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Störungen

systemisch

behandeln

Störungen systemisch behandeln

Band 16

Herausgegeben von
Hans Lieb und Wilhelm Rotthaus

Manfred Vogt, Jessy Herrmann,
Luise Küpper, Florian Schepper

Psychische Anpassungsreaktionen von Kindern und Jugendlichen bei chronischen körperlichen Erkrankungen

2020

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Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats des Carl-Auer Verlags:

Prof. Dr. Rolf Arnold (Kaiserslautern)

Prof. Dr. Dirk Baecker (Witten/Herdecke)

Prof. Dr. Ulrich Clement (Heidelberg)

Prof. Dr. Jörg Fengler (Köln)

Dr. Barbara Heitger (Wien)

Prof. Dr. Johannes Herwig-Lempp (Merseburg)

Prof. Dr. Bruno Hildenbrand (Jena)

Prof. Dr. Karl L. Holtz (Heidelberg)

Prof. Dr. Heiko Kleve (Witten/Herdecke)

Dr. Roswita Königswieser (Wien)

Prof. Dr. Jürgen Kriz (Osnabrück)

Prof. Dr. Friedebert Kröger (Heidelberg)

Tom Levold (Köln)

Dr. Kurt Ludewig (Münster)

Dr. Burkhard Peter (München)

Prof. Dr. Bernhard Pörksen (Tübingen)

Prof. Dr. Kersten Reich (Köln)

Dr. Rüdiger Retzlaff (Heidelberg)

Prof. Dr. Wolf Ritscher (Esslingen)

Dr. Wilhelm Rotthaus (Bergheim bei Köln)

Prof. Dr. Arist von Schlippe (Witten/Herdecke)

Dr. Gunther Schmidt (Heidelberg)

Prof. Dr. Siegfried J. Schmidt (Münster)

Jakob R. Schneider (München)

Prof. Dr. Jochen Schweitzer (Heidelberg)

Prof. Dr. Fritz B. Simon (Berlin)

Dr. Therese Steiner (Embrach)

Prof. Dr. Dr. Helm Stierlin (Heidelberg)

Karsten Trebesch (Berlin)

Bernhard Trenkle (Rottweil)

Prof. Dr. Sigrid Tschöpe-Scheffler (Köln)

Prof. Dr. Reinhard Voß (Koblenz)

Dr. Gunthard Weber (Wiesloch)

Prof. Dr. Rudolf Wimmer (Wien)

Prof. Dr. Michael Wirsching (Freiburg)

Prof. Jan V. Wirth (Meerbusch)

Reihe »Störungen systemisch behandeln«, Band 16

hrsg. von Hans Lieb und Wilhelm Rotthaus

Reihendesign: Uwe Göbel

Umschlag und Satz: Heinrich Eiermann

Printed in Germany

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

Erste Auflage, 2020

ISBN 978-3-8497-0338-7 (Printausgabe)

ISBN 978-3-8497-8215-3 (ePUB)

© 2020 Carl-Auer-Systeme Verlag

und Verlagsbuchhandlung GmbH, Heidelberg

Alle Rechte vorbehalten

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Tel. +49 6221 6438-0 • Fax +49 6221 6438-22

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Inhalt

Vorwort der Herausgeber

Vorwort von Julia Martini

Einleitung

Grundlegende Gedanken zum vorliegenden Buch

Versorgungssituation chronisch körperlich erkrankter Kinder und Jugendlicher

Sprache in der systemischen Therapie und im Buch

Gliederung

Die Bedeutung der Zeit in der Therapie

Chronos

1Chronische körperliche Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter

1.1Verlaufskategorien chronischer körperlicher Erkrankungen

1.2Psychische Anpassungsanforderungen und Anpassungsreaktionen bei chronischen körperlichen Erkrankungen

1.3Chronische körperliche Erkrankungen mit multiplen lebenslänglichen Einschränkungen

1.3.1Spina bifida

1.3.2Skoliose

1.3.3Infantile Zerebralparese

1.3.4Auswirkungen für die Familien betroffener Patienten

1.4Akut lebensbedrohliche Erkrankungen (und Unfallfolgen)

1.4.1Angeborene Herzerkrankungen

1.4.2Niereninsuffizienz

1.4.3Leukämie

1.4.4Folgen für die Familien betroffener Patienten

1.5Erkrankungen, bei denen hohe Therapie-Compliance eine normale Lebensführung ermöglicht

1.5.1Diabetes mellitus

1.5.2Juvenile idiopathische Arthritis (JIA)

1.5.3Atopische Erkrankungen

1.5.4Chronisch-entzündliche Darmerkrankungen

1.5.5Folgen für die betroffenen Patienten und ihre Familien

1.6Erkrankungen mit progredientem Verlauf / lebenslimitierende Erkrankungen

1.6.1Zystische Fibrose

1.6.2Muskeldystrophie

1.6.3Krebserkrankungen mit infauster Prognose

1.6.4Folgen für die betroffenen Patienten und ihre Familie

1.7Resümee für die systemtherapeutische Praxis

1.8Rahmenbedingungen einer psychosozialen und psychotherapeutischen Versorgung

1.8.1Anforderungen an die Versorgung chronisch erkrankter Kinder, Jugendlicher und ihre Familien

1.8.2Versorgungslandschaft in Deutschland

1.8.3Besondere Anforderungen an psychotherapeutische Interventionen

1.8.4Therapeutische Beziehung

1.8.5Therapeutisches Setting

1.8.6Therapeutische Ziele

1.8.7Persönlichkeit des Therapeuten

2Störungsverständnis und Therapieansätze der verschiedenen Psychotherapieverfahren

2.1Verhaltenstherapie

2.1.1Entspannungstechniken

2.1.2Achtsamkeits- und Ablenkungstechniken

2.1.3Gelenkte Imaginationen

2.1.4Kognitive Strategien

2.1.5Kommunikations- und Problemlösetechniken

2.2Psychodynamische Psychotherapie

2.3Humanistische Therapieverfahren

2.4Systemische Therapie

2.4.1Systemisches Verständnis psychischer Anpassungsreaktionen

2.4.2Das Familien-Kohärenzgefühl

2.4.3Die ressourcenorientierte Familien- oder Stresstheorie

2.4.4Das Konzept der Familienresilienz

3Systemisch-lösungsfokussierte Therapie: ein theoriegeleiteter und pragmatischer Behandlungsansatz

3.1Der theoretische Arbeitsraum

3.1.1Wahlmöglichkeiten erhöhen: Metaziel systemtherapeutischer Interventionen

3.1.2Theorie der Synergetik

3.2Der strukturelle Arbeitsraum: generische Prinzipien

3.3Der konzeptionelle Arbeitsraum: therapeutische Behandlungssysteme

3.3.1Modell der Zeit: drei Phasen

3.3.2Modell psychischer Systeme: Triade des Psychischen

3.3.3Modell der logischen Ebenen der Persönlichkeit

3.3.4Dimension der kindlichen Entwicklung

3.4Der methodische Arbeitsraum: therapeutische Interventionen

3.4.1Therapiebezogene Diagnostik

3.4.2Ressourcendiagnostik

3.4.3Das lösungsfokussierte Interview: Zeitperspektiven

3.4.4Das PELZ-Modell

3.4.5Das HOPE-Modell

3.4.6Spielerisches Interviewen

3.4.7Systemisch-lösungsfokussierte Interventionen

4Psychische Anpassungsreaktionen und therapeutische Narrative: Modell dynamischer Anpassungsleistungen bei chronischen körperlichen Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter

4.1Theoretische Zugänge

4.2Dynamische Anpassungsleistungen: Wechsel von Verarbeiten und Bearbeiten

4.2.1Krankheitsverarbeitung

4.2.2Krankheitsbearbeitung

4.2.3Dynamik der Anpassungsleistungen

4.2.4Was ist erfolgreiches Bewältigen?

4.3Phasen im Krankheitsverlauf

4.3.1Vor der Diagnose

4.3.2Diagnose

4.3.3Medizinische Behandlung

4.3.4Restabilisieren und Normalisieren

4.3.5Höhen und Tiefen der Krankheit

4.3.6Terminale Phase

4.3.7Postterminale Phase

4.3.8Fallbeispiel: Möglichkeiten der systemisch-lösungsfokussierten Intervention zu bedeutungsvollen Zeitpunkten (Kairos) im Erkrankungsverlauf (Chronos)

Schlussbemerkungen

Die Krankheitswirklichkeit der Betroffenen

Das Modell dynamischer Anpassungsleistungen an chronische körperliche Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter und Auswahl passender Interventionen

Die konstruktiven Narrative als Resultate der Bewältigung

Pragmatischer Behandlungsansatz

Danksagung

Literatur

Verzeichnis der Abbildungen

Über die Autoren

Vorwort der Herausgeber

Ursprünglich ein querdenkendes Außenseiterkonzept, hat sich der systemische Ansatz heute in vielen Bereichen der Therapie und der Beratung theoretisch wie praktisch etabliert. Auch Vertreter anderer Schulen bereichert er mittlerweile in ihrer Arbeit. Die Etablierung eines Paradigmas birgt für dieses selbst aber auch Risiken, weil sie stets mit der Verfestigung von Denk- und Handlungsgewohnheiten einhergeht. Die Reihe Störungen systemisch behandeln stellt sich vor diesem Hintergrund zwei Herausforderungen: Nichtsystemischen Behandlern und Vertretern anderer Therapierichtungen soll sie komprimiert und praxisorientiert vorstellen, was die systemische Welt im Hinblick auf bestimmte Störungsbilder zu bieten hat. Innerhalb der Systemtherapie steht sie für eine neue Phase im Umgang mit dem Konzept von »Störung« und »Krankheit«.

Historisch gesehen war einer ersten Phase mit erfolgreichen Konzepten zu Krankheitsbildern wie Schizophrenie, Essstörungen, psychosomatischen Krankheiten und affektiven Störungen eine zweite Phase gefolgt, die geprägt war von einem gezielten Verzicht oder einer definitiven Ablehnung aller Formen störungsspezifischer Codierungen. In jüngerer Zeit wenden sich manche Vertreter der systemischen Welt wieder störungsspezifischen Konzepten und Fragen zu – und werden von anderen dafür deutlich attackiert. Diese neue Welle ist bedingt durch die Anerkennung der Systemtherapie als wissenschaftliches Heilverfahren, durch den Antrag auf deren sozialrechtliche Anerkennung und nicht zuletzt dadurch, dass viele im klinischen Sektor systemisch arbeitende Kollegen täglich gezwungen sind, sich zu störungsspezifischen Konzepten zu positionieren.

Die systemische Welt hat hierzu einiges anzubieten. Die Reihe Störungen systemisch behandeln will zeigen, dass und wie die Systemtheorie mit traditionellen diagnostischen Kategorien bezeichnete Phänomene ebenso gut und oft besser beschreiben, erklären und mit hoher praktischer Effizienz behandeln kann. Sie verfolgt dabei zwei Ziele: Zum einen soll systemisch arbeitenden Kollegen das große Spektrum theoretisch fundierter und praktikabler systemischer Lösungen für einzelne Störungen zugänglich gemacht werden – ohne das Risiko, die eigene systemische Identität zu verlieren, im besten Fall sogar mit dem Ergebnis einer gestärkten systemischen Identität. Gleichzeitig soll nicht-systemischen Behandlern und Vertretern anderer Schulen das umfangreiche systemische Material an Erklärungen, Behandlungskonzepten und praktischen Tools zu verschiedenen Störungsbildern auf kompakte und nachvollziehbare Weise vermittelt werden.

Verlag, Herausgeber und Autoren bemühen sich, einerseits eine für alle Bände gleiche Gliederung einzuhalten und andererseits kreativen systemischen Querdenkern die Freiheit des Gestaltens zu lassen.

An die Stelle der Abgrenzung und der Konkurrenz zwischen den verschiedenen Therapieschulen ist heute der Austausch zwischen ihnen getreten. Die Reihe »Störungen systemisch behandeln« versteht sich als ein Beitrag zu diesem Dialog.

Dr. Hans Lieb, Dr. Wilhelm Rotthaus

Vorwort

Chronische körperliche Krankheiten im Kindes- und Jugendalter sind weitverbreitet. Nach dem repräsentativen Kinder- und Jugendsurvey (Neuhaus, Poethko-Müller u. Kikas Study Group 2014) leiden circa 16 Prozent der Kinder und Jugendlichen (Altersbereich 0–17 Jahre) unter derartigen Gesundheitsproblemen, die für die Betroffenen selbst und ihre Familien eine außerordentliche Belastung darstellen.

Das vorliegende Buch bietet einen fundierten und kompakten Überblick über die wichtigsten chronischen Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter mit den resultierenden Veränderungen im Familiensystem und den damit verbundenen psychosozialen Folgen. Die Autoren zeigen, welche Herausforderungen und komplex-dynamischen Anpassungsleistungen die betroffenen Kinder und Jugendlichen mit ihren Familien in den einzelnen Krankheitsphasen bewältigen müssen. Im Vergleich mit anderen psychotherapeutischen Behandlungsansätzen führen die Autoren therapieschulenübergreifend den aktuellen theoretischen Kenntnisstand aus einer systemisch-ressourcenorientierten und familientherapeutischen Perspektive zusammen. In theoretischen, konzeptionellen und methodischen Arbeitsräumen skizzieren sie die jüngsten Entwicklungen aus der systemisch-lösungsfokussierten therapeutischen Praxis. Unabhängig vom Ausbildungshintergrund regt das Buch zum Perspektivwechsel in der Betrachtung verschiedener psychischer, somatischer und interaktioneller klinischer Themen an. Die praxisnahen Fallbeispiele aus der Arbeit mit den Betroffenen liefern anschauliche Einblicke in die therapeutischen Prozesse und Interventionsmöglichkeiten und bieten eine kreative, fantasievolle und inspirierende Grundlage für alle, die in diesem Bereich tätig sind und sich Anregungen für ihre Arbeit wünschen.

In diesem Sinne wünsche ich der Leserschaft, dass auch Sie an die umfangreichen Erfahrungen der Autoren und deren kreative Ideen anknüpfen und diese zur Gestaltung Ihrer eigenen therapeutischen Arbeit nutzen und weiterentwickeln können.

Jun.-Prof. Dr. Julia Martini
Juniorprofessorin für „Psychiatrische Diagnostik und Intervention“
und Psychologische Psychotherapeutin am Universitätsklinikum
„Carl Gustav Carus“ der Technischen Universität Dresden

Einleitung

Grundlegende Gedanken zum vorliegenden Buch

Bei der Behandlung von psychischen Anpassungsreaktionen von Kindern und Jugendlichen mit chronischen körperlichen Erkrankungen ist die hohe Systemkomplexität im Handlungsfeld von ärztlicher Behandlung der körperlichen Grunderkrankung und der Psychotherapie der Folgestörungen bei den Kindern und Jugendlichen sowie ihren Angehörigen zu berücksichtigen. Anders als in der Behandlung von Kindern und Jugendlichen bei Ängsten oder Zwängen sind bei jungen Patienten mit chronischen körperlichen Erkrankungen nicht nur die somatischen Krankheitsbilder, sondern auch die psychischen Folgen und psychotherapeutischen Interventionsperspektiven und die Behandlungskontexte im Krankheits- und Behandlungsverlauf höchst unterschiedlich.

Chronische körperliche Erkrankungen stellen für die betroffenen Kinder, Jugendlichen und ihre Familien starke psychische Belastungen dar. Sie zeigen sich in Form von unterschiedlichen psychischen Anpassungsreaktionen. Angefangen von akuten Belastungsreaktionen können sie als Angstreaktionen, kurz- und mittelfristige depressive Reaktionen mit gemischten Beeinträchtigungen von Gefühlen und Sozialverhalten sowie als posttraumatische Belastungsstörungen mit beeinträchtigter Lebensqualität der Betroffenen und ihrer Familien beschrieben werden. Die Diagnose der Anpassungsreaktion unterscheidet sich durch ihre Codierung von anderen Symptomen in der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie, da hier ätiologisch auf eine beschreibbare äußere und innere Belastung hingewiesen wird.

Zur systemischen Behandlung von Angststörungen bei Kindern und Jugendlichen (Rotthaus 2016), von Depressionen (Ruf 2015) und von posttraumatischen Belastungsstörungen bei Kindern und Jugendlichen (Korittko 2016) geben die genannten Arbeiten aus der vorliegenden Reihe »Störungen systemisch behandeln« einen guten Überblick. Im Zusammenhang chronischer körperlicher Erkrankungen sind die genannten Symptome als begleitende Symptome zu verstehen, und Angstreaktionen im Zusammenhang mit einer schweren chronischen, womöglich lebensbedrohlichen Erkrankung bei Kindern sind realitätsbezogen und damit nachvollziehbar und anders interpretierbar.

In dem vorliegenden Buch schildern wir die psychischen Belastungen und Anforderungen im Rahmen der Vielfalt chronischer Erkrankungen, ihre Unterschiede, Folgen und Beeinträchtigungen und beschreiben, wie diese behandelt werden können. Psychische Belastungen zeigen sich bei körperlichen Krankheitsbildern in den verschiedenen Phasen sehr unterschiedlich. Die psychotherapeutische Behandlungspraxis erfordert dabei, den Bezug zur körperlichen Erkrankung und der entsprechenden Behandlung fortwährend zu berücksichtigen. Dabei sind die psychischen Anpassungsreaktionen immer in Bezug auf die Form, Dauer und Schwere der körperlichen Erkrankung zu verstehen und zu behandeln. Chronische körperliche Erkrankungen erfordern in den unterschiedlichen Krankheitsphasen ambulante und auch stationäre ärztliche Behandlungen, die – über die Belastungen allein schon durch die Diagnose hinaus – große Herausforderungen an die Kinder und Jugendlichen sowie ihre Angehörigen stellen.

In der ambulanten Behandlung ihrer körperlichen Erkrankung treffen die Klienten und ihre Familien auf niedergelassene Ärzte und Psychotherapeuten, die unterschiedlich vernetzt miteinander arbeiten. Innerhalb der Klinik treffen Patienten auf helfende Begleiter aus multiprofessionellen Teams (Ärzten, Pädagogen, Psychotherapeuten und Psychologen mit und ohne psychotherapeutische Weiterbildungen, Kunst-, Musik- und Sporttherapeuten sowie das qualifizierte Pflegepersonal), die allesamt sowohl beratende, psychotherapeutische als auch begleitende psychosoziale Aufgaben übernehmen. Um bestmöglich unterstützen zu können, sollten die Mitglieder der unterschiedlichen Professionen mit gemeinsamen oder ähnlichen Grundhaltungen innerhalb ihres Handlungsfeldes vorgehen. Dies fügt der Heterogenität der Erkrankungsbilder und Behandlungsformen noch die Herausforderung der interdisziplinären Verständigung innerhalb und zwischen verschiedenen Berufsgruppen hinzu.

In der alltäglichen Praxis mit Kindern und Jugendlichen mit chronischen Erkrankungen bewegen wir uns in Kontexten, die einer ganzheitlichen systemischen Familienmedizin (Altmeyer u. Kröger 2003; Altmeyer u. Hendrischke 2012) zuzuordnen sind und in denen medizinische, pflegerische, psychotherapeutische und psychosoziale Interventionen wechselseitig realisiert werden. Systemische Familienmedizin verbindet die organ- und symptombezogene Medizin mit der psychologischen Perspektive der systemischen Kinder- und Jugendlichentherapie. Ihre Praxis beruht auf folgenden Grundlagen:

Gleichwertiges Berücksichtigen und Einbeziehen von psychischen und somatischen Aspekten,

enge regelmäßige Kooperation mit der ganzen Familie betroffener Patienten,

familienbezogene Kooperation der psychologischen, medizinischen, pflegerischen und pädagogischen Professionen in interdisziplinären Behandlungsteams.

Im Zentrum steht das konstruktive Verbinden und Koordinieren phasenspezifischer Behandlungsziele und Aufträge in den unterschiedlichen Behandlungskontexten wie der stationären Klinikbehandlung und der ambulanten medizinischen und psychotherapeutischen Behandlung und Nachsorge (vgl. von Schlippe u. Schweitzer 2012). Für psychotherapeutisch geschulte praktizierende Psychologen im stationären Behandlungssetting bieten sich in Form von Fallkonferenzen oder Helfersystem-Konferenzen vielfach Möglichkeiten kooperativer Gespräche an. Für den ambulant tätigen niedergelassenen Psychotherapeuten erfordert diese ganzheitliche Kooperation weitreichende Netzwerkarbeit.

Retzlaff (2008) betont den Nutzen dieser zusätzlichen Arbeit für niedergelassene Psychotherapeuten, um symmetrische Behandlungsbemühungen im Geflecht von Medizin, Psychotherapie, Familie und Patienten aufzufangen. Damit alle beteiligten Professionen im Sinne des Patienten aufeinander abgestimmt agieren, empfiehlt er folgende Praxis für die ambulante Psychotherapie:

»Entbindung von der Schweigepflicht einholen und Kontaktaufnahme zum zuweisenden Behandlungssystem (bisherige Befunde und medizinische Behandlungsziele eruieren)

das eigene psychotherapeutische Behandlungskonzept vorstellen und auf mögliche Kooperationsgespräche zwischen den Professionen im Behandlungsverlauf hinweisen

abklären, ob Ereignisse und Ergebnisse für die medizinische und pflegerische Seite der Behandlung relevant sind

erweiterte Netzwerkpflege beispielsweise zwischen Schule und weiteren professionellen Disziplinen wie Physio- und Ergotherapie betreiben« (Retzlaff 2008, S. 80).

Die psychotherapeutische Praxis mit Kindern und Jugendlichen enthält in der Einzeltherapie neben genuin therapeutischen Interventionen immer auch psychosoziale und pädagogische Elemente, genauso wie psychosoziale Interventionen psychotherapeutische Funktionen und Effekte beinhalten. In einer systemisch-ganzheitlichen Betrachtung und Behandlungsperspektive von Kindern mit chronisch körperlichen Erkrankungen vermischen sich die Perspektiven.

In Vorbereitung auf das vorliegende Buch haben wir versucht, die systemische Komplexität in der Behandlung von psychischen Folgen bei chronischen Erkrankungen zu ordnen, und haben immer wieder die fließenden Übergänge zwischen ambulanten und stationären, psychotherapeutischen und psychosozialen Interventionen reflektiert. Um der Komplexität des Themas gerecht zu werden, haben wir uns dazu entschieden, unsere vielfältigen Erfahrungen aus der ambulanten und stationären Psychotherapie und Versorgung nicht auf die Darstellung der ambulanten Psychotherapie der psychischen Anpassungsreaktionen der jungen Klienten zu reduzieren. Das ist schon allein deshalb erforderlich, weil bei vielen chronischen körperlichen Erkrankungen längere und auch wiederholte Klinikaufenthalte notwendig sind, während derer psychotherapeutische Interventionen und vielfältige psychosoziale Begleitungen durchgeführt werden. Aus demselben Grunde findet auch nur ein geringer Teil der akut betroffenen Patienten und Angehörigen bei der vorhandenen Versorgungsstruktur den Weg in eine reguläre Psychotherapie.

Ambulante psychotherapeutische und psychosoziale Unterstützungen werden den jungen Patienten und ihren Angehörigen im Verlauf einer chronischen körperlichen Erkrankung vorwiegend in Klinikambulanzen oder speziellen Beratungsstellen angeboten. In diesen Behandlungskontexten wirken häufig psychotherapeutisch denkende und handelnde professionelle Therapeuten und Praktiker mit unterschiedlichen Zusatzqualifikationen.

Deshalb ist dieses Buch sowohl für Psychotherapeuten geschrieben, die stationär und ambulant in Kliniken, in speziellen Beratungsstellen und in psychotherapeutischen Praxen arbeiten, als auch für psychosoziale Begleitpersonen im Behandlungsfeld von Kindern und Jugendlichen mit chronischen körperlichen Erkrankungen.

Das von uns skizzierte Modell systemisch-lösungsorientierter Behandlung dynamischer Anpassungsleistungen an die psychischen und sozialen Anforderungen bei chronischen körperlichen Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter bietet eine Grundlage für alle psychotherapeutisch und psychosozial tätigen Kollegen. Dieses Modell stellt eine Art unsichtbares Band dar, welches die unterschiedlichen, von verschiedenen Berufsgruppen durchgeführten Maßnahmen miteinander verbindet. Dabei bezeichnen wir im Folgenden als psychotherapeutische Interventionen sowohl spezifische, situativ bedingte Interventionen als auch einen regelhaften Therapieprozess mit vorangegangener Probatorik und Diagnostik sowie darauf aufbauender Therapieplanung. Als psychosoziale Interventionen benennen wir Begleitungen, die situationsabhängig in teils hoher, teils niedriger Frequenz stattfinden und von verschiedenen psychosozialen Professionen angeboten werden.

Versorgungssituation chronisch körperlich erkrankter Kinder und Jugendlicher

Die Versorgungslandschaft für körperlich chronisch erkrankte Kinder, Jugendliche und ihre Familien ist äußerst heterogen. Verschiedene Einrichtungen und unterschiedliche Professionen wie Ärzte, Psychotherapeuten, Psychologen, Sozialarbeiter sowie speziell ausgebildete Pädagogen und Pflegekräfte sind mit der psychosozialen Versorgung befasst.

Wir geben in unseren Fallbeispielen einen Einblick in sehr unterschiedliche, das therapeutische Vorgehen beeinflussende Versorgungssettings, in denen systemisch orientierte psychotherapeutische und psychosoziale Begleiter tätig sind: von der ambulanten systemisch-lösungsfokussierten Therapie und Beratung bis hin zur stationären Versorgung auf einer pädiatrisch-onkologischen Station. Aufgrund der Unterschiedlichkeit der regionalen Versorgungsstrukturen können unsere Darstellungen jedoch lediglich exemplarischen Charakter haben.

Zu verschiedenen Zeitpunkten einer Erkrankung finden vielfältige somatische, psychosoziale und psychotherapeutische Behandlungen statt. Dabei kann es sich um hoch formalisierte Interventionen (ambulante und stationäre, singulär vereinbarte Therapietermine wie zum Beispiel das psychoonkologische Anamnesegespräch zur Auftragsklärung), um halb formalisierte Interventionen (bedarfsgerechte, therapiebegleitende Gespräche während eines Klinikaufenthalts oder einer Reha-Maßnahme) sowie um informelle Interventionen (singuläre Ad-hoc-Interventionen im Klinikalltag) handeln. Gerade der phasenhafte Verlauf chronischer Erkrankungen erschwert eine psychotherapeutische und psychosoziale Versorgung im bestehenden System, wobei diese Versorgung sich eigentlich an diesem Verlauf orientieren müsste: Es gibt Zeiten, in denen Gespräche häufiger, teilweise hochfrequent notwendig sind und der Unterstützungsbedarf sehr groß ist. Demgegenüber gibt es Plateauphasen, in denen über einen längeren Zeitraum hinweg wenig Entwicklung stattfindet und oftmals auch der Beratungs- und Therapiebedarf sinkt. Abgesehen von der Erschwernis, dass in der Niederlassungspraxis der regulären Psychotherapie eine psychische Störung vorherrschen und diagnostiziert werden muss, erschwert es der phasenhafte Verlauf, psychotherapeutische Termine kontinuierlich und am besten regelmäßig zur gleichen Zeit wahrzunehmen, da dies die Möglichkeiten in der Alltagsrealität betroffener Familien oft weit übersteigt.

Wir haben deshalb entschieden, die dargestellten Interventionen, Fallbeispiele und Transkripte und den uns praktizierten systemischen Ansatz in der gesamten Krankheits- und Behandlungsperspektive einzubeziehen. Systemische Therapie aus dem Gesamtkontext zu isolieren, würde der Ganzheitlichkeit einer systemischen Therapieperspektive nicht gerecht.

Sprache in der systemischen Therapie und im Buch

»Störungen systemisch behandeln« bedeutet nicht, ein pathologieausgerichtetes Sprachverständnis in der Systemischen Therapie zu reanimieren, wie wir es aus der frühen Familientherapie kennen. Es war gerade ein Verdienst der frühen systemischen Konzepte, neue therapeutische Sprachspiele zu generieren, die zu einem paradigmatischen Wechsel hin zu einer ressourcenfokussierten Psychotherapie führten, in der der klinische Störungsbegriff in den Hintergrund trat. Symptombilder und klinisch-diagnostische Kategorien zu meiden, war bei vielen Praktikern identitätsstiftende Tradition innerhalb der Systemischen Therapie. Im psychotherapeutischen Alltag können wir klinisch behandlungswürdige psychische Anpassungsreaktionen jedoch auch nicht ignorieren. Und das Sprechen zu vermeiden, macht sie nicht besser.

In unserer Praxis verstehen wir »störungsspezifisches Wissen« als klinisches Erfahrungswissen und handlungsfeldbezogenes Praxiswissen. Dazu zählen sowohl das Wissen zu somatischen Erkrankungen als auch das Wissen zu Formen der Krankheitsbewältigung im Sinne einer emotionalen und kognitiven Verarbeitung der Krankheitsrealität, möglichen psychischen Anpassungsreaktionen und auch das Wissen um eine optimale Organisation des Krankheitsmanagements. Wir stellen folglich medizinische Therapien, psychotherapeutische Interventionen in den unterschiedlichen Krankheits- und Therapiephasen dar.

In unserem Grundverständnis Systemischer Therapie beziehen wir uns auf das Konzept der Salutogenese (Antonovsky 1993, 1997). Wenn wir von psychischen Anpassungsreaktionen und Verhaltensauffälligkeiten in der Folge chronischer körperlicher Erkrankungen sprechen, tun wir das im Sinne des Konzepts der »eingeschränkten Wahlmöglichkeiten« (Isebaert 2005) – der »anderen Seite der Gesundheit« (Simon 2012).

Gliederung

Am Beginn des ersten Teils dieses Buches stehen Überlegungen zur Perspektive der Zeit in ihrer Chronizität. Sodann wird der Fokus auf das medizinisch-klinische und psychologische Wissen ausgerichtet. Ausgewählte klinische Krankheitsbilder werden sowohl auf somatischer und medizinischer Ebene als auch mit den jeweils einhergehenden psychischen Belastungen, Folgen und Beeinträchtigungen für die Betroffenen und ihre Familien dargestellt. Im Anschluss wenden wir uns den relevanten, die psychosoziale Versorgung mitbestimmenden Rahmenbedingungen zu und fassen die Besonderheiten und Anforderungen an psychotherapeutische Interventionen bei der Behandlung psychischer Anpassungsreaktionen bei chronischen Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter zusammen. Dieser erste Teil des Buches erläutert also typische Krankheitsbilder und deren Verläufe sowie die damit einhergehenden Belastungen für die Klienten und die Herausforderungen für die ambulante und klinische psychotherapeutische Praxis.

Im zweiten Teil werden die zu bestimmten Zeitpunkten der Erkrankung notwendigen und nützlichen Interventionen skizziert. Um systemisch-lösungsfokussierte Interventionen in den Kontext bestehender Therapieschulen einordnen zu können, beginnen wir diesen Teil mit der Betrachtung des Themas chronischer Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen aus der Sicht der relevanten Therapieverfahren und deren Zugangsweisen. Darauf folgen die Perspektiven und Handlungsmöglichkeiten von Psychotherapie unter besonderer Berücksichtigung einer systemisch-lösungsfokussierten Perspektive bei chronischen Erkrankungen aus verschiedenen konzeptionellen Blickwinkeln. Dazu skizzieren wir einen theoretischen, einen konzeptionellen, einen strukturellen und einen methodischen Arbeitsraum.

Bei den psychischen Folgeerscheinungen chronischer körperlicher Erkrankungen gilt es zu berücksichtigen, dass im Gegensatz zur ambulanten systemisch-lösungsfokussierten Therapie beispielsweise aufgrund einer kindlichen Angststörung das Vorgehen im Krankheitsverlauf als zeitbedingte Intervention anzusehen ist. Aus diesem Grund stellen wir zu Beginn des dritten Teils des Buches unser Modell dynamischer Anpassungsleistungen an chronische körperliche Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter vor: Es bietet Praktikern einen Rahmen zur Reflexion, zu welchen Zeitpunkten im Krankheitsverlauf spezifische Interventionen nützlich sind und wie diese aufeinander bezogen werden können. Anhand von unterschiedlichen Fallbeispielen aus der ambulanten und stationären Praxis zeigen wir, wie Interventionen unter Bezug auf die Perspektive der Zeit in einem therapeutischpraktischen Vorgehen umgesetzt werden können. Wir berücksichtigen dabei sowohl ambulante psychotherapeutische Prozesse als auch psychologisch-therapeutische Begleitungen im stationären Kontext.

Die Bedeutung der Zeit in der Therapie

Die Zeit ist das umfassende Band aller Zusammenhänge.

George Kelly (1955, dt. 1986)

Der Begriff der chronischen körperlichen Erkrankung umfasst unterschiedliche Symptome und Krankheitsbilder, die durch ihren lang andauernden Verlauf und typische Erkrankungsphasen charakterisiert sind. Der Perspektive der Zeit kommt bei diesen Erkrankungen eine besondere Rolle zu: zum einen der Dauer einer Erkrankung, die sehr kurze, aber auch lange Lebenszeiträume und schließlich die gesamte Lebensspanne umfassen kann, zum anderen den unterschiedlichen Phasen im Verlauf.

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Abb. 1: Chronos und Kairos

Die beiden Götter der Zeit, Chronos und Kairos (vgl. Abb. 1), versinnbildlichen zwei wesentliche zeitliche Dimensionen. Der griechische Gott Chronos steht für quantitativ gemessene Zeit: Er symbolisiert den Ablauf von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, womit lange Zeitspannen und auch überdauernde oder lebenslange gesundheitliche Einschränkungen begrifflich erfasst werden können. Sie werden dann als chronisch bezeichnet. Demgegenüber steht der Gott Kairos – als religiös-philosophischer Begriff – für eine andere Zeitdimension, nämlich den günstigen Zeitpunkt für eine Entscheidung oder Handlung, der nicht ungenutzt verstreichen sollte. Eine Gelegenheit beim Schopfe zu packen und zum entscheidenden Zeitpunkt zu handeln, kann im Zeitverlauf zu wichtigen Wendungen führen.

Die Bedeutung des »Kairos« wird anhand eines therapeutischen Erstgesprächs auf einer onkologischen Station mit der Mutter eines zweijährigen Jungen wenige Tage nach der Befundmitteilung durch die Ärzte deutlich.

Wann ist der »richtige Zeitpunkt«?

Bei dem fast zweijährigen Martin wird ein Nierentumor diagnostiziert. Seine Mutter, Frau K., ist nach der Befundmitteilung geschockt und emotional überwältigt. Sie und ihr Mann ringen um Stabilität. Die schlimmen Vorstellungen zunächst verdrängend, fragt die Familie im Aufklärungsgespräch nach den nächsten Schritten. Ihnen wird mitgeteilt: Innerhalb der nächsten vier Wochen wird der Patient eine Chemotherapie erhalten, die den Tumor bis zur Operation verkleinern soll. Wenn diese erfolgreich ist, besteht eine geringe Hoffnung darauf, dass der Tumor vollständig entfernt werden kann und keine weitere Behandlung notwendig ist. Der Familie – so der Arzt – muss aber klar sein, dass dies angesichts der Größe des Tumors sehr unwahrscheinlich ist.

Das Leben der Familie scheint zusammenzubrechen: Der anstehende Urlaub wird storniert, die Rückkehr in den Arbeitsalltag nach der Elternzeit erscheint angesichts der nun anstehenden Behandlung unmöglich. Zudem belasten die Sorgen, was schlimmstenfalls passieren könnte. Aufgrund ihrer hohen Nervosität und emotionalen Belastung kontaktiert die Mutter die Psychologin auf der Station, die sie bereits vom Aufklärungsgespräch kennt.

Im Erstgespräch schildert Frau K. ihre Sorgen und Ängste, ihre Nöte und aktuellen Gedanken. Als Auftrag formuliert sie, dass sie nicht ständig daran denken will, was passieren könnte, sondern sich erst mal auf die Operation fokussieren möchte. Nach der ersten Woche tritt der leitende Oberarzt der Station mit folgenden Informationen an die Psychologin heran: Die Kindsmutter redet zunehmend weniger und will sich nicht mit den möglichen weiteren Behandlungsschritten nach der Operation auseinandersetzen. Dies ist nach Ansicht der Ärzte aber dringend notwendig, schließlich werden therapeutische Maßnahmen mit hoher Wahrscheinlichkeit nach der Operation umgehend weitergehen. Der Tumor ist einfach zu groß und eine komplette Entfernung aussichtslos.

Im nächsten Gespräch versucht die Psychologin, den ärztlichen Auftrag umzusetzen und die Mutter behutsam auf die nachfolgenden Möglichkeiten vorzubereiten. Auf diese Konfrontation reagiert die Klientin jedoch ablehnend. Nach dem Gespräch verlässt Frau K. den Raum. Eine Woche später erscheint sie zum vereinbarten Termin und eröffnet das Gespräch mit folgender Frage: »Ist es eigentlich normal, dass es einem nach dem psychologischen Gespräch schlechter geht als vorher? Ich habe fast eine Woche gebraucht, um mich davon zu erholen. Ich glaube, ich möchte lieber auf unsere Gespräche verzichten!« Die Mutter beendet das therapeutische Angebot, und es finden lediglich kurze informelle Entlastungsgespräche statt. Die Mutter kommt spontan zur Psychologin vor, während und auch noch kurz nach der Operation. Die Gespräche haben unmittelbar entlastenden Charakter, ein bestimmter Therapieauftrag seitens der Klientin ist nicht fassbar. Vier Wochen später wird der Tumor ihres Sohnes komplett entfernt, eine weitere medizinische Behandlung mit Ausnahme von regelmäßigen Kontrolluntersuchungen ist nicht notwendig.

Nach zwei Jahren trifft die Psychologin in der Klinikambulanz zufällig auf Frau K. Im Gespräch erzählt diese: »Wissen Sie, es wäre schon wichtig gewesen, mit Ihnen intensiver zu sprechen. Aber was Sie besprechen wollten, war für mich einfach nicht dran. Ich hätte zu diesem Zeitpunkt jemanden gebraucht, der mich ausschließlich stützt. Ich wusste ja noch nicht mal, wie ich die nächsten Wochen bis zur Operation des Tumors überstehen sollte. Mich mit allen möglichen Verläufen im Nachgang der Operation auseinanderzusetzen, war einfach unmöglich und hat mich völlig überfordert. Darüber hätten wir auch sprechen können, wenn es so weit gewesen wäre, oder? Ich mache mir heute, selbst zwei Jahre nach der Operation, immer noch Sorgen, dass die Erkrankung zurückkommen könnte. Ich glaube, heute wäre ich für so ein Gespräch wie damals weitaus offener und könnte damit auch mehr anfangen.«

Dieses Fallbeispiel einer »gescheiterten« therapeutischen Begleitung zeigt wichtige Faktoren auf wie die Bedeutung der Auftragsklärung, das Einordnen von Widerstand als Schutzmechanismus und das Berücksichtigen des Kontextes (denn es gibt nicht nur unterschiedliche Aufträge, sondern vor allem auch unterschiedliche Auftraggeber) therapeutischer Interventionen. Es geht aber auch um den richtigen Zeitpunkt (Kairos) der Interventionen sowie um deren langfristige Verläufe (Chronos). Unter Beachtung systemisch-lösungsfokussierter Wirkprinzipien zeigt das Beispiel, dass selbst bei »gescheiterten« Verläufen die Klienten-Therapeuten-Beziehung positiv aufrechterhalten werden kann und sich jenseits bestimmter therapeutischer Ansätze ein pragmatisches Vorgehen empfiehlt.

Die Dimensionen von Chronos und Kairos sind zentrale Eckpfeiler der Theorie und Praxis der psychotherapeutischen und psychosozialen Begleitung chronischer pädiatrischer Erkrankungen. Wird die Erlebniswelt der chronisch erkrankten Klienten und ihrer Angehörigen nachvollzogen (aber nicht nachempfunden), kann sich ein Hinweis darauf ergeben, wann welche Interventionen hilfreich sind (Schwarz u. Singer 2008). Dabei ist wichtig, was für den Patienten und seine Familie zu einem bestimmten Zeitpunkt im Fokus steht: die innerpsychische Verarbeitung, indem die objektive Krankheitsrealität durch kognitiv-emotionale Prozesse in eine erträgliche subjektive Realität überführt wird (Schaeffer 2009), oder der aktive Umgang mit den aktuellen Handlungserfordernissen, die sich aus der Erkrankung und Behandlung ergeben.

In unserer systemisch-lösungsfokussierten Praxis kommt der Zeit eine große Bedeutung zu (Borst u. Hildenbrand 2012). Systemische Therapie kann sowohl als Langzeit- als auch als Kurzzeittherapie stattfinden und insofern den Chronos berücksichtigen. Auch der Kairos spielt eine zentrale Rolle in einer klassischen systemischen Therapiesitzung, wie sie unter anderem von Selvini Palazzoli et al. (2011) und in der systemisch-lösungsfokussierten Perspektive von de Shazer (1988) konzipiert ist: Therapeutische Gespräche werden in eine Explorationsphase und eine Interventionsphase unterteilt und durch eine Sitzungsunterbrechung – die sogenannte Denkpause – strukturiert. Dabei wird mit einem Interview begonnen und mit einer Handlungsempfehlung abgeschlossen. Der günstige Augenblick, Kairos, bestimmt, welcher Baustein zu welchem Zeitpunkt umgesetzt wird.

In der Systemischen Therapie spielen bedeutsame Zeitpunkte einer »verstörenden« Intervention auch insofern eine wesentliche Rolle, als damit Bifurkationen, Instabilitäten oder Symmetriebrüche erzeugt werden, die zu Phasenübergängen in lebenden Systemen führen. Außerdem berücksichtigt die systemisch-lösungsfokussierte Therapie »richtige« Zeitpunkte, da sie keine bestimmte Reihenfolge therapeutischer Sitzungen festlegt. Es entspricht voll und ganz dem systemischen Denken, die Sitzungsfrequenz am Bedürfnis des Klienten zu orientieren. So wird beispielsweise der Klient befragt, wie lange er denkt, Beratung und Therapie in Anspruch nehmen zu müssen. Zudem können in Krisenzeiten häufiger Termine angeboten und in anderen Zeiten längere Pausen konzeptionell integriert werden. Hier deckt sich die systemisch-lösungsfokussierte Therapie mit unserer Idee des Begriffes einer psychosozialen Begleitung im Behandlungsverlauf.

Chronos

Dank des medizinischen Fortschritts und der verbesserten hygienischen Bedingungen ist die Mortalität von Kindern und Jugendlichen durch körperliche Erkrankungen in Deutschland während des letzten Jahrhunderts erheblich gesunken. Stand zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch die Bekämpfung von vergleichsweise hohen Fallzahlen und Mortalitätsrisiken von Infektionskrankheiten im Mittelpunkt des medizinischen Interesses, geht es heute vor allem um die Behandlung der sogenannten chronischen körperlichen Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter, da diese kontinuierlich steigende Prävalenzen aufweisen (Schubert et al. 2004). In Abgrenzung zu akuten Erkrankungen sind chronische Erkrankungen lang anhaltend bzw. überdauernd – wobei der Terminus »chronische Erkrankung« gewissermaßen ein Regenschirmbegriff ist: Es können eine Vielzahl von medizinischen Krankheitsbildern, zum Beispiel chronische Erkrankungen aller Organsysteme, »Behinderungen« und psychische Erkrankungen, subsummiert werden (Schmidt u. Thyen 2008).

Eine differenzierende und umfassende Definition ist aufgrund der zahlreichen unterschiedlichen pädiatrischen Krankheitsbilder und Verläufe schwierig. Als definitorische Eckpunkte gelten jedoch zum einen die lange Dauer der Erkrankung (mindestens drei bis zwölf Monate) und zum anderen die Intensität, welche durch Einschränkungen bei entwicklungstypischen Aktivitäten, durch das Ausmaß an medizinischer Versorgung oder durch eine potenzielle Lebenslimitierung bestimmt wird (Schmidt u. Thyen 2008). Der Anstieg chronischer Erkrankungen resultiert aus verbesserten Überlebenschancen von vormals als unheilbar geltenden Erkrankungen. Allerdings ist insbesondere bei Krankheiten aus dem atopischen Formenkreis (Erkrankungen, die auf eine allergische Reaktion zurückzuführen sind, wie Neurodermitis oder Asthma) zu beobachten, dass es in den vergangenen Jahrzehnten in allen Industrienationen einen großen Zuwachs gegeben hat (Kurz u. Riedler 2003). Inzwischen können multiple chronische Erkrankungen erfolgreich behandelt werden, sodass die Betroffenen eine gute Lebensqualität erreichen. Dennoch dürfen die maßgeblichen Auswirkungen einer chronischen Erkrankung auf die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen nicht vernachlässigt werden – sie stehen häufig im Fokus der psychosozialen Versorgung betroffener Familien (Warschburger 2000; Pinquart 2013).

In einer bevölkerungsrepräsentativen Langzeitstudie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland (KiGGS) wurden in über 17.000 Fällen Eltern zur Krankheitsgeschichte ihrer Kinder befragt. Eine Auswertung ergab, dass bei 38,0 % der Jungen und 39,4 % der Mädchen in den vergangenen zwölf Monaten mindestens eine chronische Erkrankung wie Heuschnupfen, Skoliose, Herzkrankheiten und Krampfanfälle vorgelegen hatte (Scheidt-Nave et al. 2007). Nur bei einem Teil der chronisch erkrankten Kinder und Jugendlichen (Jungen: 16,0 %, Mädchen: 11,4 %) berichteten die Eltern auch von einem speziellen Versorgungsbedarf. Diese Versorgung umfasst die regelmäßige Einnahme verschreibungspflichtiger Medikamente, die psychotherapeutische oder pädagogische Unterstützung, den Umgang mit funktionellen Einschränkungen, spezielle Therapiebedarfe sowie die Unterstützung bei emotionalen Entwicklungs- oder Verhaltensproblemen. Von einer Behinderung, also einer Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben, sind etwa 2 % aller in Deutschland lebenden Kinder und Jugendlichen mit einem Schweregrad von mindestens 50 % betroffen (Hempel 2006). An anderen schweren chronischen Erkrankungen wie malignen Erkrankungen im Kindesalter leiden wesentlich weniger Kinder: An ihnen erkranken jährlich im Durchschnitt 1.761 Kinder unter 15 Jahren, in deren Folge etwa 420 Kinder innerhalb von 15 Jahren nach Diagnose versterben (Kaatsch u. Spix 2013).

1Chronische körperliche Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter

In diesem Kapitel werden die Hintergründe der Entstehung, des Verlaufs und der Behandlung ausgewählter chronischer Krankheitsbilder exemplarisch vorgestellt. Dabei unterscheiden wir zwischen unterschiedlichen Verlaufsformen, den entwicklungspsychologischen Folgen und den Auswirkungen auf das betroffene Familiensystem. Manche systemischen Psychotherapeuten bevorzugen es, ihre Klienten und deren Familien unvoreingenommen, ohne spezifisches Vorwissen oder das entsprechende klinische Erfahrungswissen von einzelnen Krankheitsbildern zu begegnen und das Auf und Ab der Erkrankung prozessorientiert zu begleiten. Wir vertreten hier die Ansicht, dass ein Einblick in die medizinischen Abläufe hilfreich ist, um mögliche kritische Punkte im Krankheits- und Therapieverlauf, bezogen auf die kognitiven, sozioemotionalen und familiären Folgen der Erkrankung, vorherzusehen und zielorientiert zu arbeiten.

1.1Verlaufskategorien chronischer körperlicher Erkrankungen

Für die Systemische Psychotherapie bei der Begleitung von Kindern und Jugendlichen mit chronischen Erkrankungen und ihren Familien schlagen wir ein Modell vor, das sowohl Erkrankungen mit einer normalen Lebenserwartung als auch Erkrankungen mit einer begrenzten Lebenserwartung in typischen Verlaufsformen unterscheidet. Um psychotherapeutische Bedarfe betroffener Patienten und Familien abzuschätzen und eine daran orientierte Versorgung anbieten zu können, kategorisieren wir die vielzähligen chronischen Krankheitsbilder des Kindes- und Jugendalters in Abhängigkeit von ihren typischen Verlaufsformen und Anforderungen (vgl. Abb. 2).

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Abb. 2: Verlaufskategorien chronischer körperlicher Erkrankungen

1) Chronische Erkrankungen mit multiplen und lebenslänglichen Einschränkungen

Von den betroffenen Patienten sowie ihren Familien wird eine lebenslange Anpassungsleistung gefordert, da es sich um persistierende und nicht reversible Erkrankungen mit diversen Beeinträchtigungen handelt (genetische Defekte, Behinderungen und schwere Mehrfachbehinderungen, Geburtstraumata, Unfallfolgen, Skoliose, Lissenzephalie etc.).

2) Akut lebensbedrohliche Erkrankungen (und Unfallfolgen)