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Karina Kehlet Lins

SPRECHEN ÜBER SEX

AUS DEM DÄNISCHEN ÜBERSETZT VON DORTHE SEIFERT

2020

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Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats des Carl-Auer Verlags:

Prof. Dr. Rolf Arnold (Kaiserslautern)

Prof. Dr. Dirk Baecker (Witten/Herdecke)

Prof. Dr. Ulrich Clement (Heidelberg)

Prof. Dr. Jörg Fengler (Köln)

Dr. Barbara Heitger (Wien)

Prof. Dr. Johannes Herwig-Lempp (Merseburg)

Prof. Dr. Bruno Hildenbrand (Jena)

Prof. Dr. Karl L. Holtz (Heidelberg)

Prof. Dr. Heiko Kleve (Witten/Herdecke)

Dr. Roswita Königswieser (Wien)

Prof. Dr. Jürgen Kriz (Osnabrück)

Prof. Dr. Friedebert Kröger (Heidelberg)

Tom Levold (Köln)

Dr. Kurt Ludewig (Münster)

Dr. Burkhard Peter (München)

Prof. Dr. Bernhard Pörksen (Tübingen)

Prof. Dr. Kersten Reich (Köln)

Dr. Rüdiger Retzlaff

Prof. Dr. Wolf Ritscher (Esslingen)

Dr. Wilhelm Rotthaus (Bergheim bei Köln)

Prof. Dr. Arist von Schlippe (Witten/Herdecke)

Dr. Gunther Schmidt (Heidelberg)

Prof. Dr. Siegfried J. Schmidt (Münster)

Jakob R. Schneider (München)

Prof. Dr. Jochen Schweitzer (Heidelberg)

Prof. Dr. Fritz B. Simon (Berlin)

Dr. Therese Steiner (Embrach)

Prof. Dr. Dr. Helm Stierlin (Heidelberg)

Karsten Trebesch (Berlin)

Bernhard Trenkle (Rottweil)

Prof. Dr. Sigrid Tschöpe-Scheffler (Köln)

Prof. Dr. Reinhard Voß (Koblenz)

Dr. Gunthard Weber (Wiesloch)

Prof. Dr. Rudolf Wimmer (Wien)

Prof. Dr. Michael Wirsching (Freiburg)

Prof. Dr. Jan V. Wirth (Meerbusch)

Themenreihe: „Systemische Therapie und Beratung“

hrsg. von Tom Levold

Reihengestaltung: Uwe Göbel

Umschlaggestaltung: Heinrich Eiermann

Umschlagfoto: © emaria, canstockphoto

Satz: Nicola Graf, Freinsheim

Printed in Germany

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

Erste Auflage, 2020

ISBN 978-3-8497-0333-2 (Printausgabe)

ISBN 978-3-8497-8211-5 (ePUB)

© 2020 Carl-Auer-Systeme Verlag und Verlagsbuchhandlung GmbH, Heidelberg

Alle Rechte vorbehalten

Titel der Originalausgabe: »Samtalen im sex«

© Karina Kehlet Lins und Hans Reitzels Forlag, København 2018

Aus dem Dänischen übersetzt von Dorthe Seifert

Informationen zu unserem gesamten Programm, unseren Autoren und zum Verlag finden Sie unter: www.carl-auer.de.

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Carl-Auer Verlag GmbH

Vangerowstraße 14 · 69115 Heidelberg

Tel. +49 6221 6438-0 · Fax +49 6221 6438-22

info@carl-auer.de

INHALT

GELEITWORT

VORWORT DES HERAUSGEBERS

VORWORT

1 DIE SEXOLOGIE – EINE WELT FÜR SICH?

Im Rückspiegel

Die Sexualwissenschaft – mehr als die Summe der einzelnen Teile

2 SEX AUF DIE TAGESORDNUNG

Institutionalisierte Unwissenheit

Master of Sex

Die Verantwortung des Therapeuten

3 VOM NOTWENDIGEN ZUM GUTEN GESPRÄCH

Die professionelle Einstellung

Das Tabu brechen

Übung macht den Meister

Neutralität

4 HABEN SIE SCHON VORURTEILE ODER HÖREN SIE NOCH ZU?

Haben Sie Geduld mit sich selbst!

Die eigenen Werte

5 DAS RECHT DES KLIENTEN AUF SELBSTBESTIMMUNG

Die Gelegenheit ergreifen

Der sexuelle Motor

6 SEX IM KONTEXT

Bindung ist nicht alles

Die Spielregeln

Sexuelle Korrektheit

Man lebt nur einmal! (YOLO!)

Das Unmögliche wollen

7 DIE INDIVIDUELLE EIGENART DER SEXUALITÄT

Die Monosexualität ist passé

Kinks & Co

Die Kultur der Diagnosestellung

8 NUR MUT!

Lustlosigkeit

Genuss statt Leistung

Keine Angst vor Gesprächen über Sex!

ZUM ABSCHLUSS

LITERATUR

PLAYLISTE

ÜBER DIE AUTORIN

Geleitwort

„Ich bin Ann-Marlene Henning, ich bin Sexologin.“ Mit diesen Worten begann im ZDF jede Episode meiner Aufklärungsserie MAKE LOVE – Liebe machen kann man lernen. Nun, lieben kann jeder Mensch von sich aus, im Programmtitel spiegelt sich vielmehr eine öffentlich-rechtliche Scheu, bestimmte Dinge beim Namen zu nennen – womit wir gleich beim Thema dieses Buches wären. Denn in meiner Sendung ging es vordergründig um Sex. Und ja, auch in meiner sexualtherapeutischen Praxis führe ich täglich mit Klienten und Klientinnen, wie ich sie nenne, Gespräche über Sexualität. Damals, nach den Fernsehausstrahlungen, schrieben mir Zuschauer, wie sie auf einmal den Mut verspürten, das Thema Sex anzugehen. Tenor der Rückmeldungen: Ich wurde inspiriert, mich selbst stärker zu reflektieren. Das Thema Sex schien so positiv und selbstverständlich. Ihre Gesprächspartner überwinden anscheinend nicht nur eine gewisse Hemmschwelle, sondern scheinen zusehends immer mehr Spaß an dem Austausch zu haben! Ich lerne, dass das Sprechen so wichtig ist. Andere meinten, sie hätten nun auch damit begonnen, nach der Sexualität ihrer Patienten und Patientinnen zu fragen und ausgesprochen angenehme Erfahrungen damit gemacht. So einfach geht das. In diesem Buch, „Sprechen über Sex“, wird das Thema Sexualität ähnlich sexpositiv angegangen. Karina Kehlet Lins, meine geschätzte Kollegin, zeigt – wissenschaftlich fundiert – Fallgruben auf, die bei Gesprächen über Sexualität zu umgehen sind, und regt zur Beschäftigung mit dem Thema an, ohne jemals verurteilend oder wertend zu sein.

Die Frage, ob bzw. wie das Thema Sex in einem Therapieverlauf angesprochen werden sollte, war für mich als Sexualtherapeutin allerdings erst mal überraschend. Das Bedürfnis, mehr über dieses Ob und das Wie zu erfahren, ist jedoch groß, wie ich in Gesprächen mit Kollegen und Kolleginnen feststellen konnte. Nach wie vor kommt das Thema Sexualität in den diversen Ausbildungsgängen im Gesundheitswesen kaum vor. Zwar bietet die Merseburger Hochschule seit 2016 einen Masterstudiengang in beratender Sexualtherapie an und auch andere – häufig private – Schulen führen entsprechende Ausbildungen im Programm, insgesamt gibt es in Deutschland aber wenig Möglichkeiten, sich systematisch im Bereich Sexologie auszubilden. Die Folge: Meist prägen eigene Werte und Haltungen der Therapeuten und Therapeutinnen den Zugang zum Thema – oft sogar, ohne dass dies irgend jemandem bewusst wäre. Dabei gehört sexuelle Gesundheit zur allgemeinen Gesundheit. Wie die Autorin dieses Buches betont: Die Wahrscheinlichkeit, dass die Menschen ihr Leben als gesund, sinnvoll und gut empfinden, erhöht sich, wenn sie ein erfülltes Sexualleben haben. Das bedeutet: Wenn das Thema Sexualität ausgelassen wird, geht häufig eine wichtige Ressource verloren.

Personen im Gesundheitssektor wären demnach eigentlich verpflichtet, in ihrer Arbeit (auf objektive Art) nach Sexualität zu fragen. Im krassen Gegensatz dazu steht die Aussage vieler meiner Klienten und Klientinnen: „Ich war schon bei so vielen Therapeuten, aber wenn mein sexuelles Problem aufkam, wollten sie darüber nicht sprechen.“ Tabus und Scham tragen generell dazu bei, dass selten aufrichtig über das eigentlich so spannende und lebensbejahende Thema Sex gesprochen wird. Und ja, unsere Klienten und Klientinnen mögen dabei erst mal aufgeregt sein, sind aber rasch erleichtert, wenn endlich auch diese sexuellen Dinge, die sie so lange verunsichert und traurig gemacht haben, im Therapiegespräch ihren Platz finden.

Mein Fazit an dieser Stelle: Klienten, Klientinnen, Patienten und Patientinnen wollen in der Regel über Sex sprechen, wenn hier ein Thema verborgen liegt, brauchen aber dafür mitunter etwas „Starthilfe“. Das Schöne dabei ist: Mit etwas Übung kann jeder Mensch lernen, entspannt über Sexualität zu sprechen. Wie das geht? In diesem Buch finden sich Antworten und Anregungen. Überraschende Fragen und kleine Übungen machen – von Theorie untermauert – den Einstieg in das Thema leichter. Leser und Leserinnen werden zum Nachdenken über die eigenen Vorstellungen und Grenzen aufgefordert. Dabei hat Karina Kehlet Lins einen ausgesprochen klaren Blick dafür, wie weit die Grenzen der Normalität gesteckt sind, und entledigt sich weitgehend des Begriffs Störung (und damit der Pathologie). Immer wieder wird eine befreiende Einladung ausgesprochen, sich an das Gespräch über Sexualität heranzuwagen. An alle Geschlechter gerichtet, fordert das Buch zu mehr Toleranz auf. Insgesamt großgeschrieben wird die Vielfalt und damit das Recht eines jeden Menschen, eine frei gewählte und selbstbestimmte Sexualität zu leben.

Auch nach vieljähriger Praxis mit Klienten und Klientinnen mit sexuellen oder Paarproblemen war das vorliegende Buch für mich hoch interessanter Lesestoff. Es ist einzigartig auf dem Markt. Als Dänin fühle ich mich außerdem mit Karina Kehlet Lins sehr verbunden in der Art, wie sie über Sexualität denkt und schreibt. Um es mit einer Übung aus dem Buch zu sagen: Sie erhalten einen Gesprächstermin mit einem Therapeuten mit sexologischem Fachwissen geschenkt, und niemand weiß etwas davon. Hätten Sie ein Thema? Wären Sie neugierig? Let’s talk about sex!

Ann-Marlene Henning

Hamburg, im Januar 2020

Vorwort des Herausgebers

In meiner langjährigen paartherapeutischer Praxis habe ich es mir zur Gewohnheit gemacht, schon im ersten Gespräch nach der Sexualität des Paares zu fragen. Diese Frage ist ja nicht nur dafür gedacht herauszufinden, ob und in welcher Weise sexuelle Schwierigkeiten oder Konflikte zu den möglichen Problembereichen in der Paarbeziehung gehören. Sie hilft ganz allgemein zu klären, inwiefern Sexualität überhaupt als spezifische Ressource zur Bewältigung von Beziehungsproblemen in Betracht kommt bzw. ob darin womöglich bislang ungehobene oder vernachlässigte Potenziale für die persönliche Entwicklung der Partner verborgen liegen. Interessanterweise begegne ich immer wieder Paaren, die bereits (mehr oder weniger erfolgreiche) paartherapeutische Vorerfahrungen gemacht haben, aber dabei überhaupt nicht über ihre Sexualität als Paar gesprochen haben. Auf die Frage „Wieso nicht?“ erhalte ich als Antwort des öfteren, dass sie schlicht nicht danach gefragt worden seien – und das Thema von sich aus auch nicht angesprochen haben, weil sie unsicher waren, wie die Therapeuten damit umgehen würden; weil sie unsicher waren, wie man über dieses heikle Thema reden könne; und nicht zuletzt, weil schließlich die Therapeuten am besten wissen müssten, was in der Therapie zur Sprache kommen solle.

Dem entspricht auf der anderen Seite die Erfahrung, dass ich in meiner systemtherapeutischen Supervisions- und Weiterbildungstätigkeit häufig mit Ängsten und Hemmungen auch auf Seiten der erfahreneren Kolleginnen und Kollegen konfrontiert bin, das Thema Sexualität in der Arbeit mit ihren Klienten aktiv anzusprechen.

Beide Tendenzen führen im ungünstigen Fall dazu, dass das Thema Sex sowohl auf Klienten- als auch auf Therapeutenseite zwar als bedeutsam, aber auch als so schwierig und heikel empfunden wird, dass ein Gespräch darüber eher vermieden wird. Die damit verbundene – situative – Erleichterung, um ein schambesetztes Thema herumgekommen zu sein, ist aber nur um den Preis zu haben, dass ein therapeutisch höchst relevanter Erlebens- und Erfahrungsbereich in der Therapie ausgeblendet wird oder sehr zu kurz kommt.

Die immer noch verbreitete Idee, dass die Bearbeitung von sexuellen Themen Gegenstand einer eigenen Disziplin, nämlich der Sexologie oder der Sexualtherapie, vorbehalten bleiben sollte, verstärkt dabei eher noch die Hemmungen, diese Bearbeitung in die eigene psychotherapeutische Praxis zu integrieren. Umso erfreulicher ist es, dass mit diesem schlanken und gut geschriebenen Band der dänischen Psychotherapeutin Karina Kehlet Lins ein eindrückliches Plädoyer für einen entspannten, souveränen und leichtfüßigen Umgang mit dem Thema Sexualität in der alltäglichen therapeutischen Arbeit mit Einzelnen und Paaren vorliegt, das dazu ermutigt, sich intensiver mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Es bietet zunächst eine Fülle von sachlichen Informationen, die die alltägliche Relevanz des Themas aufzeigen und geeignet sind, das Thema aus der „sexologischen“ Ecke herauszuholen.

Die zentrale Botschaft lautet, dass die Verantwortung für eine behutsame, aber dennoch entschiedene Thematisierung der sexuellen Erfahrungen und Beziehungen der Klienten im therapeutischen Prozess ganz bei den Therapeuten liegt – wobei den Klienten jederzeit die Kontrolle über das Maß und den Zeitpunkt der damit verbundenen Selbstöffnung zugestanden werden muss. Auf diese Weise kann von Anfang an deutlich gemacht werden, dass das Thema Sex im therapeutischen Gespräch einen guten Platz hat, der genutzt werden kann, aber nicht muss.

Wie man ein gutes „Sprechen über Sex“ initiieren kann, dafür gibt es in diesem Buch viele hilfreiche, praxisbezogene Beispiele und Formulierungen. Mindestens genauso wichtig wie die Frage des „Wie“ ist jedoch die Klärung der eigenen Haltung und der möglichen Hemmungen, Tabus, Vorurteile oder negativen Reaktionen der Professionellen: in Bezug auf Sexualität im Allgemeinen wie auf spezifische sexuelle Präferenzen und Praktiken im Besonderen. Ohne eine ausreichende Selbstreflexion und Selbsterfahrung – deren es bedarf, um den therapeutischen Prozess nicht mit eigenen Einstellungen und Projektionen, Ängsten oder Bedürfnissen aufzuladen – wird man den Klienten nicht wirklich gerecht werden können.

Auf alle diese Fragen geht Karina Kehlet Lins auf eine angenehme und direkte Art ein. Sie ermutigt diejenigen, die sich diesem Thema bislang eher zögerlich genähert haben, nicht darauf zu warten, ob und wann es von den Klienten angesprochen wird, sondern es selbst und aktiver als bisher aufzugreifen. Das Buch vermittelt gleichzeitig, dass das Sprechen über Sex nicht anstrengend sein muss, sondern wie auch Sexualität selbst mit Interesse, Neugier und einer positiven Einstellung einhergehen sollte. Sprechen über Sex kann man lernen – das gilt für Klienten und Therapeuten gleichermaßen.

Tom Levold

Herausgeber der Reihe Systemische Therapie und Beratung

Vorwort

Wenn ich in meiner eigenen Praxis signalisiere, dass das Ansprechen sexueller Themen willkommen ist, erlebe ich immer wieder, wie erleichtert meine Klienten darüber sind – viele Menschen haben Fragen oder Sorgen sexueller Art. Auch in meinen Kursen für medizinische Behandler im Gesundheitswesen wird deutlich, dass die Nachfrage nach qualifizierter Hilfe bei sexuellen Problemstellungen groß ist. Viele Therapeuten, Ärzte und andere Fachkräfte äußern das Bedürfnis zu lernen, wie sie sexuelle Themen leichter ansprechen und ein konstruktives Gespräch über Sex führen können. Leider gibt es dazu erstaunlich wenig Literatur. Ich bin auch gebeten worden, dieses Buch zu schreiben, weil es immer noch viele Pflegekräfte, Therapeuten und Ärzte gibt, die sich nicht trauen, das Thema anzusprechen.

Es hat mir großes Vergnügen bereitet, dieses Sachbuch zusammenzustellen, und zugleich war es eine große Herausforderung. Das Thema ist nahezu unerschöpflich, und es fiel mir nicht immer leicht, mich zu beschränken. Das Anliegen, im Gesundheitswesen häufigere und gute Gespräche über Sexualität anzuregen, ist mir so wichtig, weil die Befähigung dazu potenziell vielen Menschen nützt (Graugaard, Møhl og Hertoft 2006). Von daher ist es problematisch, dass viele Fachkräfte im Gesundheitsbereich sich in dieser Hinsicht nicht gut vorbereitet fühlen, weil sie nie darin geschult worden sind, über Sex zu sprechen.

Darüber hinaus stellen die zahlreichen komplexen Problemstellungen, die mit dem Thema Sexualität verbunden sind, eine Herausforderung dar. Es besteht Unsicherheit, wie man mit schwierigen Themen wie z. B. nachlassender Lust oder Affären umgehen kann. Viele Menschen glauben, dass man über besonderes Spezialwissen verfügen muss, um über sexuelle Fragestellungen zu sprechen. Auch Ärzte und Therapeuten weichen aus diesem Grund oft vor Gesprächen über Sex zurück.

Die Beschäftigung mit der Sexualität ist jedoch schon deshalb wichtig, weil ein gutes Sexualleben bei 90 % aller Dänen ganz oben auf dem Wunschzettel steht. Im deutschsprachigen Raum liegt die Zahl etwas niedriger, aber es stimmen immerhin 75 % der Befragten der Aussage »Sex ist mir wichtig« zu.1 Die Wahrscheinlichkeit, dass Menschen ihr Leben als gesund, sinnvoll und gut empfinden, erhöht sich, wenn sie ein erfülltes Sexualleben haben (Graugaard, Pedersen og Frisch 2015).

Klienten, denen es schwerfällt oder die es als grenzüberschreitend erleben, selbst ein sexuelles Thema anzusprechen, nehmen es oft als befreiende Einladung auf, wenn sie nach ihrem sexuellen Befinden gefragt werden. Leider »vergessen« viele Fachkräfte, ihr Sachwissen einzubringen, wenn ihre Klienten Bedürfnisse und Probleme sexueller Art haben (Johansen, Thyness og Holm 2001).

In den Medien wird nahezu ununterbrochen über Sex gesprochen. Paradoxerweise tragen die vielen gut gemeinten Ratschläge, die beispielsweise in Zeitschriften verbreitet werden, in weiten Teilen der Bevölkerung noch zusätzlich zur Unsicherheit bei (Tiefer a. Hall 2010). Sexuelle Herausforderungen sind ganz normal – alle Menschen haben irgendwann im Laufe ihres Lebens Probleme mit ihrer Sexualität. Viele Untersuchungen aus den vergangenen Jahrzehnten verdeutlichen den Widerspruch zwischen den saftigen Beschreibungen in den Medien, wie Sex sein sollte, und dem spartanischen sexuellen Alltag, den viele Menschen erleben (Schmidt 1996).

Das Ziel dieses Buches ist es, professionellen Helfern im Gesundheitswesen Unterstützung zu bieten, um besser auf Gespräche über Sex vorbereitet zu sein. In diesem Bereich kommen alle Fachkräfte auf die eine oder andere Weise mit der Sexualität von Klienten in Berührung. Und es wäre schön, wenn wir auch hier eine Fachkompetenz einbringen könnten, wie wir sie uns während der Ausbildung angeeignet haben. Dieses Buch stellt daher eine Ergänzung zu dem bereits vorhandenen Wissen dar. Es besteht aus einer Mischung aus Theorie, Praxis und Übungen. Zusammen mit Einführungen in die verschiedenen Aspekte, die zu einem guten Gespräch über Sex dazugehören, geben sie dem Leser das Rüstzeug für die weitere Arbeit mit. Die Lektüre ersetzt jedoch keinesfalls die Erfahrung – Übung kann man nur dann erlangen, wenn man den Anstoß für die entsprechenden Gespräche gibt. Ist man offen für das Thema, werden sie sich schnell von selbst ergeben.

Ich benutze den Begriff »Sprechzimmer« nicht nur, um die Arbeitsräume des Therapeuten zu bezeichnen; das Wort wird hier in einem weiteren Sinne verwendet und bezieht auch solche Gesprächssituationen und -räume mit ein, die sich bei passender Gelegenheit ergeben, z. B. in einem Krankenzimmer oder Behandlungsraum.

Auch wenn das Thema Verhütung für manche Leser in Gesprächen über Sexualität die größte Rolle spielen mag, werde ich dieses Thema hier nicht behandeln. Ich bin eine begeisterte Anhängerin von »Safer Sex« und hoffe, dass ich niemanden daran erinnern muss, dass dieser sowohl Schwangerschaften als auch vielen geschlechtlich übertragenen Krankheiten vorbeugen kann.

Wenn ich in diesem Buch das Wort »Paar« benutze, dann fasse ich den Begriff so inklusiv wie möglich und meine damit sowohl verheiratete Paare als auch Paare, die »ohne Trauschein« zusammenleben, Paare in offenen Beziehungen, Paare, die nicht zusammenwohnen, und polyamouröse Beziehungen.

Da ich Psychologin bin und niemanden unnötig als krank bezeichnen möchte, ziehe ich meistens den Begriff »Klient« dem des Patienten vor und schließe Menschen aller sexuellen Orientierungen und Geschlechteridentitäten ein.

Das Buch enthält keine erschöpfende Darstellung sexueller Problemstellungen und Therapien, da es dazu bereits viele gute Bücher und Artikel gibt. Wer sich in das eine oder andere Gebiet vertiefen möchte, sei auf das Literaturverzeichnis am Ende des Buches verwiesen.

Das Buch enthält kleine Übungen, und ich empfehle Ihnen, die Antworten aufzuschreiben, statt sie nur zu denken. Durch das Aufschreiben zwingen Sie sich selbst dazu, Gefühle und Erlebnisse in Worte zu fassen, und können sich viel besser in die Details vertiefen. Dadurch können neue und wichtige Einsichten entstehen. Außerdem lassen sich auf diese Weise Themen zu einem späteren Zeitpunkt wieder aufgreifen. Sie können die Fragen selbstverständlich auch in Gedanken für sich bearbeiten oder mit Freunden und Kollegen besprechen.

Wie sich im Verlaufe des Buches zeigen wird, gibt es keine bestimmten Regeln dafür, wie Gespräche über Sex geführt werden sollten. Daher enthalten die folgenden Kapitel kein geradliniges Rezept. Stattdessen versuche ich, mit meinen Ratschlägen eine Richtung vorzugeben, und verstehe sie als Katalysatoren, die das Gespräch in Gang bringen können. Ich wünsche mir, dass Sie auf der Grundlage Ihrer eigenen Erfahrungen Ihren ganz persönlichen Stil entwickeln.

Wer mit seinen Klienten bereits über sexuelle Themen spricht, kann mithilfe dieses Buchs sein Wissen auf den neuesten Stand bringen. Der eine oder andere neugierige Leser möchte vielleicht auch einfach in seinem Privatleben bessere Gespräche über Sexualität führen. Ich hoffe, dass dieses Buch dazu beiträgt. Wie die folgenden Kapitel zeigen werden, ist der Bedarf danach groß.

Viel Spaß beim Lesen!

Karina Kehlet Lins

Kopenhagen, im Januar 2020

This ain’t about the body, it’s about the mind.

PRINCE – SEXY M.F.

1Vgl. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/413487/umfrage/umfrage-in-deutschlandzur-wichtigkeit-von-sex-nach-alter/.

1DIE SEXOLOGIE – EINE WELT FÜR SICH?

Die Sexologie oder Sexualwissenschaft befasst sich mit der Lehre vom Geschlechtsleben und einem breiten Spektrum sexueller Themen, von denen ein großer Teil die Welt der Psychiatrie und Psychologie berührt.

Die WHO definiert Sexualität als:

»… einen zentralen Aspekt des Menschseins über die gesamte Lebensspanne hinweg, der das biologische Geschlecht, die Geschlechtsidentität, die Geschlechterrolle, sexuelle Orientierung, Lust, Erotik, Intimität und Fortpflanzung einschließt. Sie wird erfahren und drückt sich aus in Gedanken, Fantasien, Wünschen und Überzeugungen, Einstellungen, Werten, Verhaltensmustern, Praktiken, Rollen und Beziehungen. Während Sexualität all diese Aspekte beinhaltet, werden nicht alle ihre Dimensionen jederzeit erfahren oder ausgedrückt. Sexualität wird beeinflusst durch das Zusammenwirken biologischer, psychologischer, sozialer, wirtschaftlicher, politischer, ethischer, rechtlicher, religiöser und spiritueller Faktoren (WHO 2006, S. 10).«