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Ludwig van Beethoven ist neunzehn, ein vielversprechender Geiger, Bratscher, Klavierspieler und Organist in der Hofkapelle des Kurfürsten in Bonn, da bricht in Paris der Sturm los. Die Französische Revolution prägt die Menschen des 19. Jahrhunderts wie die Oktoberrevolution von 1917 die des 20. Jahrhunderts. »Öffentlichkeit«, »Gesellschaft«, »Nation«, das gibt es erst ab 1789. Und »Sonate«, »Sinfonie«, »Scherzo« in der Form, wie wir sie heute kennen, gibt es erst seit Beethoven. Er war ein revolutionärer Komponist in einer vom Epochenwechsel erschütterten Zeit.

Ludwig van Beethoven. Stich nach einer Zeichnung von Louis Letronne, 1815

Der kleine Beethoven saß am Klavier, fast ehe er laufen konnte. Nur ganz am Anfang am Cembalo, dem Tasteninstrument des Barock; danach an einem der vielen, dem Cembalo klangnahen Clavichords, Tangentenflügel, Hammerklaviere. Ihre Saiten wurden von hölzernen Hämmern angeschlagen und nicht mehr mechanisch gezupft. In der rasanten Entwicklung des Klavierbaus war für Beethoven der zweite Großumbruch seiner Zeit greifbar: die industrielle Revolution.

Als er im Dezember 1770 zur Welt kam, lag Bach zwanzig Jahre unter der Erde. In Rom, ein halbes Jahr danach, nahm der pubertierende Mozart vom Papst den Orden eines »Ritter vom

Beethoven komponierte nicht mehr wie Bach über tausend Werke, das war mit den arbeitsaufwändigeren Kompositionen seiner Zeit nicht mehr möglich. Er galt nicht als Wunderkind wie Mozart. Anders als Goethe passte er in keine Hierarchie. Er wurde nicht 82 Jahre alt wie Goya (der mit ihm die Erfahrung der Gehörlosigkeit teilte) und war nicht wie der schottische Erfinder Watt glücklich mit seiner Jugendliebe verheiratet. Er blieb am Ende allein und sehnte sich nach einer Gefährtin. Nur gehörte er wie seine großen Zeitgenossen zur Minderheit schöpferischer Wesen, die – »Produkt und Werkzeug ihrer Zeit« (Thomas Mann) – weltgeschichtliche Veränderungen mit Werken begleiteten, die noch heute immer neue Menschen erreichen und bewegen.

Ich muss so ungefähr zehn gewesen sein, da nahm mich mein Vater zum ersten Mal mit ins Konzert. Man spielte Beethovens Siebte. Die Violinkonzerte von Bruch und Mendelssohn hörten wir bei uns zu Haus vielleicht nur deshalb auch noch, weil sie auf die Rückseiten der Platten mit Beethoven- und Mozart-Konzerten gepresst waren. Ich war längst an der Uni, als ich zum ersten Mal die »Eroica« und die Fünfte hörte. Die heiteren Naturszenen der »Pastorale«, besonders die Rufe des Kuckuck, bereiteten mir Vergnügen. Schließlich kamen »Mondscheinsonate« und »Pathétique« hinzu. Mein Beethoven-Set bestand ausnahmslos aus Werken der frühen Wiener Jahre Beethovens, viele nennen sie ihrer in der Tendenz monumentalen Dynamik wegen die »heroische« Periode. Klassische

Kein Sonntagskind am Rhein

Beethoven lebt nicht mehr in Bonn, er ist seit fast zehn Jahren in Wien und längst berühmt, da lässt er sich aus seiner Heimatstadt ein nicht sehr großes, im Lauf der Zeit immer dunkler gewordenes Ölgemälde kommen. Es hängt von da bis an sein Lebensende an der Wand aller seiner Arbeitszimmer: der Großvater Louis van Beethoven. Der trägt denselben Vornamen wie sein Enkel, ist nach dessen Geburt der Taufpate und hat einen der zentralen Plätze in Ludwigs Seele.

Geboren in einer flämischen Bauern- und Handwerkerfamilie, hat er sich zum Solobassisten und Chorleiter in Löwen und Lüttich hochgearbeitet. Er ist einundzwanzig, da wird der Kölner Kurfürst und Erzbischof Clemens August auf ihn aufmerksam. Dessen Hof – die Bürger Kölns sind ihm allzu selbstbewusst – residiert in Bonn. Louis van Beethoven tritt als Solist in die kurfürstliche Kapelle ein. Er heiratet Maria Josepha Ball, lebt mit ihr in der Rheingasse 934.

Von den drei Kindern, die dem Paar geboren werden, überlebt das Kindesalter nur eines, Johann, der spätere Vater

Wie in der Musik wiederholen sich die Motive, unverändert oder in abgewandelter Form, auch in Familienromanen. So taucht die Trunksucht der Großmutter Beethovens in der nächsten Generation wieder auf. Ihr Sohn Johann wird den Erwartungen seines in Bonn so erfolgreichen Vaters nicht gerecht, auch er entwickelt im Lauf seines Lebens eine immer stärker werdende Neigung zum Alkohol. Er bringt es immerhin zum Tenoristen der Bonner Hofkapelle, ist in seinen besseren Zeiten ein angesehener Musiklehrer und versucht erfolglos, dem übergroßen Schatten des Vaters durch die eigenmächtige Heirat mit Maria Magdalena, der Tochter des kurfürstlich-trierschen Oberhofkochs Keverich aus Ehrenbreitstein, zu entkommen. Beethovens Großvater und Vater, ein weiteres Lebensmotiv dieser Familie, sind in ihren Ehen unglücklich. Beethoven selbst wird die Partnerwahl gänzlich misslingen. Auch er wird in abgewandelter Form einen Hang zum alleinigen Erziehen eines männlichen Familienmitglieds

Großvater Louis stirbt Weihnachten 1773. Sein ihn lebenslang verehrender Enkel kennt den Alten eher aus Erzählungen der Nachwelt. Irgendwann vor Ludwigs sechstem Geburtstag ziehen seine Eltern mit ihm und den beiden inzwischen zur Welt gekommenen Brüdern aus der Bonngasse, mit einer kurzen Zwischenstation im Dreieck 7, ins selbe Haus in der Rheingasse, in dem schon der Großvater wohnte. In den Räumen unter ihnen leben seit langem die Vermieter, der Bäcker Theodor Fischer und seine Familie. Bäckersohn Gottfried Fischer und seine Schwester Cäcilia haben sechzig Jahre später aus der Erinnerung viel zu erzählen, als die musikliebende Welt in den 1830er Jahren nach Bonn strömt, um über die frisch verstorbene Bonner Weltberühmtheit Ludwig van Beethoven alles zu erfahren. »Er lag eines Morgens im Fenster seines Schlafzimmers nach dem Hof zu«, heißt es da etwa über die Wesensart

Der Vater erteilt ihm früh schon Unterricht am Klavier, auf Geige und Bratsche. Das erscheint umso dringlicher, als der Kleine beim Lehrer Huppert in der Elementarschule und später in der Münsterschule nur das Notwendigste lernt, am besten wohl noch Lesen. Das Schreiben fällt ihm zeitlebens schwer; »ich schreibe lieber 10 000 Noten als einen Buchstaben«, heißt es in einem seiner Briefe. Und im Rechnen scheitert er, der später in vielen Meisterwerken eine Unzahl verschiedener Stimmen nach hochkomplizierten Regeln ganz neuartig koordiniert, an der einfachsten Multiplikation. Cäcilia Fischer will den Kleinen auf einem Bänkchen am Klavier stehen gesehen haben, Tränen in den Augen. War der Vater ungeduldig, war er streng oder gar gewalttätig? Immerhin erkannte er, dass die Begabung seines Sohnes bedeutender war, als die eigenen pädagogischen Fähigkeiten. Er zog Musikerkollegen wie den Hofsänger Tobias Pfeiffer hinzu. »Oft, wenn Pfeiffer mit Vater Beethoven spät aus dem Weinhause kam«, heißt es, »wurde der Knabe aus dem Bett geholt und bis zum Morgen am Clavier festgehalten, ein Verfahren, welches für seine Fortschritte in der Schule nicht eben vorteilhaft war.« Wirkliche Fortschritte macht der kleine Ludwig, als der Organist, Komponist und Dirigent Christian Gottlob Neefe ins Bonner Hoforchester eintritt und sein Lehrer wird. Neefe, 1748 in Chemnitz geboren, hat als Musikstudent die »Leipziger Schule« durchlaufen;

Ludwig van Beethoven […] ein Knabe von elf Jahren und von vielversprechendem Talent. Er spielt sehr fertig und mit Kraft das Klavier, liest gut vom Blatt, und um alles in einem zu sagen: Er spielt größtenteils das wohltemperierte Klavier von Bach, welches ihm Herr Neefe unter die Hände gegeben. Wer diese Sammlung von Präludien und Fugen durch alle Töne kennt (welche man fast das Nonplusultra nennen könnte), wird wissen, was das bedeutet. Herr Neefe hat ihm auch, sofern es seine übrigen Geschäfte erlaubten, einige Anleitung zum Generalbass gegeben. Jetzt übt er ihn in der Composition. […] Dieses junge Genie verdiente Unterstützung, dass er reisen könnte. Er würde gewiss ein zweiter Wolfgang Amadeus Mozart werden, wenn er so fortschritte, wie er angefangen.

Seltsam die Altersangabe. Die Notiz erscheint im März 1783, da ist Beethoven dreizehn und nicht elf. Er hat sich, bis heute rätselhaft, noch spät im Leben und sogar gegen den Nachweis des ihm vorgelegten Taufschein-Originals zwei Jahre jünger

Er ist sechzehn, da schickt man ihn, vielleicht Neefes Anregung folgend, zur Ausbildung bei Mozart nach Wien. Ob er dem in seiner Wohnung in der Großen Schulerstraße hinterm Stephansdom gerade den Don Giovanni vorbereitenden Maestro tatsächlich begegnet, ist unklar. Seinen Wienbesuch muss er schon nach zwei Wochen abbrechen, die Mutter in Bonn liegt mit Schwindsucht im Sterben. Ihr Tod wirft den offenbar ohnehin nicht sehr willensstarken Vater, der nun auch noch sein Instrument, die Stimme, zu verlieren beginnt, mehr und mehr aus der Bahn. Der Sohn, keine achtzehn Jahre alt, übernimmt als Oberhaupt und Ernährer die Verantwortung für die mutterlose Familie. Der Kurfürst, das ist seit 1784 der Habsburger Maximilian Franz, entspricht schließlich Ludwigs Bitte, seinem Vater nur noch die Hälfte des Gehalts auszuzahlen, die andere Hälfte dem künftig für seine beiden Brüder Kaspar Karl und Nikolaus Johann und den Vater verantwortlichen Sohn.

Die kleine Residenzstadt Bonn hat zu Beethovens Zeit etwa 9600 Einwohner. Sie ist einer der unzähligen kleinen Landesflicken im großen Teppich dessen, was seit dem Spätmittelalter »Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation« heißt. Beethoven hat als Kind und Heranwachsender die Agonie der letzten Tage dieses Gebildes miterlebt.

Er wird in die Endzeit dessen hineingeboren, was wir »Barock« nennen. Die drei »Kurfürstensonaten« des Dreizehnjährigen sind angeregt von der Klaviermusik des in London lebenden Bachsohns Johann Christian, von der Mannheimer Schule und Wolfgang Mozart, sie lösen sich alle auf je eigene Art in dieser Zeit aus dem vorherrschenden Regelwerk. Beethoven widmet die Sonaten dem Kurfürsten Maximilian Friedrich (17081784), einem Barockherrscher, der sich den in Europa immer stärker verbreitenden Gedanken der Aufklärung öffnet. Er richtet in Bonn eine »Armenkommission« ein, sorgt für ein »Medizinalkollegium«, ein botanischer Garten wird eröffnet, die Schlossbibliothek bekommt ein öffentliches Lesezimmer, das Hoftheater steht den Gebildeten für einige Zeit kostenlos offen. Finanziell ermöglicht werden diese Maßnahmen nicht zuletzt durch die mit Auflösung des Jesuitenordens 1773177717861790