Copyright© 2011/14/20 Urs Weth 3. Auflage

Neuherausgabe nach "Selbstreflexion - als soziale Kernkompetenz"

 

Herausgeber: Wirkstatt-Verlag, Basel Autor: Urs Weth

Umschlaggestaltung: Wirkstatt-Design Illustrationen: Johanna Schneider

 

Verlag: Wirkstatt-Verlag, Basel ISBN: 978-3-9524677-7-0

Druck in Deutschland

 

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

 

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«Erst am Ende der Erkenntnis aller Dinge wird der Mensch sich

selber erkannt haben.

Denn die Dinge sind nur die Grenzen des Menschen»

 

Friedrich Nietzsche - Morgenröte

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Urs Weth

 

Selbstbeobachtung

als soziale Kernkompetenz

Ein Blick hinter die Kulissen der eigenen Persönlichkeit oder wer spricht,

wenn Sie Ich sagen

 

 

INHALT

 

Einführung      7

Ich oder Es      10

Persönliches Krisenmanagement      14

ERKENNTNISWERKZEUGE

Das aktive Denken      18

Intermezzo: Logik      20

Intermezzo: Ganzheit      26

Intermezzo: Interesse      27

Das Begreifen der Begriffe      29

Intermezzo Symbol      31

Intermezzo: Atheismus      33

Intermezzo: Kunst      35

Subjektive Werte      37

Die Wahrnehmung      38

Vorstellung und Erinnerung      42

Gedankenebenen      47

Freies Denken      51

Ich-Zustände      53

Selbstbild      57

Vom Sinn des Leidens      59

Ist Gott objektiv      61

Was ist „spirituelle“ Forschung      68

Werkzeuge der Bildungskultur      69

FREIHEITSWERKZEUGE

Von blinden Flecken      76

Achtsamkeit      82

Der Tatort ist das Jetzt      84

Der Freiheitsbegriff      85

Vorstellung, Idee und Ideale      92

Intuition und Selbstbeobachtung      96

SCHATTENWERKZEUGE

Persönlichkeit      102

Selbst- und Fremdwahrnehmung      104

Status-Symbole      106

Erkenntnismöglichkeiten      110

Die gebundene Identität      112

Die freie Identität      116

Individualität      118

Individualität und Kunst      118

Egoismus und das Es      120

Antipathie und Sympathie      121

Ich oder Es      122

Weltbild und Selbstbild      124

Unsere inneren Lebensbegleiter      125

Konzept der Teilselbste      128

Fehlerkultur      133

SOZIALE WERKZEUGE

Leben ist Prozess      136

Persönlichkeitsstrukturen      142

Wir und Ich      147

Freiheit und Gesetze      154

Masken im sozialen Umfeld      157

Und die Liebe?      159

Die Liebeskurve      166

PRAKTISCHE WERKZEUGE

Das einfache Leben      174

Zusammenfassung      176

Und noch etwas…      178

 

Einführung

Die Einsicht in die eigene Persönlichkeitsstruktur ist eine der schwie- rigsten Aufgaben, die wir uns stellen können. Die intellektuelle Analy- se hilft da nur bedingt weiter. Selbst wenn ich in der Lage bin, gewisse Eigenheiten zu durchschauen, habe ich keine Veränderungen vorge- nommen. Umwandlungen entstehen nicht durch Analyse, sondern durch Betroffenheit! Betroffenheit entsteht durch ein wirkliches in- den-Dingen-leben. Die lateinische Bezeichnung dafür heißt Interesse. Von Ich oder Es zu sprechen ist nur wesentlich für das Erleben. Für den Intellekt ist es irrelevant, ohne Bedeutung.

Vorstellungen, welche uns von solchen Erlebnissen trennen, bilden die Mauern dazwischen. Die Verhaftung mit ihnen stellt die größte Herausforderung dar. Und diese Verhaftung verdrängt etwas Anderes in uns.

Ermahnungen und Belehrungen sind von geringem Nutzen. Bekeh- rungen sind kein guter Weg. Diese bringen etwas anderes mit sich, etwas, was sehr hinderlich ist auf dem Weg zu erlebter (Selbst-) Er- kenntnis, nämlich: ein schlechtes Gewissen!

 

Durch Selbstbeobachtung erkennen wir die Persönlichkeit als etwas von unserem tieferen Kern verschiedenes. Viele Jahre verbringen wir damit, dieses Andere im Außen zu suchen. Wir urteilen, beurteilen, verurteilen, kritisieren oder verachten alles, was uns aus unserem per- sönlichen Umfeld in die Quere kommt. Wir steigen auf die Kanzeln der Gesellschaft und predigen der Welt, was darin alles schief läuft und wie sie richtig zu sein hat! Die «linke» Partei tut dies mit der- selben Überzeugung, wie die «rechte». Wir beharren auf persönliche Rechte und ergreifen hinterlistige Methoden, um dieses Recht zu un- seren Gunsten durchzusetzen. Und dabei meinen wir es ja nur gut mit unseren Mitmenschen und glauben, sie auf den rechten Pfad bringen zu müssen. Denn wir wissen es schließlich besser als jene.

Das alles tun wir lange, lange Zeit und wir leiden unendliche Leiden, sterben unendliche kleine Tode, weil es der oder die andere einfach nicht kapiert! Oder weil man uns selbst verkennt in unserer (vermeint-

 

 

lichen) Größe!

So vergehen Jahre oder gar Jahrzehnte unseres Lebens in der Mei- nung, nur Gutes tun zu wollen, bis wir schmachvoll entdecken, dass dieses Andere WIR SELBST sind!

Wir entdecken, dass wir jahrelang einen schmerzhaften Kampf ge- kämpft haben - gegen uns selbst! Was wir als Liebe bezeichnet ha- ben, war nur eine egoistische Variante des Selbst. Was wir hassten, waren entäußerte Anteile unserer eigenen Persönlichkeit, denen wir Du oder Es sagten, aber Ich meinten.

 

Wir konnten sie nicht als unser Eigenes erkennen, weil wir mit ih- nen aufs Innigste verbunden waren, ohne es zu wissen. Und den- noch haben wir sie erkannt, aber nur wenn sie von außen auf uns zu- kamen. Das Du bot uns gleichsam die Möglichkeit, auf den eigenen verdeckten Schlamm hinzublicken. Wir wollten «Es» nicht wahrha- ben. Wir verteidigten die Unversehrtheit und Reinheit unserer per- sönlichen Glaubensbekenntnisse aufs Schärfste und fühlten Stolz. Und nun, da wir angefangen haben, diesen Seelenacker umzupflü- gen, zerbröckelt auf einmal unser Selbstbild. Es zerbricht in tausend Scherben und wir sterben tausende von kleinen Toden. Wir wollen auf einmal nicht mehr dieser Mensch sein, der wir waren. Wir wol- len ihn vernichten, auslöschen, zertrümmern! Er ist unser größter Feind geworden. Er verkörpert alles, was wir früher draußen in der Welt verurteilt haben, als wir ihn noch nicht kannten. Er ist das Monster, welches wir dort draußen zu erblicken glaubten und wel- ches wir mit aller Kraft vernichten wollten. Nun erkennen wir es: in uns selber.

Jetzt erst haben wir begonnen, dies zu begreifen!

Wenn wir den Anderen in uns entdeckt haben, verlieren wir in gewissem Sinn die Unschuld und damit die Unbefangenheit. Gleichzeitig gewinnen wir aber sehr viel: UNS SELBST - und damit mehr innere Ausgeglichenheit und Zufriedenheit im Leben.

 

Die Gedanken, die ich in diesem Buch mit Ihnen teile, sollen immer als Prozess, als «Wegzehrung» und als wandelbare Suchbewegung

 

 

verstanden werden. Nur, wer ist Ich? Wer schreibt dieses Buch? Wohin die Reise letztlich führt ist unwesentlich. Ich weiß es sowieso nicht. Es bleibt ein stetes Suchen. Weshalb soll ich mir also den Kopf darüber zerbrechen? Sicher, es gibt diese Ahnungen und Tendenzen, die sich im Laufe des Lebens vielleicht klarer herausschälen. Gedan- ken sind keine fixen Pflöcke, keine «Eisblöcke» (an denen die Tita- nics der Dogmen zerbrechen), sondern Schiffe in immer bewegtem Wasser. Sie navigieren stets neu und richten sich unentwegt neu aus in ihrer Hin- und Her-Bewegung.

 

Gedanken festzunageln ist ein Unding. Gewiss, es braucht Ausrich- tungen, Strukturen, Leitplanken. Nur, jede Struktur, jeder Gedanke bringt uns wieder in eine neue Situation! Das Heute ist anders als das Gestern und schon der nächste Augenblick ist wieder anders als dieser. Die Andersheit bringt neue Bedingungen und die neuen Bedin- gungen verlangen wiederum neue Gedanken. Der Kreislauf schließt sich. Heraklit sagte: In denselben Fluss steigst du nicht zweimal! Und Kratylos, sein Schüler war es, der sagte: Und in denselben Fluss, steigst Du auch nicht einmal!

 

Gedanken sind aber nicht einfach willkürlich! Sie nehmen immer Be- zug auf das Vorhergegangene. Sie verbinden die Vergangenheit mit der Zukunft. Wenn sie das nicht tun, dann sind es keine Gedanken mehr, sondern passive Vorstellungen, die von Assoziation zu Assozia- tion hüpfen, meist aus einem vorprogrammiertem Muster heraus und ohne logischen Bezug.

Was ich für Sie schreibe, sind keine Rechtfertigungen eigener Ideen. Nichts ist «absolute Wahrheit». Alles muss im Kontext der Wandel- barkeit betrachtet werden. Jede «persönliche Wahrheit» verändert sich mit Begegnungen und mit jedem Ihrer eigenen Gedanken und Gefüh- len immer wieder!

 

Ich oder Es

Gedanken sind schwieriger zu transportieren als Emotionen und Gefühle. Wenn Sie herzhaft auf einen anderen Menschen zugehen, dann werden Sie auf der ganzen Welt verstanden. Man wird ent- sprechend darauf reagieren, ohne dass Sie ein Wort sprechen müs- sen. Alle Menschen, alle Tiere und sogar alle Pflanzen und Lebewe- sen, verstehen die Sprache der Gefühle unmittelbar.

Der Weg vom Begriff bis zu dessen Verarbeitung in den Hirnzellen meiner Leser ist schlicht zu komplex und mit unendlichen Hürden, genannt «Vorstellungen», verbunden. Es gibt keine universelle ver- bale Sprache! Selbst wenn wir deutsch miteinander sprechen, sind zu viele Hindernisse dazwischen, die den Konsens trüben könnten. Dasselbe Wort löst unterschiedliche Gefühle aus, weil der Erfah- rungshintergrund ein anderer ist. Das macht die Verständigung un- endlich schwer.

Eigentlich müsste jeder Mensch mit dem gleichen Inhalt in unter- schiedlicher Art und Weise angesprochen werden. Mit dem einen Freund darf ich ein Vokabular verwenden, welches einen anderen Freund auf die Palme bringt.

 

Technische Dinge und manche alltägliche Banalitäten sind dabei weniger anfällig als Lebensthemen und Bewusstseinsfragen. Sie treffen und betreffen jeden von uns. Manchmal so sehr, dass sie ans

«Lebendige» gehen und existentiell werden.

Die andere Seite sieht so aus: Wir verbringen auch viel Zeit damit, fremde Inhalte ungeprüft zu übernehmen. Wir adaptieren Gedanken von anderen Menschen, seien es Gedanken aus Gesprächen, aus der Zeitung, von Vorträgen, aus Büchern oder aus dem Internet. Auch aus der Wissenschaft oder von einem Prof. Dr. Sowieso, überneh- men wir so manches und bauen es ungefiltert in unsere eigenen Ge- dankenkonzepte mit ein.

 

Wir suchen gerne nach Inhalten, die sich gut in unsere eigenen Vor- stellungen integrieren lassen. Die wirklich substantiellen, tiefgrei-

 

 

fenden Begründungen sind nicht immer maßgebend, sondern ledig- lich die Tatsache eines gewissen «Sympathie-Bonus» gegenüber den Inhalten.

Der «links» gefärbte Bürger sucht sich seine Denkanstöße eben aus der Literatur gleichgesinnter oder aus linksgerichteten Tageszeitun- gen. Dort findet er die Nahrung für die eigene Meinung. Gleiches gilt auch für die «rechte» Seite oder Färbungen jeglicher Art.

Solche Vorstellungen und der (gesunde) Verstand sind ein unersetz- liches Werkzeug, um uns in der Welt zu bewegen und um den Hand- lungen einen sinnvollen Ablauf zu geben. Sie dienen dazu, diese Handlungsabläufe zu optimieren und zugleich die Wahrnehmungen bewusst in Denkinhalte und Begriffe umzuformen.

Aus dieser täglichen geistigen Arbeit sammeln wir unsere Erfahrun- gen. Sie machen das Leben in jeder Beziehung einfacher, formen es mit und gestalten es effizienter. Gedankenloses Handeln würde be- deuten, dass wir zu Chaoten würden. Vom Denken verarbeitete und umgewandelte Erfahrungen und Eindrücke fördern die Bewusstseins- entwicklung.

Wenn wir fremde Inhalte aufnehmen und umsetzen oder verinnerli- chen, vergleichen wir sie zunächst mit allem, was wir selbst im Laufe der Zeit aus den Erlebnissen und Erfahrungen gewonnen haben. Wir stimmen sie mit unseren Gedankenkonstruktionen und Denkmustern ab. Wenn es zur Übereinstimmung kommt, sind wir dem Inhalt ge- genüber sympathisch gestimmt, wenn es keine Übereinstimmung gibt, neigen wir zur Skepsis.

 

Gedanken zu bilden heißt «Bildung». Mit zunehmendem Alter ver- festigten sich jedoch die Vorstellungen. Wir bauen damit Widerstände im Umfeld und bei uns selbst auf. Diese «Mauern» werden zu Schutz- schildern gegen Bedrohungen von außen. Es findet Abgrenzung statt. Sie kann nur bedingt - nämlich im Zustand der Übereinstimmung

- durchbrochen werden. Die Fragekultur verwandelt sich so in eine Meinungskultur. Die Beweglichkeit des Denkers opfert sich an «Fest- Stellungen» und Lehrdogmas.

Das Denken an sich ist dabei weder gut noch schlecht. Es ist ein Be-

 

 

wusstseinswerkzeug. Punkt. Eine Urform von Energie. Sie ist eine menschliche «Eigenheit», die sich so in den anderen Naturreichen nicht zeigen. Erst die Verfestigung der Vorstellungen blockiert de- ren freies Fließen. Sie verflechten gedanklichen Inhalt mit unserer Identität und verhaften uns mit ihnen. Mit anderen Worten: die Gedanken und Vorstellungen übernehmen die Kontrolle. Das per- manente und freie Ich wird daran gebunden. Solche Vorstellungen verhalten sich passiv und automatisiert. Sobald das freie Ich die Führung übernimmt, wird Denken aktiv.

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Der passive Zustand des Bewusstseins wird hier und künftig Form-Ich oder besser noch gebundenes Ich genannt. Alle Inhalte, die von außen über Begriffe aufgenommen werden, haben in der Formidentität Kon- fliktpotential, weil Begriff und Inhalt nie identisch sein können.

Aus dieser Tatsache, die nur aus der Perspektive einer inneren Beob- achtung erfahren wird, ist der Ursprung von Leid und der Verlust von Lebensenergie verwurzelt. Sie prägen uns und gestalten an pathologi- schen Verläufen und an psychischen Krisen mit.

Vorstellungen sind gewissermaßen die «Wolken» des seelischen Wet- ters. Je mehr Vorstellungen unser gegenwärtiges Tun beschatten, umso weniger werden wir die «Sonne am Himmel» sehen. Wir gewöhnen uns an die Finsternis und vergessen das Licht dahinter.

 

Dem stellt sich eine zweite Bewusstseinsstufe gegenüber. Sie bildet das Zentrum unsres Seins als freies, permanentes Ich und orientiert sich nicht an der formalen und stofflichen Welt. Das (aktive) Denken ist ein vom (freien) Ich ergriffener Akt, in welchem der Wille integ- riert ist. Denken muss auf alle Fälle differenzierter betrachtet werden, als dies im Alltag gebraucht wird. Bewusstsein ist ein Seins-Zustand. Er bezeichnet (Geistes-) Gegenwart. Er ist unmittelbar und immer im Jetzt verankert. Das heißt: Wenn wir jetzt diese und jene Gedanken (passiv oder aktiv) haben, dann wird sich unsere nähere oder auch fer- nere Zukunft nach diesen Gedanken richten und verändert sie! Wenn wir an die Vergangenheit oder an die Zukunft denken, dann sind wir nicht im «Sein», sondern im Geworden-Sein oder im zukünftig Wer- denden. Genauer müssten wir dann nicht von Bewusst-Sein sprechen, sondern vom bewusst Gewesenem oder vom bewusst Werdendem. Ak- tives Bewusstsein ist immer eine Erkenntnis-Tat.

 

Die Realität, also was real, in diesem Augenblick, anwesend ist, lebt immer im Sein und ist als das Leben an sich erfahrbar. Alles andere ist passive Vorstellung, entweder in Form einer Interpretation oder Erwä- gung, oder als Erinnerung.

Die Konsequenz daraus ist diese, dass die Vergangenheit sich immer wieder in die Zukunft fortpflanzt, sich ständig wiederholt und im Lau-

 

 

fe der Zeit befestigt wird. Einmal gesetzte Vorstellungen werden selten hinterfragt. So entstehen Meinungen, Lebensprinzipien und Dogmen. Die Erfahrungen von gestern bestimmen die Planung von Morgen. Das ist unser «Normalzustand», in dem wir funktionieren, unser «Autopilot». Er ist «verrückt» von der Gegenwart.

 

Erfahrungen von gestern sind in meinem Gegenwartsbewusstsein auch dann verankert, wenn sie nicht bewusst in das Morgen trans- portiert werden. Sie bleiben im Unbewussten liegen. Die Planung von Morgen lässt keine Abweichung mehr zu, wenn sie nicht latent, im Hintergrund, abgeglichen und reflektiert wird. Sie geschieht au- tomatisch und in Abwesenheit vom bewussten Sein. Sie bestimmt unser Handeln. Der Wille ist eingeschränkt, passiv, gelenkt und un- frei. Freiheit kann nur aus der unmittelbaren, aktiv erlebten Geistes- gegenwart heraus entstehen.

Aktive Gegenwart muss achtsam erlebt und beobachtet werden, um Vergangenheit stets in Zukunft zu verwandeln. Die Entscheidungs- Optionen und das Blickfeld werden so stets erweitert. Aus mono- toner Wiederholung wird aktive Neuschöpfung. Aktives Schaffen wird imaginativ als freies Handeln erlebt. Die Vorstellungen wer- den nicht in neuronale Bahnen verschweißt und fixiert, sondern stets neu bewertet und umgestaltet, «neuroplastiziert». Dies ist eine explizit künstlerische Haltung und kann in jeder sozialen Tätigkeit oder im alltäglichen Tun höchst fruchtbar sein.

 

Persönliches Krisenmanagement

Es hat sich bisweilen weit herumgesprochen, dass der Mensch nicht nur ein biochemisch-physikalisches Konstrukt ist. Vielmehr muss ein handlungsleitender, geistiger Hintergrund in ihm vorhanden sein. Gerade in der Pathologie zeigen sich die Einflüsse seelischer Instabilität bei vielen Krankheitsbildern zuweilen handgreiflich.

Welche Konflikte, Probleme oder Krisen auch immer dahinter ste- hen: Wir finden fast keine Krankheit mehr, die nicht auch den seeli-

 

 

schen Einfluss hindurchscheinen («personare») lässt. Damit sind nicht nur die klassischen psychischen Krankheiten gemeint. Viele physi- sche Krankheitsbilder deuten klar auf dahinterliegende psycho-soma- tische Prozesse hin, welche im engeren oder weiteren Sinne seelische Instabilitäten bedingen.

Wenn ein Mensch in einer Krise steckt oder psychische Probleme hat, gibt es verschiedene Lösungsansätze, damit umzugehen. Für den Be- troffenen selbst gibt es mindestens vier grundlegende Ansätze.

Die erste Möglichkeit ist, aktiv zu leiden, das Leiden zu akzeptieren und es zu ertragen. Zugegebenermaßen kein sehr verlockender Aspekt. Dennoch gibt es viele Menschen, die das Leid überall suchen, es un- terhalten, nähren und pflegen! Sie fühlen sich wohl in der «Opferrol- le» und möchten nicht darauf verzichten. Diese Handlungsweise muss nicht zwingend bewusst sein. Sie haben Mangelerscheinungen, sobald sie konfliktfrei leben. Es bleibt ein Bedürfnis, im «Kind-Ich»-Zustand zu verbleiben.

 

Menschen dieses Typs gehen lange Zeit jede Woche zum Psychiater und erzählen ihm von allen Leiden und Problemen mit einer gewissen Lust. Danach gehen sie befriedigt nach Hause um sich eine weite- re Woche passiv im gleichen Lebensumfeld zu wälzen. Menschen in diesem Umfeld sind geneigt, entsprechende Nahrung zuzuführen, um das Selbstbild des/der «Leidenden» aufrecht zu erhalten. Für diesen Kreislauf werden erhebliche Geldsummen aufgewendet, letztlich nur, um das eigene Kind-Ich zu nähren! So manch ein Psychiater gibt sich mit dieser Rolle zufrieden, lehnt sich zurück, hört nickend und ver- ständnisvoll zu, gibt ein paar Tipps für die nächste Woche, um sich dann dem nächsten «Opfer» zuzuwenden. Dies womöglich ohne die spirale Dramatik darin zu erkennen.

Die zweite Variante einer Problemlösung schafft oft Krisen, kann aber auch Krisen überwinden. Es ist ein großer Schicksalsschlag. Diese harten Brüche im Leben eines Menschen, bringen in vielen Fällen auch bewusstseinsverändernde Erlebnisse und Impulse mit sich. Das kann durchaus neue Lösungsansätze bringen. Auch wenn diese Mög- lichkeit sehr schmerzlich und unter Umständen mit Depressionen be-

 

 

gleitet wird, so ist doch das Potential in die andere Richtung, einer positiven Korrektur, gegeben.

Der dritte Weg, der uns aus Krisen hinausführen kann, ist die Selbst- erkenntnis und die innere geistige Arbeit an sich selbst. Von dieser Möglichkeit wird in diesem Buch meist die Rede sein. Sie bedingt allerdings einige (mentale) «Ausdauer» und Übung. Sie ist aber ef- fektiv und unmittelbar verwandelnd.

 

Allerdings gibt es auch noch eine vierte Möglichkeit der Konflikt- bewältigung: die Ignoranz/Projektion. Dabei werden herrschende Konflikte gar nicht erst wahrgenommen. Sie werden verdrängt oder unterdrückt. Es ist nicht derselbe Zustand, wie das Akzeptieren und Annehmen des Leides. In der Ignoranz stellt sich der Betroffene mit seiner Wahrnehmung außerhalb seines Leidensprozesses. Dadurch wird dieser nicht erkannt, sondern abgelehnt, verdrängt oder nach außen projiziert. Gleichzeitig zeigen sich aber deutliche Verhaltens- weisen, welche zu Konflikten mit sich selbst und seinem Umfeld führen können. Diese Abspaltung bildet ein Wesen in der «dritten Person», welches wir, mit Sigmund Freud, das «Es» nennen kön- nen. Somit haben wir den Gegenspieler benannt, der uns durch die folgenden Kapitel begleiten wird. Das Schattenboxen kann begin- nen.

 

Zusammenfassend seien hier die 4 Möglichkeiten nochmals aufge- führt:

 

  1. Leiden wollen, Leiden akzeptieren
  2. Schicksalsschläge positiv verwerten
  3. Selbsterkenntnis und Meditation
  4. Ignoranz und Projektion

 

ERKENNTNISWERKZEUGE

 

Wir erschrecken über unsere eigenen Sünden, wenn wir sie an anderen erblicken.

 

 

Johann Wolfgang von Goethe

 

Das aktive Denken

Goethe sagte am Ende seines Lebens: «Hab ich es nicht gut ge- macht, hab niemals übers Denken nachgedacht». Wir sind als den- kende Wesen fähig, der Natur und der Welt mit Bewusstsein ge- genüberzutreten und sie in sinnvolle Zusammenhänge zu bringen. Denken ist Bewusstseinsqualität. Sie macht den Menschen erst zum Menschen. Was die Welt der Formen, die physische Welt, teilt und trennt, das wird vom aktiven Denken wieder in einen sinnvollen Zusammenhang gebracht. Solches Denken ist eine direkte Brücke vom freien Ich zum «gebundenen» Ich! Nicht die passive Vorstel- lung, nicht das Erinnern, nicht das Referieren von fremden Inhalten, sondern das sinnvolle Verbinden der Wahrnehmungen in neue Zu- sammenhänge, schafft diese Brücke.

«Am Anfang war das Wort»? Nein, es ist nicht das «Wort», welches nach der Übersetzung Luthers am Anfang aller Entwicklung steht, wo es heißt: «Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott und Gott war das Wort. Dasselbe war am Anfang bei Gott.» (Vers

1.1. von Johannes). Die Übersetzung «Wort» ist aus der altgriechi- schen Sprache von «Logos» abgeleitet. Aber «Logos» bedeutet nur in sekundärem Sinne «Wort»: Es ist eine abgewandelte Alltagsform desselben Begriffs. In den Urtexten steht dafür: «der Ursprung des Denkens». Man kann durchaus von «Sinn» sprechen, jedenfalls kann nicht das simple «Wort» damit gemeint sein.

 

Der Ursprung des Denkens! WOW! Man kann sich fragen: Ist das Wort, der Ursprung des Denkens? Viel eher würden wir das Wort mit dem Produkt des Denkens in Verbindung bringen. Der Begriff bildet sich am Denken, nicht das Denken am Begriff. Demnach kann das bloße Wort nicht die Bedeutung: «Ursprung des Denkens» haben. Wenn wir den Vers in dieser neuen Weise übersetzen, dann müsste es heißen: «Im Anfang war der Ursprung des Denkens, und der Ursprung des Denkens war bei Gott und Gott war der Ursprung des Denkens».

Da ergibt sich neuer Sinn! Nicht das Denken selbst und schon gar nicht die passive Vorstellung steht am Anfang, sondern dessen Ur-

 

 

sprung: die aktive Quelle, aus welcher das Denken entspringt. Also ist Gott in uns, weil wir denkende Wesen sind. Wir haben Anteil an ihm, insofern wir denkende Wesen sind.

Gedanken wie Vorstellungen erschaffen in uns (Lebens-) Motive. Sie erschaffen in uns feste Strukturen, Muster, die unsere Gefühle und vor allem auch Emotionen erzeugen. Damit initiieren sie handlungslei- tende Impulse. Was sich in dieser Weise verfestigt, ist nicht etwa die freie «Intuition», welche aus der «moralischen Phantasie» (Steiner: Philosophie der Freiheit), gewonnen wird. Vielmehr sind es sich wie- derholende, passive Vorstellungen, welche aus dem formalen Verstan- desdenken entstehen. Gefühle, welche in diesem Kontext entstehen, werden Emotionen genannt.

 

 

Abb.: Gedankenstrom

 

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Im Leben taucht immer wieder die Frage nach der Freiheit des Wil- lens auf. Das ist eine der Grundfragen in der Philosophie überhaupt. Passive Gedanken haben in uns eine ungeheure Kraft. Das Er- kenntniswerkzeug des Denkens schafft im Spannungsfeld zwischen Form, Stoff und Geist den Grundstein zur inneren Entwicklung und Reife.

Was als Ziel dessen ansteht, eine wirkliche geistige Freiheit, wird durch das «Schattenwesen» der Formidentität verdeckt. Die wirk- lich freien Taten, welche aus bewussten Motiven heraus ergriffen und in die Handlung gebracht werden, bleiben dem gebundenen Ich weitgehend verdeckt und unerreichbar.

 

Erst auf dem Weg zu seiner inneren Entwicklung, erwacht es nach und nach in seinem freien Ich. Erst jetzt können freie Impulse ge- schaffen werden, die den Charakter der Gebundenheit durchbre- chen. Aktives Denken, wenn wir es unabhängig von unserer indi- viduellen Wesenheit begreifen, ist universell. Persönlich gebunden und subjektiv wird es erst dann, wenn es sich mit der emotionalen Formenwelt des Individuums, passiv, verbindet. Diese aus unserer Persönlichkeit und Biographie gegossene und geprägte Formen- welt hat mitunter eine zerstörerische und einengende Wirkung.

 

Intermezzo: Logik

Der Spezialfall des aktiven Gedankenlebens ist die logische Schlussfolgerung. Wohl jeder Mensch wird übereinstimmen, wenn ich sage: Der pythagoreische Lehrsatz bleibt bestehen bis ans Ende aller Tage.

Dass: a2 + b2 = c2 im Fels der objektiven Anschauung ewig einge- meißelt bleibt, kann auch von der Tatsache nicht verdrängt werden, dass Herr Müller oder Herr Meyer gegenteiliger Meinung sind. Sie werden zum gleichen Ergebnis kommen, wenn sie richtig rechnen (beziehungsweise logisch denken) können. Es würde niemand be- haupten, die Gedanken von Herrn Müller und Herrn Meyer seien zufällig, subjektiv und persönlich, wenn sie zum gleichen Resultat kommen. Trotzdem haben möglicherweise beide aus sich selbst he-

 

 

raus, ohne das jeweilige Zutun des anderen, denselben Schluss gezo- gen. Das konnten sie deshalb, weil sie aus ihrer persönlichen passiven Gedankenwelt herausgetreten sind und Anteil genommen haben an universellen Gesetzmäßigkeiten. Würden die beiden nicht zum glei- chen Ergebnis kommen, dann wird niemand in der Welt deswegen den pythagoreischen Lehrsatz anzweifeln!

 

Aristoteles führte folgende Beobachtungen an: Er stellte einen Satz vor die Zuhörer, der unbedingt richtig und unantastbar, also objektiv und allgemeingültig war. Dieser Satz lautete: «Alle Menschen sind sterblich». Es würde nichts am Prinzip ändern, wenn wir sagen wür- den: «Der menschliche Körper ist sterblich».

 

Jeder kann den Satz bedingungslos mitunterschreiben. Er ist objektiv und allgemein gültig. Aristoteles stellte den Folgesatz auf: „Sokrates ist ein Mensch». Gleich dem ersten könnte ich nun sagen: «Sokrates hat einen menschlichen Körper», weil ich auf das Körperhafte mei- nes ersten Satzes Bezug nehmen möchte. Daraus leitete Aristoteles einen logischen Schlusssatz ab, welcher sich auf die beiden vorigen Sätze bezieht und deren Inhalt in eine zwingende, objektive Ableitung bringt. «Also ist der Körper von Sokrates sterblich». Das ist der lo- gische Schluss, der sich auch ohne unsere persönliche Färbung ohne weiteres ergibt. Wir nennen ihn deshalb objektiv.

 

Diese Art von Schlussfolgerungen haben nichts mit Identifikations- problemen zu tun, weil ihre Autorität außerhalb des eigenen Selbst oder Ich liegen! Nicht alle unsere Gedanken sind somit an das per- sönliche Ich gebunden. Es muss klar unterschieden werden zwischen passiven Vorstellungen, Interpretationen, Dogmen, Meinungen, und dem außerhalb unserer Persönlichkeit liegenden Prinzips des logi- schen Schlusses!

 

Allerdings bilden sich unsere persönlichen Gedankenfolgerungen selten innerhalb dieses «Logos» ab. Der Alltag wird somit bestimmt durch das erste Prinzip: der Subjektivität.

 

 

Es ist das aktive Denken, welches menschliches Bewusstsein (z. B. in der Mathematik) mit dem universellen Bewusstsein verbindet. Wir sind als Menschen dadurch mit der ganzen Welt verbunden und haben Anteil an einem «göttlichen Ganzen». Dabei ist es einerlei, ob wir es «Gott» nennen oder «Logos» oder «Ursprung des Den- kens» oder meinetwegen auch Kühlschrank.

 

Im normalen Alltagsleben ist es nicht üblich, dass sich Gedanken mit solchen universellen Schlüssen gegebenenfalls durchsetzen. Wäre dem so, dann bräuchten keine Bücher mehr geschrieben wer- den, es gäbe weder Konflikte, noch Kriege auf dieser Welt. Die Konfrontation der gedanklichen Auseinandersetzung mit der realen Welt ist dennoch ein «must have» und eine Tatsache. Deshalb kann, ebenfalls mit einer gewissen Logik, geschlossen werden, dass es ein Individuelles, persönlich-subjektives Gedanken- und Vorstel- lungsleben in jedem Menschen gibt. Nicht immer wird es sich am Universum orientieren. Es bleibt eingeschlossen in der eigenen, ge- bundenen Formidentität.

 

Was als «universeller Gedanke» am mathematischen Beispiel leicht begreifbar ist, lässt sich nicht ohne weiteres in das Alltagsleben übertragen. Die Emotionen, welche durch Sympathie und Antipa- thie, persönliche Gedanken färben oder von ihnen erzeugt werden, zwingen sie dadurch auch in ein formales Korsett.

 

Ob mir die Bluse meiner Freundin gefällt oder nicht, hat für die restliche Welt wenig Relevanz. Dieses Urteil hat nur eine Bedeu- tung für mich selbst und für meine Freundin natürlich. Vielleicht bekomme ich Zugeständnisse von anderer Seite? Schön! Für mich! Es ist ja immerhin möglich, dass meine Schwiegermutter diese Blu- se auch schön findet. Das vermag vielleicht mein Verhältnis zu ihr verbessern, für den Weltfrieden wird es kaum maßgeblich sein. Das Urteil basiert nicht auf universeller Gesetzmäßigkeit, sondern durch eine, sagen wir mal, zufällige, persönliche Übereinstimmung. Diese hat nicht die Bedeutsamkeit eines pythagoreischen Lehrsatzes, son-

 

 

dern erklärt sich lediglich durch das gemeinsame Geschmacksemp- finden.

 

In dieser Weise gibt es viele Arten von dynamischen Gruppenbildun- gen mit kongruenten Urteilen. Man sieht dies sowohl in der Beurtei- lung von Kunstwerken, wie auch in der Politik, in der Wirtschaft und in vielen anderen Bereichen des Alltagslebens. Diese Art des Denkens prägt unsere Alltagswelt nachhaltig! Es sind persönliche Vorstellun- gen. Innere Bilder, welche am Selbstbild und am Weltbild abgeglichen und stets neu genährt werden.