mal verdoppelt.

„Der größte Fehler der menschlichen Rasse“, sagte Bartlett seinen Studierenden gerne, „besteht darin, dass sie die Exponentialfunktion nicht versteht.“

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Exponentielles Wachstum bedeutet, dass die Menge bei jeder Verdoppelung größer wird als alle vorherigen Verdoppelungen zusammen. 1 wird nach nur sieben Verdoppelungen zu 128.

Ein anderer Aspekt ist ebenfalls sehr wichtig: Der Zuwachs ist bei jeder Verdoppelung größer als die Summe aller vorherigen Zuwachsraten. Wenn ich zum Beispiel acht Körner auf das vierte Feld lege, sind diese acht mehr als die insgesamt sieben, die bereits da waren. Ich habe zweiunddreißig Körner auf das sechste Feld gelegt. Zweiunddreißig sind mehr als die insgesamt einunddreißig, die bereits dort waren. Für jede Verdoppelung braucht man mehr als alles, was für das bisherige Wachstum aufgewendet wurde.

An anderer Stelle der Vorlesung führt Bartlett als Beispiel an, wie Bakterien eine Flasche füllen. Unter der Annahme, dass sie sich jede Minute verdoppeln, stellt Bartlett den Studierenden folgende Frage:

Stellen Sie sich vor, Sie sind ein durchschnittliches Bakterium in dieser Flasche – wann würden Sie erkennen, dass der Platz knapp wird? Lassen Sie uns dazu nur die letzten Minuten in der Flasche betrachten. Um 12 Uhr ist sie voll, eine Minute davor halb voll, zwei Minuten vorher zu einem Viertel gefüllt, davor zu einem Achtel, davor zu einem Sechzehntel. Ich möchte also fragen: Um fünf Minuten vor 12, als die Flasche nur zu drei Prozent gefüllt war und zu 97 Prozent gähnende Leere herrschte, wer von Ihnen hätte da erkannt, welches Problem sich anbahnt?

Damit kommen wir zu den Kunststoffen, deren Menge sich gerade zum vierten Mal seit 1968 verdoppelt. Bei dieser vierten Verdoppelung befinden wir uns auf der Entwicklungskurve noch am unteren Ende und sie bewegt sich erst langsam nach oben. Schon 2030 wird der Anstieg viel deutlicher werden, genau wie beim Klimawandel.

Heutzutage wird an sämtlichen Küsten der Welt auf jeweils dreißig Zentimetern Länge so viel Plastikmüll angespült, wie in fünf Einkaufstüten passt. In ein paar Jahren werden es auf dieser Länge zehn Beutel sein. In unseren Ozeanen haben sich riesige Müllteppiche gebildet, weil Müll aus Flüssen in Meeresströmungen getrieben wird. War der Große Pazifische Müllstrudel 2015 doppelt so groß wie Texas, wird er noch vor dem Jahr 2030 viermal so groß sein wie Texas und bis Mitte des Jahrhunderts achtmal so groß. Während der aktuelle Müllteppich jährlich hunderttausend Seevögel tötet, könnte er bis Mitte des Jahrhunderts achtmal so viele das Leben kosten. Und dieser spezifische Müllstrudel ist nur für fünf Zehntausendstel (0,0005) der toten Meeressäuger verantwortlich, die weltweit durch alle Kunststoffe zusammen sterben.

Wenn heute bei jedem neugeborenen Menschen Mikroplastik im Blut nachweisbar ist, so wird dieser Wert bei dem Kind dieses Kindes in zehn oder zwanzig Jahren (je nach Verdoppelungsrate) das Doppelte betragen und sich mit jeder Generation im Laufe des Jahrhunderts immer weiter verdoppeln.

Ist es nicht höchste Zeit für die Frage, warum wir ein Material entwickeln, das ewig hält, und es dann für Gegenstände verwenden, die nur zum einmaligen Gebrauch gedacht sind?

Würde man ehrlich untersuchen, warum uns cleveren Zweibeinern ein so gewaltiger Denkfehler unterlaufen ist, käme man auf die Antwort, dass wir nur selten gemeinsam überlegen. In der Regel denken wir einzeln oder in kleinen Gruppen nach. Wir sind in Rudeln unterwegs. Derartige Entscheidungen bleiben meist dem Rudel mit den entsprechenden Fähigkeiten oder Vorlieben überlassen – in diesem Fall der Chemie- oder Fertigungsindustrie. Wir müssen jedoch erkennen, dass diese Unternehmen auf Profit ausgerichtet sind und deshalb so entscheiden, wie es für sie am vorteilhaftesten ist. Der Aspekt der Nachhaltigkeit spielt zwar durchaus eine Rolle, aber wir wissen, dass es dabei in erster Linie um die wirtschaftliche Nachhaltigkeit über einen oder mehrere Konjunkturzyklen hinweg geht. Die Kosten für Umwelt und Gesellschaft werden oft nur dann berücksichtigt, wenn sie den Gewinn gefährden.

Die Chemiker in ihren großzügig ausgestatteten Forschungslabors handeln nur nach Anweisung und entwickeln Produkte mit den folgenden Eigenschaften:

imagebillig (ungeachtet der Kosten für Gesellschaft, Umwelt, Entsorgung oder Reinigung)

imagelanglebig (auch durch natürliche Zersetzung nicht zu zerstören)

imageleicht (sogar schwimmfähig), stabil und kompakt

Diese Kriterien gelten ebenso für biobasierte Kunststoffe, die aufgrund der Verbrauchernachfrage nach umweltfreundlicheren Verpackungen aktuell um vierzig Prozent pro Jahr zulegen (mit einer Verdoppelungszeit von vierzehn Monaten). Auch Biokunststoffe sind natürlich nach wie vor Plastik: nach wie vor billig, langlebig, leicht und oft genauso umweltschädlich. Für ihre Herstellung ist oft genauso viel fossiler Brennstoff erforderlich. Da sie teurer sind als ihre Verwandten auf fossiler Basis, erleichtern sie das schlechte Gewissen, obwohl sie ebenfalls Anteil an dem Problem haben.

Da die nächste Generation nach einem immer grüneren Markt verlangt, haben viele Hersteller Alternativen zu den schlimmsten Kunststoffarten entwickelt: jene mit Zusatzstoffen und Beschichtungen auf Schwermetallbasis, halogenierten Flammschutzmitteln, krebserregenden Styrol-Petrochemikalien (die in Polystyrolschaum zu finden sind), endokrin disruptiven Phthalat-Weichmachern und ozonschädigenden Schaumbildnern. Für das Chlor in PVC hat man keinen Ersatz gefunden, auch nicht bei Bio-PVC aus Mais oder Zuckerrohr. Vinyl ist einfach irgendwie … besser.

Eine Bitte an alle Führungskräfte und Chemiker: Reitet uns nicht noch tiefer hinein! Es ist nicht fair, alles auf den Verbraucher abzuwälzen, wie es bei den meisten „Lösungen“ der Fall ist. Wir brauchen in den nächsten Jahren neue Produkte, die unter natürlichen Bedingungen abgebaut werden. Zumindest Verpackungsmaterialien (der größte Plastikanteil) sollten im Meerwasser in harmlose Bestandteile zerfallen. Produkte, die unter maritimen Bedingungen funktionieren müssen, könnte man sogar vielleicht wieder aus den Materialien herstellen, die vor der Einführung von Plastik verwendet wurden.

Plastik-Recycling ist meist nur Augenwischerei. In den Vereinigten Staaten wird Plastik aus kommunalem Müll aus gutem Grund seltener verwertet als alle anderen wichtigen Materialarten. Selbst wenn der Kunststoff nicht verschmutzt ist, können Recyclingeinrichtungen Art und Form genauso schlecht unterscheiden wie der Verbraucher. Darüber hinaus gibt es technische Beschränkungen für die Menge an recyceltem Harz in den jeweiligen Produkten, die meisten Harze können nur einmal wiederverwendet werden, manchmal sind die Kosten für recyceltes Plastik höher als für neues, und Recycling-Inhalt wird längst nicht bei allen Produkten akzeptiert.

Seit Einführung der ersten Plastikpolymere wurden etwa sechs Milliarden Tonnen Plastik hergestellt und auf der ganzen Welt verbreitet, fast eine Tonne für jeden Menschen, der heute lebt. Selbst wenn wir uns vornehmen, unseren Plastikkonsum zu ändern, ist der Schaden bereits entstanden. Ob es uns gefällt oder nicht, in der Zukunft werden Archäologen unsere Mülldeponien ausgraben und unsere Ära wird analog zur Bronze- oder Eisenzeit als Plastikzeit in die Geschichte der menschlichen Zivilisation eingehen.

Am Kamilo Beach auf Hawaii hat man ein neues Mineral namens Plastiglomerat entdeckt. Anderswo ist es noch nicht aufgetaucht, doch es ist insoweit „natürlich“, als dass es genauso entstanden ist wie viele andere Vulkangesteine auf Hawaii. Es handelt sich dabei um eine Mischung aus geschmolzenem Plastikmüll und Sedimenten, basaltischen Lavafragmenten, Muscheln und organischen Ablagerungen. Dabei gibt es zwei Varianten, klastisch und in situ. Klastisches Plastiglomerat ist durch Wärme in das Gestein gelangt, bei der In-situ-Variante verbindet sich das Plastiglomerat durch Druck. Beide Arten sind am Kamilo Beach zu finden, doch keine von beiden ist durch Lavaströme entstanden, obwohl das anderswo durchaus geschehen könnte. Die Kamilo-Plastiglomerate bilden sich, wenn Kunststoff in Lagerfeuern verbrannt wird oder Plastikreste im schwarzen Strandsand der Sonne ausgesetzt sind.

Plastik ist für unsere Kultur ein Problem, ganz gleich, ob Sie auf die Kraft des Marktes oder eine Regulierung durch kontrollierte Wirtschaft oder die Sozialdemokratie setzen. Wir brauchen Veränderung, und zwar schnell. Dabei stellt sich nicht die Frage, ob sich das Zeitalter des Plastiks verhindern lässt – dafür ist es bereits zu spät. Vielmehr geht es darum, ob man es verkürzen und umweltfreundlicher gestalten kann und was für ein Zeitalter darauf folgen wird.

KAPITEL 2

SUCHT

Ich denke manchmal, dass es im Universum eine bösartige Kraft gibt, das gesellschaftliche Äquivalent zu Krebs: nämlich Plastik. Es infiltriert alles. Es ist eine Metastase. Es dringt in jede einzelne Pore des produktiven Lebens ein.

NORMAN MAILER, HARVARD MAGAZINE, 1983

Ich bin süchtig nach Plastik. Wie kann ich mich darüber aufregen, dass Delfine in Plastiknetzen ertrinken oder Möwen Feuerzeuge und Kondome vom Strand verschlucken, wenn ich mir im Flughafenshop vollkommen gedankenlos einen Plastikkamm kaufe, selbst wenn ich auf die Plastiktüte dazu verzichte?

Das Wort „Plastik“ stammt von dem griechischen Verb plassein, was „formen“ oder „gestalten“ bedeutet. Seine Flexibilität verdankt es langen, elastischen Ketten aus Kohlenstoff-, Sauerstoff- und Wasserstoffatomen, die in immer gleichen Mustern angeordnet sind und sich wie die Haut einer Schlange verhalten.

Schlangenhaut ist ein gutes Beispiel dafür, wie die Biologie seit hunderten Millionen von Jahren derartige molekulare Gänseblümchenketten knüpft. Die Zellulose, aus der die Zellwände bei Reptilien bestehen, ist ein Polymer. Bevor es Gummistiefel gab, hatte man Stiefel aus Schlangenhaut.

„Polymer“ bedeutet im Griechischen „viele Teile“; jedes Polymer ist eine lange Kette aus nahezu identischen Molekülen. Bei den Proteinen, die die Stängel und Blüten von Gänseblümchen und auch unsere Muskeln, Haut und Knochen kodieren, handelt es sich ebenso um Polymere wie bei den langen spiralförmigen DNA-Leitern, die das genetische Schicksal von Gänseblümchen und Knochen bestimmen. Wird die Anordnung von einigen dieser Proteinketten ein wenig verändert, geben sie wie die Choreographie einer Tanzdarbietung ganz bestimmte Merkmale vor.

Reiht sich Chlor in diese molekulare Conga-Polonaise ein, so entsteht Polyvinylchlorid, auch als Vinyl bekannt; kommt Fluor dazu, erhält man das glatte Antihaftmaterial namens Teflon.

SUSAN FREINKEL, AUTORIN VON PLASTIC: A TOXIC LOVE STORY

Lassen Sie uns kurz einen Schritt zurückgehen. An dem Reigen aus Kohlenstoff, Sauerstoff, Stickstoff und Wasserstoff wirkten ursprünglich nur Luft und Wasser mit, lediglich in anderer Anordnung. Nun kommen jedoch Chlor und Fluor dazu – mit welcher Folge? Haltbarkeit. Der neue Stoff hat den Vertrag mit der Natur aufgekündigt, nach dem alle Dinge am Ende ihrer Lebensdauer in den großen Kreislauf zurückkehren müssen.

In der Vergangenheit wurden Kämme aus fast allen Materialien hergestellt, die der Mensch zur Hand hatte, zum Beispiel Knochen, Schildpatt, Elfenbein, Kautschuk, Eisen, Zinn, Gold, Silber, Blei, Schilf, Holz, Glas, Porzellan, Pappmaché. Im späten 19. Jahrhundert verschwand diese Vielfalt jedoch, weil ein völlig neuartiges Material auf der Bildfläche erschien – Zelluloid, das erste künstliche Plastik. Kämme zählten zu den ersten und beliebtesten Gegenständen aus Zelluloid, und nachdem dieser Material-Rubikon überschritten war, kehrten die Kammmacher nie wieder um. Seither bestehen Kämme in der Regel aus irgendeinem Kunststoffmaterial.

SUSAN FREINKEL

Das erste künstliche Plastik – Zelluloidkämme wurden 1869 von einem jungen Erfinder im US-Bundesstaat New York entwickelt – tauchte in einer Phase des kulturellen Wandels auf. Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts entstand die Konsumkultur, ein globaler Wandel, der dazu führte, dass man Lebensmittel nicht mehr selbst anbaute und zubereitete und Kleidung nicht mehr selbst herstellte (für den Adel galt das natürlich nicht), sondern massentaugliche Nachahmungen aus der Fabrik konsumierte. Der Historiker Jeffrey Meikle betonte in American Plastic: „Da es Materialien ersetzte, die schwer erhältlich oder teuer in der Verarbeitung waren, demokratisierte Zelluloid eine Vielzahl von Gütern für eine wachsende konsumorientierte Mittelschicht.“ Oder, wie Susan Freinkel es ausdrückte: Mit Plastik „konnten sich Amerikaner eine neue Rolle im Leben erkaufen“.

Zudem bot es Bakterien die Möglichkeit, ihrer Rolle aus dem Weg zu gehen.

UNGEPLANTE FOLGEN

Zelluloidkämme und Zellophan-Klebeband waren Einstiegsdrogen. 1907 kombinierte Leo Baekeland krebserregendes Formaldehyd mit Phenol aus übelriechendem, unangenehmem Steinkohlenteer und voilà! Sein Bakelit war ein zähes, glattes Polymer, das sich präzise formen und zu allen erdenklichen Produkten verarbeiten ließ.

Künftig versammelte sich die Familie um Bakelit-Radios und lauschte dort den von der Bakelite Corporation gesponserten Programmen, fuhr in Autos mit Bakelit-Zubehör, hielt über Bakelit-Telefone Kontakt, wusch Kleidung in Maschinen mit Bakelit-Rippen, glättete Falten mit von Bakelit umhüllten Bügeleisen – und frisierte sich natürlich das Haar mit Bakelit-Kämmen.

Bakelit veranlasste Unternehmen wie DuPont, Dow, Standard Oil, Union Carbide und 3M dazu, in den Wettbewerb einzusteigen. Weitere Entdeckungen folgten und die Massenproduktion von Plastikprodukten nahm ihren Lauf. Allerdings brachte Bakelit etwas nie Dagewesenes mit sich, dem man damals noch kaum Beachtung schenkte. Sobald diese Moleküle zu einer Gänseblümchenkette verbunden waren, konnte man sie nicht mehr voneinander trennen. Solange Mikroben anderswo bequemere Nahrung finden, verwenden sie nicht so viel Energie darauf, wie zur Aufspaltung dieser harten Verbindungen nötig wäre.

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„Von morgens, wenn man sich mit einer Zahnbürste mit Bakelit-Griff die Zähne putzt, bis abends, wenn man die letzte Zigarette aus einem Bakelit-Halter zieht, sie in einem Bakelit-Aschenbecher ausdrückt und sich auf ein Bakelit-Bett fallen lässt, ist alles, was man berührt, sieht und benutzt, aus diesem Material der tausend Möglichkeiten hergestellt“, schwärmte die Zeitschrift Time 1924 in einer Ausgabe, auf deren Cover Baekeland zu sehen war.

SUSAN FREINKEL

Man kann Bakelit zerbrechen, aber man kann daraus nichts anderes herstellen. Es zersetzt sich nicht. Es ist unvergänglich. Deshalb finden Sie immer noch alte Telefone, Rahmen, Radios und Kämme aus Bakelit, die fast wie neu aussehen, und deshalb sammeln sich heute an Land und im offenen Meer Plastikreste, die auch in den Eingeweiden toter Wale an der Küste und in lebendigen Krustentieren auf dem allertiefsten Meeresboden im Marianengraben zu finden sind.

In der Natur ist nichts von Dauer. Alles dient irgendeinem anderen als Nahrung. Entstehung und Zersetzung haben sich in einem endlosen Reigen gemeinsam entwickelt – nach einer Harmonie und einem Rhythmus, die das Leben bestimmten. Auf die Geburt folgt irgendwann der Tod. Aber das konnten wir nicht akzeptieren.

In den letzten fünfzig Jahren hat die Oberfläche unseres Planeten viele drastische Veränderungen erlebt, doch zu den erstaunlichsten zählt die Allgegenwart und Fülle von Plastik. Selbst wenn wir irgendwann aussterben sollten, wird Plastik bleiben. Erst ganz allmählich wird uns klar, dass es sich dabei nicht nur um ein ästhetisches Problem handelt – Abfall und Treibgut –, sondern dass die verendenden Tiere tatsächlich auch eine Bedrohung für uns darstellen. Sterbende Riffe und Plankton-Wasserblüte sind Warnsignale: Wer die marine Nahrungskette zerstört, wird die eigene vernichten.

Anfangs galt die Haltbarkeit von Kunststoff als Pluspunkt. Bakelit ersetzte Nashorn, Elfenbein und Schildpatt und war sogar noch besser – billiger, härter, ungefährlicher für Jäger. Schließlich gehen alle Dinge aus Fleisch und Knochen mit der Zeit kaputt und müssen ersetzt werden. Uns gingen die Nashörner, Elefanten und Schildkröten aus.

1955 zeigte die Zeitschrift Life unter der Schlagzeile „Wegwerf-Leben“ eine Familie, die Teller, Tassen und Besteck in die Luft wirft. Die Reinigung der Gegenstände würde vierzig Stunden dauern, so Life, „doch keine Hausfrau muss sich diese Mühe machen“. Dabei verschweigt Life die Tatsache, dass all diese „Einwegartikel“ auch in vierzig, vierhundert und vier Millionen Jahren noch da sein würden.

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Urheber: Peter Stackpole für Life

Becher, Nylonstrümpfe, Radios und Telefone führten zur „Konsumkultur“ – einer Demokratisierung von materiellem Komfort und Freizeit, da mehr Dinge für die Massen erschwinglich waren, weil man die wahren Kosten geschickt auslagerte. Als Plastik nicht mehr nur für Kamerafilme und Nylonstrümpfe genutzt wurde, sondern auch in der Getränke- und Lebensmittelverpackungsindustrie Einzug hielt, entwickelte sich die aufkeimende Konsumkultur zur „Wegwerfkultur“.