Die Chronik der

Daemonenfuersten

 

Teil 4

 

Mit himmlischem Beistand in die
Hoelle

 

Urban Dark Fantasy Roman von

Monika Grasl

 

Alle Rechte vorbehalten.

Das Buchcover darf zur Darstellung des Buches unter

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Die Namen und Handlungen sind frei erfunden.

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sind zufällig.

 

www.verlag-der-schatten.de

Erste Auflage 2020

© Monika Grasl

© Coverbild: Depositphotos rolffimages, Patryk_Kosmider, asbjhb

Covergestaltung: Verlag der Schatten

© Engelsflügel: Fotolia Sushi, © Schwerter: Fotolia Elnur

© Symbol Amymon, © Karte: VdS

© Fotos: Depositphotos zentilia (Karte), chenws (Vatnajökull), sunfreeze (Hafen Dublin), Romas_ph (Brücke Trier), nicvw (Ruine), STYLEPICS (Luxor), lighthouse (Brennende Dämonin),

© Monika Grasl (S. 305)

Lektorat: Verlag der Schatten

© Verlag der Schatten, D-74594 Kressberg-Mariäkappel

printed in Germany

ISBN: 978-3-946381-78-5


Sechzig Jahre sind seit Nehemiaels Geburt vergangen. Das sechzigste Konzil zwischen den Dämonenfürsten und den Engeln tagt, und Nehemiael muss sich gegen die Anschuldigung wehren, in seiner Krokodilgestalt zwei Abgesandte getötet zu haben: einen Engel und einen Dämon.

Um von den Vorwürfen freigesprochen zu werden, muss er mit Verbündeten, bestehend aus einem Dämonenfürsten, einem einfachen Dämon, einem Engel und einem Menschen, die seine Unschuld beteuern, vor Luzifers Thron treten.

Wird es ihm gelingen? Und wird man herausfinden,

wer wirklich hinter diesen Morden steckt?

Mit Vincent an seiner Seite reist er nach Island zu Großherzog Astaroth, von dem der Engel des Todes sich Hilfe erhofft. Doch dieser Trip in die Hölle soll den mittlerweile blinden Cherub emotional an seine Grenzen bringen.

Und schuld daran ist ein uraltes Gesetz.

 

 

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Inhalt

 

Prolog

Seere

Vincent

Nehemiael

Seere

Nehemiael

Astarte/Astaroth

Merfyn

Vincent

Bojan

Seere

Nehemiael

Ariel

Astaroth

Ariel

Vincent

Seere

Bojan

Ariel

Nehemiael

Gabriel

Merfyn

Nehemiael

Merfyn

Bojan

Gabriel

Vincent

Nehemiael

Seere

Gabriel

Epilog

Autorenvorstellung

Vorschau

 

 

 

 

 

 

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Wir waren nicht immer die Bösen und auch nicht immer die Guten. Wir sind, was wir sind. Nicht anders als die Menschen. Mit Fehlern und Gefühlen.

 

Aus dem ersten Konzil zwischen dem Himmel und der Hölle unter dem Vorsitz des Großfürsten Amymon.

 

 

 

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Prolog

 

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Nebel zog durch die Gassen Londons. Hastige Schritte waren hinter ihnen zu hören. Die beiden Gestalten drehten sich alle paar Sekunden um.

Wie hektisch ihre Herzschläge wohl gerade gehen? Sind sie weit über dem Normalen? … Vermutlich.

Der Kleinere hielt inne und drehte sich um. Er schien entschlossen, seinem Verfolger Auge in Auge gegenüberzutreten. Selbst der andere blieb schließlich stehen.

Wer waren sie, dass sie Furcht vor dem Unbekannten verspürten? Beide stellten das Fremdartige in seiner reinsten Form dar. Warum sollten sie fortlaufen?

Ein Scharren war zu hören. Der Größere zog einen Dolch, der im Mondlicht matt glänzte. Tief durchatmend wartete er, harrte auf den Moment, wenn der Feind sich zeigte.

»Wir sollten weiter«, kam es jäh von dem Kleineren.

»Angst? Du bist doch eben stehen geblieben.«

»Mir kommt das jetzt sehr dumm vor.«

»Mir nicht«, erwiderte der Größere.

Das Geräusch schwerer Schritte näherte sich. Die Fackeln an den Häuserwänden spendeten kaum Licht. Aber das war auch nicht nötig. Sie sahen beide genug. Die Augen der Gestalten leuchteten auf, als sich eine Silhouette an einer Hauswand abzeichnete. Sie kam näher und gewann dabei an Schnelligkeit. Ein erneutes Scharren war zu hören – ähnlich Klauen, die über den nassen Boden kratzten.

Der Laut hätte jeden vernünftigen Menschen dazu getrieben, die Flucht zu ergreifen. Aber sie waren keine Menschen.

Ein Schnappen mischte sich zu dem Kratzen. Allmählich konnte man die Umrisse erkennen. Der Kleinere der Abgesandten wich entsetzt zurück, während der Größere an seinem Platz blieb. Die Finger umschlossen den Dolch fester. Das Gesicht zeigte Entschlossenheit, als sich die Hand zum Wurf hob. Doch so weit kam es nicht mehr. Der Bote wurde von den Beinen gerissen. Ein Schrei entwich dem Wesen, als es auf dem Rücken landete.

Ein Schmatzen ertönte. Dazu mischte sich ein Gurgeln. Es war der Moment, in dem der Kleinere begann zu laufen. Drei Quergassen. Weiter müsste er nicht kommen. Dann wäre er in Sicherheit.

Das Wesen rannte so schnell, dass seine Lunge brannte. Es dachte gar nicht daran, sich in die Luft zu schwingen. Dazu reichte sein Verstand nicht mehr aus. Es durchspülte nur mehr Panik. Furcht vor dem unausweichlichen Ende. Und es ahnte, dass es keine Gelegenheit haben würde, sein Leben zu retten. Diese Überzeugung durchflutete den Engel, als ein stechender Schmerz durch seinen Rücken zog. Er stürzte zu Boden. Der Versuch, sich aus seiner Position hochzustemmen, misslang. Etwas sprang ihn von hinten an. Er konnte nur einen Umriss im Flackern des Lichtes erkennen. Ein Schrei entkam ihm, als sein Ohr abgebissen wurde. Der Bote brüllte sein Leid in die Nacht hinaus. Aber hier war niemand, der ihm helfen würde. Oder doch? Er hörte Rufe. Weit entfernt waren sie. Das Trampeln von Stiefeln kam näher. Ein Biss in den Nacken folgte. Er müsste tot sein, aber er war es keineswegs. Noch nicht. Sein Herr hatte noch eine Bestimmung für ihn.

»Wer war das?«, hörte er eine tiefe Stimme fragen, während er umgedreht wurde.

Ihm wurde auf die Wange geschlagen. Seine Augenlider flatterten heftig, als er den Mund öffnete. Ein Schwall Blut kam hervor. Erst dann fand er die Möglichkeit zu einer Antwort. Und die bestand bloß aus einem Wort: »Krokodil.«

 

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Seere

 

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Ungläubig lauschte er den ungeheuerlichen Anschuldigungen. Handelte es sich hierbei etwa um einen kranken Scherz? Es konnte nicht anders sein. Zumal Nehemiael ebenfalls aussah, als habe man ihm einen Faustschlag in den Magen verpasst. Der Einzige, der dastand, als ob ihm das alles gleichgültig sei, war Vincent. Dessen Kopf war es ja nicht, der hier auf dem ominösen Silbertablett ruhte.

»Prinz Seere, was sagt Ihr zu diesen Anschuldigungen?«

Was? Amymon wollte ganz bestimmt nicht wissen, wie er sich dazu äußerte. Abgesehen davon wäre er für den Großfürsten hinterher kein ernst zu nehmender Untergebener mehr. Somit starrte er Amymon weiter nur verwirrt an, während in seinem Inneren ein Gedanke Gestalt annahm: Das hier ist ein Witz. Es muss sich um einen handeln. Warum sonst sollte man Nehemiael des Mordes beschuldigen?

»Ich …« Er brach ab. Was sollte er dazu sagen? Seine Augen huschten zu den beiden Tüchern. Darunter lagen die Leichen. Bisher hatte er sie nicht gesehen.

Warum eigentlich? Weil er sich dann eingestehen müsste, dass Perla an allen Ecken und Enden fehlte? Dass er bei der Erziehung seines Sohnes etwas grundlegend falsch gemacht hatte? So weit, das zuzugeben, wäre er vermutlich nie.

Seere war immer davon ausgegangen, Vincent würde ihm irgendwann Schwierigkeiten bereiten. Hiervon war jedenfalls auch Azrael vor sechzig Jahren überzeugt gewesen.

»Prinz Seere … Wir warten«, kam es ungeduldig von Amymon.

Worauf? Dass er seinen Sohn diesen Aasgeiern übergab, die sich Amymons Anhänger schimpften? Darauf konnte er getrost verzichten. Also, was sollte er jetzt machen?

Sein Blick hing noch immer an den Leichentüchern. »Ich will sie sehen«, sagte er schließlich.

»Wozu? Wollt Ihr Euch selbst davon überzeugen, dass Euer Balg sich nicht beherrschen kann? Das haben wir bereits deutlich erkannt, Prinz. Es wurde sogar von den Heilern bestätigt. Die Wunden können kaum von etwas anderem stammen.«

Kein Geringerer als Gaap hatte sich gerade zu Wort gemeldet. Der Großfürst war Amymons Stellvertreter. Was er sagte, zählte ähnlich viel wie die Worte des Großfürsten. Die riesenhafte geflügelte Gestalt überragte die Anwesenden. Ihr Blick war feindselig und sagte deutlich, was sie von Seeres Worten hielt: Nichts.

»Es ist mein gutes Recht, zu sehen, was ihm hier vorgeworfen wird. Das wis…«

»Vorgeworfen, Prinz Seere?« Gaap schnitt ihm das Wort ab. »Wir sind über Anschuldigungen längst hinaus. Es geht hier nur mehr um das Strafmaß. Also maßt Euch nicht an …«

»Genug!«, fuhr Amymon dazwischen. Seine Augen richteten sich kurz auf Nehemiael. »Es mag Euch vermessen vorkommen, Gaap, aber der Prinz hat keinesfalls unrecht. Zeigt es ihm.«

»Mein Herr, Ihr solltet bedenken …«

»Sofort, Gaap!«

Aus dem Augenwinkel bemerkte Seere, wie Vincent unter der Lautstärke zusammenfuhr. Was der Engel des Todes wohl in solchen Momenten von den Dämonenfürsten hielt? Ob er sie alle verabscheute? Wenn dem so wäre, würde er ihm keinen Vorwurf machen. Es gab Sekunden, in denen es ihm nicht anders erging.

Seine Aufmerksamkeit richtete sich zurück auf die Toten. Die Leichentücher wurden auf einen Wink von Gaap hin entfernt.

Seere sog scharf die Luft ein. Er war zwar auf genügend Schlachtfeldern gewesen, um den Anblick einer oder mehrerer Leichen zu ertragen, auf seinen Sohn traf das aber nicht zu. Der schlug sich entsetzt die Hand vor den Mund und wandte sich ab.

Das genügte Seere als Antwort. Nehemiael war es nicht gewesen.

»Wie sieht’s aus?«, rief Vincent quer durch den Thronsaal.

Seere biss sich auf die Lippen. Aus zwei Gründen. Zum einen war die Frage des Engels derart unangebracht, dass Gaap den Eindruck machte, als wolle er Vincent gleich umbringen. Zum anderen konnte Seere es nur schwer leugnen: Die Wunden passten zu dem, was die Leute aus dem Bezirk Soho berichteten. Besser gesagt, was der Bote mit seinem letzten Atemzug über die Lippen brachte: Krokodil. Und in ganz London gab es davon nur eins.

Seere konnte nicht verhindern, dass seine Augen zu Nehemiael huschten. Das blaue und das grüne Auge sahen ihm hilflos entgegen. Immer darauf bedacht, nicht die Leichen zu betrachten. Wie viel Ähnlichkeit sein Sohn doch mit Perla hatte. Stur und doch verletzlich. Und keiner von beiden konnte sich das je eingestehen.

»Ist es so beschissen, dass keiner von euch den Mund aufbringt?«, erschallte Vincents Stimme erneut.

»Mein Großfürst, ich verstehe nicht, warum er hier ist. Er gehört weder zu Euren Untergebenen, noch hat er etwas hiermit zu schaffen. Wir waren uns doch einig …«

»Beschreibt es ihm, Prinz.«

Amymon war dazu übergegangen, seinen Stellvertreter zu ignorieren. Das war bedenklich. Wenn auf Gaaps Worte keine angemessene Reaktion von ihm folgte, lag etwas im Argen. Hielt Amymon nicht allzu viel von den Anschuldigungen? Das würde jedoch die Frage aufdrängen, warum Gaap den Umstand nicht bedacht hatte? War er so von der Vorstellung, Nehemiael könnte ein Mörder sein, überzeugt, dass sein Hirn keine andere Möglichkeit zuließ?

Wenn Seere ehrlich zu sich war, erging es ihm nicht besser. Würde er seinen Sohn nicht kennen, wäre ihm eine solche Tat durchaus zuzutrauen. Er war unterrichtet im Kampf. Von ihm, von Vincent und sogar von Amymon persönlich. Er besaß das nötige Rüstzeug, um zu töten. Aber so?

»Es … Einem der Boten wurde die Kehle herausgerissen. Der andere …«

»Welchem?«, unterbrach ihn Vincent.

Verständnislos starrte er den Engel an. »Was macht das für einen Unterschied?«, fragte Seere dann.

»Keinen großen. Trotzdem, sag schon.«

»Dem Dämon. Dem Engel wurde ein Ohr abgerissen. Er hat auch Bisswunden im Nacken.«

Vincent lehnte nachdenklich an einer Säule, als er überzeugt sagte: »Er ist also geflohen. Das heißt, sie sind vorher stehen geblieben und haben sich wahrscheinlich umgesehen. Kann nur bedeuten, dass ihnen jemand gefolgt ist.«

»Wirklich?«, kam es sarkastisch von Seere.

Was sollte diese verdammte Erkenntnis bedeuten? Das Nehemiael schuldig war? Wollte Vincent das damit sagen?

Seere kam nicht dazu, seine Ansicht diesbezüglich zu äußern, da Vincent jäh anfügte: »Ich würde mir mal überlegen, warum sie es taten? Sie müssen geahnt haben, dass eine Gefahr auf sie lauert. Oder sie wollten den Verfolger selbst stellen. Das trifft auf Boten eher zu.«

»Das ist doch lächerlich«, murrte Gaap. »Wir wissen bereits, was sich zugetragen hat.«

»Ach ja? Und warum sind die Boten allein unterwegs gewesen von hier nach Soho? Hattet Ihr keine Leute übrig, Gaap?«, lästerte Vincent.

»Will man jetzt etwa mir die Schuld dafür geben? Ich bin es nicht, der sich nicht zurückhalten kann.«

»Und ich kann Euch versichern, dass es nicht mein Sohn war. Er war nicht einmal in der Nähe von Soho. Und das letzte Mal, dass er jemanden gebissen hat, ist gute fünfzig Jahre her. Abgesehen davon wäre es Eure Pflicht gewesen, den Boten jemanden zur Seite zu stellen, der sie sicher in die Herberge bringt. Das habt Ihr verabsäumt, Gaap! Also …«

»Das reicht jetzt, Prinz!«, fuhr Amymon dazwischen. »Damit macht Ihr Euch nicht gerade beliebter. Abgesehen davon löst es unser gegenwärtiges Problem nicht. Die Regenten beabsichtigen in London zusammenzutreffen. Ein für alle Mal sollen die Herrschaftsverhältnisse geklärt werden. Das wurde mit dem Tod der beiden Abgesandten zunichtegemacht. Das Konzil hatte seit sechzig Jahren bestand. Ich bin nicht gewillt, einem der Könige – und schon gar nicht Luzifer – zu erklären, warum dies nun nicht mehr so ist.«

»Ihr könnt ihn nicht für etwas verurteilen, das er nicht begangen hat«, beharrte Seere.

Er sah, wie Amymon sachte nickte. Er hatte ihn auf seiner Seite. Aber würde sein vermaledeiter Gönner diesmal auch offen sprechen? Oder endete alles wie die letzten Male. Dass er nur auf sein Gefühl vertrauen konnte? Das würde heute definitiv zu wenig sein.

»Wo hast du dich letzte Nacht aufgehalten, Nehemiael?«

»In meinem Zimmer«, erwiderte sein Sohn schnell.

Der Großfürst stieß ein Seufzen aus, als er fragte: »Darf man davon ausgehen, dass es keine Zeugen dafür gibt?«

»Nein, die gibt es nicht.«

»Und Ihr, Vincent?«

Der Engel wandte den Kopf in Gaaps Richtung. Ein Grinsen zeichnete sich auf dem Gesicht ab.

Seere ahnte bereits Schlimmes. Aber mit dem, was jetzt kam, hatte er nicht gerechnet.

»Warum? Glaubt Ihr, ich bin mit einer Krokodilklaue durch die Gegend gerannt und hab ein paar Boten aufgeschlitzt? Ja sicher doch … Dann habe ich dem einen das Ohr abgebissen und beim anderen dachte ich mir, ich schmeiß mal mit seiner Kehle durch die Gegend. Was stimmt nicht mit Euch, Gaap? Seid Ihr als Kind zu oft auf den Kopf gefallen?«

»Vincent!«, wies Seere den Cherub zurecht.

»Was? Ich lasse mir doch nicht was unterstellen, das aus der Luft gegriffen ist.«

Seere wollte bereits zu einer scharfen Erwiderung ansetzen, als Nehemiael einwarf: »Wie kann ich Euch von meiner Unschuld überzeugen, Amymon? Bitte. Ich war es nicht. Ich wäre nie zu so was fähig. Ja, ich habe früher den einen oder anderen gebissen – vorwiegend Vincent. Aber ich habe nie einem Abgesandten meine Gestalt gezeigt. Ganz zu schweigen davon, dass ich als Krokodil durch die Straßen von London laufe. Also bitte sagt mir, wie ich Euch überzeugen kann.«

»Luzifer.«

»Was?«, fragte Nehemiael verwirrt.

Seere ahnte die Erklärung bereits, und er hielt es für den größten Fehler. Andererseits blieb seinem Sohn nichts anderes übrig. Es war besser, als ihn am Galgen baumeln zu sehen. Oder schlimmer noch, wenn er verbrannt wurde. Das war die weit häufigere Strafe bei Dämonen. Und etwas anderes war Nehemiael in den Augen der Dämonenfürsten nicht: ein Dämon. Noch dazu ein Mischling, der seit seinem dreißigsten Lebensjahr äußerlich nicht mehr alterte. Seine Mutter war zwar angesehen gewesen. Auf Nehemiael traf das jedoch weniger zu. Zumal er sich mit seinem überheblichen Verhalten in den letzten Jahren keine Freunde gemacht hatte. Das erklärte auch, warum er die meiste Zeit über im Buckingham Palace unterwegs war. Hier gab es niemanden, der sich an seinem Verhalten störte. Und falls sich doch mal einer beschwerte, war es zumeist Vincent. Darin, Nehemiael in die Schranken zu weisen, war der Engel des Todes begabter als Seere. Er hatte ihm in jungen Jahren zu viel durchgehen lassen, und das war gerade dabei, sich zu rächen.

»Du musst Luzifer von deiner Unschuld überzeugen. Dafür musst du vor seinen Thron treten mit Anhängern des Himmels und der Hölle. Mit einem mächtigen Dämonenfürsten, einem Engel und einem einfachen Dämon. Ein Mensch wäre zudem gut. Sie müssen für dich bürgen. Und du musst alle von dir und deiner Unschuld überzeugen. Aber Decarabia und Chris kannst du von deiner Liste streichen. Du musst Fremde für dich gewinnen. Das bedeutet, du musst eine Reise antreten, wirst dich gegen gefährliche Gegner behaupten müssen. Aber wenn du der Sohn deines Vaters – und vor allem der deiner Mutter – bist, wird es dir gelingen.«

Seere musste bei den Worten schlucken. Eines war bei Amymons Worten deutlich geworden. Er würde seinen Sohn unmöglich begleiten können – und seine Legionen auch nicht. Wie sollte er dann sichergehen, dass Nehemiael nichts zustieß? Seine Augen huschten umher und blieben schließlich an einer bestimmten Gestalt hängen. »Darf er jemanden mitnehmen?«

»Vater, ich brauche keine Hilfe. Ich bin erwachsen. Außerdem kann ich mit Waffen umgehen, also …«

»Es wäre zu empfehlen«, unterbrach Amymon Nehemiael. »Habt Ihr als Begleitung schon irgendwen im Auge?« Dabei folgte der Großfürst Seeres Blick.

»Ich denke schon«, erwiderte der Prinz.

»Dann soll es so sein«, stimmte der Großfürst zu und nickte sachte. »Du machst dich unverzüglich auf den Weg, Nehemiael. Du wirst die Hilfe, die dein Vater dir zur Seite stellt, annehmen. Machst du es nicht, wirst du daran gehindert werden, die Stadt zu verlassen, bis du dich eines Besseren besinnst. Also streite nicht mit deinem Vater. Ich bin mir sicher, deine Mutter hätte in einer solchen Situation nicht anders reagiert. Und jetzt geh, bevor ich meine Entscheidung überdenke.«

Nehemiael machte einen verwirrten Eindruck. Erst recht als Seere ihn am Arm packte und aus dem Thronsaal zerrte. Hinter sich hörte er, wie Amymon ein lautes Räuspern ausstieß.

»Prinz, Ihr solltet noch jemanden mitnehmen.«

»Was? … Ach so. Vincent, wir gehen.«

Der Engel setzte sich nur langsam in Bewegung.

Die kommende Unterhaltung sehnte Seere nicht gerade herbei. Vor allem weil er sich die Ablehnung bereits deutlich vorstellen konnte.

 

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Vincent

 

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»Nein!«, keifte er sofort.

Was hatte er verbrochen? Waren die letzten Jahrhunderte nicht schon schlimm genug gewesen? Er hatte doch mehr als einmal den Idioten gespielt. Ihm war es nicht mal erspart geblieben, als Hund durch die Gegend rennen zu müssen. Er hatte auf Perla aufgepasst, als die vor vielen Jahren in den Untergrund eingeschleust wurde. Bei so mancher Gelegenheit wäre er beinahe umgebracht worden. Und jetzt das! Er sollte Nehemiael auf seiner Reise begleiten, die ihn noch dazu in die Hölle führen würde? Einen Ort, dem er einst einzig mit Azraels Hilfe entkommen war. Wie stellte sich Seere das vor? Er strahlte ja eine gewisse Sicherheit aus, obwohl er nichts mehr sah. Aber diese beschränkte sich auf London. Wobei er sich da auch überwiegend auf seine Nase verließ.

»Vincent, du hast doch gehört, was Amymon sagte … Ich kann nicht mit ihm kommen. Somit kann ich ihm auch keine meiner Legionen mitgeben. Aber du als fähiger und weit gereister Engel, könntest ihm …«

»Schieb dir deine Schmeicheleien sonst wohin, Seere! Hast du mal daran gedacht, dass ich was anderes vorhaben könnte? Oder dass ich auch noch ein Leben habe?«

»Welches?«, kam es ungerührt zurück.

Vincent starrte in die Richtung, aus der Seeres Stimme erklang. Er war kurz davor, den Mund aufzumachen, als er innehielt. Welches? Die Frage war nicht unbegründet. In den letzten sechzig Jahren hatte er ein regelrechtes Einsiedlerverhalten an den Tag gelegt. Abgesehen von einem Abstecher nach Island. Aber daran wollte er jetzt nicht denken.

Was hielt ihn also hier fest? Eine Frau war es nicht, und seine Arbeit hatte bisher darin bestanden, Nehemiael so weit wie möglich über die Dämonenfürsten und Engel zu unterrichten. Dazu kamen gelegentliche Schwertübungen und hier und da eine Unterweisung im Umgang mit den freien Menschen. Also warum wehrte er sich so gegen diese Reise? Die Antwort lag auf der Hand. Es würde nur einen Dämonenfürsten geben, zu dem sie gehen konnten, und den würde er bei seinem Glück nicht mehr loswerden.

»Verstehst du denn nicht?«, drängte Seere. »Irgendwer versucht Nehemiael das anzuhängen. Ich werde von hier aus nichts unversucht lassen, um herauszufinden, warum, aber vor allem, wer einen Grund dazu besitzt. Doch das kann ich nicht, wenn ich mir gleichzeitig überlegen muss, ob er noch am Leben ist. Also bitte, Vincent, geh mit ihm.«

»Ich frag mich gerade, warum mich das noch immer so verblüfft, wenn du mal bitte sagst.«

Ein trauriges Lachen war zu hören, ehe Seere erwiderte: »Das ist wohl kaum die Zeit für deine dummen Witze.«

»Ich wüsste nicht, wann dafür eine bessere wäre. Und wie soll das überhaupt gehen? Nehemiael wird nicht begeistert sein, dass ich mitkomme, und ich habe ehrlich gesagt auch keine Lust darauf.«

»Vincent, du weißt, ich würde dich nicht darum bitten, wenn es nicht wichtig wäre. Und wenn du es schon nicht für mich machst, dann denk mal an Perla. Sie hätte …«

Vincent hörte dem Prinzen schon nicht mehr zu. Die Heilerin! Seere brachte immer den Namen seiner Frau zutage, wenn er versuchte ihn von etwas zu überzeugen. Es half zumeist. Perla hatte er nie einen Wunsch abschlagen können. Ganz gleich wie banal der auch gewesen sein mochte. Doch jetzt? Es erschien Vincent falsch, sie da hineinzuziehen. Immerhin lebte sie seit zehn Jahren nicht mehr. Sie hatte ein hohes Alter erreicht für jemanden, der sich regelmäßig mit Amymon und Gaap in den Haaren lag. Irgendwann hatte ihr Herz sich dazu entschieden, nicht mehr zu schlagen.

Ihm kam erneut in den Sinn, dass Seere es abgelehnt hatte, sie länger am Leben zu erhalten. Decarabia hätte die Verhandlungen diesbezüglich gern geführt. Der Marquis und Regent von Wien war in der Hinsicht geübt. Schließlich war Chris’ Zeit auch längst abgelaufen, trotzdem lief der noch auf der Erde herum. Mit ein paar Falten und Narben mehr, aber Azrael hatte sich breitschlagen lassen. Bei der Begegnung wäre er gern dabei gewesen.

»Vincent?«

Er fuhr zusammen, als sich eine Hand auf seine Schulter legte. Ein Seufzen kam über seine Lippen. Er verdankte Seere einiges. Sein Leben, seine Rückkehr in seinen alten Körper … Und nun forderte der Prinz eben etwas ein. War es also so schwer, nachzugeben und zu nicken? Für Vincent allemal. Schließlich würde sein Weg ihn wahrscheinlich nach Island führen und nach Ägypten. Amymon hatte von einem mächtigen fremden Dämonenfürsten gesprochen, also konnten sie auch zu Bael nicht gehen. Dann fehlten noch ein Engel, ein Dämon und vielleicht ein Mensch.

»Na gut«, gab er letztlich nach. »Aber du wirst ihm das erklären. Ich höre mir das Gejammer nicht an.«

»Gut. Pack schon mal deine Sachen zusammen. Ich klär das inzwischen.«

Vincent war in dem Moment froh, blind zu sein. Seere mochte glücklich klingen, aber dass er es wirklich war, bezweifelte er. Seinem Sohn wurden zwei Morde vorgeworfen. Die Tötung zweier Boten. Und das zu einem Zeitpunkt, der ungünstiger nicht hätte sein können.

Er durchquerte den Wohnbereich und tastete sich zu der Tür seines Schlafzimmers vor. Ein Gutes hatte Perlas Tod mit sich gebracht: Seine Möbel wurden nicht mehr alle paar Monate umgeräumt, um sauber zu machen. Der Staub störte ihn sowieso nicht, und er vermied es somit auch, sich in seinen eigenen Räumen zum Idioten zu machen, weil er überall dagegenrannte.

Das erste Konzil!, erinnerte er sich wieder. An den Tag würde er ewig denken müssen. Damals, als Gabriel und Amymon aufeinandergetroffen waren. Es lag sechzig Jahre zurück. Genau Nehemiaels Alter. Aber darum ging es Vincent gerade nicht. Er musste an die Begegnung der beiden Wesen denken. Amymon, der mit seinen Legionen und seinen Untergebenen aufgetaucht war. Der Großfürst hatte sogar Perla und ihn mitgenommen. Nehemiael hatte in den Armen seines Vaters gelegen. Das Bild bekam Vincent einfach nicht aus dem Kopf. Eine Familie … Genau so hatte es ausgesehen.

Leider war während der ersten Worte bereits klar geworden, dass jede der beiden Seiten der anderen die Schuld an der derzeitigen Lage geben wollte. Es war genauso wie vor dem Ende des Krieges gewesen. Eine kalte Stimmung, die sich erst gelockert hatte, als man beschloss, nur mehr über Boten zu verhandeln.

Jedes Jahr trafen diese nun aufeinander. Einmal war einer der Abgesandten Merfyn gewesen. Doch davon hatte Luzifer schnell Abstand genommen. Hing vermutlich mit dem Saufgelage zusammen, das der Dämonenbote nach den Verhandlungen veranstaltete, wie er gehört hatte. Man wolle doch professionell auftreten … So zumindest Luzifers Erklärung.

»Nein! Warum?«

Vincent fuhr zusammen, als er die Stimme hörte. Es war schon erstaunlich, wie ähnlich man in so einer Situation reagierte. Nehemiael war also auch nicht begeistert. Wer konnte es ihm verübeln? Niemand reiste gern mit seinem blinden Lehrer durch die Gegend. Aber Seere hatte keinesfalls unrecht. Irgendwer wollte seinem Sohn etwas anhängen. Und wenn das nicht funktionierte, war es sehr wahrscheinlich, dass man zumindest versuchte, ihn aus dem Weg zu räumen.

Ob Seere genauso vernünftig bei Nehemiael argumentierte? Wenn ja, stand er damit auf verlorenem Posten. Der Dämon war dafür nicht empfänglich. Das hatte er von seinem Vater! Wohlgemerkt das Einzige. Ansonsten hatte Nehemiael nur Ähnlichkeit mit seiner Mutter. Die Augen, das kupferrote Haar … die Launenhaftigkeit, das sture Verhalten …

Die Tür zu seinem Zimmer flog jäh auf. Vincent hatte damit ja gerechnet, dennoch fiel ihm jetzt der gepackte Beutel aus der Hand.

Er hätte abschließen sollen, dann würde nun nicht ein keuchendes Krokodilbalg in seinem Schlafzimmer stehen.

»Warum hast du zugestimmt?«

»Privatsphäre hat man hier auch keine mehr, was? Anklopfen ist wohl zu viel verlangt? Bilde dir nur nicht ein, dass du das während der Reise auch machen kannst. Sonst fliegst du hochkantig raus und zwar mit dem Kopf voran durch die geschlossene Tür.«

»Du hättest nein sagen können!«

Nehemiael hatte ihm gar nicht zugehört. Dabei passte das alles ihm selbst ebenso wenig. Aber er würde sich nicht länger dieses Gemaule anhören. Deshalb packte er Nehemiael bei der nächsten Runde, die der verärgert und fluchend um ihn herumlief, und holte aus.

Stille. Mehr folgte nicht. Abgesehen von Stiefelgeräuschen und einem scharfen Einatmen.

Seere war also auch schon da. Wie nett … Sein Schlafzimmer war wohl niemandem heilig. Wozu auch? Er war ja nur ein Engel des Todes, der allein hier lebte. Wenn er eine Frau gehabt hätte, wäre die sowieso längst auf und davon. Kein Wunder bei dem Betrieb, der hier herrschte. Dabei standen nicht mal Frauen bei ihm Schlange. Nein. Es waren zwei Dämonen und nicht mal weibliche.

»Eines wollen wir klarstellen. Ich bin nicht dazu da, dass du deine Launen bei mir ablädst. Außerdem erweise ich deiner toten Mutter damit einen verdammten Gefallen. Also halt die Klappe und geh packen, verstanden?«, zischte Vincent.

Nehemiael rührte sich nicht. Lediglich sein Atem war deutlich zu hören. Roch er da Angstschweiß? Vincent hatte Mühe ein Grinsen zu unterdrücken. Er ließ sein Gegenüber los, stieß es sogar ein Stück von sich, um seine Worte zu untermauern. Er machte das hier auch nicht freiwillig. Aber er fand sich damit ab. Gleiches galt es nun für Nehemiael, zu tun.

Das Rascheln von Kleidung drang an seine Ohren. Stiefelschritte verrieten ihm, dass der Mischling den Raum verließ.

In der Sekunde fiel die Anspannung von ihm ab. Ein Lächeln stahl sich auf seine Lippen. Zugleich bückte er sich nach dem Beutel. Wen er jedoch vergessen hatte, war Seere.

Der Prinz stieß ihn unverhofft gegen die nächste Wand. Eine Hand legte sich um seine Kehle und drückte zu. Wut! Das konnte er ganz deutlich empfinden. In den letzten Jahren hatte er gelernt, sich nur auf seinen Geruchssinn und sein Gefühl zu verlassen. Und im Moment war Feuer am Dach.

»Du wirst das nicht noch mal machen«, wisperte der Prinz. »Er ist mein Sohn. Wenn ihn jemand zurechtweist, dann bin ich das. War das deutlich?«

»Von mir … aus«, gab er gepresst zurück.

Der Druck blieb noch für einige Sekunden, ehe er freigegeben wurde.

Tief durchatmend richtete Vincent seine Kleidung. Es war besser, nun den Mund zu halten. Aber er konnte einfach nicht anders und murmelte: »Du hättest dich mal vor Jahrzehnten um seine Erziehung kümmern sollen.«

Den Faustschlag hatte er vorausgeahnt und wandte sich gerade noch rechtzeitig ab. Zeitgleich ertönte ein unterdrückter Schmerzenslaut. Seeres Faust hatte Bekanntschaft mit der Wand geschlossen. Irgendwie erheiternd, doch Vincent war nicht danach, zu lachen. Es war ein betrüblicher Zustand, in dem sie sich da befanden.

Er hörte, wie Seere an der Wand hinabglitt. Selbst das unterdrückte Schluchzen war nicht auszublenden.

Warum kam er immer in solche Lagen? Er war nicht gut, wenn es um das Thema Gefühle ging – schon gar nicht bei dem Prinzen. Allerdings war es gleich, um wen es sich handelte. Er hatte diesbezüglich kein gutes Händchen. Bewies schon die Sache mit Evy. Abgesehen von dem, was danach gekommen war, aber daran wollte er jetzt nicht denken.

»Seere, du weißt, wie ich das gemeint habe, oder?«

Er bekam keine Antwort.

Vincent stieß die Luft aus und machte sich daran, sein Bett zu suchen. Er ließ sich wenig elegant darauf fallen.

Wie viele Stunden hatte er hier verbracht? Besonders als er von einem auf den anderen Tag in absoluter Dunkelheit aufgewacht war. Noch immer konnte er sich an die Empfindung erinnern, die ihn dabei durchflutet hatte: Panik. Es schien sich dabei um einen häufigen Instinkt unter den Himmelsmächten zu handeln. Das hatte ihm zumindest Merfyn erzählt. Aber was konnte man dem Dämonenboten schon glauben?

»Ich habe versagt, nicht wahr?«, murmelte Seere und riss ihn aus seinen trüben Gedanken.

Hatte der Prinz bemerkt, dass er abwesend war? … Vermutlich. Nur einem Blinden wäre das entgangen. Welch ironischer Gedanke. Es veranlasste ihn dazu, die Lippen zu verziehen. Andererseits hatte Seere genügend eigene Schwierigkeiten. Da interessierte ihn Vincents Verhalten vermutlich wenig.

»Nein«, antwortete er schließlich.

»Doch. Perla war eine großartige Mutter, aber ich … Ich war ein …«

»Hör auf, Seere. Du weißt genau, dass ich der Letzte aus diesem verlogenen Haufen bin, der dir erzählt, was du hören willst. Das war noch nie meine Art. Ja, du bist eine überhebliche, ehrgeizige, verschlagene und beschissene Persönlichkeit. Aber …«

»Wenn du mich gerade aufmuntern wolltest, hat das nicht funktioniert«, unterbrach ihn Seere.

»Hatte ich ganz bestimmt nicht vor. Wie kommst du darauf? Was ich aber noch sagen wollte … Du warst eines nie: Du warst kein beschissener Vater. Du warst für deinen Sohn da. Während Perla gelebt hat und auch jetzt noch. Wobei wir alle dankbar dafür sind, dass ihr nicht mehr unter einem Dach wohnt. Und ich muss zugeben, hier im Buckingham Palace ist es bei Weitem angenehmer als in der Saint Pauls Cathedral.«

Er hörte ein leises Glucksen. Wenigstens konnte Seere darüber lachen. Im Moment jedenfalls.

Er verstummte nur wenige Sekunden später wieder, bevor er sagte: »Ihr müsst nach Island.«

»Ich weiß«, erwiderte Vincent kurz angebunden.

Auf die Begegnung freute er sich nicht mal im Ansatz. Das Ganze würde ihm um die Ohren fliegen wie eine Rakete. Falls man sie überhaupt zu dem Dämonenfürsten vorließ. Abgesehen davon, benötigten sie dazu ein Schiff. Und Vincent hasste diese Dinger.

»Vermutlich wird Luzifer ihn nicht als Engel und Dämonenfürsten durchgehen lassen, oder?«

»Nein«, kam es kaum hörbar von Seere.

»Schade, hätte uns einiges an Arbeit erspart.«

»Wirst du es in der Hölle schaffen?«, kam es unverhofft von dem Prinzen.

Vincent zuckte mit den Schultern. Er war nicht lange genug dort gewesen, um sich mit dem Ort vertraut zu machen. Außerdem hatte er bisher alles irgendwie überwunden.

»Ägypten wird ebenso auf euch warten«, murmelte Seere zwei Atemzüge später.

Vincent nickte nur. Das Land war auch nicht besser. Aber irgendwoher mussten sie den benötigten Dämon ja bekommen. Und keiner hatte gesagt, dass Vincent diesen nicht persönlich kennen durfte.

»Dann braucht ihr noch einen Engel und wenn möglich einen Menschen. Hast du dafür schon eine Lösung?«

»Nein«, gestand er sich ein.

»Meinst du, er kann euch dabei eine Antwort liefern?«

Vincent hob unschlüssig die Schultern. »Hoffen wir’s. Sonst ist das Ganze für den Arsch. Glaubst du, Nehemi ist fertig?«

Er hörte, wie Seere leise lachte. »So hat ihn seit Jahren keiner mehr genannt. Ich an deiner Stelle würde es lassen.«

Der Engel des Todes stand auf und griff nach dem Beutel, als er entgegnete: »Du bist aber nicht an meiner Stelle. Und überhaupt, was will er machen? Mich beißen? Dann bekommt er eine auf die Schnauze und gut ist es.«

Vincents Hand schwebte bereits über dem Türgriff, als Seere ihn packte und umarmte. »Bring ihn sicher vor Luzifers Thron. Beschütze ihn, so gut es geht. Ich bitte dich darum.«

Der Cherub fühlte sich überrumpelt. Die Worte behagten ihm nicht. Zudem berührten sie etwas tief in ihm. Dennoch nickte er nun. »Sag ihm Bescheid, dass wir kommen. Ich will keine unliebsame Überraschung erleben.«

»Ist gut. Geh jetzt. Das Schiff wird schon warten.«

Vincent löste sich aus der Umarmung. Es fühlte sich alles so falsch an. Perla sollte hier sein, um Seere beizustehen. Ihn von einer Dummheit abhalten, wenn er dabei war, sich zu tief in die Sache mit den beiden Boten hineinzufressen. Aber die Heilerin war tot, und das war einfach nicht zu ändern. So furchtbar es auch klang. Also schlug er dem Prinzen aufmunternd auf die Schulter und verließ seine Räumlichkeiten.

Er trat den Weg zum Hafen von London an. Dort würde er sich mit Nehemiael treffen. Seere würde seinen Sohn vermutlich nicht selbst abliefern, aber eine seiner Legionen. Und das war auch gut so. Nicht weil einer der freien Leute glaubte, Nehemiael könne ein Mörder sein, sondern weil es immer wieder Menschen gab, die solch ein Ereignis zum Anlass nahmen, um schlecht über die Dämonenfürsten zu reden. Etwas, das Seere nicht hören sollte. Denn spätestens dann würde es zu Mord und Totschlag in London kommen.

Vincent ließ sich vom Geruch der Themse leiten. Der allein war es allerdings nicht. Dazu mischte sich der Duft von frisch gefallenem Regen auf Blättern. Frühling. Doch nun würde sie ihre erste Station in kältere Gefilde führen. Ob sowohl er als auch Nehemiael dafür gewappnet waren, würde sich zeigen. Spätestens wenn sie einen Fuß von dem Schiff auf das fremde Land setzten.

 

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Nehemiael

 

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Es war demütigend. Er wurde behandelt wie ein kleines Kind und ein Verbrecher zugleich. Selbst Vincent war allein auf dem Weg zum Hafen. … Warum hatte der Cherub eigentlich nicht auf ihn gewartet? Die Frage war dumm, das wusste er selbst. Er hatte Vincent mit seinen Worten verletzt. Als ob sich der Engel des Todes nicht gegen diese Reise gewehrt hätte. Natürlich war das der Fall gewesen, aber das wollte Nehemiael nicht wahrhaben. Denn dann müsste er auch zugeben, dass dies alles wegen seiner Existenz geschah. Weil er sich angeblich nicht beherrschen konnte. Dabei war er es wirklich nicht gewesen.

Leider hatte jeder den Streit mitbekommen. Dazu musste man nur zwei funktionierende Ohren besitzen. So wie Vincent. Der Engel hatte ihn vor allen Augen vom Gang gezerrt. Aber Nehemiael ließ nun mal nichts über seine Familie kommen. Ganz gleich, um wen es sich dabei handelte. Er ließ seine Mutter nicht als Hure beschimpfen, und Vincent war ganz sicher nicht sein Schoßhund.

Das alles hatte er seinem Vater nicht gesagt. Er war erwachsen. Er war kein Kind mehr, das sich prügelte, nur weil ihm eine Ansicht nicht unter die Nase passte. Nein, er hatte das den Boten ins Gesicht gesagt und keineswegs leise.

Seine Augen huschten in eine dunkle Gasse hinein. Ob es eine ähnliche war wie die, in der die Boten gefunden worden waren? Er wusste es nicht. Er hatte den Ort nicht gesehen. Sein Vater offensichtlich auch nicht. Und Amymon? Das war schon schwerer einzuschätzen. Gaap war auf jeden Fall da gewesen. Zumindest wenn die Gerüchte stimmten, die überall die Runde machten. Dass er noch vor Amymon informiert worden sei. Dass die freien Menschen ihn unterrichtet hätten. Und dass die überwiegende Zahl von ihnen das letzte Wort des Toten anzweifelte. Aber für all das gab es keine Beweise. Und nun ritt Nehemiael flankiert von vier Dämonen aus den Legionen seines Vaters zum Hafen.

Auf dem Weg machte er bekannte Gesichter aus. Menschen, die er seit seiner Kindheit kannte. Die einen besser, die anderen weniger. Viele nickten ihm bekundend zu. Sie glaubten offenbar an seine Unschuld. Aber für wie lange? Wann wäre der Punkt bei den Einwohnern erreicht, an dem sie sich gegen ihn stellten? Und würde das nicht auch die Dämonenfürsten in einen Konflikt stürzen?

So langsam verstand er, was Amymon damit gemeint hatte, dass der Frieden brüchig sei. Nämlich dass man keiner Seite allzu lange vertrauen durfte. Nicht mal den eigenen Leuten. Ob Luzifer das genauso sah? … Vermutlich. Und was würde der Herrscher der Hölle denken, wenn er vor ihm auftauchte? Würde er ihn überhaupt anhören? Selbst wenn er die Verbündeten mit sich führte, wer konnte es ihm garantieren. Und dann die Bedingungen, die an das Vorhaben gebunden waren: Niemanden, den er kannte … Vincent hingegen schien einige Dämonenfürsten zu kennen. Aber würde einer von ihnen ihm helfen? Die Vorstellung gefiel ihm nicht. Es waren einfach zu viele Voraussetzungen daran geknüpft. Nehemiael kannte sich selbst gut genug, um zu wissen, dass er nicht sehr zuverlässig war. Vor allem war er niemand, der sich unterordnete. Besonders wenn es nicht nach seinem Kopf ging, konnte er störrischer als ein Kleinkind sein. Er war eben eitel.

Bisher hatte ihn das nicht sonderlich gestört. Und jetzt? Wie würde sein Umfeld auf ihn reagieren? Wesen, die ihn nicht kannten und die er nicht einschätzen konnte. Womöglich hatte er Glück, und es würden nur oberflächliche Bekanntschaften bleiben. Das wäre ihm jedenfalls am liebsten.

»Hier entlang!«, hörte er einen der Dämonen sagen.

Nehemiael wandte sein Pferd nach rechts. Etwas erweckte dabei seine Aufmerksamkeit. Es war die Saint Pauls Cathedral. Ihre Spitze lugte zwischen den Bäumen und niedrigen Häusern hervor. Dort war er aufgewachsen. So viele Erinnerungen waren mit dem Gebäude verbunden. Es war eine schöne Zeit gewesen. Eine, in der er glücklich gewesen war. Dann zog er aus, konnte und wollte nicht länger mit seinen Eltern unter einem Dach wohnen. Ihre Ansichten waren einfach zu verschieden.

Nehemiael hatte ständig andere Frauen in seinem Bett. Und Privatsphäre war ein Wort, das an dem Ort nicht existierte. Abgesehen davon hatte er die Veränderung seiner Mutter nicht ertragen. Sie war älter geworden. Es war einfach ein Unterschied, ob man Freunde hatte, die älter wurden, oder ob es die eigene Mutter war. Noch dazu wenn der Vater daneben sich kaum wandelte.

Warum Vincent mit ihm umgezogen war, blieb ihm bis heute unerklärlich. Vielleicht weil Seere und Perla nicht mit ansehen sollten, wie er die erste Zeit nach seiner vollständigen Erblindung nur in seinem Zimmer saß. Das hatte dieser tatsächlich getan, bis Nehemiael dem Engel nahegelegt hatte, sich endlich hinauszuwagen. Besser gesagt hatte er ihm mit seiner Mutter Perla gedroht. Das hatte Wunder gewirkt. Auch wenn Vincent lange gebraucht hatte, um sich zuerst im Palast und später in London zurechtzufinden, heute verlief er sich nicht mehr. Außer er legte es darauf an.

Ein Räuspern riss ihn aus seinen Gedanken. Verwundert starrte er den Dämon neben sich an. Der deutete ohne eine Erklärung nach vorn.

Der Anblick ließ Nehemiael schmunzeln. Vincent saß auf einer Holzkiste und zog an einer Selbstgedrehten. Zum ersten Mal wirkte der Engel wirklich nachdenklich. Er musste sich das Bild einfach einprägen.

»Bringt das Pferd sicher zurück«, wies er die Dämonen an.

»Natürlich. Seid vorsichtig auf Eurer Reise. Möge Luzifer Euch einen guten Wind schenken und Schutz vor Gefahren«, erwiderte der Größte der vier.

Nehemiael vermied es, darauf einen patzigen Kommentar abzugeben. Wenn Luzifer ihn tatsächlich vor irgendwelchen Gefahren schützen könnte, hätte er ihn vor den Anschuldigungen selbst bewahrt. Aber es brachte nichts, mit den Dämonen zu streiten. Sie waren überzeugt von dem, was sie dachten. Das hatte er schon vor langer Zeit gelernt.

Er schwang sich aus dem Sattel und nahm die Tasche mit seinen Sachen, zu denen viele Kleidungsstücke gehörten, an sich. Er drehte sich nicht mehr um, als er auf den Engel zuging. Wozu auch? Die Dämonen würden so lange dort stehen bleiben, bis er an Bord war und das Schiff abgelegt hatte. Dann wäre er auf sich allein gestellt. Irgendwie zumindest.

»Können wir?«, fragte er den Cherub beim Näherkommen.

Vincent fuhr zusammen und sah hastig auf. Dabei fiel ihm die Zigarette aus der Hand. »Scheiße, Nehemi, kannst du nicht etwas lauter sein?«

»Nein«, gab er unbeeindruckt zurück. »Außerdem ist Rauchen sowieso nicht gut.«

»Ja sicher. Weil ich daran sterben werde, hm?«

Nehemiael ging nicht auf das Thema ein. Es hätte nur zu unausweichlichen Fragen nach Evy geführt, und darüber redete Vincent nicht. Nicht mit ihm, nicht mit seinem Vater und vermutlich hatte der Engel selbst mit seiner Mutter nie darüber gesprochen. Aber da war er sich nicht so sicher. Wenn seine Mutter etwas herausfinden wollte, war sie auch dahintergekommen. Wie bei ihm und dem Dienstmädchen … Danach hatte sie angefangen alles für eine Hochzeit zu planen. Den enttäuschten Blick würde er nie vergessen, als er ihr gesagt hatte, dass sie damit nicht weitermachen müsste. Dabei hatte er Mary wirklich gerngehabt. Aber so war eben das Leben. Mit den Schuppen in seinem Gesicht und an den Händen war er zwar exotisch genug für eine Nacht, aber heiraten war dann doch kein Thema. Wobei das nicht immer mit Vorurteilen zusammenhing. Er war da selbst nicht besser. Nehemiael wollte eine Frau, die ihn forderte und ihm nicht nach dem Mund redete. So verrückt das auch klang, sie sollte ähnlich sein wie seine Mutter.

»Sollten wir nicht langsam aufs Schiff? Sonst legt es noch ohne uns ab«, murrte er und wechselte damit das Thema.

»Wir sind die einzigen Passagiere. Ich bezweifle, dass die ohne uns segeln. Aber du hast recht. Je eher wir aufbrechen, umso schneller haben wir die erste Station hinter uns. Ich sag dir nur gleich, das Ganze wird kein Spaziergang.«

»Ist mir klar«, erwiderte Nehemiael.

»Du wirst machen, was ich dir sage.«

»Sicher.«

Vincent hob die Augenbrauen, während er sagte: »Keine eigenmächtigen Handlungen, keine verführten Dienstmädchen, kein ›Ich will wieder nach Hause‹-Gejammer und schon gar nicht will ich mir anhören, wie gemein und ungerecht doch die Welt ist. Haben wir uns verstanden?«

»Ich bin doch kein Idiot«, gab Nehemiael gereizt zurück. Allmählich gingen ihm diese Belehrungen auf die Nerven. »Ich weiß schon, um was es hier geht. Und ich weiß auch, wie wichtig das ist.«

»Worum geht’s denn?«

Die Frage brachte ihn aus dem Konzept, weshalb er stockend erwiderte: »Was? Du weißt doch …«

»Ja, sehr richtig. Ich weiß es, dein Vater hat eine Ahnung, Amymon genauso und Gaap sowieso. Aber was ist mit dir? Ist dir klar, worum es hier geht?«

»Um meinen Kopf.«

»Auch«, erwiderte Vincent knapp.

Verwirrt beobachtete Nehemiael wie der Engel von der Kiste sprang und auf das Schiff zuging. Er folgte ihm mit schnellen Schritten, die dennoch vom Lärm des Hafentreibens verschluckt wurden.

»Auch? Worum denn noch?«, hakte er nach.

Vincent antwortete nicht. Der Cherub stieg vor ihm die Rampe hoch, als ob er sie sehen könnte, und begab sich zur Reling.

Ob der Engel seekrank werden würde? Nehemiael hatte keine Ahnung. Sein Vater hätte sicher eine andere Möglichkeit gefunden, wenn dem so wäre. Aber vielleicht hielt sich Vincent auch nur deshalb so verkrampft am Schiff fest, um nicht über Bord zu gehen. Dabei hatten sie noch gar nicht abgelegt.

»Wir können die Segel setzen, Kapitän!«, rief Vincent dem Schiffsführer zu.

Nehemiael beachtete die kräftige Gestalt gar nicht. Seeleute waren doch alle irgendwie gleich. Bärtige alte Männer, die überall Falten aufwiesen und von der Sonne gebräunt waren. Zumindest hatte er noch keinen kennengelernt, der anders ausgesehen hätte.

»Um dein Leben und darum, ob du Luzifer überzeugen kannst«, kam es plötzlich leise von Vincent. »Aber vor allem darum, ob du fähig bist, abseits von London und deinen gewohnten Verbündeten, dir selbst welche zu suchen. Darum geht es Amymon. Irgendwann wirst du nämlich in den Dienst eines Dämonenfürsten treten müssen, um selbst mal einer zu werden. Um dir einen Namen unter all den Bastarden und Arschkriechern zu machen. Wenn du dazu nicht fähig bist, Nehemi, dann hast du bereits verloren. Dann ist es aber auch am besten, wenn wir umdrehen und zurückkehren. Du wirst dann für etwas verurteilt, das du nicht begangen hast. … Also, bist du der Sohn deines Vaters?«

»Ja.«

Vincent drehte sich nicht in seine Richtung, als er hinzufügte: »Und besitzt du wirklich die Fähigkeit, dir selbst Verbündete zu suchen?«

»Ja«, antwortete er überzeugt.

Der Engel schüttelte entschieden den Kopf und stieß den Atem aus.

Was passte dem Kerl jetzt wieder nicht? Er hatte doch gerade zuversichtlich geklungen. Oder etwa nicht?

»Nein, bist du nicht, Nehemi. Du bist von meinen Erfahrungen abhängig. Es gibt nämlich einen Grund, warum wir nach Island segeln.«