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ERINNERUNGEN AN INNSBRUCK

Band 14:

Christine Zucchelli/Gerhard Lagger

Aufwachsen am Bergisel

Für Erna und alle,
die den Bergisel im Herzen tragen

WENN VATER ERZÄHLT …

Mein Vater, Gerhard Lagger, 1943 in Innsbruck geboren und am Bergisel aufgewachsen, war ein typisches Kind der Nachkriegszeit: wild, frei, unbeschwert und oft sich selbst überlassen. Die Welt seiner Kindheit erstreckte sich vom Bergisel bis zur Triumphpforte, erst im Jugendalter wurde sie etwas weiter. Nicht groß war diese Welt, aber vertraut, abenteuerlich und reich durch die Freundschaft mit einer kleinen Gruppe gleichaltriger BergislerInnen. Die Lebensumstände brachten es mit sich, dass Vater, kaum dem Jugendalter entwachsen, vom Bergisel fortzog; wohl kehrte er über Jahre immer wieder mit seiner eigenen jungen Familie auf Besuch bei seiner Mutter zurück, der Kontakt zu den Freunden und Nachbarn der Kindheit aber verlor sich bald.

Nicht so die Erinnerung, denn im Herzen ist mein Vater bis heute ein Bergisler geblieben. Das merkt man, wenn er von früher spricht, was er oft und gerne macht. Erstaunlich detailreich beschreibt er dann Abenteuer und Lausbubenstreiche der jungen Bergisler, Begegnungen mit unvergesslichen Wiltener Originalen oder Episoden aus Schulzeit und Alltagsleben. Oft sind es die kleinen Geschichten, die berühren. Etwa vom Zusammensitzen der staunenden Jugend vor dem ersten Fernseher am Bergisel, vom Glück, beim Greißler eine Handvoll Zuckerln geschenkt zu bekommen, oder von den Ohrfeigen, die Lehrer und Pfarrer freigiebig verteilten.

Vater wuchs in einer Zeit heran, in der die Spuren des Krieges in Wilten weitgehend beseitigt waren und allerorts Aufbruchstimmung herrschte. Greißler, Bäcker und Fleischhauer boten ein stetig größer werdendes Sortiment von Waren des täglichen Bedarfs an, Gaststätten waren zahlreich und gut besucht. Die Leopoldstraße bildete mit ihren Geschäften und Handwerkerläden die Lebensader des Stadtteils Wilten, zwei Bahnstationen am Fuß des Bergisels machten ihn zur Drehscheibe für den innerstädtischen Verkehr und für Ausflugsfahrten ins Stubai oder aufs südliche Mittelgebirge; auch die private Motorisierung schritt zügig voran. Ab Mitte der 1950er Jahre wurde an allen Ecken gebaut. Mit neugierigem Interesse beobachtete Vater, wie Wohnhäuser Bombenlücken füllten, Bahngeleise neue Trassen erhielten und Straßen verbreitert und asphaltiert wurden. Auch den Baubeginn der Brennerautobahn und die Vorbereitungsarbeiten für die Olympischen Winterspiele 1964 erlebte er als Bergisler hautnah mit.

Vater erzählt mit Begeisterung vom Aufwachsen am Bergisel, das Erzählte niederzuschreiben ist nicht sein Fall. Und so darf ich das mit großer Freude für ihn übernehmen. Denn der Bergisel war auch für mich immer etwas Besonders. Bergisel, das bedeutete Zeit mit Oma und ihren Geschichten vom alten Wilten, mit Spaziergängen am Andreas-Hofer-Weg, einem Kracherl im Springerstüberl bei der Sprungschanze und der Geborgenheit in der Villa am Bergiselweg mit der sonnigen Veranda und dem knorrigen Weinstock an der Hausmauer.

Dieses Buch besteht im Wesentlichen aus den Erinnerungen meines Vaters und den Antworten auf Fragen, die er mir auf unzähligen Spaziergängen durch Wilten beantwortete, ergänzt um einige historische Hintergrundinformationen, die dem persönlich Erlebten einen Rahmen geben sollen. Eine Stadtteilchronik kann und will dieses Buch nicht sein, für Interessierte haben wir eine kurze Zusammenfassung der Geschichte Wiltens und des Bergisels an den Anfang gestellt.

Meinem Vater und mir hat es viel Spaß bereitet, gemeinsam die Orte seiner Kindheit und Jugend aufzusuchen und uns dabei in Geschichten von damals zu verlieren. Schön, dass Sie uns nun auf unserer Zeitreise durch das Wilten der späten 1940er bis frühen 1960er begleiten. Wir wünschen Ihnen viel Freude dabei.

Christine Zucchelli

VOM KULTPLATZ ZUR VILLENSIEDLUNG, VOM BAUERNDORF ZUM STADTTEIL

Der Bergisel misst an seinem höchsten Punkt bescheidene 749 m. Sein Name ist vorrömisch, leitet sich von burgusinum her, was so viel wie „Erhebung“ bedeutet, und bezog sich ursprünglich auf den gesamten Höhenrücken zwischen der Sillschlucht im Osten und dem Geroldsbach und dem Klosterberg nördlich von Natters im Westen.

Die eigentliche Bergiselkuppe und ihre unmittelbare Umgebung zählen zu den ältesten Siedlungsgebieten im Bereich des heutigen Innsbruck, ihre früheste Geschichte lässt sich sehr schön bei einem Besuch in der archäologischen Abteilung des Tiroler Landesmuseums Ferdinandeum erkunden. Fundstücke aus Wilten zeigen, dass sich bereits während der Bronzezeit vor etwa 3000 Jahren und der nachfolgenden Eisenzeit an den nördlichen Abhängen des Bergisels Menschen niedergelassen hatten. Am Bergiselplateau und im Bereich der Sprungschanzenkuppe lagen ihre Kultplätze, an denen sie Tiere als Brandopfer darbrachten; die Toten verbrannten sie und setzten sie am ehemaligen Lorenziacker südlich der Basilika, wo heute die Remisen der Innsbrucker Verkehrsbetriebe stehen, in Urnengräbern bei. Seit dem 19. Jahrhundert stößt man bei Bauarbeiten immer wieder auf ihre Spuren, auf Grabstätten und Gebäudefundamente, auf Schmuck, Waffen und Keramik.

Um Christi Geburt drangen die Römer über die Alpen gegen Norden vor und überzogen die eroberten Gebiete mit einem dichten Straßennetz. Eine Nebenlinie der bekannten Via Claudia Augusta legten sie über den Brennerpass und das Wipptal zum Bergiselsattel am heutigen Sonnenburgerhof an und von dort – dem Hohlweg entsprechend – hinunter in die Ebene am Fuß des Bergisels. Dort errichteten sie eine Straßenstation, die sie Veldidena nannten. Der Name geht auf die vorrömische Bevölkerung zurück, seine Bedeutung ist unklar. Von Veldidena setzte sich die Nebenlinie der Via Claudia Augusta über Zirl, damals Teriolis, und den Seefelder Sattel nach Augsburg fort; eine weitere Straße querte die Sill bei Veldidena auf der pons sulle, der Sillbrücke, und führte, in etwa der heutigen Wiesengasse entsprechend, gegen Osten.

Um das Jahr 300 bauten die Römer Veldidena zum befestigten Kastell aus, mit Mauern, Wehrtürmen und lang gestreckten Hallen, die als Lager und Soldatenquartiere dienten. Das Kastell lag nördlich des heutigen Stifts; außerhalb, gegen Westen hin, standen die Häuser der Zivilbevölkerung. Dort lebte im 1. Jahrhundert die älteste namentlich bekannte Wiltenerin, eine gewisse Secundina. Ihr hatte ein unbekannter Dieb zwei Rinder gestohlen, worauf sie in ein kleines bleiernes Täfelchen die Bitte an die Götter ritzte, den Dieb zu fassen und vor Gericht zu bringen. Auch dieses Fluchtäfelchen kann im Ferdinandeum bestaunt werden.

Mit den Römern kam das Christentum nach Veldidena. Die Gründungslegende der Basilika wusste davon schon lange zu berichten, die Wissenschaft bestätigte es in den 1990er Jahren, als Grabungen zeigten, dass die Wiltener Basilika tatsächlich auf frühchristlichen Fundamenten des 5. Jahrhunderts steht. Vermutlich handelt es sich dabei um die bei Bischof Gregor von Tours im 6. Jahrhundert erwähnte Laurentiuskirche.

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Veldidena. Sgraffito des Innsbrucker Malers und Künstlers Max Spielmann am Haus Leopoldstraße 44 (Foto: C. Zucchelli)

Veldidena wurde kurz vor 600 von Bajuwaren erobert und zerstört. Neben den Ruinen entstand eine neue Siedlung, die im 9. Jahrhundert erstmals als Vuiltina urkundlich genannt wird. Um diese Zeit dürfte auch das Kloster Wilten gegründet worden sein; der einzige Hinweis auf seinen Ursprung ist die Sage vom Riesen Haymon, der am Ausgang der Sillschlucht als Sühne für eine Mordtat ein Kloster errichtet hätte.

Das Kloster, und hier wird es wieder historisch, wurde im Jahr 1128 durch Bischof Reginbert von Brixen dem damals noch sehr jungen Orden der Prämonstratenser übergeben, zusammen mit ausgedehnten Ländereien, die den Unterhalt des Klosters sichern sollten. Zehn Jahre später bestätigte Papst Innozenz II. die Niederlassung und stellte sie unter päpstlichen Schutz. Die Ländereien des Stiftes umfassten im Mittelalter die so genannte „Hofmark Wilten“, die aus dem Ober- und Unterdorf Wilten bestand und sich darüber hinaus gegen Norden bis an den Inn und im Westen bis zur Schlucht des Geroldsbaches erstreckte; gegen Osten begrenzte im Wesentlichen die Sill die Hofmark, wobei das Stift aber mit den Sillhöfen, dem Lemmenhof am Paschberg und dem Zenzenhof oberhalb von Gärberbach auch Besitz am östlichen Flussufer hatte. Das Sellraintal und das innere Senderstal mit der Kemater Alm gehörten ebenfalls zur Hofmark. Dazu kamen durch Schenkungen weitere Höfe, Ländereien und Weingärten in Nord- und Südtirol.

In seiner Versorgung war das Stift Wilten weitgehend autark. Nördlich des Klosters, wo heute das Fremdenverkehrskolleg steht, lag der klostereigene Bauernhof oder Stiftsmeierhof, am Sillkanal arbeiteten Stiftsmühle, Stiftsschmiede und Stiftsbrauerei; außerdem gehörten zum Stift ein Steinbruch, eine Ziegelbrennerei und eine Sandgrube am Fuße des Bergisels. Innerhalb der Hofmark verfügte das Stift über Polizeigewalt und Gerichtsbarkeit für Zivil- und Strafsachen. Das Stift war auch für die Seelsorge in seinem Einflussbereich zuständig; eine erste Pfarrkirche von Wilten zu „Unserer lieben Frau unter den vier Säulen“ wird 1140 urkundlich erwähnt und ist die Vorgängerin der heutigen Basilika.

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Der „Historische Plan der k. und k. Provincial-Hauptstadt Innsbruck“ zeigt Wilten Mitte des 19. Jahrhunderts. (Foto: Wikimedia Commons)

Über die Jahrhunderte sollte das Stift seinen Grundbesitz mehrfach durch Verkäufe verkleinern. Im Jahr 1180 erwarb der bayrische Graf Berthold III. von Andechs vom Stift ein Stück Land am südlichen Innufer, um dort einen mauerbewehrten Marktplatz zu gründen. Dieser erhielt um 1200 das Stadtrecht und bildet die heutige Altstadt von Innsbruck. Das rasch anwachsende Innsbruck kaufte später noch mehrfach Land von Wilten, so etwa im 13. Jahrhundert das Gebiet zwischen Altstadt und Triumphpforte, im 15. Jahrhundert den heutigen Stadtteil Saggen, im 19. Jahrhundert den Bereich des Hauptbahnhofs.

Das Dorf Wilten blieb bis herauf ins frühe 19. Jahrhundert klein und im Wesentlichen bäuerlich geprägt mit einigen recht versprengten Adelssitzen: aus dem Ansitz Augenwaidstein wurde später der Gasthof zum Riesen Haymon, den Ansitz Straßfried erwarb die Glockengießerfamilie Grassmayr, Liebenegg und das dazugehörige Wiesbergschlössl am Wiltener Platzl sind heute Wohnhäuser, Windegg in der Adamgasse ging in der Adambrauerei auf; Sitz Mentlberg auf der Gallwiese wurde um 1900 zum Schloss umgebaut, die Liesingburg am Fuß des Bergisels musste dem modernen Wohnbau weichen. Die meisten Ansitze und Bauernhöfe lagen entlang der alten Landstraße von Innsbruck gegen Süden, die der heutigen Leopoldstraße und Haymongasse entspricht. Weitere Höfe standen in der Fischergasse, die von der Landstraße über Felder und Wiesen gegen Westen bis an den Inn verlief, und in der Neurauthgasse, der Liebeneggstraße und der Mentlgasse, die die Leopoldstraße gegen Osten mit dem Sillkanal verbanden. An der Landstraße befanden sich auch die beiden Dorfzentren, der so genannte Brunnenplatz oder Obere Dorfplatz im Zwickel von Haymongasse, Rotem Gassl und Leopoldstraße und der von Bürgerhäusern gesäumte Untere Dorfplatz, heute Wiltener Platzl. Zwischen dem Wiltener Platzl und der Triumphpforte, hinter der Innsbruck damals begann, dehnten sich Wiesen und Felder aus. Auch der Bereich zwischen Brunnenplatz und Bergisel war, abgesehen von Stiftsgebäuden und Pfarrkirche, weitgehend unbebaut.

Im Zuge der napoleonischen Kriege wurde Tirol von Österreich getrennt; 1807 hoben die neuen, bayrischen Landesherren das Stift Wilten samt seinen Privilegien auf, Wilten wurde von der Hofmark zur Gemeinde. Als es im Frühjahr 1809 zu bewaffneten Aufständen der Tiroler gegen die französisch-bayrische Fremdherrschaft kam, sollte Wilten und vor allem der Bergisel zum Symbol für Tiroler Freiheitswillen und Identität werden. Vom Lemmenhof am Paschberg ober dem östlichen Sillufer, über den Hohlweg und den Bergiselsattel bis zur Gallwiese am Mentlberg fanden die erbittertsten Kämpfe statt, vom Talgrund um Pfarrkirche und Stift Wilten stürmten die Feinde wiederholt gegen Bergisel und Mentlberg an. Nach drei erfolgreichen Abwehrkämpfen erlitten die Tiroler in der vierten Bergiselschlacht am 1. November 1809 eine vernichtende Niederlage.

Nach dem Niedergang Napoleons und dem Ende der bayrischen Herrschaft in Tirol überließ das Stift Wilten 1816 dem neu gegründeten Kaiserjägerregiment das Bergiselplateau zur kostenlosen Nutzung, um eine Schießstätte und ein Schützenhaus zu errichten. Gegen Ende es 19. Jahrhunderts war das Plateau zur Gedenkstätte geworden. Literarische Verarbeitungen der Ereignisse um Andreas Hofer hatten den Bergisel auch international bekannt gemacht, neben Tiroler Patrioten pilgerten zunehmend ausländische Gäste, vor allem Engländer, zu den Schauplätzen von 1809. Die Kaiserjäger reagierten auf das ständig wachsende Interesse, widmeten das Schützenhaus zum Museum um, richteten eine „Volksbelustigungsstätte“ mit Kegelbahn, Schaukel, Ausschank und dem heute noch bestehenden Aussichtspavillon mit Ferngläsern ein. Als Offizierskasino und Verwaltungsgebäude ließen sie einen repräsentativen Fachwerkbau errichten, den sie nach dem damaligen Kommandanten, Oberst von Urich, benannten. An den Schießstätten ließen sie zwei Obelisken aufstellen, mit lateinischen Inschriften. „Berge und Felsen“, lautet die Übersetzung, „solange sie stehen und Herzen uns schlagen, wird Österreichs Haus stets Mauern haben zum Schutz. Welche Geschicke auch immer die Zeiten uns bringen mögen, Österreich wird stets glänzen, erhaben und stark.“ Eine Gedächtniskapelle wurde gebaut, in der das Kreuz aufbewahrt wird, das die Tiroler in ihren Kämpfen vorangetragen haben, und ein Park angelegt; in seiner Mitte ließen die Kaiserjäger 1892 ein überlebensgroßes Bronzestandbild Andreas Hofers, gegossen von Heinrich Natter, aufstellen, das im Beisein von Kaiser Franz Joseph feierlich enthüllt wurde.

Vier Jahre nach der Enthüllung eröffnete an der Kettenbrücke im Saggen das Rondell mit dem „Riesenrundgemälde“, einem Werk von Michael Zeno Diemer aus München und Franz Burger aus Tirol. Es zeigt die Panoramadarstellung der dritten Bergiselschlacht vom 13. August 1809, stand rasch als Fixpunkt am Programm von Tirol-Reisenden aus dem In- und Ausland und förderte die Popularität des Bergisels noch weiter.

Etwa zeitgleich mit dem Aufkommen des Hofer-Tourismus am Bergisel begann auch die Entwicklung Wiltens vom bäuerlichen Straßendorf zur Gemeinde mit städtischem Gepräge. Ausschlaggebend war die Erschließung Tirols durch die Eisenbahn. 1858 wurde auf Wiltener Grund der Hauptbahnhof für Züge nach Osten eröffnet; erst drei Jahre später verschob man hier den Grenzverlauf zugunsten der Stadt Innsbruck. 1867 fuhr der erste Zug auf der Südbahnstrecke durch den neu geschlagenen Bergiseltunnel in Richtung Brennerpass, 1883 ging die West- bzw. Arlbergbahn in Betrieb und Wilten erhielt mit dem Staatsbahnhof Wilten eine eigene Zugstation und 1886 einen Frachtenbahnhof. 1906/7 wurde am Staatsbahnhof Wilten das noch heute bestehende Westbahnhofsgebäude errichtet, das auch die wenige Jahre später eröffnete Karwendelbahn bediente. Um die Jahrhundertwende erhielt Wilten am Fuße des Bergisels zwei Bahnhöfe zur Abwicklung des Lokalbahnverkehrs. Den Anfang machte 1891 der Bahnhof Bergisel für die Lokalbahn von Wilten nach Hall, der bald auch zur Zentrale der Mittelgebirgsbahn nach Igls und der innerstädtischen Innsbrucker Straßenbahnen ausgebaut wurde. 1904 folgte der Stubaitalbahnhof.

Die Anbindung an das Bahnnetz brachte für Innsbruck und Wilten neben dem wirtschaftlichen Aufschwung einen raschen Bevölkerungszuwachs. Neue Wohngebiete wurden erschlossen, die Stadt und das Dorf begannen zusammenzuwachsen. Die großen Wiltener Baufirmen des 19. Jahrhunderts, Huter und Retter, hatten Hochkonjunktur, Mietzinshäuser wurden errichtet, anfangs noch freistehend zwischen den Bauernhäusern, ab 1880 aber überwiegend in Block- oder Zeilenbauweise entlang der neu angelegten Straßenzüge zu beiden Seiten der Leopoldstraße. Wilten erhielt in dieser Zeit ein Gemeindehaus, die spätere Leopoldschule, heute Neue Mittelschule Leopoldstraße, und ein Gemeindewappen, welches zwischen zwei Zelten das Rundkirchlein St. Bartlmä zeigt. Der romanische Rundbau, ein Wahrzeichen von Wilten, dürfte auf die Zeit um 800 zurückgehen und galt bis zur Entdeckung der frühchristlichen Fundamente unter der Wiltener Basilika als das älteste christliche Bauwerk der Region.

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Das Gemeindewappen am ehemaligen Gemeindehaus von Wilten. (Foto: C. Zucchelli)

Der rapide Bevölkerungszuwachs erforderte große Investitionen in die Infrastruktur. Die Gemeinde benötigte weitere Schulen, ein Spital und den Ausbau der Kanalisation. Als der Gemeinderat erkannte, dass Wilten dieser Herausforderung wohl nicht gewachsen ist, entschied man sich 1904 zur Eingemeindung nach Innsbruck. Im Jahr 1913 begann die Stadt den Bergisel für den Wohnbau zu erschließen; in den 1930ern folgten die Wiltener Gebiete Sieglanger und Mentlberg.

Aufgrund seiner Lage zwischen Hauptbahnhof und Westbahnhof litt Wilten während des Zweiten Weltkriegs besonders stark unter den Bombenangriffen der Alliierten. Die Bombardierung Innsbrucks begann spät und überraschend am 19. Dezember 1943, als die Bevölkerung kaum mehr damit rechnete. Vor allem beim ersten Angriff und bei den Bombenabwürfen vom 13. Juni und 15. Dezember 1944 wurden das Stift Wilten und seine Umgebung schwer getroffen. In aller Eile leitete man den Bau von Luftschutzstollen für die Bevölkerung ein. Das Stollensystem im Bergisel war weitläufig und soll bei einer Gesamtlänge von fast zwei Kilometern gut 3500 Personen Schutz bei Fliegerangriffen gewährt haben. Die meisten Zugänge sind noch auszumachen. Wie durch ein Wunder blieb die Wiltener Basilika während des Zweiten Weltkrieges unversehrt; am Bergisel schlugen 22 Bomben ein, sie richteten nur wenige Schäden an den Häusern an.

Unmittelbar nach dem Kriegsende im Mai 1945 beschlagnahmten amerikanische Offiziere einige Häuser am Bergisel, im Juni wurde Tirol zur französisch besetzten Zone erklärt. Bürgermeister der Stadt Innsbruck zur Zeit des Wiederaufbaus war Anton Melzer; ihm folgte von 1951 bis 1956 Franz Greiter. In seine Amtszeit fielen die Unterzeichnung des Staatsvertrags und der Abzug der französischen Besatzung, der Bau der Konzertkurve für die Verlegung der Westbahntrasse, und die erste, erfolglose Bewerbung Innsbrucks um die Olympischen Winterspiele. Sein Nachfolger Alois Lugger, 1956 bis 1983 Innsbrucker Bürgermeister, war in dieser Hinsicht erfolgreicher. Er konnte die Olympischen Winterspiele gleich zwei Mal, 1964 und 1976 in die Stadt holen und wurde dafür mit dem Spitznamen Olympia-Luis ausgezeichnet. Die Vorbereitungen auf die Spiele, aber auch der Bau der Brennerautobahn und die Stilllegung des Bergiselbahnhofs unter Luggers Regierung brachten große bauliche Veränderungen am und um den Bergisel mit sich. In den letzten Dekaden setzten hier vor allem der 2003 nach den Plänen der irakisch-britischen Star-Architektin Zaha Hadid erbaute Skisprungturm, das 2011 eröffnete Tirol Panorama mit dem aus dem Rondell im Saggen übertragenen Riesenrundgemälde und das 2013 übergebene Betriebsdienstgebäude der Innsbrucker Verkehrsbetriebe neue Akzente.

DIE VILLENKOLONIE AM BERGISEL

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Der östliche Teil der Bergiselsiedlung um 1950 (© Stadtarchiv Innsbruck)

Der Bergisel war, von der Kaiserjägergedenkstätte und dem Ausflugsgasthof Buchhof abgesehen, noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts unbebaut. 1913 begann die Stadt Innsbruck gemeinsam mit der Baugenossenschaft „Deutsches Heim“ mit seiner Erschließung und legte als Zufahrt den Bergiselweg an. Den Anfang der Villenbebauung machte noch im selben Jahr der Architekt, Stadtplaner und Maler Theodor Prachensky; gemeinsam mit Vater und Schwester erwarb er von der Baugenossenschaft eine Parzelle am Bergisel und ließ nach eigenen Plänen eine Villa nach der so genannten Münchner Schule erbauen. Bis 1917 errichtete die Baugenossenschaft am Bergisel zwölf weitere Villen. So entstand eine lockere Siedlung, in der wohl jedes Haus einzigartig war, aber alle zusammen doch ein prächtiges Gesamtbild ergaben. Den Zweiten Weltkrieg überstand das Ensemble weitgehend unversehrt, von den Bomben, die am Bergisel einschlugen, wurden nur zwei der Villen am oberen Bergiselweg beschädigt. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zerstörten einige Neubauten die gewachsene Einheit. Auch das Haus, in dem Gerhard Kindheit und Jugend verlebte, musste um 1990 einem Neubau weichen.

Serpentinen in die Vergangenheit

Viele Wege führen auf den Bergisel. Wer ihn zu Fuß erkunden möchte, wird meistens über die Serpentinen heraufspazieren, die um 1816 als erster und damals einziger Zugang zur Gedenkstätte am Bergiselplateau angelegt wurden. Der Aufgang beginnt in der ersten Kurve der Brennerstraße gleich oberhalb der Endstation der Straßenbahnlinien 1.

„Die Brennerstraße säumte eine Allee von Kastanienbäumen, dicht an dicht gepflanzt“, denkt Gerhard zurück. „Und unter einer Kastanie in der Kurve beim Beginn des Bergiselaufgangs stand ein fein gemauerter Kiosk. Getränke und Eis gab es hier, Jausensemmeln und Süßigkeiten wie Stollwerck, Mannerschnitten und Schwedenbomben. Von Frühjahr bis Herbst lag an der hölzernen Verkaufsbudel Obst ausgelegt. Äpfel vor allem, im Frühjahr auch Kirschen, im Herbst Trauben. Und Zitrusfrüchte, Nüsse. Der Kiosk war sehr gut besucht von Bergisel-Spaziergängern, von Reisenden in Richtung Brenner, die sich hier mit Proviant eindeckten, und vom Personal der Innsbrucker Verkehrsbetriebe, die Büros, Werkstätten und Remisen gleich unterhalb hatten. Solange ich mich erinnern kann, führte den Kiosk Herr Franz Königshofer. Klein, rundlich und immer freundlich, obwohl er wusste, dass ihn die Bergisler – und nicht nur die Kinder – allgemein den ‚Schufti‘ nannten. Woher dieser wenig schmeichelhafte Spitzname kam, blieb mir immer ein Rätsel.“

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Gerhards Mutter Erna auf der Brennerstraße im Februar 1943.
(© Gerhard Lagger)

Wie der Kiosk ist auch die einstmals bei Bergislern beliebte Abkürzung verschwunden, die vom Bergiselbahnhof durch den Garten des Gasthofs Bierstindl hinauf zur ersten Kurve des Serpentinenwegs führte. Als Kind ging Gerhard diesen Weg gerne, konnte er dabei doch einen Blick in die Gasthofsküche werfen, wo ihn die riesigen Herde und Töpfe faszinierten.

Damals verstand er den Namen des Lokals noch als Einladung, hier ein Stindl, eine Stunde, bei einem Bier zu verbringen. Erst später brachte er in Erfahrung, dass der Gründer des Gasthauses, Augustin „Stindl“ Nocker Namenspate war. Stindls Bier-Häusl hieß das Gasthaus ursprünglich, nach 1890 erhielt es im Wesentlichen seine heutige Gestalt. Damals soll an den Sonntagvormittagen im Garten die Militärmusik zum Frühschoppen aufgespielt haben. Das Bierstindl sah schon viele Besitzer und Betreiber und war unter anderem bis 2010 als Kulturgasthof Sitz zahlreicher Innsbrucker Kulturvereine und Bühne für diverse Kulturveranstaltungen. Konstant geblieben ist das Bierstindl seit 1961 als Spielstätte der Ritterkomödie „Der schurkische Kuno von Drachenfels“. Über all die Jahre erhalten geblieben ist auch der herrliche Gastgarten mit seiner Laube und den schönen Kastanienbäumen.

Am Parkplatz des Gasthofs und an der Stützmauer zur Klostergasse befinden sich zwei Zugänge zu den Bergisel-Luftschutzstollen; oberhalb des Wiltener Friedhofs gab es einen weiteren und unter dem Retterschlössl am Plumeskopf. Letzterer soll zum Privatstollen des Gauleiters Hofer geführt haben, erzählt man, später war darin eine Champignonzucht.