Dr. Stephan Gundel, geb. 1979, Dr. rer. pol., Chefexperte Sicherheit der Gruner Gruppe. Seit 2006 internationale Beratungstätigkeiten im Bereich Sicherheits- und Risikomanagement bzw. Gefahrenabwehr für Unternehmen, Betreiber kritischer Infrastrukturen, Groß-Veranstalter sowie Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben. Zuvor wissenschaftlicher Mitarbeiter am betriebswirtschaftlichen Seminar der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau mit Forschungsschwerpunkt Risiko- und Sicherheitsmanagement. Forschungs- und Lehrtätigkeiten zur Entstehung sicherheitskritischer Ereignisse und ihrer Bewältigung, Sicherheit und Risikomanagement an verschiedenen Universitäten und Hochschulen. Buchautor und Herausgeber, diverse Publikationen in internationalen Fachzeitschriften.
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Print ISBN 978-3-415-06753-0
E-ISBN 978-3-415-06755-4
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Global Security
Sicherheit bei Auslands- und Reisetätigkeiten
Dr. Stephan Gundel
Chefexperte Sicherheit, Gruner Gruppe, Basel
Teil A Einführung in die Auslands- und Reisesicherheit
1. Auslands- und Reisetätigkeiten in einer globalisierten Welt
1.1 Die Entwicklung der Globalisierung: Ein kurzer historischer Überblick
1.2 Die globalisierte Wirtschaft
1.3 Der internationale Tourismus im Rahmen der Globalisierung
1.4 Die internationalen Organisationen, Nichtregierungsorganisationen sowie staatlichen Aktivitäten im Ausland
1.5 Die Entwicklung der Sicherheitslage für Auslands- und Reisetätigkeiten
2. Unterschiedliche Arten von Auslands- und Reisetätigkeiten
2.1 Gründe und Erscheinungsformen von Auslandsaktivitäten
2.2 Geschäftliche Auslands- und Reisetätigkeiten
2.3 Private und persönliche Auslands- und Reisetätigkeiten
2.4 Tätigkeiten internationaler Organisationen, NGOs und staatlicher Akteure
3. Besonderheiten der Auslands- und Reisesicherheit
3.1 Grundsätzliche Unterschiede zur national ausgerichteten Sicherheit
3.2 Bedeutung geografischer Gegebenheiten und Umwelteinflüsse
3.3 Bedeutung kultureller und gesellschaftlicher Gegebenheiten
3.4 Bedeutung rechtlicher Rahmenbedingungen
3.5 Bedeutung der politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen
3.6 Bedeutung der Grundversorgung und kritischen Infrastrukturen
3.7 Bedeutung der Leistungsfähigkeit der Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben/Notfallversorgung
3.8 Fazit: Die Bedeutung der allgemeinen Sicherheitslage im Ausland
4. Rechtliche Aspekte und Versicherungen
4.1 Der rechtliche Regelrahmen bei Auslandsaktivitäten
4.2 Fürsorgepflichten für Mitarbeitende (Duty of Care)
4.3 Berücksichtigung nationaler, sicherheitsrelevanter Vorschriften im Ausland
4.4 Internationale Standards zu Arbeitssicherheit, Gesundheits- und Umweltschutz
4.5 Fazit: Die Notwendigkeit eines grundsätzlichen Risiko- und Compliancemanagements bei Auslandstätigkeiten
4.6 Versicherungen bei Auslandsaktivitäten: Notwendigkeit und Besonderheiten
5. Beteiligte Stellen der Auslands- und Reisesicherheit
5.1 Aufbau eines Netzwerks für Auslands- und Reisetätigkeiten
5.2 Reisende, Expatriates und das persönliche Umfeld bei Auslands- und Reisetätigkeiten
5.3 Beteiligte Stellen in einem Unternehmen oder einer Organisation
5.4 Staatliche Stellen und Behörden
5.5 Anbieter von Dienstleistungen mit Bezug zur Auslands- und Reisesicherheit
5.6 Aufbau einer adäquaten Sicherheitsorganisation
Teil B Risikoeinschätzung bei Auslands- und Reisetätigkeiten
1. Die besondere Bedeutung einer adäquaten Risikoeinschätzung für Auslands- und Reisetätigkeiten
1.1 Die Einschätzung der Sicherheitslage als Grundlage von Aktivitäten im Ausland
1.2 Umfassende und systematische Betrachtung aller Risiken
1.3 Beschaffung von belastbaren Informationen
1.4 Risikobeurteilung und resultierende Konsequenzen
2. Systematisierung der Risiken bei Auslands- und Reisetätigkeiten
2.1 Grundsätzlicher Systematisierungsansatz der auslandsbezogenen Risiken
2.2 Einfluss der Dauer von Auslandsaktivitäten
2.3 Systematisierung nach Risikoarten
2.4 Exkurs: Reputationsrisiken bei internationalen Tätigkeiten
3. Risiken bei kurz- bis mittelfristigen Auslandstätigkeiten
3.1 Das Risikoprofil von Auslandsreisen und Auslandsreisenden
3.2 Das veränderte Risikoprofil bei mittelfristigen Auslandstätigkeiten
3.3 Administrative Unterstützung als Teil des Risikomanagements
3.4 Standardisierung von Risikoeinschätzungen
4. Risiken bei langfristigen Auslandstätigkeiten
4.1 Verschiebung von Risikoschwerpunkten
4.2 Langfristige Entwicklung des Tätigkeits- und Investitionsumfelds
4.3 Detaillierte Analyse von Tätigkeiten, Investitionen und Akteuren
4.4 Exkurs: Risiken bei rein finanziellen Transaktionen (Portfolioinvestitionen)
5. Beschaffung von Informationen zur Risikoeinschätzung
5.1 Allgemeine Informationsbeschaffung als Grundlage
5.2 Beschaffung spezifischer Informationen
5.3 Die Bedeutung einer transparenten Dokumentation der Informationsbeschaffung und Risikoeinschätzung
Teil C Maßnahmen der Auslands- und Reisesicherheit
1. Übersicht über die notwendigen Maßnahmen der Auslands- und Reisesicherheit
1.1 Die Bedeutung eines integralen Konzeptansatzes
1.2 Auftreten vor Ort: „low profile“ versus „show-of-force“
1.3 Der Zusammenhang zwischen Maßnahmen und Zeitverhältnissen
1.4 Erfolgsfaktoren und Grenzen von Interventionen
2. Vorbereitungsmaßnahmen für Auslands- und Reisetätigkeiten
2.1 Aktualisierung der Informationsbeschaffung und Risikoeinschätzung
2.2 Erstellung des Sicherheitskonzepts und Definition der Schutzmaßnahmen
2.3 Auswahl und Vorbereitung von Reisenden, Expatriates und Partnern in der Sicherheitsorganisation
2.4 Dokumentation und Überprüfung der Schutzmaßnahmen
2.5 Standardisierung im Rahmen eines Reise-Risikomanagements
3. Sichere Durchführung der Auslands- und Reisetätigkeiten
3.1 Gesundheitsvorsorge und Hygiene
3.2 Transport und Logistik im Ausland
3.3 Hotels und Standorte im Ausland
3.4 Schutz besonders exponierter Personen
3.5 Gewährleistung der Versorgungssicherheit im Ausland
3.6 Informationssicherheit und Datenschutz im Ausland
3.7 Schutz von rein finanziellen Transaktionen
4. Intervention bei Ereignissen
4.1 Das Auftreten sicherheitskritischer Ereignisse bei Auslandstätigkeiten
4.2 Vorgehen bei genereller Veränderung der Sicherheitslage
4.3 Vorgehen bei konkreten sicherheitskritischen Ereignissen
4.4 Zusammenarbeit mit Behörden und Dienstleistern
4.5 Kommunikation bei internationalen Ereignissen
5. Beendigung und Nachbereitung einer Auslands- und Reisetätigkeit
5.1 (Planmäßiger) Abschluss einer Auslandsaktivität
5.2 Vorgehen zum Rückzug aus dem Ausland
5.3 (Nach-)Betreuung der eingesetzten Personen
5.4 Dokumentation und Geheimhaltung
Stichwortverzeichnis
Sicherheit ist ein unverzichtbarer Bestandteil des Lebens, für jedes Individuum ebenso wie für Gruppen von Menschen, für Organisationen oder gar Länder. Natürlich hat die Gesellschaft gelernt, dass es eine sichere Welt – eine Welt buchstäblich ohne Unsicherheit – nicht geben kann, dass wir täglich und immer wieder neu auch mit Unsicherheiten leben, doch ändert das nichts am existenziellen Wunsch, Unsicherheiten zu vermeiden oder zu verhindern. Über viele Jahre apostrophierte man diesen existenziellen Wunsch mit der Aussage „Sicherheit ist nicht alles, doch ohne Sicherheit ist alles nichts.“
Sicherheit ist dabei im allgemeinen Verständnis der Zustand, der für Individuen, Gemeinschaften, Organisationen, Objekte und Systeme oder sogar Länder und Kontinente frei von unvertretbaren Risiken ist oder als gefahrenfrei angesehen wird. Diesen Zustand erleben wir als objektive Sicherheit im Sinne des tatsächlichen (objektiven) Nichtvorhandenseins von Gefährdung sowie als subjektive Sicherheit im Sinne der Abwesenheit von Furcht vor Gefährdung. Insbesondere die weltweite Entwicklung der menschlichen Gesellschaft zu einer medialen Weltgemeinschaft, d.h. die Verbreitung von Nachrichten und Informationen jeglicher Art zu jedem Zeitpunkt und zu jedem Ort dieser Welt, führt immer wieder und immer mehr zur Diskussion, inwiefern sich die tatsächliche Sicherheit und die gefühlte Sicherheit, die objektive und die subjektive Sicherheitslage, weiter voneinander entfernen. Während zum Beispiel Kriminalstatistiken regelmäßig belegen, wie „überschaubar“ die objektive Sicherheitslage ist, steigt die Kriminalitätsfurcht der Menschen ungehindert an.
Der Sicherheitsbegriff wird in der gesellschaftlichen Diskussion, egal ob politisch, wissenschaftlich oder allgemein gesellschaftlich, überdies sehr kontrovers behandelt. Manche behaupten, dass es generell keinen Konsens über die Spannweite des Begriffs gibt. War Sicherheit früher hauptsächlich ein nationalstaatlich verstandener Zustand, d.h. vor allem die Vermeidung kriegerischer Angriffe oder Auseinandersetzungen, wird er heute weitaus allgemeiner verstanden und auf nahezu alle Lebensbereiche ausgedehnt. Das tatsächliche oder vermeintliche Fehlen von Sicherheit wird täglich neu zu allen möglichen Feldern des Lebens diskutiert. Die gemeinhin verwendete Vokabel hierzu ist das Wort „Krise“. So leben wir seit den letzten Jahrzehnten mit immer neuen Krisen: Ölkrise, Energiekrise, EU-Krise, Rentenkrise, Wirtschaftskrise, Finanzkrise, Umweltkrise und der neuartigen Corona- bzw. Gesundheitskrise, welche die ganze Welt erfasst hat.
Es ist nicht ansatzweise Ziel dieser Aufzählung, krisenhafte Situationen oder Zustände zu banalisieren oder die Anstrengungen zu ihrer Bewältigung ins Lächerliche zu ziehen. Tatsächlich aber hat vor allem die mediale Entwicklung der letzten 10–15 Jahre zur Folge, dass viele Menschen das Leben wenigstens medial nur noch als krisen-geschüttelt erleben. Tatsächlich ist es aber weniger ein „Erleben“ als mehr ein „Erfahren“, aus der Schilderung anderer, allenfalls aus rein kommerziellen Gründen. Die Gegenbewegung der Menschen, die Berichte über Risiko- oder Krisen-Zustände im Einzelfall oder generell ablehnt, skandiert: „Fake-News!“ Im Ergebnis glauben sie nicht, was berichtet wird.
Doch Sicherheit ist generell immer relativ – absolute Sicherheit gibt es ebenso wenig wie absolute Freiheit. Die Meisten haben gelernt, Sicherheit als relativen Zustand der Gefahrenfreiheit anzusehen, der stets nur für einen bestimmten Zeitraum, eine bestimmte Umgebung oder unter bestimmten Bedingungen gegeben ist. Genau dieses sachliche Verständnis konnte und kann, wenigstens in Europa, zur Grundlage des täglichen Lebens gemacht werden. So befinden sich die meisten Menschen in der sog. „westlichen“ Welt in einer sehr komfortablen Situation und haben sich an sie gewöhnt. Objektiv gesehen leben wir hier in einer doch recht sicheren Umgebung. Nachrichten über Gefahren und Risiken dieser Welt werden zwar interessiert, aber dennoch mehrheitlich sehr gelassen zur Kenntnis genommen, treffen sie doch nicht für den eigenen Erlebnisraum zu. Die Situation im Hinblick auf Flüchtlingsströme und gegenwärtig bezüglich des Coronavirus seien einmal außer Betracht gelassen.
Eine große Schwäche besteht jedoch darin, dass diese Gelassenheit auch weitergelebt wird, wenn das persönliche Umfeld verlassen wird. Innerhalb des üblichen gesellschaftlichen Umfeldes, zum Beispiel innerhalb eines Landes, ist das noch nicht besonders relevant. Wenn dieses Verhalten aber auf Reisen in weit entfernte Welt- und Kulturräume an den Tag gelegt wird, dann ist es nicht Gelassenheit, sondern Nachlässigkeit, mindestens fahrlässig. Diese Nachlässigkeit sieht Gefahren und Risiken nicht, relativiert sie oder blendet sie aus, um nicht in Handlungszwänge zu kommen.
Dieses Risiko ist umso beachtenswerter, je größer die Unterschiede in klimatischer, politischer, kultureller und gesellschaftlicher Natur sind. Und es betrifft vor allem Menschen und Organisationen, die sich aus privaten wie beruflichen Gründen außerhalb dieser Inseln des Gewohnten bewegen. Das können Touristen genauso sein wie Mitarbeiter/innen staatlicher oder sog. Nicht-Regierungs-Institutionen. Es sind gerade im exportorientierten Europa aber auch viele Mitarbeiter/innen von Firmen, die Geschäfte im internationalen Bereich abschließen, Handel treiben, Anlagen errichten oder warten und vieles mehr.
So ist in den letzten Jahren die Bereitschaft, sich mit Reisesicherheit und der Sicherheit im Ausland auseinanderzusetzen und Maßnahmen zu ihrer Gewährleistung zu ergreifen, deutlich gestiegen. Das soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass noch viel „Raum nach oben“ besteht, wie immer wieder Beispiele der völlig unterlassenen oder unzureichenden Vorbereitung auf Reisen in das Ausland, in Risikobereiche zeigen. Damit gemeint sind insbesondere nicht nur Kriegs- und sogenannte (bekannte) Krisengebiete.
Ist im Rahmen einer privaten Reise der oder die Einzelne für seine Sicherheit verantwortlich, so ist es bei einer dienstlich oder arbeitsmäßig begründeten Reise anders. Hier obliegt dem jeweiligen Arbeitgeber die Pflicht, für das Wohlergehen, die Sicherheit und Gesundheit seiner Mitarbeiter/innen Sorge zu tragen. Das regeln rein rechtlich entsprechende gesetzliche Pflichten. Zumindest deutsche Gerichte haben ihre Spruchpraxis zur Verantwortlichkeit von Firmen in den letzten Jahren verschärft. Im Ergebnis sind vor, während und nach einer Reise die geeigneten und erforderlichen Maßnahmen für die Sicherheit der reisenden Mitarbeiter/innen einzuleiten. Der Arbeitgeber trägt das Haftungsrisiko. Die Mitarbeiter/innen haben eine Mitwirkungspflicht.
Die Vorbereitung auf Reisen ins Ausland und ggf. den längeren Aufenthalt dort, die Maßnahmen vor Ort und die Maßnahmen nach einer Rückkehr sind derart vielfältig, dass viele Menschen darüber weder Wissen oder auch nur annähernd einen Überblick haben. Unterschiedliche kulturelle Gepflogenheiten, risikobehaftete Unterschiede in gesellschaftlichen Gebräuchen, die berühmten „to do and not to do“-Ratschläge, Sprache, Kriminalitätsrisiken sind nur einige Stichworte. Genauso müssen im geschäftlichen Bereich auch operationelle Risiken berücksichtigt werden. Nicht zuletzt ist die gesundheitliche Vorsorge mit aktuellen und länderspezifischen medizinischen Informationen, Ansteckungsrisiken, vorherrschenden Krankheiten, notwendigen Impfungen und Verhaltenshinweisen ein äußerst wichtiges Handlungsfeld.
So bestehen unzweifelhaft die Notwendigkeit und ein großer Bedarf, mit spezifischen Sicherheitskonzepten zu beschreiben, wie in materieller, personeller, technischer und organisatorischer Hinsicht Reisende und Auslandstätigkeiten zu schützen sind. Mit diesen Überlegungen befasste oder beauftragte Personen, privat genauso wie in einem Unternehmen oder einer Institution bzw. Organisation, sind damit oftmals überfordert oder wenig in der Lage, derartige Überlegungen und insbesondere Konzepte zu entwickeln. Zu vielgestaltig und zu vielfältig sind die Informationen, die Beurteilung der Quellen, ihrer Relevanz, der möglichen Partner und mehr. Nicht nur europaweit haben sich deshalb viele Dienstleister entwickelt, die diese Aufgabe übernehmen. Der Markt ist größer geworden in den letzten 10–15 Jahren, und so ist auch die Vielfalt der Dienstleister gewachsen. Für den potenziellen Kunden ist es nicht einfach, den richtigen Dienstleister zu identifizieren oder konkurrierende Angebote im Hinblick auf ihre fachlichen Inhalte zu bewerten. Im Extremfall wird die Entscheidung einer Unternehmens- oder Organisationsleitung, für die Sicherheit im Zusammenhang mit einer geplanten Reise oder Auslandsaktivität zu sorgen und ein entsprechendes Konzept aufzustellen, in der Hierarchieleiter immer weiter nach unten delegiert, bis der Letzte einfach eine Suchmaschine (analog oder digital) konsultiert und einen Auftrag auslöst. Zufällig ist der gewählte Dienstleister ungeeignet – wie sich leidvoll später herausstellt.
Tatsächlich ist das kein angenommenes Szenario, sondern lässt sich mit Beispielen belegen. Im Extremfall kann es dazu führen, dass eine wirtschaftlich gute Idee, ein erfolgsträchtiges Geschäft, ein sinnvolles Vorhaben vor Ort sofort oder nach einer gewissen Zeit scheitert. Eine derart betroffene Firma oder Gesellschaft verliert nicht nur den erwarteten Gewinn und ihre bis dahin getätigten Investitionen, sondern gegebenenfalls einen Teil ihrer Marktposition, ihres Rufes, ihrer Zukunftsfähigkeit. Sie verliert vor allem auch das Vertrauen ihrer Mitarbeiter/innen und deren Bereitschaft, sich für den Arbeitgeber auf Reisen und mit ggf. längeren Aufenthalten im Ausland zu engagieren. Das betrifft nicht nur kleinere und die vielen mittelständischen Unternehmen, von denen sowohl in Deutschland wie in anderen Ländern Europas viele (noch) Weltmarktführer sind, sondern ggf. auch große Unternehmen, die über eigene Abteilungen im In- wie Ausland verfügen, um derartige Sicherheitskonzepte zu erstellen.
Umso erfreulicher ist es, dass sich der Autor dieses Buches damit befasst hat, die breite Palette notwendiger Überlegungen, aktuellen Wissens, die Vielfalt zu beurteilender Aspekte und die Breite konzeptioneller Überlegungen unabhängig vom Angebot eines oder mehrerer Dienstleister in einem umfassenden Werk darzustellen.
Er schafft damit die Basis für alle Verantwortlichen, sich mit dem Thema Reisesicherheit und der Sicherheit im Ausland umfassend zu beschäftigen, sodass sie notwendige Schritte erkennen, planen und durchführen oder geeignete Dienstleister identifizieren und beauftragen können. Ich wünsche dem Buch daher viele, vor allem ernsthaft an Reisesicherheit und Sicherheit im Ausland interessierte Leser/innen, seien sie privat oder beruflich motiviert und beauftragt.
Berlin, im Frühjahr 2020 |
Heinz-Werner Aping |
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Direktor beim Bundeskriminalamt a.D. |
Nur die Suche nach Abenteuern, sagte er, triebe mich, das Vaterhaus zu verlassen und die Heimat aufzugeben, in der ich mein Glück machen könnte. „Hast Du nicht die besten Aussichten“, fuhr er fort, „hier ein ruhiges und sorgenfreies Leben zu führen? Nur Menschen in einer verzweifelten Lage oder solche, bei denen ein falscher Ehrgeiz die treibende Kraft ist, gehen außer Landes auf Abenteuer und wollen durch Taten emporkommen, die weitab vom gewöhnlichen Weg liegen."
Daniel Defoe, Robinson Crusoe
Bereits zu Zeiten von Daniel Defoes weltberühmter Romanfigur Robinson Crusoe war der Schritt ins Ausland Schreckensvorstellung und Verlockung zugleich. Heute, fast genau 300 Jahre nach der Erstveröffentlichung dieses schriftstellerisch verdichteten Tatsachenberichts, üben internationale Aktivitäten auf Menschen in deutschsprachigen Ländern weiterhin ungebrochenen Reiz aus: In einer globalisierten Welt konkurriert Deutschland jährlich um den Titel des „Exportweltmeisters“, besuchen bereits Schüler und Studenten1 aus Österreich selbstverständlich Bildungseinrichtungen in aller Herren Länder und fast in jedem Winkel der Erde trifft man auf reisefreudige Schweizer, die ihren Horizont erweitern wollen.
Nicht immer sind die dabei gewonnenen Eindrücke und Erlebnisse ausschließlich positiv. Internationale Wirtschaftsaktivitäten gleichen vielfach einer Expedition ins Ungewisse, auf der Kriminalität, Haftungsrisiken, ungewohnte Umwelteinflüsse oder ein undurchsichtiger rechtlicher Regelrahmen darauf warten, die Handelnden ins sprichwörtliche Verderben zu stürzen. Berufliche oder mitunter auch touristische Auslandsaufenthalte konfrontieren etliche Mitbürgerinnen und Mitbürger regelmäßig mit fragwürdigen Personen und kritischen Situationen, aus denen es in einem fremden Land auf die Schnelle nur schwer zu findende Auswege gibt. Bei internationalen Engagements in den Krisenregionen dieser Welt, den Schwellen- und Entwicklungsländern gilt dies schließlich in verstärktem Maß: Die Abgründe und manchmal auch das Grauen, welche sich vor den Augen der Diplomaten, Entwicklungshelfer, Freiwilligen oder Mitarbeitenden von internationalen Institutionen und Nichtregierungsorganisationen, aber auch Unternehmen, abspielen, hallen oft über lange Zeit nach.
Sicherheitskritische Ereignisse können sich in diesem Umfeld von ärgerlichen, aber verschmerzbaren Lappalien (wie dem Diebstahl persönlicher Gegenstände auf einer Urlaubsreise) über wirtschaftlich einschneidende Totalverluste bei Investitionen im Ausland bis hin zu Schäden an Gesundheit, Leib und Leben ergeben. Zur präventiven Vermeidung sowie Bewältigung derartiger Ereignisse soll das vorliegende Buch eine strukturierte Hilfestellung geben. Es betrachtet den Bereich der Auslands- und Reisesicherheit gesamthaft und geht dabei über die in der einschlägigen Literatur bereits verschiedentlich abgehandelten Fragestellungen des originären „Travel Risk Management“ deutlich hinaus. Aspekte der Reisesicherheit werden daher ebenso beleuchtet wie etwa die Sicherheit von Standorten, Informationen und Daten, internationaler Wertschöpfungs- und Lieferketten oder der Schutz der Reputation. Zu diesem Zweck ist das Buch in drei Hauptteile gegliedert:
■ Der einführende Teil A erläutert die Grundlagen der Sicherheit in einem internationalen Kontext, beschreibt die unterschiedlichen Arten der Auslands- und Reisetätigkeiten, ihre jeweiligen sicherheitsrelevanten Besonderheiten, zeigt den rechtlichen Regelrahmen auf und verdeutlicht die Vielfalt beteiligter Stellen und Institutionen bei Fragestellungen der internationalen Sicherheit.
■ Darauf aufbauend widmet sich Teil B der äußerst bedeutsamen Risikoeinschätzung für Auslands- und Reisetätigkeiten, ohne die internationale Aktivitäten rasch zum kaum überschaubaren Abenteuer werden können. Neben einer Systematisierung und Darstellung der typischerweise auftretenden, auslandsbezogenen Risiken erläutert es Methoden und Quellen der häufig sehr anspruchsvollen Informationsbeschaffung.
■ In Teil C werden schließlich die relevanten Maßnahmen der Auslands- und Reisesicherheit thematisch geordnet beschrieben. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der sicheren Durchführung von Auslands- und Reisetätigkeiten, aber auch grundsätzliche konzeptionelle Fragen, die Vor- und Nachbereitung von Auslandsaktivitäten sowie Möglichkeiten und Grenzen von Interventionen bei sicherheitskritischen Ereignissen werden beleuchtet.
Aufbau und Inhalte der einzelnen Teile sind in der nachfolgenden, schematischen Darstellung 1 grafisch verdeutlicht.
Aufgrund der unüberschaubaren Vielfalt relevanter Aspekte sowie der hohen Dynamik der gegenständlichen Thematik kann selbst eine umfassende, sorgfältig recherchierte Ausarbeitung wie das vorliegende Buch keine abschließende und dauerhaft aktuelle Grundlage für individuelle Überlegungen zur Auslands- und Reisesicherheit sein. Für die interessierte Leserschaft sind daher an vielen Stellen der nachfolgenden Ausführungen Verweise auf weitergehende Quellen eingefügt, deren Konsultation bereits jetzt ausdrücklich empfohlen wird. Auch die im Weiteren verschiedentlich ins Gedächtnis gerufene Tatsache, dass jeder Einzelfall individuell zu analysieren bzw. zu betrachten ist, soll eingangs bereits explizit erwähnt werden – in der Hoffnung, dass das vorliegende Buch dennoch für eine Vielzahl unterschiedlicher Vorhaben im Ausland eine wertvolle Lektüre und Nachschlagehilfe ist.
Abschließend darf zudem nicht unerwähnt bleiben, dass das vorliegende Buch ohne die frühzeitige und vielfältige Unterstützung des Richard Boorberg Verlags nicht in dieser professionellen Erscheinungsform hätte entstehen können. Selbst für einen traditionsreichen, hoch spezialisierten Fachverlag ist die Neuherausgabe eines solchen Werkes heutzutage eine aufwändige und wirtschaftlich riskante Herausforderung. Der zuständige Lektor Ass. jur. Lutz-Achim Weber hat sich dennoch mit hohem Engagement, großer Sachkenntnis und Geduld sowie vielen äußerst wertvollen Hinweisen optimistisch dieser Aufgabe angenommen und somit wesentlich zum Gelingen des Buchs beigetragen.
Basel, im Frühjahr 2020 |
Dr. Stephan Gundel |
Bei kurz- bis mittelfristigen Auslandstätigkeiten determinieren im Wesentlichen die persönlichen Eigenschaften und Fähigkeiten des Reisenden bzw. Expatriates in Kombination mit der aktuellen Sicherheitslage des Ziellandes die zu berücksichtigende Risikosituation. Dabei werden diesbezügliche Prognosen allenfalls über einen zumeist noch vergleichsweise überschaubaren Zeitraum von bis zu 24 Monaten notwendig. Bei langfristig angelegten Auslandstätigkeiten dagegen ist aus verschiedenen Gründen eine Verschiebung von Risikoschwerpunkten zu beobachten, die eng mit den nun relevanten Tätigkeitsprofilen im Ausland zusammenhängt. Die dabei zu berücksichtigenden Einflussfaktoren ergeben sich aus Darstellung 13.
Immobilität als wichtiges Merkmal
Unternehmen engagieren sich bei langfristigen Projekttätigkeiten, internationalem Outsourcing, Lizenzierungen oder Lieferbeziehungen sowie ausländischen Direktinvestitionen mehrheitlich in einem deutlich anderen Umfang bzw. anderen Art vor Ort, als dies bei befristeten Aktivitäten der Fall ist: Hierbei rücken vor allem höhere Investitionen in Sach- oder immaterielle Werte in den Vordergrund, die vor Verlusten verschiedenster Art geschützt werden müssen. Dadurch ergibt sich fast zwangsläufig eine Immobilität dieser Schutzgüter, die einen raschen Abbruch von Auslandsaktivitäten – der bei kurz- bis mittelfristigen Tätigkeiten im Ereignisfall zumeist eine schnelle und hinsichtlich der geringen damit verbundenen Verlustrisiken sinnvolle Option ist – in den wenigsten Fällen opportun erscheinen lassen.
Bei langfristigen Aktivitäten von staatlichen und internationalen Institutionen sowie internationalen (Nichtregierungs-)Organisationen ergibt sich grundsätzlich ein ähnliches Bild. Auch sie engagieren sich in deutlich größerem Umfang mit Investitionen in Sachgüter oder – sofern man hier von Investitionen im übertragenen Sinne sprechen möchte – in Netzwerke und Beziehungen vor Ort. Die Übernahme, Einrichtung und der dauerhafte Betrieb von Standorten werfen dabei genauso wie die in der Regel entstehenden, umfangreichen Netzwerke vor Ort andere Risiken auf als die kurz- bis mittelfristige Entsendung von Mitarbeitenden, deren persönlicher Schutz zielgerichtet gewährleistet werden muss.
Einbettung in globale Liefer- und Wertschöpfungsketten
In diesem Zusammenhang ist auch zu berücksichtigen, dass unternehmerische, langfristige Auslandstätigkeiten nicht selten im Sinne sogenannter vertikaler Auslandsdirektinvestitionen auch dem Aufbau globaler Lieferketten bzw. Wertschöpfungsketten dienen,409 sodass dem Business Continuity Management eine erhebliche Bedeutung zukommt. Probleme bei Auslandstätigkeiten betreffen hier dann nicht nur ein Land, sondern im ungünstigsten Fall praktisch die gesamte Wertschöpfungskette eines Unternehmens.
Langfristige private Auslandsaufenthalte
In geringerem Ausmaß gelten die obigen Ausführungen schließlich auch für außergewöhnlich lange touristische oder private Auslandsaufenthalte, die sich aufgrund von besonderen Reisetätigkeiten, der Einrichtung von Zweitwohnsitzen, Studien- oder Arbeitsaufenthalten ergeben können. Auch in diesen Fällen entstehen häufig finanzielle, emotionale oder administrative Bindungen ins Ausland, die im Bedarfsfall nicht ohne Weiteres schnell und möglichst verlustarm „gekappt“ werden können.
Betrachtet man diese soeben kurz skizzierten Besonderheiten der langfristigen Auslandsaktivitäten aus dem Blickwinkel einer Risikobetrachtung, lassen sich folgende sicherheitsrelevante Eigenarten identifizieren.
„Stay and deliver“
Mit zunehmender Dauer der Auslandsaktivitäten nimmt der Handlungsspielraum für kurzfristige Interventionen und Evakuierungen ab. Gemäß dem Motto „stay and deliver“ müssen langfristig im Ausland engagierte Akteure in der Lage sein, möglichst rasch auf veränderte Rahmenbedingungen zu reagieren und ihre Interessen auch bei ungünstigen Entwicklungen noch zu wahren. Die dafür notwendigen Ressourcen respektive im Ernstfall resultierenden Belastungen für die handelnden Personen, Reputation und finanziellen Mittel der betroffenen Unternehmen, Organisationen und Institutionen müssen im Zuge der Risikoeinschätzung zwingend mitbewertet werden.
Das Bedürfnis nach flexiblen Sicherheitskonzepten
In Verbindung mit dieser langfristigen Präsenz müssen Risikoeinschätzungen,Sicherheitskonzepte und Schutzmaßnahmen hochflexibel sein. Bereits bei der initialen Analyse und Beurteilung der Risikosituation und ihrer Entwicklung sollten Kriterien definiert werden, mit denen zukünftig und kurzfristig die Sicherheitslage in einem Land, einer Region oder Stadt von den beteiligten Akteuren re-evaluiert wird. Dabei muss verbindlich festgelegt werden, welche möglichst präventiv wirkenden (zusätzlichen) Maßnahmen dann jeweils zu ergreifen sind.
Territorialitätsprinzip und rechtlicher Regelrahmen
Die Bedeutung des rechtlichen Regelrahmens aus dem jeweiligen Heimatland nimmt bei Auslandstätigkeiten mit einer Dauer von über 2 Jahren zumeist erheblich ab. Dies betrifft einerseits den gesamten Themenkomplex der dann obsoleten Ausstrahlung von Regelungen im Bereich Sozialversicherungen, Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz, welche durch die diesbezüglichen, lokalen Regelwerke ersetzt werden. Hier ergeben sich Sicherheits- und Reputationsrisiken, wenn die ausländischen Standards nicht minimalen Anforderungen genügen. Andererseits fallen die örtlich gemäß dem Territorialitätsprinzip gültigen Gesetze und Verordnungen im Bereich des Ordnungs- und Polizeirechts, des Steuer- oder Strafrechts erheblich ins Gewicht; ihre materiellen Bestimmungen, die Durchsetzung durch die Gerichtsbarkeit und die generelle Stabilität des Rechtssystems sind daher erhebliche Einflussfaktoren auf die Risikosituation für ausländische Akteure.
Lokale Mitarbeitende und lokales Netzwerk
Bei langfristigen Auslandstätigkeiten wird in der Regel in großem Umfang mit lokalen Mitarbeitenden gearbeitet. Die bei kurz- bis mittelfristigen Auslandsaktivitäten so bedeutsamen medizinischen bzw. Security-Risiken für Reisende treten daher vielfach zugunsten der mit einer „local workforce“ verbundenen Besonderheiten zurück. Diese Mitarbeitenden können zwar einerseits unauffälliger und somit grundsätzlich sicherer vor Ort agieren. Sie sind in Abhängigkeit von der allgemeinen Sicherheitslage des Landes sowie der spezifischen Rolle ihres deutschen, österreichischen oder Schweizer Arbeitgebers jedoch selbst möglicherweise ebenfalls erheblichen Risiken ausgesetzt – im Zweifelsfall auch über ihr Arbeitsverhältnis hinaus. Weiterhin kann eine lokale Belegschaft überdies – gewollt oder ungewollt – die gesamte Bandbreite lokaler ethnischer, religiöser oder kultureller Konflikte bzw. das örtliche Kriminalitätsniveau in die Einflusssphäre des Arbeitgebers hineintragen, sodass die notwendigen Maßnahmen zur Auswahl und Betreuung dieser lokalen Mitarbeitenden ein wesentlicher Teil der Risikoeinschätzung sein müssen.410
Schließlich ist auch – in noch viel stärkerem Maße als bei mittelfristigen Auslandstätigkeiten – das zwangsläufig entstehende Netzwerk vor Ort in die Risikoeinschätzung einzubeziehen. Einerseits können lokale Geschäftspartner, Dienstleister oder Behördenkontakte durch ihre Ortskenntnisse bzw. Beziehungen und Kompetenzen vor Ort in erheblichem Umfang risikominierend wirken, auf der anderen Seite jedoch auch – insbesondere im Bereich der Security-Risiken – umfassende Schäden verursachen. Letzteres ist der Fall, wenn sie sich beispielsweise korrupt, kriminell oder durch schlichte Faulheit und Inkompetenz geschäftsschädigend verhalten. Auch die genaue Analyse dieser designierten Partner muss daher im Rahmen einer Risikoeinschätzung den notwendigen Raum einnehmen.
Fasst man die soeben dargestellten, risikorelevanten Besonderheiten langfristiger Auslandsaktivitäten zusammen, so sind über die bereits aus der Betrachtung kurz- bis mittelfristiger Auslands- und Reisetätigkeiten bekannten Risikofaktoren hinaus vor allem zwei Analyseschwerpunkte relevant: Einerseits muss im Zuge einschlägiger Risikoeinschätzungen die langfristige Entwicklung des Tätigkeits- und Investitionsumfeldes im Zielland generell analysiert und beurteilt werden; hier kommt also der abgesicherten Prognose zukünftiger Entwicklungen sowie der Entwicklung dynamischer Prozesse zur Risikoverfolgung eine wesentliche Rolle zu. Auf der anderen Seite müssen konkret geplante Tätigkeiten und Investitionen sowie die mit ihnen verbundenen Akteure bzw. Netzwerke vor Ort sorgfältig und ebenfalls hinsichtlich ihrer langfristigen Entwicklung sehr detailliert beleuchtet werden, um nicht unangenehme Überraschungen zu erleben. Diese beiden Sachverhalte werden in den beiden nachfolgenden Unterkapiteln vertieft betrachtet. Abschließend wird sich schließlich noch den Besonderheiten rein finanzieller Portfolioinvestitionen im Ausland und den mit ihnen verbundenen Risiken gewidmet.
Werden langfristige Auslandsaktivitäten ins Auge gefasst, muss sich auch die Risikoeinschätzung an einem Zeithorizont entsprechender Dauer orientieren. Realistisch sind in einer immer volatiler werdenden Welt dabei Zeitfenster von 2–5 Jahren, da noch langfristigere Prognosen insbesondere sicherheitsrelevanter Einflussfaktoren heutzutage kaum mehr möglich sind. Auf diese generellen Limitationen der Prognosequalität, gerade hinsichtlich der in Schwellen- und Entwicklungsländern besonders fragilen politischen und wirtschaftlichen Lage, sollte bei allen entsprechenden Risikoanalysen immer explizit hingewiesen werden. Dennoch muss versucht werden, die aktuelle Situation sowie langfristige Entwicklung des allgemeinen Tätigkeits- und Investitionsumfelds in einem Land, einer Region oder Stadt möglichst klar einzuschätzen.
Beispiel
Die relevanten Schwerpunkte der langfristigen Risikoanalyse können je nach geplanter Auslandsaktivität variieren. Eine humanitäre Nichtregierungsorganisation, die in einem afrikanischen Schwellenland Bildungsangebote aufbauen möchte, wird sich aus naheliegenden Gründen mit anderen langfristigen Einflussfaktoren befassen müssen als ein mittelständischer Getränkehersteller, der im europäischen Ausland Verkaufsniederlassungen eröffnen will.
Dennoch lassen sich für die Risikoeinschätzung relevante Rahmenbedingungen in allgemeingültiger Form definieren, die für jede langfristige Auslandstätigkeit zu evaluieren sind. Hierzu gehören:
■ Die natürlichen Rahmenbedingungen und ihre Entwicklung, d.h. klimatische Einflussfaktoren, Exposition bezogen auf Naturgefahren etc.
■ Die demografische Entwicklung und Siedlungsgeographie, d.h. insbesondere Altersstruktur der Bevölkerung, Bevölkerungsentwicklung und Verteilung der Bevölkerung innerhalb eines Landes.
■ Das vorhandene politische System und seine Stabilität, d.h. die grundsätzliche Staatsform und staatliche Organe, Möglichkeiten zur politischen Teilhabe und Einflussnahme, Struktur und Zusammensetzung politischer Parteien und Gruppierungen, schwelende Regionalkonflikte sowie die nächsten Wahltermine (in demokratischen Ländern) bzw. bekannten Nachfolgeregelungen.
■ Die kulturellen Gegebenheiten und ihre Entwicklung, d.h. grundsätzliche gesellschaftliche Strukturen und Normen, Einstellungen gegenüber dem eigenen Herkunftsland bzw. allgemein europäischen Nationen und Werten, gesellschaftliche Modernisierungs- oder Regressionstendenzen, (zukünftige) Auswirkungen gesellschaftlicher Einstellungen auf geplante Vorhaben etc.
■ Das vorhandene Rechtssystem, d.h. grundlegende Rechtsphilosophie, Gesetzgebung und Rechtstaatlichkeit, Schutz von grundlegenden Rechtsgütern, Stellung, Aufgaben, Ressourcen und Unabhängigkeit von Gerichten und Exekutivorganen, generelle Gewaltenteilung in einem Land, politische Einflussnahmen auf die Gerichtsbarkeit, Struktur und Dauer von rechtlichen Verfahren, Vorgehen zur Besetzung von Schlüsselpositionen etc.
■ Wirtschaftliche Entwicklung und wirtschaftsnahe Institutionen, d.h. Bruttoinlandsprodukt, Pro-Kopf-Einkommen sowie (prognostiziertes) Wirtschaftswachstum, Verschuldung der öffentlichen und privaten Haushalte, Währungssystem und etwaige Wechselkursrisiken, Wirtschafts- und Investitionsförderung des Staates, generelle Außenhandelspolitik und Außenhandelsbestimmungen (Einfuhrbestimmungen, Local-Content-Bestimmungen, Zölle etc.), Struktur und Dauer von Genehmigungsverfahren bzw. Bürokratie allgemein, Umgang mit geistigem Eigentum und gewerblichen Schutzrechten etc.
■ Die Verfügbarkeit und Entwicklung kritischer Infrastrukturen, d.h. Transport und Verkehr, Energieversorgung, Gesundheitswesen, Ernährung und weitere Bestandteile der an verschiedenen Stellen bereits beschriebenen, grundlegenden staatlichen Daseinsvorsorge. Hier sind der IST-Zustand hinsichtlich Umfang bzw. Abdeckung, etwaiger Sanierungsbedarf ebenso wie laufende oder angekündigte Investitionsvorhaben zu berücksichtigen.
■ Die allgemeine Sicherheits- und Kriminalitätslage sowie ihre Entwicklung, d.h. Kriminalitätsaufkommen allgemein und in spezifischen Deliktsfeldern bzw. Branchen, Verankerung organisierter Kriminalität und/oder terroristischer Strukturen in der Gesellschaft, funktionierende Polizeibehörden und/oder Existenz de facto rechtsfreier Räume etc.
Bereits die aktuelle Erhebung der im vorgenannten Kontext relevanten Informationen und Daten ist eine umfangreiche Aufgabe, die mit zunehmendem Prognosezeitraum offensichtlich nicht einfacher wird. Hierbei muss zwangsläufig mit Annahmen über die Entwicklung interagierender Variablen gearbeitet werden. Hintergrund ist, dass zum Beispiel politische Wahlentscheidungen, staatliche oder unternehmerische Investitionsprojekte mit derart hohen Unsicherheiten behaftet sind, dass jeweils verschiedene Eventualitäten zu berücksichtigen sind – die sich wiederum auf andere Einflussfaktoren auswirken können. Zumeist lassen sich daher für viele der vorgenannten Felder nur Tendenzen aufzeigen, die wiederum je nach avisiertem Zeithorizont um kurz- bis mittelfristige Schwankungen (etwa unvermeidliche Rezessionen) zu bereinigen sind.
Die Beschaffung und Auswertung der relevanten Informationen kann entweder auf der eigenen Analyse frei oder kostenpflichtig verfügbarer Informationen beruhen, etwa Statistiken und Prognosen zur demografischen Entwicklung, wirtschaftlichen Entwicklung oder zu Klimaprognosemodellen. Insbesondere im Bereich politischer, gesellschaftlich-kultureller und kriminalitätsbezogener Einflussfaktoren ist jedoch in der Regel die Konsultation entsprechend ausgewiesener Analystenund Berater notwendig. Dies gilt umso mehr, je spezifischer einzelne Fragestellungen, Regionen, Branchen oder Tätigkeitsgebiete untersucht werden müssen.
Merke
Es liegt in der Natur der Sache, dass die Risikoeinschätzung des allgemeinen Tätigkeits- und Investitionsumfelds bei langfristigen Auslandsaktivitäten nicht einmalig erfolgt und danach abgeschlossen ist. Vielmehr muss ein dauerhaftes Risiko-Monitoring erfolgen.
In diesen Prozess sind alle relevanten, zuvor aufgeführten Einflussfaktoren einzubeziehen, welche anhand definierter Kriterien nachverfolgt und regelmäßig aktualisiert werden müssen. Dabei sollte auch definiert werden, welche grundlegenden Konsequenzen aus Veränderungen der allgemeinen Risikosituation gezogen werden, d.h. insbesondere wie sich verschärfende Risiken minimiert werden können, ohne dass es zu einer wesentlichen Unterbrechung, Einschränkung oder sogar einem Abbruch der Aktivitäten im Ausland kommt. Selbstverständlich muss dabei ebenfalls festgelegt werden, ab wann es jedoch dennoch zu einschneidenden Maßnahmen bis hin zum Rückzug aus einem Land kommen soll.
Neben der allgemeinen Analyse und Prognose der Risiken von Tätigkeiten oder Investitionen in einem Land bzw. einer dortigen Örtlichkeit müssen bei langfristigen Auslandstätigkeiten zwingend auch die avisierten Tätigkeiten, Investitionen und involvierten Akteure kritisch beleuchtet werden. Auch in einem grundsätzlich stabilen Umfeld können besondere Risiken oder „schwarze Schafe“ lauern, die es zu identifizieren gilt.
Beispiel
Ein prägnantes Beispiel für solche Fälle ist die Übernahme des amerikanischen Agrochemie- und Pflanzenschutzherstellers Monsanto durch die deutsche Bayer AG im Jahr 2018, aus der für Bayer umfangreiche Rechtsrisiken aufgrund anhängiger Klagen wegen krebserregender Produkte aus dem Portfolio von Monsanto resultierten.411 Der Bayer AG wurde daraufhin vorgeworfen, die mit der Übernahme verbundenen Risiken nicht sorgfältig genug analysiert zu haben.412
Grundsätzlich wird daher nicht nur bei Direktinvestitionen im Ausland, sondern generell bei geplanten, längerfristig ausgelegten Auslandsaktivitäten die Notwendigkeit von sogenannten Due-Diligence-Prüfungen betont.413 Hierbei werden die konkreten Tätigkeiten, Partner und sonstigen involvierten Parteien mit der gebotenen Sorgfalt untersucht, wobei diese Analysen im günstigsten Fall zur Klarheit über die (geringfügigen) Risiken des Vorhabens, aber auch zu risikominimierenden Anpassungen bzw. der Redimensionierung, wesentlichen Änderung oder sogar Abbruch einer geplanten Tätigkeit führen können. In diesem Zuge sind insbesondere folgende Risiken sorgfältig zu prüfen:
■ Belastungen avisierter Standorte, d.h. notwendige und vorhandene Genehmigungen, Grundstücksrechte, Bausubstanz, Altlasten und Gebäudeschadstoffe, Exposition gegenüber Naturgefahren und dergleichen.
■ Verfügbarkeit von kritischen Infrastrukturen, Ver- und Entsorgung an Standorten bzw. in Operationsgebieten, insbesondere im Bereich Transport und Verkehr, Energie, Wasser- und Abwasser sowie Nahrungsmittelsicherheit und medizinische Versorgung.
■ Rechtliche und finanzielle Rahmenbedingungen von Partnerunternehmen und Partnerinstitutionen, d.h. Besitzverhältnisse, Rechtsform, anhängige Rechtsstreitigkeiten, Einflussnahmen politischer, gewerkschaftlicher, religiöser oder anderer Gruppierungen, Verbindungen zur organisierten Kriminalität etc. Man muss leider festhalten, dass diese Prüfungen nicht nur im unternehmerischen Bereich, sondern auch bei Nichtregierungsorganisationen oder Entwicklungshilfepartnern unbedingt notwendig sind, um unangenehme Überraschungen zu vermeiden.
■ Hintergrundprüfungen wesentlicher Schlüsselpersonen, seien es leitende Mitarbeitende, Geschäftspartner, lokale oder internationale Co-Investoren oder auch Politiker bzw. Amtsträger. Bezugspunkte zu Nachrichtendiensten, Konkurrenzunternehmen oder zur (organisierten) Kriminalität sollten dabei ebenso eruiert werden wie die (hoffentlich geordneten) wirtschaftlichen Verhältnisse dieser Parteien. Dabei sind die lokalen rechtlichen Regelungen und Einschränkungen für derartige Abklärungen zu beachten, wobei die einschlägigen Bestimmungen hinsichtlich Datenschutz bzw. dem Schutz von Persönlichkeitsrechten international eine große Bandbreite aufweisen.
Die vielen abschreckenden Beispiele von misslungenen, zumeist wirtschaftlichen Aktivitäten auch in vermeintlich sicheren Ländern mit vordergründig seriösen Partnern tragen nicht nur in einschlägigen TV-Formaten zum Staunen des Publikums bei. Sie können häufiger als man denkt massive wirtschaftliche und ideelle Schäden bei den betroffenen Unternehmen und Organisationen hervorrufen.
Beispiel
Dem Verfasser sind unzählige Fälle von beispielsweise falschen Honorarkonsulen, die lukrative Aufträge und Kontakte vermitteln wollten, verschiedenen vermeintlichen Besitzern zum Kauf angebotener Grundstücke, Unternehmen oder Rechte sowie lokalen Entwicklungshilfepartnern, die tatsächlich hochkorrupte Handlanger krimineller Organisationen waren, bekannt. Nicht immer konnten diese vermeintlich soliden und hilfreichen Personen, Unternehmen und Organisationen rechtzeitig als das, was sie eigentlich sind, identifiziert werden: (halb-)kriminelle Scharlatane, die eine Mischung aus Euphorie, Naivität und leider häufig auch Selbstüberschätzung deutschsprachiger Akteure mit unterschiedlichster Motivation geschickt ausgenutzt haben.
Gerade bei einem großen Wohlstandsgefälle und/oder starken kulturellen Unterschieden, die eine intuitive Einschätzung fremder Personen und Gepflogenheiten naturgemäß erschweren, ist hier allergrößte Vorsicht geboten.
Merke
Neben dieser grundsätzlichen Skepsis bei vermeintlich perfekten Angeboten sollten daher immer alle öffentlich zugänglichen Quellen (insbesondere in Landessprache), die Erkenntnisse örtlicher Vertretungen der Heimatländer und ihrer Institutionen bzw. Organisationen (z.B. Handelskammern, Wirtschaftsverbände etc.) sowie Kontakte und Erfahrungen von unbeteiligten Ansprechpartnern vor Ort zurate gezogen werden. Ebenso können Kollegialunternehmen, Organisationen bzw. Institutionen, die im Zielgebiet aktiv sind, konsultiert werden. Kann auf dieser Basis kein ausreichend klares Bild der konkreten Umstände ermittelt werden, sollten in jedem Fall entsprechend spezialisierte Analysten und Berater hinzugezogen werden.
Im Zusammenhang mit langfristigen Auslandstätigkeiten soll schließlich noch auf die notwendige Risikoeinschätzung bei den sog. Portfolioinvestitionen zurückgekommen werden. Hierbei handelt es sich, wie in Kapitel A.2 bereits ausgeführt, um Kapitalübertragungen ins Ausland ohne direkte Eigentumsrechte oder wesentlichen Einfluss auf die Politik des Unternehmens, in welches investiert wird. Im Gegensatz zu den Direktinvestitionen ergibt sich hierbei also eine deutlich weniger enge Bindung an das Investitionsobjekt. Demzufolge orientiert sich das diesbezügliche Risikomanagement vor allem an der Vermeidung von finanziellen Ausfällen. Nichtsdestoweniger können jedoch, häufig unverhofft, auch weitere Risiken entstehen. So etwa, wenn finanzielle Verbindungen zu umstrittenen Unternehmen, Organisationen oder Einzelpersonen nachgewiesen werden und somit Reputationsrisiken oder rechtliche Risiken drohen. Nicht nur vor dem Hintergrund der immer umfangreicher werdenden internationalen 414