Cover

ERINNERUNGEN AN INNSBRUCK

Band 12:

Gernot Zimmermann

Erich Landauer: Barfuß durch Innsbruck

Wir widmen dieses Buch unseren Lieben und wir widmen es Innsbruck, der schönsten Stadt der Welt.

Vorwort von Erich Landauer

Der Lieblingsspruch meines Freundes Ernst Knapp lautet: „Das Leben ist schön!“

Ist es das?

Harte Zeiten, Entbehrungen, Aufschwung, Erfolge, Niederlagen, gute Zeit, Turbulenzen, ruhige und schöne Jahre – das Alter zwickt.

Ja, das Leben ist schön!

Innsbruck, im Mai 2019

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(Foto: Andreas Friedle)

Vorwort von Gernot Zimmermann

Dass ich die Lebenserinnerungen von Erich Landauer aufschreiben durfte, ist mir eine besonders freudvolle Aufgabe gewesen. Gleich vorweg, das oft mühsame Aufbauen eines Vertrauensverhältnisses konnten wir bei unseren vielen Gesprächen überspringen, Erich Landauer ist mein Schwager und wir kennen uns mittlerweile seit vielen Jahren.

Was mich in den Gesprächen mit meinem Schwager am meisten betroffen gemacht hat, war die katastrophale Versorgungslage der Innsbrucker Bevölkerung in den späten 1930er- und den 1940er-Jahren. Als Kind hat Erich Landauer eigentlich immer Hunger gehabt, er ist nie so richtig satt geworden. Und das, obwohl sein Vater als Molkerei-Mitarbeiter und später als Lagerleiter immer beschäftigt und zu keiner Zeit arbeitslos war. Aber das Einkommen hat nicht ausgereicht, die siebenköpfige Familie zu ernähren. Interessanterweise kann sich Landauer aber nicht erinnern, dass er unter dem ständigen Hunger besonders gelitten hätte. „Da es allen meinen Freunden gleich gegangen ist, war das normal für uns. Wenn der Hunger zu groß geworden ist, dann haben wir halt Wasser getrunken“, sagt er heute über diese Zeit und in diesen Worten schwingt nicht einmal ein Hauch von Bitterkeit mit. Das war halt damals so.

Als Innsbrucker Stadtkind hat Erich Landauer natürlich auch die Zeit der Bombenangriffe erlebt, beim ersten dieser Bombardements war er noch keine neun Jahre alt. Die Familie Landauer war besonders gefährdet, denn ihre Wohnung in der Kapuzinergasse lag nur einen Steinwurf vom Eisenbahn-Viadukt entfernt. Und die Bahnlinie war ein bevorzugtes Ziel der Luftangriffe. Und so hat der kleine Erich viele Stunden in stickigen Luftschutzkellern verbracht, bis die Familie dann aus Sicherheitsgründen evakuiert worden ist. So wie tausende andere Familien auch. Also verbrachte Erich mit seiner Mutter und seinen Geschwistern ab Anfang 1944 fast zwei Jahre seiner Kindheit im Außerfern, der Vater war zu dieser Zeit längst im Feld.

Nach dem Krieg war die Versorgungslage in Innsbruck noch schlechter als in den schlimmsten Zeiten der Wirtschaftskrise und im Herbst 1945 wurde Erich Landauer in die Schweiz geschickt, um dort „aufgepäppelt“ zu werden. Diese Zeit hat er sehr positiv in Erinnerung und auch über die Jahre danach spricht er gern. Denn spätestens in den 1950er-Jahren ist es, nicht nur wirtschaftlich, überall im Land aufwärtsgegangen und Erich Landauer vermittelt uns einen guten Einblick in diese so oft gepriesene „gute, alte Zeit“.

Wie man dem Vorwort von Erich Landauer entnehmen kann, ist er nicht unbedingt ein Freund vieler und großer Worte, um das einmal so zu formulieren. Und so war das auch in unseren Gesprächen, auf einen Redeschwall von Erich Landauer wird man vergeblich warten. Also habe ich ihn schlicht und ergreifend stundenlang interviewt und ihm dabei unzählige Fragen gestellt. Zugutegekommen ist mir dabei meine 20-jährige Erfahrung als Journalist, denn bei meinen vielen Interviews, etwa für das Tiroler Nachrichtenmagazin ECHO, habe ich oft mit Gesprächspartnern zu tun gehabt, die nicht viel von sich preisgeben wollten. Da musste ich dann halt durch entsprechende Fragen versuchen, so viel wie möglich aus ihnen „herauszukitzeln“. Eine Technik, die sich erlernen lässt.

Das war bei Erich Landauer natürlich ganz anders, aus ihm musste ich gar nichts „herauskitzeln“, denn er war zu jeder Zeit bereit, mir Einblicke in seine Erinnerungen zu gewähren. Und er hat mich nicht nur einmal ganz tief in sich hineinschauen lassen.

Das vorliegende Buch besteht einerseits aus den Erzählungen und Erinnerungen von Erich Landauer, zum anderen werden auch einige Zeitungsmeldungen mit hineingenommen, die ein Bild der damaligen Zeit vermitteln sollen. Auch Historiker und Zeitzeugen kommen zu Wort, die sich mit den oft sehr harten Bedingungen beschäftigt haben, denen die Tiroler bzw. die Innsbrucker Bevölkerung in den 1930er- bis in die 1950er-Jahre hinein ausgesetzt waren. An dieser Stelle geht ein besonderer Dank an den Innsbrucker Zeitgeschichte-Professor Dr. Horst Schreiber, aus dessen Schriften ich besonders ausführlich zitieren durfte.

Zum Schluss noch eine Anmerkung über den „jetzigen“ Erich Landauer. Der hat eben seinen 84. Geburtstag gefeiert und er zeigt sich in einer ebenso außergewöhnlichen wie beneidenswert guten körperlichen Verfassung. Jetzt könnte ich als Beleg dafür ein paar Zahlen aus dem Jahr 2018 anführen, z. B. 180.000 Höhenmeter mit dem Fahrrad und zu Fuß, dazu noch 48.000 Höhenmeter mit den Touren-Skiern. Alles nahezu unglaubliche Zahlen für einen über 80-jährigen Mann. Zu seinem 75. Geburtstag habe ich mir den Spaß erlaubt, ihm zu Ehren ein gefaktes ECHO-Cover anzufertigen. Das ist jetzt auch schon wieder beinahe zehn Jahre her …

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(Foto: Ilse Zimmermann)

Erich ist konditionell wirklich ein Wunder! Aber eine kleine Anekdote zeigt meiner Meinung nach noch viel besser, aus welchem Holz Erich Landauer geschnitzt ist: Gemeinsam mit meiner Frau betrat ich vor einigen Wochen die Ordination unseres Hausarztes in Lans. Dort trafen wir zufällig auf unseren Schwager. „Was ist los, Erich?“ – „Ich bin heut echt nicht gut beinander, mir geht’s richtig übel, vielleicht findet ja der Franz etwas“, meinte er mit leidvoller Miene. Wir fragten ihn, ob er mit dem Bus oder mit dem Rad gekommen sei, da antwortete Erich wie selbstverständlich: „Zu Fuß natürlich, man braucht ja nur über den Paschberg gehen.“ Aha, „nur“ über den Paschberg also, auf völlig vereisten Waldwegen und von Mühlau aus. Weil er sich nicht gut fühlt und „echt schlecht beinander“ ist. Mehr ist über die körperliche Konstitution von Erich Landauer nicht hinzuzufügen.

Und jetzt wünsche ich – wünschen wir – gute Unterhaltung bei einer kleinen Rückschau auf das Tirol der Vor- und der Nachkriegszeit und darauf, wie es war, zu jener Zeit in Innsbruck aufzuwachsen.

Innsbruck, im Mai 2019

Erich Landauer:
Barfuß durch Innsbruck

Erste Erinnerungen

Erich Landauer wurde am 23. März 1935 in Innsbruck geboren, das war an einem Samstag. Wie sich heute spielend leicht nachlesen lässt, hat es an diesem Tag in Innsbruck plus 7 Grad gehabt, am Hafelekar hat man für 7 Uhr 30 früh minus 2,2 Grad erwartet, bei Windstille und guter Fernsicht. Das ist den „Innsbrucker Nachrichten“ zu entnehmen, im Internet finden sich auf der Seite der Österreichischen Nationalbibliothek (anno.onb.ac.at) neben zahlreichen anderen Medien, auch sämtliche Ausgaben dieser Tageszeitung. Ein echter Schatz. So lässt sich auf dieser hochinteressanten Website auch der „Allgemeine Tiroler Anzeiger“ digital durchblättern, ebenfalls die Ausgabe vom 23. März 1935, dem Geburtstag von Erich Landauer. Dort findet sich in der Rubrik „Wetter“ ein wunderbarer Druckfehler, der heute noch – mehr als 80 Jahre später – schmunzeln lässt: Die Bergwetter-Daten decken sich auf das Zehntelgrad genau mit jenen aus den „Innsbrucker Nachrichten“, allerdings mit einer kleinen Ausnahme: Für das Hafelekar meldet der „Allgemeine Tiroler Anzeiger“ nämlich Windstille, gute Fernsicht und eine Mittagstemperatur von plus 40 Grad. Na, das wäre was gewesen …

In den „Innsbrucker Nachrichten“ ist ein Gedicht eines Hasso von Wallpach abgedruckt und wenn es so etwas wie Schicksal gibt, dann sind diese drei Strophen wie ein Omen für das Leben von Erich Landauer zu deuten. Denn das Gedicht beschreibt eine Leidenschaft, der Erich bis heute verfallen ist:

Abfahrt vom Morgenkogel

Weiter Blick auf ferne Gipfel

Auf des Olperers Firnenglanz.

Unter uns der Zirben Wipfel

Und des Windes Schattentanz.

Uns’re schmalen Schier schießen

Staubend durch den Pulverschnee

Und um uns ist wie ein Fließen

Lichterfüllter Wald und Höh’.

Und so weit wird Herz und Seele

Sonne bräunt uns Stirn und Brust

Und aus unsrer jungen Kehle

Steigt ein Lied aus Freud und Lust.

Vielleicht werfen wir noch einen schnellen Blick darauf, was der Geburtstag von Erich so an Unterhaltung geboten hat: In den Innsbrucker Kammerlichtspielen wurde „Tarzan und sein Kamerad“, ein Dschungeldrama mit Johnny Weißmüller, geboten und wer sich mehr von der heiteren Muse angesprochen fühlte, für den wurde im Zentral-Ton-Kino in der Maria-Theresien-Straße das Schlagerlustspiel „Der Himmel auf Erden“ aufgeführt. Und auch für die Sportbegeisterten war etwas dabei, nämlich der „Derby-Kracher“ im Fußball, FC Wacker Innsbruck gegen FC Hall in Hall, der für den folgenden Tag angekündigt wurde. Wörtlich heißt es: „Die Spieler treffen sich am Samstag, den 24. März um halb 1 Uhr mittags bei der Innbrücke, zur gemeinsamen Abfahrt per Omnibus nach Hall.“ Und noch etwas – die „Illustrierte Kronenzeitung“ berichtet über ein kräftiges Erdbeben, das sich am 19. März um 6 Uhr 20 in Oberperfuss ereignet hat. Die Bevölkerung wird gebeten, per Postkarte die Auswirkungen des Erdbebens zu beschreiben, zu richten sind diese Karten portofrei an die Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik in Wien 19, Hohe Warte 38. An dieser Adresse residiert die ZAMG übrigens heute noch. Den Lesern der „Innsbrucker Nachrichten“ wird dann noch ein kleines Witzchen geboten und das zeigt, dass durch die Zeitungen von 1935 durchaus auch einmal der Hauch eines frivolen Lüftchens wehen durfte:

„Mein Mann steht jeden Morgen zeitlich auf, wenn die Radio-Gymnastik beginnt.“ „So, Ihr Mann betreibt Gymnastik?“ „Nein, er nicht, aber das junge Mädchen gegenüber.“

Dieser heute harmlos anmutende Gag war für die damalige Zeit wahrscheinlich gar nicht so ohne … Die Tiroler und österreichischen Zeitungen geben für diesen 23. März 1935 noch einiges mehr her, doch dazu etwas später.

Am Geburtstag von Erich Landauer hat Innsbruck noch keine 80.000 Einwohner gehabt und ganze Stadtteile, die wir heute kennen, waren damals noch nicht einmal angedacht. Auf dem Stadtplan von 1935 endet etwa die Reichenauer Straße an der Kreuzung zur Kravoglstraße im Nirgendwo, ebenso die Pradler Gumppstraße. Der Stadtteil Saggen hingegen hat sich nicht groß verändert, sogar die Straßennamen sind heute noch die gleichen und auch in Dreiheiligen schaut es heute noch weitgehend so aus wie vor über 80 Jahren. Das gilt vor allem auch für die Kapuzinergasse östlich des Viadukt-Bogens. Und am Ende der Kapuzinergasse, unmittelbar nach der Kreuzung mit der Zeughausgasse, stand auf der rechten Seite, genau auf Nummer 34, das Elternhaus von Erich Landauer. Und da steht es heute noch.

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Erich Landauers Elternhaus hat sich in all den Jahren kaum verändert. (Foto: Ilse Zimmermann)

Im Parterre hat die Familie eine kleine Wohnung gehabt. „Das Haus steht eigentlich genau so da wie in meiner Kindheit, es ist nie um- oder ausgebaut worden“, sagt Erich Landauer. Nur sei damals rückseitig eine Holzveranda vorhanden gewesen. „Da hat einer der Mieter Hasen gezüchtet, das war natürlich sehr interessant für uns Kinder. Auch die Schlachtung der Tiere. Die Hasen wurden kurzerhand an der Stalltür aufgehängt und ausgeweidet. Und auch wenn es grausig war, zugeschaut haben wir trotzdem.“

Erich war das zweite Kind von Andreas und Katharina Landauer, eineinhalb Jahre zuvor wurde sein Bruder Andreas geboren. Dann ist bald einmal Schwester Käthe zur Welt gekommen, vier Jahre danach Bruder Adolf und nach dem Krieg komplettierte Nesthäkchen Ingrid die siebenköpfige Familie. Hätte es das Schicksal anders gewollt, dann wären sie zu acht gewesen, aber Bruder Siegfried hat das Kindsbett nicht überlebt …

So ist zwar innerhalb weniger Jahre die Familie Landauer immer größer geworden, die Wohnung in der Kapuzinergasse ist aber natürlich nicht mitgewachsen.

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So hat das Elternhaus (rechts) vor ca. 60 Jahren ausgesehen.
(Foto: Stadtarchiv-Stadtmuseum Innsbruck)

Diese beengten Wohnverhältnisse kann man sich heutzutage kaum mehr vorstellen, Erich beschreibt die elterliche Wohnung so: „Wir haben eine Küche gehabt, ein Zimmer und ein Kabinett. Unsere Wohnung war früher einmal eine Metzgerei, deshalb war die Küche vollkommen verfliest. In der Küche ist ein Kohleherd gestanden, mit dem die ganze Wohnung geheizt worden ist. Durch das schmale Küchenfenster sind wir Kinder gerne auch ein- und ausgestiegen, wenn uns der Weg zur Haustür zu umständlich gewesen ist. Die Eltern haben in einem Zimmer geschlafen, wir fünf Kinder im anderen. Ich bin jahrelang mit meinem Bruder Andreas im Bett gelegen, anders wäre das nicht gegangen. Es war nur Platz für drei Betten, also mussten wir Geschwister uns irgendwie zusammenlegen. Das war halt so.“ Im kleinen Zimmer ist auch ein riesiger Kachelofen gestanden, der wurde aber nur einmal im Jahr, immer zu Weihnachten, eingeheizt. Sonst ist die ganze Wohnung nur dann erwärmt worden, wenn die Mutter am Kohleherd in der Küche gekocht hat. Die Küche war in der ersten Zeit auch der Schlafplatz des kleinen Erich, dort war sein Gitterbett „stationiert“. Erst später „durfte“ er unter die Decke seines Bruders Andreas kriechen.

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In der Volksschule. Erich ist der dritte Bub von rechts in der zweiten Reihe, direkt vor ihm sein Bruder Andreas. (Foto: privat)

Die kleine Wohnung hat kein Badezimmer gehabt, man hat sich am Waschbecken in der Küche sauber gemacht. Natürlich mit kaltem Wasser. Hände, Hals, Gesicht – das Gröbste halt. Und einmal im Monat sind die Kinder in den Waschzuber gesteckt worden, das musste genügen. Diesen Tag hat der kleine Erich aber nicht etwa herbeigesehnt, sondern ganz im Gegenteil: „Ich hab das eigentlich nie mögen. Wozu baden? Ich hab mich als Kind nie dreckig gefühlt. Jeden Tag Gesicht und Hände waschen musste genügen.“ Aber als braver Bub hat er die monatlichen Waschungen halt über sich ergehen lassen. So wie die Besuche beim Friseur: „Oberweger hat der geheißen. Sein Geschäft hat er an der Ecke Kapuzinergasse zur Ing.-Etzel-Straße gehabt. Da haben uns die Eltern hingeschickt, wenn sie uns schon fast nicht mehr erkannt haben, weil uns die Haare so tief ins Gesicht hineingehängt sind. Und der Oberweger hat uns dann geschoren wie die Schafelen, weil das hat ja wieder für ein paar Monate halten sollen.“ Doch auch in Sachen Friseurbesuche hat sich Erich brav seinen Eltern gefügt und die Schur ergeben hingenommen.

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Unbeliebt, aber notwendig: Friseur Oberweger in der Ing.-Etzel-Straße (Foto: Stadtarchiv-Stadtmuseum Innsbruck)

Überhaupt hat sich Erich Landauer als einen braven Buben in Erinnerung, er ist auch das einzige Kind der Familie gewesen, das der Mutter im Haushalt zur Hand gegangen ist: „Ich kann mich nicht erinnern, dass der Andi oder der Adi jemals daheim geholfen hätten. Vielleicht später die Schwestern, aber von uns Buben war ich der einzige.“ Und so hat Erich Holz aus dem Keller geholt, fürs Kochen den Ofen eingeheizt und ihn durch ständiges Nachschüren am Brennen gehalten. Oder er hat beim Waschtag kräftig mit angepackt: „Im Keller haben wir eine Waschküche gehabt und da ist ein riesiger Waschkessel drinnen gestanden. Der ist mit kaltem Wasser gefüllt worden und dann hat man ihm kräftig einheizen müssen. Das war meine Aufgabe. Dann habe ich gemeinsam mit meiner Mama die Wäsche mit riesigen Holzpaddeln im kochend heißen Wasser hin und her gewendet und schließlich mühevoll ausgewrungen. Eine Mordsarbeit.“ Auch sonst hat Erich seiner Mutter viel im Haushalt geholfen, da musste ihm gar nicht erst etwas angeschafft werden. „Ich hab immer sofort gesehen, wie und wo ich ihr helfen kann. Das war ganz normal für mich.“ Und Erich hat im Laufe seiner Kindheit für die Familie noch eine ganz besondere Spezialaufgabe übernommen – er war für das Organisieren zuständig. Für das Organisieren von Lebensmitteln aller Art. Man könnte dieses „Organisieren“ durchaus auch Stehlen nennen, doch der Reihe nach.

Wirtschaftlich geht’s bergab

In den Jahren nach Erich Landauers Geburt ist die Versorgungslage der Innsbrucker Bevölkerung eigentlich von Jahr zu Jahr schlechter geworden und endete während und nach dem Zweiten Weltkrieg in Hunger, tausendfacher Obdachlosigkeit und bitterster Not. Die Familie Landauer war von all dem voll betroffen, mit vielen Kindern erlebten sie die allgegenwärtige Not natürlich als besonders drückend.

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Die Geschwister Andreas, Käthe und Erich (von links), dahinter Opa und Onkel (Foto: privat)

Am Tag der Geburt von Erich Landauer war die wirtschaftliche Situation seiner Familie aber noch gar keine so schlechte. Vater Andreas war im Milchhof beschäftigt, mit seinem Einkommen hat es sich auskommen lassen. Bald einmal wechselte der Vater als Lagerleiter zum Lebensmittelgroßhändler Zeuner, der sich in der Brunecker Straße befunden hat. Das hatte – neben der besseren Bezahlung – auch den Vorteil, dass der Vater ab und zu abgelaufene Lebensmittel mit nach Hause bringen konnte. Obwohl das, wie sich Erich heute zurückerinnert, leider eher selten vorgekommen ist. Dafür weiß er noch, dass er seinem Vater einmal bei der Arbeit geholfen hat: „Die Firma Zeuner hat unten beim Schlachthof ein großes Magazin gehabt und einmal ist ein ganzer Eisenbahnwaggon voller leerer Flaschen angekommen. Die sind dann ausgeladen und mittels einer langen Menschenkette ins Lager befördert worden. Und ich als kleiner Bub war vollwertiger Teil dieser Kette. Den ganzen Tag lang hab ich ununterbrochen zwei Flaschen entgegengenommen und diese zwei Flaschen dem Nebenmann weitergereicht. Dass ich mit den ganzen Erwachsenen mitarbeiten hab dürfen, das hat mich schon stolz gemacht damals.“

Wirft man wieder einen Blick in die „Innsbrucker Nachrichten“ vom 23. März 1935, so ist von Not und Elend der Innsbrucker Bevölkerung rein gar nichts zu lesen. Auch deshalb, weil es sie so noch nicht gegeben hat. Vielmehr scheint die Leser interessiert zu haben, dass bei „Palmers“ die neuen Strumpffarben der Saison eingetroffen sind – Goldfisch und Koralle. Auf der Titelseite wird die Ernennung von Dr. Josef Schumacher zum Landeshauptmann von Tirol verkündet, als Nachfolger von Dr. Stumpf. Im Artikel ist auch die Rede davon, dass Schumacher als Leiter der Bezirkshauptmannschaft Landeck viel dazu beigetragen habe, die große Not der Bauern im „ausgesprochenen Notstandsbezirk“ zu lindern. Am Land war die bevorstehende Krise also bereits zu spüren.

Neben Meldungen aus aller Welt finden sich in den „Innsbrucker Nachrichten“ dieses Tages auch die aktuellen Marktpreise des Städtischen Marktamtes. Hier ein paar Beispiele: Rindfleisch per Kilo ab 2 Schilling, Pferde-Landjäger 25 Groschen pro Paar, Forellen 10 Schilling das Stück, Karpfen 3,40 Schilling, Brat- oder Backhuhn je 4,40 Schilling und ein Suppenhuhn 3 Schilling. Zitronen pro Stück 6 bis 10 Groschen, Bananen je Kilo 4 Schilling. Natürlich sind die Zahlen schwer in Relation zu setzen, denn Erich Landauer weiß nichts vom damaligen Einkommen seines Vaters. Aber vielleicht hilft eine Zeitungsannonce ein wenig weiter, denn unter der Rubrik „Zu vermieten“ findet sich folgendes Inserat: „Schönes Zimmer, volle Verpflegung, Wäsche, wöchentlich 20 Schilling. Mentlgasse 20, 2. Stock.“ Das wären also umgerechnet zwei Forellen für eine Woche Wohnen samt Verpflegung und Wäschewaschen. Oder 80 Paar Pferde-Landjäger bzw. mindestens 200 Zitronen …

Aber abseits dieser launigen Zahlenspielereien – Tatsache ist, im Jahr 1935 hat es sich in Innsbruck noch einigermaßen gut leben lassen, Lebensmittel waren ausreichend vorhanden und wer gearbeitet hat, der hat seine Familie in der Regel auch durchbringen können. Das hat sich dann rasch und dramatisch geändert. Ich habe eine Publikation entdeckt, die Roman Spiss auf erinnern.at veröffentlicht hat. Unter dem Titel „Wirtschaftliche und soziale Umbrüche zwischen den Weltkriegen“ beschreibt er die Lage in den 1930er-Jahren so:

Die Weltwirtschaftskrise erfasste Tirol dann zu Beginn der dreißiger Jahre voll: Die Talfahrt der Wirtschaft und damit auch der Industrie war in jenen Jahren atemberaubend. Von den 180 größeren Betrieben des Jahres 1922 waren 1931 nur mehr 163 vorhanden. Konnten in den Gewerbebetrieben Lohnverluste noch durch zahlreiche Überstunden einigermaßen ausgeglichen werden, so führte die Kurzarbeit in vielen Industriebetrieben zu starken Lohnkürzungen bei gleichbleibenden Lebenshaltungskosten. Diese waren in Tirol außerordentlich hoch und lagen in Innsbruck 16 Prozent über jenen von Wien. Hatten die Bauern im Jahr 1929 noch 30 Groschen für den Liter Milch bekommen, so erhielten sie nach einem rasanten Preisverfall im Jahr 1933 ein Drittel weniger, was viele Betriebe in eine Schuldenfalle trieb; selbst zur Deckung von Grundbedürfnissen mussten Kredite aufgenommen werden. Vom Sommer 1932 auf den Sommer 1933 verdreifachte sich die Zahl der Arbeitslosen im Hotel-, Gast- und Schankgewerbe. Tirol verzeichnete als Folge der „1000-Mark-Sperre“ die stärksten Tourismuseinbrüche aller österreichischen Bundesländer. Viele Betriebe gingen in Konkurs, zahlreiche Arbeitsplätze gingen verloren, aber auch Zulieferer standen vor dem Ruin. Die Arbeitslosigkeit nahm im Ständestaat (1934–1938), der die Deflationspolitik konsequent fortsetzte, kaum ab. Sie blieb vor allem im Gegensatz zu Deutschland sehr hoch, zumal Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen nur halbherzig gesetzt wurden. Im Jahr 1937 erhielten zudem nur ca. ¾ der im Jahresschnitt vorgemerkten Arbeitslosen eine finanzielle Unterstützung. Obwohl die „1000-Mark-Sperre“ im Jahr 1936 aufgehoben wurde, blieben die Nächtigungszahlen deutlich unter jenen des Jahres 1932. „Brot und Arbeit“ erwies sich damit weiter als die zugkräftigste Parole des Nationalsozialismus.

Soweit Roman Spiss, dessen Ausführungen im Original natürlich weit ausführlicher sind. Die Nationalsozialisten hatten also relativ leichtes politisches Spiel, doch sie versprachen der darbenden Bevölkerung nicht nur „Brot und Arbeit“, sondern sie sorgten auch dafür. Statt in der Massenarbeitslosigkeit dahinzuvegetieren, gab es für die Menschen plötzlich massenhaft Arbeit, wenn auch hauptsächlich zum Aufbau einer gewaltigen Kriegsmaschinerie. Aber das konnten damals wohl nur die wenigsten erahnen. Auch Andreas Landauer nicht. Erichs Vater hatte sich schon sehr früh für die Ideen des Nationalsozialismus begeistert und war der SA beigetreten. Erich kann sich noch ganz genau an jenen Tag erinnern, an dem der „Führer“ Adolf Hitler Innsbruck einen Besuch abgestattet hat. Dabei war Erich damals gerade einmal knapp über drei Jahre alt, das Erlebte hat er aber bis heute nicht vergessen: „Das war genau am 5. April 1938. Ich bin mit dem Vater bei der Messehalle gestanden, mitten unter tausenden Leuten. Und wie der Hitler dann in seinem Zug über den Viadukt-Bogen drübergefahren ist, haben die Leute gebrüllt und gewunken. Und ich als Dreijähriger hab dem Hitler natürlich auch zugewunken“, muss Erich heute noch schmunzeln.

Die Begeisterung über den Besuch des großen „Führers“ in Innsbruck war überaus gewaltig, mehr als 150.000 Menschen waren auf den Straßen. Fast das Doppelte der eigentlichen Einwohnerzahl. Am folgenden Tag berichteten und jubelten die „Innsbrucker Nachrichten“ auf zahlreichen Seiten über den Besuch des „Befreiers von Deutschösterreich“, wie Hitler in einer Schlagzeile genannt wurde. Das Titelbild an diesem 6. April 1938 kommt ohne jeden Text aus und zeigt formatfüllend ein Portrait von Hitler. Die Blattlinie der „Innsbrucker Nachrichten“ war inzwischen stramm im nationalsozialistischen Sinn ausgerichtet, es wimmelte im Inneren nur so von „ewig gierigen Juden“ oder von „frechen Juden-Lümmeln“, etwa bei Gerichtsreportagen. Das deutsche Volk, und damit identifizierten sich damals auch die meisten Tiroler, wurde Stück für Stück, Artikel für Artikel auf schwere Zeiten vorbereitet, „auf harte Prüfungen, auf das große Völker-Ringen, das uns der Feind aufzwingen wird“. Bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges dauerte es dann keine eineinhalb Jahre mehr …

Der Historiker Dr. Horst Schreiber hat über diese Zeit zahlreiche Publikationen geschrieben, unter anderem „1938: Der Anschluss in den Bezirken Tirols“. In seinen Veröffentlichungen beschreibt Horst Schreiber, mit welchen Mitteln die Nationalsozialisten die Tiroler Bevölkerung für sich gewinnen konnten:

Die Propaganda wandte sich zielgruppenbezogen an die einzelnen Berufssparten und Bevölkerungsschichten, im Mittelpunkt stand die Gewinnung der konservativ-bäuerlichen Landbevölkerung und der ArbeiterInnenschaft, denn Intelligenz, Mittelstand und Industrielle standen bereits mehrheitlich im nationalsozialistischen Lager. Großangelegte Aufbauprogramme und Entschuldungsaktionen für die darnieder liegende Landwirtschaft wurden ebenso angekündigt wie ein umfangreicher Katalog von Projekten und Vorhaben, mit denen die drückende Arbeitslosigkeit beseitigt und die miserable soziale Lage der ArbeiterInnen verbessert werden sollte. Bereits im April 1938 war ein Viertel der arbeitslos Gemeldeten in den Arbeitsprozess wieder eingegliedert worden. Viele „Ausgesteuerte“ erhielten wieder Arbeitslosengeld. Tausende Kinder und Hunderte ArbeiterInnen konnten öffentlichkeitswirksam kostenlos „zu den Brüdern ins Reich“ fahren. Die Einführung von Kinderbeihilfen, Ehestandsgeldern, freiwillige Lohnerhöhungen, öffentliche Ausspeisungen und ein generelles Pfändungs- und Versteigerungsverbot verfehlten nicht ihre Wirkung auf viele ArbeiterInnen, die jahrelang unter bitterer Not gelitten hatten.

1938 war in Tirol ein ausgeprägter Kaufboom zu verzeichnen, der der Konsumgüterindustrie und dem Handel zugutekam. Beim Umsatz der Konsumvereine, beim Verbrauch an Bier und Tabak, aber auch bei der Zulassung neuer Autos waren 1938 im Vergleich zum Vorjahr nicht nur deutliche Steigerungsraten festzustellen, Tirol lag bei all diesen Indikatoren an der Spitze oder auf den vordersten Plätzen der österreichischen Gaue.