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MARIE BRENNAN

DER ONYXPALAST

SCHICKSALSZEIT

Ins Deutsche übersetzt von
Andrea Blendl

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Die deutsche Ausgabe von DER ONYXPALAST: SCHICKSALSZEIT
wird herausgegeben von Cross Cult, Teinacher Straße 72, 71634 Ludwigsburg.
Herausgeber: Andreas Mergenthaler; Übersetzung: Andrea Blendl;
verantwortlicher Redakteur und Lektorat: Markus Rohde;
Lektorat: Kerstin Feuersänger; Korrektorat: Peter Schild;
Satz: Rowan Rüster/Cross Cult; Coverillustration: Martin Frei;
Printausgabe gedruckt von CPI Moravia Books s.r.o., CZ-69123 Pohořelice.
Printed in the EU.

Titel der Originalausgabe: ONYX COURT 4: WITH FATE CONSPIRE

Copyright © 2011 by Bryn Neuenschwander
German translation copyright © 2020 by Cross Cult.

Print ISBN 978-3-96658-075-5 (September 2020)

E-Book ISBN 978-3-96658-076-2 (September 2020)

WWW.CROSS-CULT.DE

DRAMATIS PERSONAE

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Sterbliche

Diejenigen, die mit einem Sternchen markiert sind,
sind historisch belegt

Iren in Whitechapel

Elizabeth O’Malleyeine junge Frau

James O’Malleyihr Vater, ein Gefangener in Newgate

Owen Darraghein Junge, seit sieben Jahren vermisst

Maggie Darraghseine Schwester

Mrs. Darraghseine Mutter, eine Invalidin

Fergus Boyleein Tunichtgut

Vater Tooleyein Priester

Dónall Whelanein Feendoktor

Cromwell Road Nr. 35

Louisa Kitteringeine rebellische junge Frau

Mrs. Kitteringihre Mutter

Mrs. FowlerHaushälterin bei den Kitterings

Ned SayersHausdiener bei den Kitterings

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Gesellschaft für Psychische Forschung

*Frederic William Henry Myersein spiritistischer Forscher

*Henry Sidgwicksein Freund, ebenfalls ein Forscher

*Eleanor SidgwickFrau von Henry, ebenfalls eine Forscherin

*Annie MarshallFrau von Myers’ Cousin, jetzt verstorben

Iris Wexfordein Medium

Scotland Yard

*Adolphus WilliamsonOberster Inspektor der irischen Sondereinheit

*Patrick QuinnPolizeisergeant in der irischen Sondereinheit

*Augusta Ada KingMathematikerin und Gräfin von Lovelace,
jetzt verstorben

*Charles Babbageein Erfinder, jetzt verstorben

*Eliza Carterein Mädchen aus West Ham

Mrs. Chaseeine Witwe aus Islington

Eveleen MyersEhefrau von Frederic Myers und Fotografin

Delphia St. ClairEhefrau von Galen St. Clair, jetzt verstorben

Francis Merrimanein sterblicher Seher und Begründer des Onyxpalasts, jetzt verstorben

Prinzen vom Stein
in chronologischer Reihenfolge

Sir Michael Deven

Sir Antony Ware

Dr. John Ellin

Lord Joseph Winslow

Sir Alan Fitzwarren

Dr. Hamilton Birch

Galen St. Clair

Matthew Abingdon

Colonel Robert Shaw

Geoffrey Franklin

Henry Brandon

Alexander Messina

Benjamin Hodgeder derzeitige Prinz

Fae

Der Hofstaat von London

LuneKönigin des Onyxhofs

Sir Peregrin ThorneHauptmann der Onyxwache

Sir CerenelLeutnant der Onyxwache

Dame Segraineeine Ritterin der Onyxwache

Dame Irrithein Irrwisch und eine Ritterin aus dem Tal des Weißen Pferdes

AmadeaOberste Kammerherrin des Onyxhofs

Tom Togginein Hauself; Leibdiener des Prinzen vom Stein

Knochenbrecherein Gefolgsmann des Prinzen

Invidianaeine ehemalige Königin, jetzt verstorben

Der Goblinmarkt

Nadrettein Verbrecherboss

Der Tote Ricksein Hund, ein Skriker

Cymaeine ehemalige Lady, bei Nadrett verschuldet

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Orleggein Thrumpin im Dienst von Valentin Aspell

Greymalkinebenfalls im Dienst von Valentin Aspell

Pohein chinesischer Fae, Verbündeter von Lacca und Wirt einer Opiumtaverne

HafdeanWirt im Crow’s Head

Schwarzzähnige MegHexe aus dem Fluss Fleet

Kohlen-Eddieein wenig intelligenter Puck

Die Galenische Akademie

Abd ar-Rashidein Dschinn aus Istanbul und oberster Gelehrter der Akademie

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Yvoirein französischer Fae und Gelehrter in Fotografie

Kutuhalein Vanara aus Indien

Fjotharein Svartálfr aus Skandinavien

Rosamund Goodemeadeeine hilfsbereite Braunelfe

Gertrude Goodemeadeebenfalls eine hilfsbereite Braunelfe und Rosamunds Schwester

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SuspiriaBegründerin des Onyxhofs, jetzt verstorben

Vater ThemseGeist des Flusses Themse

»Heimat ist ein Name, ein Wort, ein starkes.
Stärker, als ein Magier je sprach oder ein Geist
je in der stärksten Beschwörung antwortete.«

CHARLES DICKENS, Martin Chuzzlewit

Inhalt

PROLOG

DER ONYXPALAST, LONDON

29. Januar 1707

TEIL EINS Februar-Mai 1884

DIE INNENSTADT VON LONDON

26. Februar 1884

DER GOBLINMARKT, ONYXPALAST

2. März 1884

WHITECHAPEL, LONDON

4. März 1884

FLUSSUFER, LONDON

10. März 1884

DIE GALENISCHE AKADEMIE, ONYXPALAST

10. März 1884

ISLINGTON, LONDON

14. März 1884

DER GOBLINMARKT, LONDON

19. März 1884

CROMWELL ROAD, SOUTH KENSINGTON

24. März 1884

DER GOBLINMARKT, ONYXPALAST

26. März 1884

CROMWELL ROAD, SOUTH KENSINGTON

27. März 1884

DER GOBLINMARKT, ONYXPALAST

30. März 1884

ADELAIDE ROAD, PRIMROSE HILL

6. April 1884

WHITE LION STREET, ISLINGTON

11. April 1884

CROMWELL ROAD, SOUTH KENSINGTON

11. April 1884

DER GOBLINMARKT, ONYXPALAST

11. April 1884

CROMWELL ROAD, SOUTH KENSINGTON

12. April 1884

DER GOBLINMARKT, ONYXPALAST

12. April 1884

DER HOF DES PRINZEN, ONYXPALAST

12. April 1884

ST.-ANNES-KIRCHE, WHITECHAPEL

13. April 1884

CROMWELL ROAD, SOUTH KENSINGTON

14. April 1884

IN DEN ABWASSERKANÄLEN

1. Mai 1884

PRAED STREET, PADDINGTON

7. Mai 1884

CROMWELL ROAD, SOUTH KENSINGTON

8. Mai 1884

DER GOBLINMARKT, ONYXPALAST

9. Mai 1884

TEIL ZWEI Mai - August 1884

WHITE LION STREET, ISLINGTON

16. Mai 1884

CROMWELL ROAD, SOUTH KENSINGTON

19. Mai 1884

NACHTGARTEN, ONYXPALAST

22. Mai 1884

SHADWELL, LONDON

24. Mai 1884

DER GOBLINMARKT, ONYXPALAST

26. Mai 1884

CROMWELL ROAD, SOUTH KENSINGTON

27. Mai 1884

FLUSSUFER, ONYXPALAST

28. Mai 1884

DER HOF DES PRINZEN, ONYXPALAST

29. Mai 1884

NEWGATE, INNENSTADT VON LONDON

31. Mai 1884

CROMWELL ROAD, SOUTH KENSINGTON

31. Mai 1884

DIE GALENISCHE AKADEMIE, ONYXPALAST

1. Juni 1884

ROSENHAUS, ISLINGTON

6. Juni 1884

DER GOBLINMARKT, ONYXPALAST

6. Juni 1884

DER HOF DES PRINZEN, ONYXPALAST

9. Juni 1884

Erinnerung: 30. März 1859

ARBEITSHAUS ST. MARY ABBOTS, KENSINGTON

18. Juli 1884

FLUSSUFER, ONYXPALAST

24. Juli 1884

HYDE PARK, KENSINGTON

25. Juli 1884

ARBEITSHAUS ST. MARY ABBOTS, KENSINGTON

27. Juli 1884

INNENSTADT VON LONDON

30. Juli 1884

WHITE LION STREET, ISLINGTON

6. August 1884

DER GOBLINMARKT, ONYXPALAST

6. August 1884

INNENSTADT VON LONDON

6. August 1884

ALDERSGATE, ONYXPALAST

6. August 1884

DIE INNENSTADT VON LONDON

6. August 1884

DIE GALENISCHE AKADEMIE, ONYXPALAST

6. August 1884

TEIL DREI August – Oktober 1884

DIE GALENISCHE AKADEMIE, ONYXPALAST

6. August 1884

ALDERSGATE, ONYXPALAST

6. August 1884

LECKHAMPTON HOUSE, CAMBRIDGE

12. August 1884

CROMWELL ROAD, SOUTH KENSINGTON

13. August 1884

EAST END, LONDON

14. August 1884

HOF DES PRINZEN, ONYXPALAST

15. August 1884

WHITECHAPEL, LONDON

16. August 1884

DIE GALENISCHE AKADEMIE, ONYXPALAST

17. August 1884

ST. ANNES-KIRCHE, WHITECHAPEL

22. August 1884

DIE GALENISCHE AKADEMIE, ONYXPALAST

22. August 1884

Erinnerung: 14. September 1877

ST. ANNES-KIRCHE, WHITECHAPEL

22. August 1884

HARE STREET, BETHNAL GREEN

22. August 1884

WHITE LION STREET, ISLINGTON

24. August 1884

PADDINGTON STATION, PADDINGTON

25. August 1884

WEST HAM, LONDON

26. August 1884

SCOTLAND YARD, WESTMINSTER

27. August 1884

WEST HAM, LONDON

2. September 1884

DER HOF DES PRINZEN, ONYXPALAST

2. September 1884

DER LONDONSTEIN, ONYXPALAST

2. September 1884

DIE GALENISCHE AKADEMIE, ONYXPALAST

7. September 1884

Erinnerung: 29. Mai 1870

DER LONDONSTEIN, ONYXPALAST

16. September 1884

DER LONDONSTEIN, ONYXPALAST

4. Oktober 1884

DAS ANGEL, ISLINGTON

6. Oktober 1884

OAKLEY STREET, CHELSEA

6. Oktober 1884

DIE U-BAHN, INNENSTADT VON LONDON

6. Oktober 1884

DER NEUE PALAST, LONDON

31. Oktober 1884

EPILOG

BURLINGTON HOUSE, PICADILLY

2. September 1899

DANKSAGUNG

PROLOG

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DER ONYXPALAST, LONDON

29. Januar 1707

Wie eine Wolke ätherischer Glühwürmchen schwebten die Lichter mitten in der Luft. Die Ecken des Raums lagen im Schatten. Jegliche Beleuchtung hatte sich in die Mitte, zu diesem Fleck vor dem offenen leeren Kamin zusammengezogen und auf die Frau, die dort schweigend stand.

Ihre rechte Hand bewegte sich mit geistesabwesender Sicherheit und dirigierte die Lichter in Position. Die linke hing steif an ihrer Seite, eine starre Klaue, die von ihrem Handschuh nur unzureichend bedeckt wurde. Ohne Kompass oder Lineal, nur von tief greifendem Instinkt geleitet, formte sie die Lichter zu einer Karte. Hier der Tower von London. Im Westen die St.-Pauls-Kathedrale. Die lange Linie der Themse unter ihnen und der Walbrook, der aus dem Norden herabfloss, um sich mit ihr zu vereinen, und unterwegs am Londonstein vorbeikam. Und um das Ganze herum, mit Berührung des Flusses auf beiden Seiten, der ungleichmäßige Bogen der Stadtmauer.

Für einen Augenblick schwebte er vor ihr, strahlend und perfekt. Dann griffen ihre Fingerspitzen nach oben zu einem nordöstlichen Punkt an der Mauer und schnippten einige Lichter weg.

Als sei dies ein Ruf gewesen, öffnete sich die Tür hinter ihr. Nur eine Person an diesem gesamten Ort hatte das Recht, sie unangekündigt zu stören, und so blieb sie, wo sie war, und betrachtete die jetzt mit einem Makel behaftete Karte. Sobald die Tür geschlossen war, sprach sie, wobei ihre Stimme in der Stille des Raums perfekt widerhallte. »Du warst nicht in der Lage, sie aufzuhalten.«

»Es tut mir leid, Lune.« Joseph Winslow trat vor, an den Rand des kühlen Lichts. Es verlieh seinen gewöhnlichen Gesichtszügen einen seltsamen Schein. Was in der Helligkeit des Tages wie Jugend gewirkt hätte – mehr Jugend, als er für sich beanspruchen sollte –, verwandelte sich unter solcher Beleuchtung zu fremdartiger Alterslosigkeit. »Sie ist zu sehr im Weg. Ein Hindernis für Karren, Reiter, Kutschen, Fußgänger … sie dient keinem Zweck mehr. Keinem, den ich ihnen erklären kann, zumindest.«

Blau spiegelte sich im Silber ihrer Augen, als sie mit ihnen der Linie der Mauer folgte. Die alte römische und mittelalterliche Befestigung, über die Jahrhunderte oft geflickt und verändert, aber in ihrer Essenz immer noch die Grenze des alten London.

Und ihres Reichs, das verborgen darunter lag.

Sie hätte dies kommen sehen sollen. Sobald es unmöglich wurde, noch mehr Menschen in die Grenzen von London hineinzustopfen, fingen sie an, sich außerhalb der Mauern auszubreiten. Flussaufwärts bis Westminster, in riesigen Häusern entlang des Ufers und in seuchengeplagten Mietshäusern dahinter. Flussabwärts zu den Schiffswerften, wo Seeleute unter den Lagerhäusern voller Güter aus fremden Ländern ihren Lohn versoffen. Auf der anderen Seite des Flusses in Southwark und nördlich der Mauer in den Vorstädten – doch im Herzen davon lag immer die Innenstadt von London. Und während die Jahre verstrichen, wurden die sieben großen Tore immer verstopfter, bis sie die endlosen Ströme der Menschheit, die herein- und hinausflossen, nicht mehr durchlassen konnten.

Im gedämpften Tonfall eines Mannes, der einen Arzt um eine Auskunft bat, die seiner Befürchtung nach eine schlechte Nachricht wäre, fragte Winslow: »Was wird das mit dem Onyxpalast machen?«

Lune schloss die Augen. Sie brauchte sie nicht, um ihr Reich anzusehen, den Feenpalast, der sich unter der Quadratmeile erstreckte, die von der Mauer eingeschlossen wurde. Jenes schwarze Gestein hätte ihre eigenen Knochen sein können, denn eine Feenkönigin herrschte durch die Verbindung zu ihrem Reich. »Ich weiß es nicht«, gestand sie ein. »Vor fünfzig Jahren, als das Parlament General Monck befahl, die Tore aus ihren Angeln zu reißen, befürchtete ich, dass es dem Palast schaden könnte. Dabei kam nichts heraus. Vor vierzig Jahren, als das Große Feuer die Eingänge zu diesem Ort verbrannte und sogar die St.-Pauls-Kathedrale, befürchtete ich, dass wir uns davon nicht erholen würden. Das wurde wiederaufgebaut. Aber jetzt …«

Jetzt hatten die Sterblichen von London vor, einen Teil der Mauer einzureißen – ihn einzureißen und nicht zu ersetzen. Weil die Tore ausgebaut waren, konnte sich die Stadt im Krieg nicht länger schützen. In Wirklichkeit hatte sie auch keinen Bedarf mehr, das zu tun. Was die Mauer selbst zu wenig mehr als einer historischen Kuriosität machte und zu einem Hindernis für das Wachstum von London.

Vielleicht würde der Palast dennoch stehen bleiben, wie ein Tisch, dem ein Bein weggebrochen war.

Vielleicht aber auch nicht.

»Es tut mir leid«, sagte Winslow erneut und hasste die Unzulänglichkeit der Worte. Er war ihr sterblicher Gefährte, der Prinz vom Stein. Es war sein Privileg und seine Pflicht, jene Punkte zu überwachen, an denen sich Feenlondon und das sterbliche London rieben. Lune hatte ihn gebeten, die Zerstörung der Mauer zu verhindern, und er war gescheitert.

Lunes Haltung war selten etwas anderes als perfekt, doch irgendwie richtete sie sich noch mehr auf und straffte die Schultern, sodass diese eine Linie bildeten, die zu erkennen er gelernt hatte. »Es war eine unmögliche Aufgabe. Und vielleicht eine unnötige. Der Palast hat schon früher Schwierigkeiten überlebt. Aber wenn sich daraus irgendwelche Probleme ergeben, dann werden wir sie lösen, genau wie wir es immer getan haben.«

Sie bot ihm ihren Arm an, und er nahm ihn und führte sie mit förmlicher Höflichkeit aus dem Raum. Zurück zu ihrem Hofstaat, einer Welt aus Feen, die sowohl freundlich als auch grausam waren, und den wenigen Sterblichen, die von ihrer Präsenz unter London wussten.

Hinter ihnen, allein im leeren Raum, schwebten die Lichter wieder frei, und die Karte löste sich zu bedeutungslosem Chaos auf.

TEIL EINS

Februar-Mai 1884

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»Ich erblicke London; ein menschlich schreckliches Wunder Gottes!«
WILLIAM BLAKE

»Jerusalem: The Emanation of the Giant Albion«

»Oh Stadt! Oh neuester Thron! Wo ich erzogen wurde,
um ein Mysterium aus Lieblichkeit
für alle Augen zu sein, die Zeit ist fast gekommen,
da ich dieses glorreiche Heim aufgeben muss
für neue Entdeckungen: Bald werden jene strahlenden Türme
sich mit dem Wink ihres Zauberstabs verfinstern.
Verfinstern, und schrumpfen und zu Hütten erbeben,
schwarze Flecken in einer Wüste aus ödem Sand,
niedrig gebaut, mit Lehmwänden, barbarische Siedlung,
wie verändert von dieser schönen Stadt!«

ALFRED, LORD TENNYSON
»Timbuctoo«

»Eine große Stadt ist wie ein Wald–
es ist nicht ihre Gesamtheit, die man über dem Boden sieht.«

MR. LOWE, Parlamentsmitglied
Ansprache bei der Eröffnung der Metropolitan Railway,
abgedruckt in der Times, 10. Januar 1863

Mit genug Zeit kann alles vertraut genug werden, dass man es ignorieren kann.

Sogar Schmerz.

Die sengenden Nägel, die durch ihr Fleisch getrieben wurden, schmerzen so, wie sie es immer getan haben, doch jener Schmerz ist bekannt, gezählt, in ihre Welt aufgenommen. Wenn ihr Körper auf einer Streckbank gefesselt ist, Muskeln und Sehnen zerrissen und von der Folter vernarbt, hat ihn zumindest in letzter Zeit niemand weiter gestreckt. Dies hier ist vertraut. Sie kann es ignorieren.

Aber das Unvertraute, das Unvorhersehbare, stört diese Missachtung. Dieser neue Schmerz ist unregelmäßig und intensiv, nicht die stetige Qual von zuvor. Er ist ein Messer, das in ihre Schulter getrieben wird, eine plötzliche Pein, die wieder durch sie sticht. Und wieder. Und wieder.

Sie kriecht immer näher an ihr Herz.

Jeder neue Stich erweckt all den anderen Schmerz, jeden blutenden Nerv, den sie zu akzeptieren gelernt hat. Nichts kann noch ignoriert werden. Alles, was sie tun kann, ist es zu ertragen. Und das tut sie, weil sie keine Wahl hat. Sie hat sich an diese Qual gebunden, mit Ketten, die von keiner Kraft außer dem Tod gesprengt werden können.

Oder vielleicht der Erlösung.

Wie ein Patient, der von einer Seuche niedergestreckt wurde, wartet sie, und in ihren wachen Augenblicken betet sie um ein Heilmittel. Kein Arzt existiert, der diese Krankheit behandeln kann, aber vielleicht – wenn sie lange genug aushält – wird sich jemand jene Wissenschaft selbst beibringen und sie vor diesem schrecklichen, schrittweisen Tod retten.

Das hofft sie, und sie hofft es schon länger, als sie sich erinnern kann. Doch jeder Stich bringt das Messer so viel näher an ihr Herz.

So oder so, sie wird nicht viel länger durchhalten müssen.

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Die Monsterstadt strotzte vor Leben. Ihre Straßen, wie große und kleine Arterien, pulsierten im Verkehrsstrom: Hackneys und Privatkutschen, Omnibusse, die vor Passagieren drinnen und draußen fast platzten, Pferdetrams, die auf ihren Eisenschienen vorbeiratterten. Fußgänger, Reiter, Menschen auf den unglaublichsten Rollern und Fahrrädern. Auf dem Fluss Schiffe: Wälder aus Masten und Kaminen, Segelschiffe, die Fracht hin und her transportierten, Fähren, die Passagiere auf Stege spuckten, die vom stinkenden Ufer wegragten. Züge donnerten aus den Vorstädten herbei und wieder hinaus, die Bevölkerung stieg an und sank, als würde die Stadt atmen.

Die Luft, die ihre Lungen füllte, war aus zahllosen verschiedenen Arten der Menschlichkeit gemacht. Die Hochgestellten und die Niedriggestellten, die vor Diamanten oder Tränen der Verzweiflung glitzerten, Dutzende Sprachen in Hunderten Akzenten hören ließen, dicht gedrängt lebten, übereinander und untereinander und nebeneinander, doch völlig unterschiedliche Welten bewohnten. Die Stadt schloss sie alle ein: Lebend und sterbend bildeten sie einen Teil des gewaltigen Organismus, der täglich drohte, sie mit seinem gleichzeitigen Wachsen und Verfall zu ersticken.

Dies war London, in all seinem Schmutz und seiner Pracht. Mit Nostalgie für die Vergangenheit, während es danach strebte, die Ketten vergangener Zeitalter zu sprengen und nach vorn in die strahlende Utopie der Zukunft zu treten. Stolz auf seine Leistungen, doch voll Verachtung für seine eigenen Makel. Ein Monster, sowohl in Größe als auch Charakter, das die Unachtsamen verschlingen und in nicht wiederzuerkennender und niemals erträumter Form wieder ausspeien würde.

London, die Monsterstadt.

DIE INNENSTADT VON LONDON

26. Februar 1884

»Heiße Krapfen! Einen Viertelpenny pro Stück, warm an einem kalten Morgen! Wollen Sie einen Krapfen kaufen, Sir?«

Der Ruf hallte durch die Luft und verlor sich unter anderen, wie ein Vogel in einem Schwarm. Eine Dampfwolke aus dem offenen Schacht entlang der Farringdon Road kündigte die Ankunft eines unterirdischen Zuges an. Eine Minute später spuckte der Bahnhof darüber eine Menschenmasse aus, die sich jenen anschloss, die durch die Kraft ihrer eigenen Füße in die Stadt gekommen waren. Sie schlurften den Snow Hill entlang und zum Viadukt von Holborn hinauf, gähnend und schläfrig, und so viele von ihnen, dass sie Kutschen und Omnibusse anhalten ließen, wenn sie über die Straßenkreuzungen strömten.

Die Stimme einer Straßenverkäuferin musste kräftig sein, um über den Gesprächen und Schritten und Kirchenglocken, die sieben Uhr läuteten, gehört zu werden. Eliza füllte ihre Lunge und brüllte wieder: »Heiße Krapfen! Direkt aus dem Ofen! Nur einen Viertelpenny pro Stück!«

Ein Kerl hielt inne, kramte in seiner Tasche und gab ihr einen Penny. Die vier Krapfen, die Eliza ihm im Tausch überreichte, waren heiß gewesen, als sie ihre Ladung vor einer Stunde abgeholt hatte. Seither hatten sie nur ein wenig Wärme gehalten, weil sie dicht beieinander lagen. Aber das hier waren die Sekretäre, die tintenbefleckten Männer, die in den Geschäftshallen der Stadt viele Stunden für wenig Geld hart arbeiteten. Sie würden nicht über den Wahrheitsgehalt ihrer Werbung diskutieren. Zu dem Zeitpunkt, bis die wohlhabenden Höhergestellten zur Arbeit kamen, in drei Stunden oder so, würde sie ihre Ware verkauft und ihren Karren mit etwas anderem gefüllt haben.

Falls alles gut lief. Gute Tage waren diejenigen, an denen sie immer wieder die Straßen entlanglief, jede Runde mit neuen Waren: Schnürsenkel für Stiefel, Bänder für Strümpfe, Schwefelhölzer, selten sogar Zigaretten. An schlechten Tagen pries sie bei Sonnenuntergang noch kalte, zähe Krapfen an und hatte keinen Trost, außer dass sie an jenem Abend etwas zu essen haben würde. Und manchmal konnte sie den Betreiber eines Nachtasyls überreden, dass er einige im Tausch gegen einen Platz auf seiner Bank nahm.

Der heutige Tag fing gut an. Sogar ein Krapfen von nur mäßiger Wärme war an einem kalten Morgen wie diesem eine gewisse Annehmlichkeit. Aber kühles Wetter machte die Männer am Nachmittag und Abend mürrisch, wenn sie ihren Kragen hochklappten und ihre Hände in die Taschen schoben und nur an den Zug oder Omnibus oder langen Marsch dachten, der sie nach Hause bringen würde. Eliza wusste es besser, als anzunehmen, dass ihr Glück anhalten würde.

Zu dem Zeitpunkt, als sie Cheapside erreichte und der Menge aus Männern auf ihrem Weg zu den Bürogebäuden folgte, wurde das Gedränge auf den Straßen dünner. Jene, die noch draußen waren, hasteten weiter aus Angst, dass ihnen für eine Verspätung Lohn abgezogen würde. Eliza zählte ihre Münzen, steckte versuchsweise einen Finger zwischen die übrigen Krapfen und beschloss, dass sie kalt genug waren, dass sie einen für sich selbst entbehren konnte. Und Tom Granger war immer willens, sie für eine Weile bei ihm sitzen zu lassen.

Sie lenkte ihre Schritte zurück zur Ecke der Ivy Lane, wo Tom halbherzig Ausgaben der Times vor Passanten schwenkte. »Mit dieser faulen Hand wirst du sie nie verkaufen«, sagte Eliza und stellte ihren Karren neben ihm ab.

Sein Grinsen war so schief wie seine Schneidezähne. »Warte bis morgen. Bill sagt, dass wir dann aufregende Neuigkeiten haben.«

»Ach?« Eliza bot ihm einen Krapfen an, den er annahm. »Skandal, oder wie?«

»Besser. Es hat wieder eine Bombe gegeben.«

Sie hatte gerade einen großen Bissen genommen. Er verfing sich in ihrer Kehle, und für einen Moment befürchtete sie, dass sie ersticken würde. Dann rutschte er hinunter, und sie hoffte, dass Tom, falls er ihre Panik gesehen hatte, es dem zuschreiben würde. »Wo?«

Tom hatte sich bereits den halben Krapfen in den Mund gestopft. Seine Antwort war völlig unverständlich. Sie musste warten, bis er genug gekaut hatte, um zu schlucken. »Victoria Station«, sagte er, sobald er wieder deutlicher sprechen konnte. »Gleich heute früh. Hat den Fahrkartenschalter und alles halb bis zum Mond gepustet. Aber keiner verletzt – schade. Wir verkaufen mehr Zeitungen, wenn’s Tote gibt.«

»Wer hat das getan?«

Er zuckte mit den Schultern, dann wandte er sich ab, um einem Mann im Flanellmantel eines Tischlers eine Zeitung zu verkaufen. Als das erledigt war, sagte er: »Harry denkt, es war eine Gasleitung, die hochgegangen ist, aber ich schätze, das waren wieder die Fenier.« Er spuckte auf die Pflastersteine. »Verdammte Irenschweine. Sie verkaufen Zeitungen, das geb ich ja zu, aber die und ihre Drecksbomben, hm?«

»Die und ihre Drecksbomben«, wiederholte Eliza und starrte den Rest ihres Krapfens an, als würde er ihre Aufmerksamkeit brauchen. Jeglicher Appetit war ihr vergangen, aber sie zwang sich, trotzdem fertig zu essen. Ich habe es verpasst. Während ich an eine Bank gebunden geschlafen habe, war er hier, und ich habe meine Chance verpasst.

Tom schimpfte weiter über die Iren, gestand ihnen zu, dass sie verteufelt kräftige Kerle und gut für harte Arbeit seien, aber vor einigen Tagen sei ein Paddy dahergekommen, dreist ohne Ende, und hätte versucht, Zeitungen zum Verkaufen zu bekommen. »Bill und ich haben ihn ganz schnell verjagt«, sagte Tom.

Eliza teilte seine Genugtuung nicht im Geringsten. Während Tom sprach, suchte ihr Blick die Straße ab, als könnten hektische Versuche jetzt ihr Scheitern wiedergutmachen. Zu spät, und das weißt du. Was hättest du überhaupt getan, wenn du letzte Nacht hier gewesen wärst? Wärst du ihm wieder gefolgt? Das hat ja letztes Mal sehr gut geklappt. Aber du hast deine Gelegenheit verpasst, es besser zu machen. Sie war überrascht, als Tom seine Tirade unterbrach und sagte: »Drei Monate sind es jetzt, und ich verstehe dich immer noch nicht.«

Sie hoffte, dass ihr Blick nicht so offensichtlich verblüfft war, wie er sich anfühlte. »Was meinst du?«

Tom deutete auf sie und schien sowohl die zerlumpte Kleidung als auch die junge Frau, die diese trug, zu meinen. »Dich. Wer du bist und was du hier machst.«

Plötzlich war ihr viel kälter, als man mit der Morgenluft hätte erklären können. »Ich versuche, Krapfen zu verkaufen. Aber ich glaube, mit diesen hier bin ich so gut wie fertig. Ich sollte bald gebratenen Fisch holen, oder etwas anderes.«

»Was du direkt hierher zurückbringst. Vielleicht stehst du ein bisschen am Krankenhaus herum oder am Gefängnis, aber du hältst dich, so lange du kannst, in der Nähe von Newgate, wenn du zumindest ein paar Pennys hast, um Abendessen und einen Schlafplatz zu bezahlen. Die feinen Gentlemen reden gerne über faule Leute, die sich nicht genug darum scheren, einen besseren Lohn zu verdienen – aber du bist die Einzige, die ich je getroffen habe, bei der das wahr ist.« Tom kratzte sich am Hals und betrachtete sie auf eine Art, die sie dazu brachte, weglaufen zu wollen. »Du redest anders, du kommst nicht aus einer richtigen Straßenhändlerfamilie … Ich weiß, dass die dich manchmal vertreiben, wenn du auf ihr Territorium kommst. Kurzum, du bist ein Mysterium, und schon seit du angefangen hast, hierherzukommen, versuche ich, dich zu verstehen. Was gibt es in der Nähe von Newgate für dich, Elizabeth Marsh, wofür du drei Monate damit verbringst, darauf zu warten, dass es aufkreuzt?«

Ihre Finger fühlten sich wie Eis an. Eliza fummelte an den Enden ihres Schultertuchs herum, dann hörte sie auf, weil es nur Aufmerksamkeit darauf lenkte, wie ihre Hände zitterten. Was gab es da zu befürchten? Es war kein Verbrechen, hier herumzuhängen, solange sie ehrliche Arbeit betrieb. Tom wusste gar nichts. Soweit es ihm bekannt war, war sie einfach Elizabeth Marsh, und Elizabeth Marsh war niemand.

Aber sie hatte sich für ihn keine Lügengeschichte ausgedacht, weil sie nicht erwartet hatte, dass er fragen würde. Ehe sich ihr Verstand ausreichend beruhigen konnte, um eine gute zu erfinden, wurde seine Miene zu sanfterem Mitleid. »Hast jemanden in Newgate, hm?«

Er zuckte mit dem Kinn nach Westen, als er das sagte. Newgate im spezifischen Sinn, das Gefängnis, das in der Nähe stand. Was nahe genug an der Wahrheit lag – wenn nicht der echten Wahrheit –, dass Eliza die Chance erleichtert ergriff. »Meinen Vater.«

»Dachte, es wär vielleicht ein Mann«, sagte Tom. »Du wärst nicht die erste Frau, die ohne Ring herumläuft. Wartest darauf, dass er rauskommt, oder hoffst, dass er das nicht tut?«

Eliza dachte an das letzte Mal, als sie ihren Vater gesehen hatte. Vor vier Monaten, und die Worte, die sie gewechselt hatten, waren nicht nett gewesen – das waren sie nie –, aber sie hatte das völlig vergessen, nachdem sie aus dem Gefängnis marschiert war und jenes vertraute, verhasste Gesicht gesehen hatte.

Sie zuckte unbeholfen mit den Schultern und hoffte, dass Tom das Thema wechseln würde. Je mehr Fragen sie beantwortete, desto wahrscheinlicher würde er bemerken, dass etwas seltsam war. Besser, es blieb bei einem namenlosen Vater mit einem ungenannten Verbrechen. Tom bohrte nicht weiter nach, sondern nahm eine seiner Zeitungen und fing an, die hinteren Seiten abzusuchen. »Da, schau dir das an.«

Der Artikel über seinem zerfurchten Fingernagel war kurz, nur zwei knappe Absätze unter der Überschrift MR. CALHOUNS NEUE FABRIK. »Fabrikarbeit ist nicht schlecht«, sagte Tom. »Besser als Haushaltshilfe jedenfalls – keine Herrin, die einen ständig nervt, und einige Fabriken bezahlen mehr –, und es würde dich von hier wegbringen. Hier zu warten, wird dir nichts bringen, Lizzie, und wenn du so weitermachst, wirst du früher oder später Pech haben. So viel Pech, dass du ins Armenhaus musst.«

»Ach, du versuchst doch nur, mich loszuwerden«, sagte Eliza. Es kam wegen der Enge in ihrer Kehle höher heraus als sonst. Tom war einfach nützlich. Seine Ecke war die beste zum Beobachten. Sie hatte nie mehr als das vorgehabt – niemals Freundschaft –, und seine Nettigkeit ließ sie umso mehr Schuldgefühle wegen ihrer Lügen empfinden.

Aber er hatte recht, was die Arbeit anging. Sie war früher Dienstmädchen gewesen, bei einer italienischen Familie, die in Spitalfields gebrauchte Kleidung verkaufte. Ein Mädchen für alles zu sein, war ungeachtet der Familie wenig besser, als eine Sklavin zu sein. Viele Mädchen sagten, dass Fabrikarbeit vorzuziehen war, wenn man sie bekommen konnte. Aber Newgate zu verlassen …

Sie konnte nicht. Ihr ungehorsamer Blick wanderte trotzdem zurück zu der Anzeige. Und dann sah sie, was darunter lag, das Toms Hand vorher verdeckt hatte.

LONDONER FEENGESELLSCHAFT – Eine neue Vereinigung wurde in Islington gegründet, zum Verständnis von Großbritanniens schnell weniger werdenden Feeneinwohnern. Treffen am zweiten Freitag in jedem Monat in der White Lion St. 9, 7 Uhr abends.

Eliza konnte sich kaum davor zurückhalten, Tom die Zeitung aus der Hand zu reißen, um die Worte anzustarren und zu sehen, ob sie verschwanden. »Darf ich?«, fragte sie.

Sie hatte nur vor, es noch einmal zu lesen, doch Tom übergab ihr die Zeitung und winkte mit den Händen hinterher. »Behalt sie.«

Die Kälte war verschwunden. Eliza war vom Kopf bis in die Zehen warm. Sie konnte nicht von den Worten wegsehen. Zufall – oder Vorherbestimmung? Vielleicht war es gar nichts: Leute mit Geld, die über kleine »Blumenfeen« plauderten statt über die Feen, die Art, die Eliza allzu gut kannte. Diese neue Gesellschaft wusste vielleicht gar nichts, was ihr helfen konnte.

Aber ihre Alternative war es, hier zu warten, mit der schwindenden Hoffnung, dass es ihr irgendetwas nützen würde. Nur weil es eine weitere Bombe gegeben hatte, bedeutete das nicht, dass irgendwelche von den Leuten, die damit zu tun hatten, hier gewesen waren. Es hätte letzten Oktober reiner Zufall sein können, als sie ihn in Newgate gesehen hatte. Seitdem hatte sie beinahe jeden Tag hier verbracht und nicht einmal einen weiteren Blick auf ihn erhascht. Sie waren trickreiche Kreaturen, diese Feen, und nicht leicht zu erwischen. Aber vielleicht konnte diese Londoner Feengesellschaft ihr helfen.

»Danke«, sagte Eliza zu Tom, faltete die Zeitung und stopfte sie in die ausgeleierte Tasche ihres Umhangs.

Er zuckte mit den Schultern und sah geniert weg. »Ach, das ist doch nichts. Du fütterst mich oft genug mit Krapfen. Ich schulde dir wenigstens eine Zeitung dafür.«

Sie dankte ihm gerade nicht für die Zeitung, aber das auszusprechen, hätte ihn nur noch unbeholfener gemacht. »Ich ziehe besser weiter«, sagte Eliza. »Diese Krapfen werden sich nicht von selbst verkaufen. Aber ich werde über die Fabrik nachdenken, Tom. Wirklich.« Das meinte sie auch so. Es wäre wundervoll, zu etwas wie einem normalen Leben zurückzukehren. Nicht mehr diese Existenz von einem Tag zum anderen, wo sie alles auf die Hoffnung auf eine zweite Glückssträhne setzte. Nach diesen drei Monaten würde sie sogar wieder in den Dienst bei den DiGiuseppes treten, nur um jeden Abend zu wissen, dass sie ein Dach über dem Kopf haben würde.

Falls ein normales Leben überhaupt noch möglich war, nach allem, was sie durchgemacht hatte. Aber das war eine Frage für die Zukunft. Zuerst musste sie sich eine Fee fangen.

Tom wünschte ihr Glück, und sie packte wieder die Griffe ihres Karrens und schob ihn durch Newgate auf einen Kerl in Holborn zu, der ihr gebratenen Fisch verkaufen würde, wenn sie den Rest ihrer momentanen Ware loswerden konnte. Ihr Blick machte seinen üblichen Tanz über die Menge, als sie ihre Waren anpries, doch sie sah nichts Ungewöhnliches.

Der zweite Freitag. Das wird dann der Vierzehnte sein. Etwas mehr als zwei Wochen noch. Sie würde bis dahin hier weitermachen, wegen der geringen Chance, dass ihr Glück sich besserte. Aber Islington, hoffte sie, würde die Antworten liefern.

DER GOBLINMARKT, ONYXPALAST

2. März 1884

Mit dem Klacken von Zehennägeln auf mit Rissen überzogenem schwarzem Gestein trottete der Hund in den Raum voller Käfige. Ein halbes Dutzend waren in der schmalen Kammer aufgereiht, drei pro Seite, die meisten mit schlafenden Menschen gefüllt. Im nächsten lag ein junges Mädchen allein auf schmutzigem Stroh, fest zusammengekrümmt. Der Hund trat schnüffelnd näher. Seine Nase strich über ihr Haar, dicht an den hölzernen Gitterstäben des Käfigs, und sie schreckte mit einem angsterfüllten Schrei hoch.

Der Hund setzte sich auf seine Hinterbeine und betrachtete sie, während ihm die Zunge nur ein Stück heraushing. Das kam einem freundlichen Aussehen so nahe, wie ihm ein räudiges Ding wie er kommen konnte. Sein schwarzes Fell war unordentlich und verfilzt, und aus seinem linken Ohr war ein Stück herausgerissen. Doch als er keine bedrohliche Bewegung machte – nur dasaß und schaute –, kam das Mädchen zögerlich wieder aus der Ecke, in die sie sich zurückgezogen hatte. Sie streckte eine Hand aus, trat langsam näher, bis sie nahe genug an den Stäben war, dass der Hund seine Nase vorschieben und höflich schnüffeln konnte. Er leckte sogar über ihre schmutzigen Finger, ein kurzes, warmes Streicheln.

Bei dieser freundlichen Berührung brach das Mädchen in Tränen aus.

»He da!«

Der Hund stand auf und drehte sich schnell um. Eine untersetzte, hässliche Gestalt stand in der Tür und kratzte sich über die struppigen Barthaare. »Geh da weg«, sagte der Goblin und starrte ihn finster an. »Er will dich sehen, und zwar nicht auf vier Füßen.«

Das Mädchen im Käfig war erneut zurückgewichen. Der Hund warf einen kurzen Blick über seine Schulter auf sie, dann seufzte er, ein seltsam menschliches Geräusch. Er senkte den Kopf und konzentrierte sich, und sein Körper fing an, sich zu verändern.

Er hörte ein leises Wimmern hinter ihm, als die Verwandlung beendet war. Egal wie wenig beruhigend seine Hundegestalt gewesen war, als Mann war er schlimmer. Der Tote Rick wusste das nur zu gut. Zerlumpte Hosenbeine endeten knapp über seinen nackten Füßen, deren Zehennägel sich dick und schmutzig in Richtung Boden krümmten. Am Oberkörper trug er nur eine zerrissene Weste, die er einem toten Sterblichen geraubt hatte. Er hasste das beengende Gefühl von Ärmeln auf seiner Haut. Sein Haar war so dreckig und verfilzt, wie es als Fell gewesen war, und was sein Gesicht betraf … er drehte sich nicht um. Er war zwar kein Poltergeist mit den flammenden Augen eines Teufels, aber er hatte sich selbst schon im Spiegel gesehen. Der harte Schlitz seines Mundes würde niemanden beruhigen.

Er hätte sich anderswo verwandeln können, außer Sichtweite des Mädchens. Aber es war besser für sie, wenn sie schnell lernte, dass sogar die freundlichste Kreatur hier unten nicht vertrauenswürdig war.

Greshs breites Grinsen würde nie mit Freundlichkeit verwechselt werden. »Sie ist ein feines Exemplar, oder?«, fragte er, als der Tote Rick auf ihn zukam. »Bisschen alt, um sie aus einer Wiege zu stehlen, aber ihre Mutter hat sie trotzdem da gehabt, weil sie sonst nirgends Platz für sie hatten. Die ham zu sechzehnt in einem Zimmer gewohnt. Jetzt sind’s nur fünfzehn, und sie kriegt diesen ganzen Käfig für sich allein. Besser für alle!«

Der Tote Rick bezweifelte, ob das Mädchen oder seine Mutter zustimmen würden. Andererseits, was wusste er schon? Vielleicht war ihre Mutter eine gingetränkte Hure und wäre ganz froh, wenn sie ein Maul weniger zu stopfen hätte. Vielleicht würde das Mädchen von irgendeinem freundlichen Fae gekauft, der ein menschliches Kind wollte, mit dem er wie mit einer Puppe spielen konnte.

Oder vielleicht fliegen dir Engel aus dem Arsch, Welpe. Aber sie würde hier nicht altern, und Krankheit würde sie nie berühren, was mehr war, als irgendjemand für ihr Leben auf den Straßen oben sagen konnte.

»Komm schon«, sagte er und schob sich an Gresh vorbei. »Du hast gesagt, er will mich sehen.«

»Du brauchst mich nicht als deinen Führer«, sagte der Goblin.

Der Tote Rick blieb im Korridor stehen und warf einen Blick zurück. Gresh stand immer noch in der Tür, die Schultern begierig gekrümmt. »Nicht«, warnte der Tote Rick ihn. »Du wirst sie verderben, und dann geht es dir an den Kragen.«

Der Goblin funkelte zurück. »Ich brauche keinen Hund, der mir erklärt, was ich tun soll.«

Er sagte Hund, als sei es eine Beleidigung – als sollte sich der Tote Rick dafür schämen, ein Skriker zu sein. Eine Gewohnheit, die er sich bei ihrem gemeinsamen Herrn abgeschaut hatte. Aber es hatte Vorteile, ein Hund zu sein. Der Tote Rick knurrte tief in seiner Kehle, erwiderte Greshs Starren, und bald genug wich der Goblin als Erster zurück. Er murmelte einige Beschwerden, aber er kam mit dem Toten Rick mit und ließ dem Mädchen das bisschen Frieden, den es finden konnte.

Gelächter hallte am Gestein um sie herum wider, als sie weiterliefen, seine Quelle unmöglich zu ergründen. Das Labyrinth des Goblinmarkts war voll mit Fae und den menschlichen Kreaturen, die sie zur Unterhaltung oder Nutzung hielten. Sie drängten sich fast so dicht wie die Armen im East End, wo das Mädchen herkam. Für jeden Fae, der wegzog und sich auf die Suche nach einem Durchgang nach jenseits der sterblichen Welt machte, kam ein anderer hierher nach London. In den Onyxpalast, das verzerrte Spiegelbild der Stadt darüber, den Palast, der einst das Prachtstück von Feenengland gewesen war – und nun ihre zerbröckelnde Zufluchtsstätte gegen den Fortschritt der Menschheit darstellte.

Spuren jener Pracht waren immer noch sichtbar, in den behauenen Säulen und Eckpfeilern, den Bögen, die sich über Kammern mit hoher Decke spannten, dem gelegentlichen Mosaik, das in das schwarze Gestein einer Mauer eingefügt war. Alles war jedoch in vergangenen Jahrhunderten schwer in Mitleidenschaft gezogen worden. Vieles war zerbrochen oder verschmutzt oder halb hinter dem Gerümpel der Flüchtlinge verborgen. Gardinen, die an Kordeln aufgehängt waren, teilten größere Räume in kleinere auf und schenkten die Illusion von Privatsphäre. Fae verteidigten geschätzte Besitztümer oder sterbliche Haustiere gegen die gierigen Hände ihrer Nachbarn. Aber alles konnte verkauft werden, wenn der Preis stimmte: ein menschliches Kind gegen sterbliches Brot, ein verzauberter Spiegel gegen Drogen, die sogar einen Fae seine Probleme vergessen lassen konnten.

Gresh hatte recht. Der Tote Rick brauchte den Goblin nicht, um ihm zu zeigen, wo er hingehen sollte. Er kannte seinen Weg durch das Labyrinth blind. Der Raum, zu dem er unterwegs war, hatte einen eingerissenen Boden, wo abgeschlagenes Gestein nackter Erde Platz machte, in die jemand eine Grube gegraben hatte. Dort unten packte ein Feenhund mit roten Ohren und blutbefleckter Schnauze eine Ratte und schüttelte das Nagetier, bis dessen Genick brach. Die Beobachter – hauptsächlich Fae und einige Sterbliche – feuerten ihn brüllend an. Der Tote Rick schob sich durch die Menge und bahnte sich seinen Weg zu der kurzen Treppe, die sich am gegenüberliegenden Ende befand. Bis er sie erreicht hatte, war Gresh in der tobenden Menge verschwunden.

Die Treppe zeigte immer noch einen Hauch Kultiviertheit, obwohl die Schnitzereien am Geländer über die Jahre etwas mitgenommen worden waren. Der Raum, zu dem sie führte, zeigte etwas mehr als einen Hauch, größtenteils, weil der mit Ratten kämpfende Pöbel nicht hereingelassen wurde. Wenn seine Stühle auch nicht zusammenpassten, waren zumindest einige aus exotischem Holz geschnitzt, und der Teppich auf dem Boden strahlte immer noch in bunten Farben. Seidenbehänge an den Wänden halfen dabei, die Risse dahinter zu verdecken, das Anzeichen für unvermeidbaren Verfall.

Und es waren nur zwei Leute hier, ein Fae und ein Sterblicher. Letzterer war in eine lächerliche Parodie einer Leibdieneruniform gekleidet, in einem Stil, der fünfzig Jahre zuvor schon altmodisch gewesen wäre, aber das war kaum wichtig. Wichtig war, dass er dort war, ohne konkreten Nutzen, und die Selbstgerechtigkeit seines Herrn nährte.

Der den Toten Rick finster anstarrte. Nadrett wartete, bis sich die Tür geschlossen hatte, dann sagte er: »Ich erwarte, dass du hier bist, wenn ich dich brauche. Nicht, dass ich meine Goblins überall im Labyrinth nach dir suchen lassen muss.«

Nach Goblinmarkt-Maßstäben machte er eine elegante Figur. Nicht in Fetzen und Lumpen gekleidet, auch stolzierte er nicht in einer bunten Sammlung Zigeunerseide herum. Seine Weste mochte zwar rot wie Kinderblut sein, doch sie war zurückhaltend geschneidert. Man musste genau hinsehen, um die Knöpfe aus Knochen, die Manschettenknöpfe aus verfilztem Haar zu sehen. Er trug keinen Mantel, hatte aber den seidenen Zylinder eines Gentlemans auf, geschmückt mit einer großen Nadel aus kristallenem Sternenlicht.

Wovon nichts die Tatsache verbarg, dass sich Nadrett seinen Weg an die Spitze des Goblinmarkts mit einer Kombination aus Gerissenheit und Brutalität erkämpft hatte. Der Tote Rick war gezwungen, seinen Blick zu senken. »Tschuldigung. Ich hab bei den Käfigen vorbeigeschaut …«

»Du hast hoffentlich nicht mein Eigentum berührt.«

Der Tote Rick war nicht gut im Lügen. Sein Zögern verriet genug, und Nadrett fauchte einen Fluch. »Die da ist nicht hier, um Brot zu opfern. Hab einen Käufer, der will ein Mädchen, das nach Sterblichkeit stinkt. Wenn du sie ableckst, fängt sie an, stattdessen nach Feen zu riechen, und ich kriege keinen so guten Preis.«

Er hätte den Mund halten sollen, aber die Worte kamen trotzdem heraus. »Ich bin nicht hier, um deinen Idioten in ihren Perversionen zu helfen.«

Schnell wie eine zustoßende Schlange war Nadrett da, nur Zentimeter vor seinem Gesicht. »Doch, das bist du«, fauchte der Fae. »Weil du mir dienst. Genau mit diesen Perversionen mache ich meinen Profit, verstehst du, und wenn ich keinen Profit mache, dann nehme ich mir die Differenz aus deiner räudigen Haut. Also ist es in deinem eigenen Interesse, sicherzustellen, dass meine Kunden nicht unzufrieden sind.«

Der Tote Rick machte den Mund auf, um zu antworten – dummer Welpe, du lernst es nie –, und Nadretts Hand schloss sich um seine Kehle. Er mochte zwar einiges weniger wiegen als der Skriker, doch sein Griff war eisern. »Hintergeh mich«, zischte Nadrett, »und ich werde dich vernichten. Alles, was du früher warst. Du wirst für immer so sein, gebrochen, wirst kriechen und jeglichem Meister dienen, der dich am schlimmsten auspeitscht.«

Scham und Furcht nagten an seinen Eingeweiden, wie ein Wurm, der seinen Stolz auffraß. Er spürte, wie sich ein Winseln aufbaute, das unter Nadretts Hand nicht hervorbrechen konnte, und rollte verzweifelt mit den Augen. Als Nadrett losließ, legte der Tote Rick den Kopf schief und senkte seinen Blick. »Ich werde dich nicht hintergehen.«

Sein Herr lachte. »Natürlich nicht. Du wirst genau das tun, was ich sage. Und du hast Glück: Ich habe heute eine Verwendung für dich. Folge mir.«

Der Tote Rick hasste sich dafür, aber er gehorchte.

Ihr Weg war lang und wand sich durch den schäbigen Lärm des Goblinmarkts. Der ständige, schleichende Verfall machte es beinahe unmöglich, auf direktem Weg irgendwohin zu gehen. Zu viele Kammern und Verbindungsgänge waren verschwunden. Ganze Sektionen waren beinahe völlig abgeschnitten, und ihr einziger Zugang führte durch Flecken, die zu durchqueren zu unsicher war. Ein Fae, der einen Fuß dort hinsetzte, war in Gefahr, an einem ganz anderen Ort wieder herauszukommen – oder überhaupt nicht.

Londons Fundament verrottet unter ihm, dachte der Tote Rick. Die Leute erzählten immer noch Geschichten von der Pracht des Onyxpalasts, doch das war alles, was noch übrig war: Geschichten und diese zerfallenden Bruchstücke. Und der Goblinmarkt ist das verrottetste von allen.

Der Ort, zu dem Nadrett ihn führte, war nicht ganz auf dem Marktterritorium und war es nicht ganz nicht. Der Nachtgarten gehörte niemandem außer den Flüchtlingen, die auf Decken unter den wuchernden Bäumen schliefen. Er lag dort, wo einst das Herz des Onyxpalasts gewesen war, und in einem vergangenen Zeitalter war er der Lieblingsplatz der Höflinge gewesen. Aber jetzt floss der Walbrook stinkend durch sein Herz, und die Blumen wuchsen unter erstickendem Unkraut.

Ein Trio Goblins lungerte auf einer gesplitterten Bank herum und stand auf, als Nadrett durch den Eingangstorbogen kam. Schotten, und dem Toten Rick nicht vertraut. Er hätte menschliches Brot darauf gewettet, wenn er welches gehabt hätte, dass sie Neuankömmlinge waren. Temporäre Bewohner des Nachtgartens, die ihre Dienste an den Goblinmarkt – an Nadrett – verkauften, im Tausch gegen einen Aufstieg. »Wir haben ihn leer geräumt«, sagte der Anführer. »Hab zwei Kerle, die jedes der anderen Tore bewachen.«

Nadrett klopfte ihm auf die Schulter und wandte sich an den Toten Rick. »Du kennst deine Aufgabe. An die Arbeit.«

Er starrte an seinem Herrn vorbei in die verlassene Wildnis des Gartens. »Wer ist es?«

»Welchen Unterschied macht das? Irgendeine Sterbliche. Sie geht dich nichts an.«

Weiblich also. Aber nicht das kleine Mädchen im Käfig. Der Tote Rick schluckte und schmeckte Galle. Nicht das kleine Mädchen. Einfach irgendein anderer Mensch, der wahrscheinlich nie irgendetwas getan hatte, um dieses Schicksal über sich zu bringen.

Nadretts bloßes Einatmen reichte, um ihn anzutreiben. Der Tote Rick biss die Zähne zusammen, verwandelte sich wieder in seine Hundegestalt und rannte in den Nachtgarten hinaus.

Ein Meer an Aromen füllte seine Nase. Die Flüchtlinge mochten wohl für den Moment fort sein, aber ihre Gerüche blieben: Hauselfen und Goblins und Pucks, Hofelfen und naturliebende Irrwische, einige so neu, dass sie noch einen Nachhall ihrer Heimat in sich trugen. Kühle Erde und der dichte Teppich aus Vegetation, der darüber wuchs. Einst war der Garten mit aromatischen, nachtblühenden Blumen bepflanzt gewesen – Nachtkerzen, Jasmin –, und einige der zäheren hatten bis jetzt überlebt. Vor ihm lag der stinkende Walbrook. Die zerfallenden Zauber hatten die Spiegelung des eingegrabenen Flusses mit ihrer verschmutzten Realität vermischt und den Boden um ihn herum vergiftet.