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Nr. 6

 

Das Licht in der Tiefe

 

Der Planetoid der Erzkratzer – in einem anderen Universum

 

Olaf Brill

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

 

Cover

Vorspann

Die Hauptpersonen des Romans

1. In den Minen von Doliuto

2. CALAMAR, im Sphärenlabyrinth

3. In den Minen, Tage später

4. CALAMAR

5. Doliuto, Schlafstadt

6. Im anderen Universum

7. Doliuto, Sternstollen

8. Doliuto

9. Der Weg hinauf

10. Der Weg hinunter

11. Im Quartier der Auserwählten

12. In der Kuppelstadt

13. Im Quartier der Auserwählten

14. Die Erweckung

15. Auf der Flucht

16. Raumhafen

17. Ebene Null

18. Rückkehr in die Kuppelstadt

19. Abschied der Solaner

Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

 

SOL – dieser Name hat einen ruhmvollen Klang in der 3000-jährigen Geschichte der terranischen Raumfahrt. Das Fernraumschiff spielt immer wieder eine entscheidende Rolle im schicksalhaften Konflikt zwischen den kosmischen Mächten der Ordnung und des Chaos.

Im Jahr 1552 Neuer Galaktischer Zeitrechnung ist Perry Rhodan in die ferne Galaxis Yahouna versetzt worden. Dort sollen er und die Besatzung der SOL im Auftrag der Kosmokraten herausfinden, ob die Superintelligenz BARIL auf der Seite der Ordnung oder des Chaos steht. Die SOL gerät schnell in Bedrängnis und wird in den Dienst einer Ritterin BARILS gezwungen.

Um mehr über die Pläne der Chaotarchen zu erfahren, unternimmt Roi Danton erneut eine gefahrvolle Reise in das Sphärenlabyrinth. Er dringt in ein fremdes Universum vor und trifft auf die Erzkratzer, die einen einzigartigen Schatz hüten. Danton und seine Gefährten entdecken DAS LICHT IN DER TIEFE ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Cin – Die Erzkratzerin findet das Licht in der Tiefe.

Roi Danton – Rhodans Sohn will ein altes Versprechen erfüllen.

Peet Matabiau, Minon Crompton und Ennyas Anchi – Dantons Einsatzteam agiert in einem fremden Universum.

Feyauk – Der Kolonnen-Anatom ist auf Doliuto gestrandet.

1.

In den Minen von Doliuto

Cin

 

Tief im Innern des Steins lief ein verborgenes Räderwerk an und brachte den Transportkorb auf den Weg.

Der Stein – der einzige Name, den die Erzkratzer für ihre Welt hatten. Eine Welt aus Fels und Stahl, durchzogen von Hunderten künstlicher Tunnel, beleuchtet von trüben Laternen und den hin und her schwankenden Lichtkegeln von Helmlampen.

Ruckartig erst, dann geschmeidiger und immer schneller sank der metallene Korb durch den engen Schacht in die Tiefe. Er schaukelte und knirschte. Wenn er an den Seiten anstieß, stoben Funken. In ihrem Widerschein glitt die graue Wand aufwärts.

Wenn die Insassen des Korbs die Köpfe bewegten, huschten Lichtreflexe zur Seite, nach unten oder oben. In der Tiefe jedoch verlor sich das Licht. Unter ihnen lag fahle Dunkelheit.

Cin atmete flach. Sie hasste die Fahrt abwärts. So wie sie es hasste, jeden Tag in den Minen nach diesem verdammten Erz zu kratzen. Von der kargen Ausbeute, die sie in ihrem Beutel sammelte, konnte sie sich oft nicht mal ein Essen leisten. Nicht, nachdem sie die Conductoren bezahlt hatte, die die Körbe bedienten.

Cin war eine Erzkratzerin, eine Freie, die in eigener Entscheidung im Untergrund schuftete. Anders als die Minensklaven, die in noch größerer Tiefe in Doppelschichten bis zur Erschöpfung arbeiteten und von den Aufsehern geprügelt und misshandelt wurden. Immerhin bekamen die Minensklaven wenigstens Essen. Manchmal fragte sich Cin, ob sie nicht als Sklavin besser dran gewesen wäre statt als Kratzerin. In solchen Momenten war ihr, als sähe sie von oben auf sich selbst hinab und beobachte ihr eigenes Leben, aus dem sie nicht herauskonnte.

Mit ihr im Korb standen dicht gedrängt zehn bis fünfzehn andere Erzkratzer, Freie wie sie, alles Männer, alle älter als sie. Einige husteten. Keiner sprach. Viele hielten den Kopf gesenkt.

Freie – allein das Wort war eine Farce. Sie waren schlimmer dran als die Sklaven, die sich darauf verlassen konnten, am Ende des Tages eine Mahlzeit zu bekommen. Was war diese Freiheit wert?

In diesem Moment war Cin egal, ob sie mit dem Korb und dem Conductor und allen Insassen heil am Boden ankam oder abstürzte. Ein Seil, das riss, ein letztes Kreischen, und alle würden haltlos in die Tiefe fallen, ihrer Erlösung entgegen, und beim Aufprall zerschmettern ... Oder es gab eine plötzliche Verwerfung des Steins, die Wände schoben sich aufeinander zu und zerquetschten alles, was zwischen ihnen war ...

Beinahe war Cin enttäuscht, als der Korb knirschend die Fahrt verlangsamte und schließlich mit einem Ruck zum Stillstand kam. Sie hatten die Förderzone erreicht, Ebene 101.

Hastig öffnete der Conductor das Gatter. Er sah aus wie die Karikatur eines Lebewesens, ein aus Nieten, Bolzen und Metallplatten zusammengesetztes Gebilde, in dessen Innerem eine Maschine sirrte. Cin irritierte es, dass sie seine Gefühle nicht spüren konnte. Sie sah in die toten Augen des Maschinenwesens und empfand gar nichts. Vielleicht hatte ein Conductor keine Gefühle.

Mit barschen Kommandos trieb er die Insassen zur Eile an. Er wollte den Transportkorb wohl schnell wieder hinauffahren. Vielleicht, um eine weitere Fuhre zu schaffen.

In der flachen Höhle, in die sie geschoben wurden, herrschte reger Betrieb. Erzkratzer aus anderen Körben trafen ein und bewegten sich langsam in Richtung der ihnen zugewiesenen Stollen. Bei vielen hingen die spitzen Ohren herunter, und die drei Augen waren zu Boden gerichtet. In asynchronen Wellenbewegungen erhob sich die Prozession der Grubenarbeiter immer wieder ein Stück in die Luft, bis die Schwerkraft sie wieder einfing und sie den nächsten Schritt machten. So ging es jeden Tag.

Cin wusste, dass die Stollen, in denen die Freien kratzen durften, wesentlich ertragsärmer waren als die, in denen die Sklaven sich abquälten. Aber wenigstens wurden die Kratzer für ihre karge Ausbeute bezahlt. Zumindest diesen Lohn bot die Freiheit: Sie durfte ihren Erlös wieder abgeben für einen Schlafplatz auf Ebene 80. Die Sklaven indes mussten in den Schürfstollen schlafen und sahen nie etwas anderes als Schmutz und Dunkelheit und Arbeit.

Kratzer am Ende ihrer Schicht, mit schmutzigen, bis zum Hals geschlossenen Skaphandern und schwarzen Gesichtern darüber, trotteten heran, schwebten für winzige Momente in die Höhe und schoben sich in die aufwärtsfahrenden Transportkörbe.

Der Conductor trieb sie an.

Eine halbe Stunde Fußmarsch lag noch vor ihr, bis sie den Stollen 101.011 erreichte, ihren Stollen.

Die Luft roch schal und feucht. Es war viel zu warm. Sie löste die kleine Trinkflasche vom Gürtel und nahm einen Schluck.

Verdammt, sie durfte nicht so viel Wasser verschwenden! Dann reichte es nicht, wenn es ihr einmal wirklich dreckig ging.

Sie spürte schon, dass dies kein guter Tag sein würde. So wie der davor und der davor.

 

*

 

»Sieh mal, ein echtes Prachtstück, oder?«

Kelx schwebte ein Stück auf Cin zu und hielt ihr triumphierend den mattsilbernen Stein hin, den er aus dem Felsen geschlagen hatte. Er war fast so groß wie seine Faust.

»Gratuliere«, bestätigte Cin. Sie spürte sofort, dass dies eins der seltenen Stücke war, nach denen sie suchten. »So viel bringe ich manchmal an drei Tagen nicht zusammen.«

Sorgsam verstaute Kelx den Stein im Beutel, der an seinem Skaphander hing. »Damit habe ich fast genug!«, schwärmte er mit einem breiten Grinsen auf dem schwarzen Gesicht. »Vielleicht finde ich heute sogar noch den ganzen Rest, den ich brauche!«

Er blickte sie geradewegs an, und für einen Moment war sie geblendet von seiner Helmlampe. Im Lichtschein wirbelten schwarze Staubpartikel umher, winzige Flugkörper auf erratischen Bahnen. Das war der Staub, der sich aufs Gesichtsfell der Arbeiter legte und an der Halskrause sogar in den ledernen Skaphander drang. Cins Fell war davon längst grau und stumpf geworden. Lediglich rund um die Augen, über denen sie die Schutzbrille trug, war das Fell noch hellblau und flaumig wie das eines Neugeborenen.

Dem ewig gut gelaunten Kelx schien das alles nichts auszumachen. Seine Gefühle hatte Cin schon immer leicht erspüren können.

Er stolzierte ein paar Schritte in dem engen Stollen umher, erhob sich zwischendurch in die Luft, dass der Lampenschein mal dahin und mal dorthin fiel. »Seht mich an, Kelx, den Triumphator! Vielleicht steige ich eines Tages noch zum Pontifex des Steins auf!«

Cin kicherte. »Alberner Trottel!«

Kelx brachte sie zum Lachen. Das war schon viel wert an diesem tristen Ort. Er war wie ein Bruder für sie, dem sie so manche Spinnerei verzeihen konnte. Auch er brach in übermütiges Gegacker aus. Sie war froh darüber, denn sie hatte ihn auch schon anders erlebt: deprimiert, zornig, sogar verzweifelt. Zuletzt war eine Veränderung mit Kelx vorgegangen. Er war konzentrierter und zielstrebiger geworden. Sie glaubte, dass er so etwas wie einen neuen Lebensplan gefasst hatte, den er ihr verschwieg. Der Zeitpunkt war gekommen, ihn danach zu fragen.

»Was heißt: Du hast genug?«, erkundigte sich Cin.

Kelx klopfte auf seinen Sammelbeutel. »Ich habe ein paar Leute kennengelernt, die mich hinaufführen können, einen Beschützer. Kannst du dir das vorstellen?« Er flüsterte, obwohl kein anderer Kratzer in der Nähe war. »Ich werde aufsteigen in die Flirrende Stadt, direkt unter den freien Himmel! Zur Ebene Eins! Ich werde die Sonne sehen und die Luft atmen. Man sagt, dort oben gibt es endlose Landschaften. Wenn du einmal losrennst, kannst du laufen und laufen, ohne an eine Wand oder einen Fels zu stoßen.« Verschwörerisch trat er dicht an Cin heran. »Komm doch mit! Du hast auch ein bisschen gespart, oder?«

Cin erschrak. »Ich kann nicht«, stieß sie eilig hervor. »Ich hab bald genug ...«

Genug für eine Stahlhacke, hatte sie sagen wollen. Ein Werkzeug, mit dem sie schneller arbeiten, mehr Erz aus dem Stein schlagen konnte. Sie arbeitete, um mehr arbeiten zu können.

Sie hielt inne, verärgert über die eigene, allzu schnelle Antwort. Trotzig rümpfte sie die kleine Nase. »Die Flirrende Stadt ist ein Märchen! Der Traum von einer besseren Welt für uns alle. Womöglich hat der Pontifex diesen Mythos sogar selbst in die Welt gesetzt, um uns Arbeitern das Gefühl zu geben, da wäre etwas, für das es sich zu leben lohnt!«

Kelx lachte und knuffte sie freundschaftlich. »Also sollten wir die Tyrannen stürzen und uns hier unten selbst unser eigenes Traumland schaffen, oder? Du kleine Revolutionärin!« Er wurde ernst. »Aber nein, da gibt es noch mehr. Es ist kein Märchen. Oben warten Licht und ein besseres Leben, und ich habe einen Weg dorthin gefunden. Bald treffe ich einen Beschützer, der mich an die Oberfläche bringt, zur Sonne. Hier!«

Hastig zog Kelx aus einer Tasche seines Skaphanders einen Zettel hervor. Mit dem bloßen, vom schwarzem Staub bedeckten Finger kritzelte er etwas darauf. Cin erkannte die Symbole: unten ein gebogener Strich, der wohl den Stein darstellen sollte, und darüber ein Kreis, von dem kranzförmig Strahlen ausgingen.

»An der Oberfläche, da leben die Doliutoer in hellem Licht. Wer die Ebene Eins erreicht, wird für seinen Mut belohnt. Er bekommt leichte Arbeit, genug zu essen und ein angenehmes Leben. Dort gibt es Tanz und Schauspiel und Wasser und Leben!«

Cin schüttelte den Kopf. »Selbst wenn es auf Ebene Eins etwas gibt – ich glaube nicht, dass diese Welt so wunderbar ist. Außerdem ist der Weg dorthin gefährlich. Kennst du nicht die Geschichten von Ausreißern, die nach oben wollten? Keiner kommt durch die Todeszone. Manche sind zurückgekommen: verkrüppelt, mit verbranntem Körper. Und kurz danach gestorben. Willst du so enden?«

Statt zu antworten, setzte Kelx einen trotzigen Blick auf. Er drehte sich um, schwebte ein Stück zu seiner Schürfstelle und machte sich wortlos mit dem Schlageisen am Gestein zu schaffen. Er wollte sich wohl nicht mit ihr streiten.

Cin stieß sich ab, hüpfte zu ihm und setzte eine versöhnliche Miene auf. Sie faltete den Zettel zusammen und reichte ihn Kelx zurück. »Ich hoffe, du findest dein Glück.«

Doch er wehrte mit der Hand ab. »Behalte das. Vielleicht wird es dir noch nützlich sein.« Und wandte sich wieder dem Stein zu.

Den Rest des Tages sprachen sie nur noch gelegentliche, belanglose Worte miteinander.

Am Ende der Schicht, als sie ihrer Wege gingen, sagte Cin zu ihm: »Bis morgen!«

Kelx machte ein liebevolles Gesicht. »Wir sehen uns morgen!«, verabschiedete er sich.

Cin wusste, dass es eine Lüge war.

2.

CALAMAR, im Sphärenlabyrinth

Roi Danton

 

Ich würde nicht sagen, dass ich ein notorischer Lügner bin.

Aber ich habe in meinem Leben zweifellos schon unzählige Male geflunkert, getäuscht, die Wahrheit zurechtgebogen, Maske gemacht, sogar die eine oder andere neue Identität angenommen.

Wir steuern im Blindflug durch das Gespinst der regenbogenfarbenen Leuchtbänder, die bei jeder Bewegung neue Form annehmen. Während die Kompantin uns durch die Schleier des Sphärenlabyrinths leitet, stelle ich mir die Frage, ob ich meinen Vater und meine Mannschaft angelogen habe. Ich habe behauptet, dass ich mit der CALAMAR aus der SOL ausschleusen will, um mich an eine Spur TRAITORS zu heften, und das war nicht falsch.

Ich setze all mein Wissen und all meine Erfahrungen dafür ein, sie zu infiltrieren und auszuspionieren – diese Streitmacht des Chaos, die ich besser kenne, als mir lieb ist. Wir brauchen Informationen, um zu verstehen, was die Chaotarchen in Yahouna planen.

Ich habe also keineswegs rundheraus gelogen. Niemals würde ich Perry direkt ins Gesicht lügen. Sofern man mal von der Kleinigkeit absieht, wie ich ihm vor zweitausendsiebenhundert Jahren entgegengetreten bin: in der Kleidung eines Edelmanns und mit dem Gebaren eines affektierten Stutzers aus der Zeit eines archaischen französischen Königs. Damals habe ich mich Roi Danton genannt, der König der Freihändler. Was tut man nicht alles, um einem überlebensgroßen Vater wie Perry Rhodan zu entkommen und ein eigenes Leben zu beginnen?

Nur so war es möglich, dass mein Vater und ich schließlich ... nun ja, Freunde geworden sind. Partner seit Jahrtausenden. Die Lüge von damals hat also eine gute Sache hervorgebracht. Und nein, es war überhaupt keine Lüge – keine, die zählt. Sondern eine Handlung, die mich zu dem gemacht hat, der ich bin. Ich bin Roi Danton. Der Abenteurer und Kämpfer auf der Seite des Guten, nicht das verwöhnte Kind eines Großadministrators. Roi Danton ist das Leben, das ich für mich selbst erfunden habe, zu dem ich stets zurückgekehrt bin. Gewiss, ich war auch Torric. Und Dantyren. Ein kleines Stück dieser anderen Leben wird immer ein Teil von mir bleiben.

Andererseits habe ich meinem Vater und der Mannschaft auch nicht die ganze Wahrheit gesagt. TRAITOR hinterherzuspüren, um lebenswichtige Informationen für unsere Mission zu erlangen – das ist mein Plan mit der CALAMAR, ja. Aber darüber hinaus treibt mich noch etwas anderes an. Eine Schuld, die ich in einem anderen Leben auf mich geladen habe.

Der hagere, doch sportliche Mann mit dem ewigen Dreitagebart und dem grau melierten Haar tritt an meine Seite. Mein Erster Offizier Peet Matabiau. Wir kennen uns seit einer Zeit, die nach heutigem Datum mehr als anderthalb Jahrhunderte zurückliegt. Den Großteil davon haben wir allerdings im Abgrund einer Proto-Chaotischen Zelle verbracht. Während für uns dort lediglich wenige Wochen verstrichen sind, ist die Zeit im Universum weiter vorangeschritten. Jedenfalls in dem Universum, dem wir uns zugehörig fühlen.

»Verrätst du uns endlich mal, wonach wir genau suchen?« Matabiau hat schon genug erlebt, um gelassen zu bleiben, wenn die Außensensoren statt des bekannten Weltalls seit Tagen nur eine bizarre Phantasiewelt mit völlig unbekannten Eigenschaften zeigen.

Das Netz aus Lichtbändern, durch das wir treiben, bildet eine Struktur, die sich unendlich zu verzweigen scheint. Sie verbinden die konzentrischen Kugelschalen des Sphärenlabyrinths. Keiner von uns vermag zu erkennen, was hinter der nächsten fädenüberzogenen Kristallkugel liegt, welcher Weg zurück ins bekannte Weltall führt und welche Route in völlig andere Universen.

Wäre da nicht Kalfa, die Kompantin, würden wir uns hoffnungslos verirren. Nur sie, im Verbund mit der Schiffspositronik, leitet uns zielsicher durch das Sphärenlabyrinth. Ihr allein verdanken wir es, dass wir statt trübem Dunst überhaupt die feine Innenstruktur dieser extrauniversalen Portalzone erkennen können.

Ich sehe hinüber zum Pneumosessel, in dem der weiße, aufgedunsene Körper der Kompantin liegt. Sie ist durch eine Maschine mit den Bordsystemen verbunden, die den SERT-Geräten ähnelt, mit denen Emotionauten Raumschiffe wie die CALAMAR oder sogar die SOL steuern.

Kalfa ist ein bedauernswertes Geschöpf, das Ergebnis grauenhafter Experimente der Kolonnen-Anatomen. Sie haben den Tod von Tausenden fühlender Wesen in Kauf genommen, nur um einen dieser sogenannten Kompanten zu schaffen.

Ich weiß nicht, wie viel Zeit verstrichen ist, bis ich meinem Ersten Offizier endlich antworte. »Als ich in der Kommandozentrale der GRAGRYLO war, standen mir sämtliche technischen Möglichkeiten der Skapalm-Bark zur Verfügung. Mit den Vollmachten eines Dualen Kapitäns der Terminalen Kolonne habe ich mir Einblick ins Datennetz der Bordsupratronik verschafft. Dadurch konnte ich zumindest einige der Kolonnen-Einheiten identifizieren, die im Sphärenlabyrinth operieren, und weiß, wo es für uns besonders interessant werden könnte. Ah, voilà!«

Wie aus dem Nichts taucht über uns ein riesenhafter, schwarzer Diskus durch die Sphäre und kreuzt gemächlich unseren Kurs, einem Blauwal gleich, der einer Kaulquappe begegnet. Ein Traitank, ein Kampfschiff der Terminalen Kolonne.

»Kann es uns sehen?«, ruft Matabiau alarmiert. »Funktioniert Varantirs Ortungsschutz auch im Sphärenlabyrinth?«

»Wenn auf eins Verlass ist, dann auf algorrianische Technik.« In Wahrheit bin ich nicht ganz so überzeugt, wie ich mich gebe. Falls ich mich irre, werden wir es gleich erfahren. Denn wer weiß schon, ob auch im Sphärenlabyrinth jene Naturgesetze gelten, auf die Varantirs Tarnschirm ausgerichtet ist?

Erleichtert atme ich aus, als der Traitank über uns hinweggleitet und im endlosen Nebel verschwindet wie ein geisterhafter Schatten.

Stattdessen erkenne ich in der Ferne unwirklich scharf eine Vielzahl winziger Objekte im Formationszug. Sie wirken wie Hunderte mikroskopisch kleiner Krebstiere, die in Zeitlupe in einer Linie hintereinanderschwimmen. Wenn es sich dabei ebenfalls um Traitanks handelt, sind sie sehr weit weg.

Von einem Moment zum anderen legt sich ein Knäuel aus roten Linien über das gesamte Sphärenlabyrinth. Nicht draußen in der Sphäre, sondern über dem Holobild, in das wir blicken. »Kalfa hat die kartierten Pfade gefunden und visualisiert«, stelle ich fest.

Tatsächlich schieben sich die Krebse in der Ferne auffällig genau auf den roten Linien voran. Bei dem Traitank, der unsere Bahn gekreuzt hat, muss es sich um einen Ausreißer gehandelt haben. Vielleicht ein Schiff, das es aus einem anderen Universum ins Sphärenlabyrinth verschlagen hat und sich erst mal bis zu den sicheren Pfaden vorarbeiten muss.

Ich trete mit Matabiau ins Holo, werde umkreist von Hunderten roter Linien. Einige entstehen erst in diesem Moment. Ich deute auf einen der größeren Punkte, die Schleusen aus dem Labyrinth hinaus und in andere Universen hinein markieren. »Dahin wollen wir!«

Matabiau zieht die Augenbrauen zusammen. »Warum nicht diese hier?« Er zeigt auf eine andere Stelle. »Da scheinen wesentlich weniger TRAITOR-Einheiten unterwegs zu sein. Das Risiko für eine erste Erkundung wäre dort geringer.«

Matabiau ist ein schlauer Fuchs, wie die Terraner sagen. Er selbst könnte mit dieser Bezeichnung nichts anfangen, denn er ist auf einem Raumschiff geboren worden – der SOL. Doch ich muss ihm widersprechen. »Das spielt keine Rolle. Varantirs Tarnaggregate schützen uns so oder so. Und wir wollen doch was zu erzählen haben, wenn wir wieder nach Hause kommen, oder? Ich wähle die Schleuse, die näher an unserem aktuellen Kurs liegt. Ich will so schnell wie möglich aus diesem Labyrinth raus.«

Abermals zieht Matabiau die Brauen zusammen. Zweifellos hat er erkannt, dass zahlreiche andere Schleusen noch näher an unserem Kurs liegen. Er ist misstrauisch. Aber er will sich der Entscheidung des Kommandanten nicht widersetzen.

Ein Satz geht mir durch den Kopf, den ich vor langer Zeit gehört habe. Die letzten Worte eines Begleiters, der bereit war, sein Leben zu geben. Vergiss nicht Aroff und Zerbone!