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SANDRA CAMMANN

Herzen fühlen

Kamasutra für Einsteiger

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Wichtiger Hinweis

Die Informationen und Intensitätsangaben in diesem Buch sind mit Sorgfalt überprüft und lediglich eine Richtlinie. Dennoch übernehmen Autor und Verlag – auch im Hinblick auf mögliche Schreibfehler – keine Gewähr für die Richtigkeit. Der Autor ist nicht haftbar oder verantwortlich für irgendwelche Nachteile oder Schäden, die angeblich aus in diesem Buch enthaltenen Informationen oder Vorschlägen erwachsen. Alle Übungen in diesem Buch wurden sorgfältig erprobt. Sie sind für Menschen mit einem durchschnittlichen Fitnessniveau geeignet. Lassen Sie sich jedoch in Zweifelsfällen zuvor durch einen Arzt oder Therapeuten beraten! Sowohl Autor als auch Verlag können für eventuelle Nachteile oder Schäden, die aus den im Buch gegebenen praktischen Hinweisen resultieren, keine Haftung übernehmen.

Aus Gründen der leichteren Lesbarkeit wurde durchgängig die männliche (neutrale) Anredeform verwendet, die selbstverständlich die weibliche mit einschließt.

1. Auflage 2018

© 2017 Windpferd Verlagsgesellschaft mbH, Oberstdorf

Alle Rechte vorbehalten

Fotos: Sarah Muthig

Umschlaggestaltung und Illustration: Jennifer Jünemann | www.bitdifferent.de

Zeichnungen Becken und Beckenbodenmuskeln: Godlint Blümle

Lektorat: Sylvia Luetjohann

eISBN 978-3-86410-240-0

www.windpferd.de

Inhalt

Vorwort

Auf der Suche nach Liebe

Erde und Himmel

Wankender Baum

Katzenstrecker

Die Schaukel

Die Welt verkehrt herum betrachten

Hinsetzen und Aufstehen

Liebe ist göttlich – Kama ist Liebe

Den Bogen spannen

Die Hüfte lockern

Den Rücken schlängeln

Kamasutra – Sinnesöffnungen für mehr Liebe

Kreisende Energie – Kraft von außen und innen

Der Hüftschwung

Die Brücke zur Lust

Die schönste Liebe auf der Welt: Selbstliebe!

Yin und Yang – wer bin ich eigentlich?

Ein intensives Ohhh!

Achtsamkeitsmeditation

Die Liebesenergie lenken

Der Flaschenöffner

Die Venus anbeten

Der Venushügel

Venushügel 2

Venushügel 3 – Dehnung

Der Blitz

Blitz 2

Blitz 3

Blitz 4

Glückliches Baby

Meditation: Ängste in Liebe und Freude transformieren

Seelenverwandt – schrecklich oder schön?

Meditation „Seelenpartner“

Eine Umarmung – Der Kuss des Herzens

Übung Herzumarmung

Sehnsucht — lass nach!

Meditation: Seele und Körper werden eins

Starker Beckenboden – Multiple Höhepunkte

Schraube locker

Die schwebende Göttin

Die gestreckte Kaiserin

Kaiserlicher Knicks

Tanz der Diva

Unabhängigkeit – So verführerisch

Fühlen durch Mitgefühl

Öffnen und loslassen

Ich liebe dich – Bis zum Mond und zurück

Aus zwei Hälften wird Eins

Zu mir selbst kommen

Den Bogen spannen

Flexibel bleiben

Das Becken öffnen und empfangen

Das Herz öffnen

Das Leben neu ausrichten

Neue Chancen ergreifen

Träumen wie ein Kind

Sich der Liebe vollkommen hingeben und öffnen

Herzatmung zum Abschluss

Luzide Träume – die zweite Realität

Drei Arten von Träumen im Traumyoga

Vorbereitung auf die Traumpraxis

Zwei-Stunden-Übungen

Tagträume für zwischendurch – Yoga-Nidra-Übung

Sprich mit mir! – Gespräche von Herz zu Herz

Die Hoffnung stirbt zuletzt

Über die Autorin

Danksagung

Lieber Nick,

mit einem Blick in deine Augen erwachte ich nach vielen Jahren aus meinem Dornröschenschlaf und fühlte die Sehnsucht, mit dir ‚Eins‘ zu werden.

Du hast mein inneres Licht aktiviert. Durch dich habe ich gelernt zu vergeben, zu verzeihen, mich von Menschen zu trennen, die mir nicht guttun, und mich selbst zu lieben.

Ich fühle mit dir, ich lerne mit dir und ich wachse mit dir. Auch wenn wir äußerlich getrennt sind. Innerlich werden wir immer miteinander verbunden sein. Egal wie, wo oder mit wem ich lebe, du wirst immer bei mir sein. In meinem Herzen. Für immer EINS.

Deine Karla

Liebe Karla,

du wirst immer auf deine Art emotional stärker sein als ich. Du bist wie ein Tsunami oder ein Orkan – so stark wie die Natur selbst. Du bist eine Göttin.

Ich kann davonrennen, kann versuchen, dich zu kontrollieren, dich zu vergessen, und daran scheitern. Du bist der Schlüssel zu meinem Herzen. Doch ich weiß nicht, ob ich die Kraft und den Mut habe, deiner Energie standzuhalten, ohne mich dabei selbst zu verlieren.

Dein Nick

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Vorwort

Das Gefühl der Liebe ist seit der Existenz der Menschheit ein Mysterium. Sie ist die stärkste Kraft im Universum. Menschen brauchen körperliche und seelische Liebe wie Nahrung. Der Zauber der Liebe ist seit vielen Jahrhunderten Thema der indischen Mythologie und wurde deswegen vor langer Zeit im Kamasutra festgehalten.

Diese kurzen Lehrtexte sind zu Beginn des 21. Jahrhunderts aktueller denn je. Viele Menschen bewegen sich immer noch in der dreidimensionalen Welt und entscheiden ihr Leben nach ihrem Verstand. Der Zugang zu ihrem Herzen bleibt ihnen oft verschlossen. Manchmal können plötzliche Begegnungen im Leben jedoch so einschneidend sein, dass sich das Herz öffnet und Liebe fühlbar wird. In diesem Buch geht es um die Geschichte einer jungen Frau, die auf der Suche nach dem Glück ist. Aber was ist Glück eigentlich? Glück ist eines der vier Lebensziele – zumindest nach uraltem indischen Wissen. Es ist ein Zustand, der nicht festgehalten werden kann. Glück existiert nur in den Augen des Betrachters. Jeder entscheidet selbst, was Glück für ihn bedeutet. Deswegen führen so viele Wege dorthin. Wohlstand, Geschlecht, Intelligenz oder Alter entscheiden jedoch selten über das Glück eines Menschen. Entscheidender ist die Einstellung zum Leben und wie sehr man in der Lage ist, auf Lebensveränderungen und Probleme einzugehen. Glück hängt also maßgeblich davon ab, was und wie wir denken!

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Auf der Suche nach Liebe

„Kamasutra? Das sind doch diese verrückten Verrenkungen, die damals Prinzessinnen und Helden auf ihren pompös geschmückten Liebeslagern zelebrierten. Dafür interessierst du dich?“ – im Unterton meiner Freundin Trish hörte ich eine Mischung aus Scham und Bewunderung. Als Yogalehrerin befasste ich mich schon seit Längerem mit dem Kamasutra: „Die Seele ist in einem Körper, weil sie in diesem Leben so viele Erfahrungen wie möglich sammeln möchte. Sie möchte riechen, schmecken, das Leben auskosten und Berührungen spüren. Das Kamasutra hilft dabei, diese Sinne zu öffnen und die Lust an der Liebe wiederzuentdecken – mit Sex hat das erst einmal nichts zu tun.“ Die Stirn von Trish runzelte sich wie bei einer Achtzigjährigen. Ich sah bei ihr viele unausgesprochene Zweifel und ergänzte: „Die Worte Kama und Sutra stammen aus dem indischen Sanskrit. Kama bedeutet Liebe, Begierde und sinnliches Genießen. Ein Sutra ist ein Leitfaden. Der Leitfaden der Liebe soll zu mehr Lebenslust, spirituellen Höhepunkten und körperlicher Nähe führen. Spirituelle Höhepunkte finden allerdings im Herzen und im Kopf statt – weniger im Unterleib.“ Trish sah mich nun erstaunt an: „Ein Orgasmus im Kopf?“ „Sozusagen. Kennst du den Zustand des völligen Loslassens? Diese Millisekunden: wenn die Energiewelle deinen Körper durchströmt und nach oben aufsteigt in Richtung Kopf. Alles kribbelt. Du kannst nicht denken, du willst nicht denken. Du bist vollkommen eins mit deinem Partner und fühlst dich schwerelos wie ein Stern im Universum. Dein Körper ist nicht mehr deine Hülle. Du nimmst nur noch das Licht und die Energie tief in deinem Inneren wahr.“ Trish dachte einen Moment lang nach und sagte mit ernster Stimme: „So etwas habe ich noch nie erlebt.“ „Das kann man lernen, sich für dieses Gefühl öffnen und wahrnehmen, um dann vollkommen die Kontrolle abzugeben. Deiner Phantasie sind keine Grenzen mehr gesetzt. Sinnlichkeit und Erotik bekommen mehr Raum im Leben. Deine Lebensfreude wird geweckt!“

Das Kamasutra hatte mich in den Bann gezogen, weil ich mich seelisch weiterentwickeln wollte. Ich wollte endlich mein Glück in der Liebe finden. Auf diesem Weg gab es allerdings noch ein paar Ziele zu erreichen. Sollte ich wirklich hundert Jahre in meinem Leben zur Verfügung haben, dann würde ich Stück für Stück meine Lebensziele abarbeiten. Jedes Ziel zu seiner Zeit – aufbauend auf das nächste. In der Kindheit ging es darum, für das Leben an sich zu lernen. Als Erwachsener strebe ich nach Wohlstand und Lust. Und gegen Ende würde es nur um eins gehen: Mit allem Eins werden und göttliche Erfahrungen sammeln.

Viele Jahre fragte ich mich, was Liebe eigentlich sei und wie sie sich anfühlt. Ich hatte in meinem Kopf eine feste Vorstellung davon, aber die Realität sah vollkommen anders aus. Als Teenager füllte ich mein Tagebuch mit vielen Worten über die Liebe. Auf dem Schulweg oder in der Pause beobachtete ich meinen Schwarm. Ein paar Monate vergingen, bis er mich bemerkte und beachtete. Dann war es endlich so weit: Er küsste mich auf einer Party. Ich war schüchtern und aufgeregt – unsere Körper zitterten. Einen Moment lang blieb die Zeit stehen, bis sich unsere Lippen immer näher kamen und schließlich berührten. Dieser erste Kuss war forsch und feucht – nicht sinnlich oder erotisch. Trotzdem flog eine Schar von Schmetterlingen durch meinen Bauch. Adrenalin durchströmte meinen Körper und ließ die Knie zittern. „Noch einmal!“, dachte ich mit einem breiten Grinsen im Gesicht. In den folgenden Wochen knutschten wir weiterhin um die Wette, aber die Schmetterlinge waren weg. Daraufhin fragte ich mich: „Wie fühlt sich Liebe zwischen zwei Menschen an? Fliegen die Schmetterlinge im Bauch immer so schnell wieder weg? Welches Gefühl kommt danach?“

Als Teenager purzelten die Hormone auf und ab – genau wie meine Stimmung. Körperlich und psychisch wurde ich stark gefordert. Bei einem Blick in den Spiegel sah ich ein kleines dickes Mädchen mit Pickeln im Gesicht. Drei lange Jahre nach meinem ersten Kontakt mit dem männlichen Geschlecht hatte ich keinen festen Freund, weil ich dachte, dass sich kein Junge für so ein hässliches Mädchen wie mich interessieren würde. Meine Eigenwahrnehmung war gestört. Heute sehe ich auf alten Fotos ein hübsches Mädchen, das melancholisch in die Kamera blickte. Liebe fehlte mir wie Nahrung. Meine Familie liebt mich sehr, aber nicht die anderen Menschen, mit denen ich täglich zu tun hatte.

Erst mit 19 Jahren begegnete ich einem zwei Jahre älteren jungen Mann, der auch mich anziehend fand. Er arbeitete in einem Pizzaladen und ich bewarb mich dort um einen Job. In der Probezeit wies Heiko mich in die Abläufe des Ladens ein. Ich hatte meinen Führerschein erst seit einem Jahr und fuhr immer nach Vorschrift, aber leider kamen dadurch die Pizzen zum Teil kalt bei den Kunden an. Heiko sorgte dafür, dass mir der Chef schnell kündigte: „Karla, du bist so langsam, dass sich die Kunden beschweren. Wir halten uns nicht an die Verkehrsregeln. Du musst Gas geben, wenn du Pizzen auslieferst. Tut mir leid, aber der Chef sagt, dass das mit dir keinen Sinn macht.“ Dann fragte er mich nach einem Date. „Puh! Du kündigst mir, weil ich mich an die Verkehrsregeln halte? Und jetzt willst du auch noch mit mir ausgehen?“ Sein Verhalten war mir befremdlich, aber meine Tränen trockneten schnell. Ich ließ mich auf das Date ein. Mit Heiko feierte ich ganze Nächte durch oder trieb mich in Spielkasinos herum. Was zunächst locker und leicht erschien, wurde zu einer schweren Bürde: Heiko war süchtig nach dem Glücksspiel. Er schaute wie paralysiert auf das Roulette und ließ Hunderte Euro im Kasino. Danach versuchte er sein großes Glück am einarmigen Banditen – und verlor. „Können wir jetzt nach Hause gehen?“ Ich war müde und gelangweilt von seiner Sucht. „Nein. Ich muss es noch einmal versuchen. Beim nächsten Mal klappt es. Bestimmt!“ Er verschuldete sich haushoch und ich konnte nur zusehen, wie er daran kaputtging.

Nach ein paar Monaten wollten wir gemeinsam Urlaub machen. Wir fuhren zum Oktoberfest nach München. Dort angekommen, verbrachten wir unsere Zeit am Schießstand, wo Heiko mir etliche Papierrosen schoss. Nach einiger Zeit drehte er sich zu mir um und sagte: „Karla, kannst du mir Geld leihen? Meins ist alle.“ Eigentlich brauchten wir noch Geld für die Heimfahrt. Wir konnten uns nicht einmal mehr eine Jugendherberge leisten und übernachteten im Auto. Ich log ihn an: „Nein. Ich habe nur noch einen Zehner. Wir sollten davon etwas zu essen kaufen.“ Schnell griff er nach meinem Portemonnaie, nahm das Geld und verschoss es. Ich wurde still und fühlte mich unwohl. Als wir einen Tag später an der Tanksäule standen und ich Geld fürs Benzin aus einer anderen Tasche hervorholte, wurde er sauer, weil ich ihn angelogen hatte. So vergingen Wochen und Tage. Ich versteckte mein Geld vor ihm und er belog mich, wo er nur konnte. So belogen wir uns gegenseitig. Auch mein erstes Mal mit ihm war ein Desaster. Eigentlich war ich noch nicht so weit, aber nach zwei Monaten wollte Heiko nicht mehr warten. Wir hatten mal wieder durchgemacht und ich war sehr müde. Er überredete und bedrängte mich in dieser Nacht, die nicht von Zärtlichkeiten oder Romantik geprägt war. Es war einfach nur schmerzhaft. Jedes weitere Mal, wenn Heiko mit mir schlief, hatte ich Schmerzen, die hinterher tagelang andauerten. Meine Gynäkologin fand schnell eine Antwort auf meine Fragen: „Karla, wenn du nicht feucht wirst, dann ist das nicht der richtige Partner für dich.“ Geschockt sah ich sie an, aber sie hatte es mit einem Satz auf den Punkt gebracht. Erst als Heiko an Silvester eine andere Frau vor meinen Augen küsste, nahm ich meine Sachen und ging auf der Stelle fort, ohne mich jemals wieder umzudrehen. Heikos Mutter lief mir weinend hinterher und flehte mich an, nicht zu gehen. Ich schüttelte nur den Kopf und sah sie traurig an. Mein Selbstwert meldete sich und mir wurde bewusst, dass ich meine kostbare Zeit nicht weiter mit diesem Mann teilen wollte.

Nach dieser ersten Partnerschaft hatte ich Angst, allein zu sein. Ich suchte weiter nach meiner großen Liebe und stürzte mich wenige Wochen später gleich wieder in die nächste Problembeziehung. Auch diesen Mann lernte ich bei einem Aushilfsjob kennen. Nach meiner Ausbildung arbeitete ich ein paar Monate im Akkord in einer großen Bekleidungsfabrik. Meine Aufgabe bestand darin, Pullover nach Aufträgen in einen Wagen zu legen, der zum Schluss auf eine Schiene gehoben werden sollte, damit er eigenständig vom Lager zum Versand fahren konnte. Immer wenn ich mit meinen kurzen und dünnen Armen den schweren Wagen auf die Schiene heben wollte, war Tom zur Stelle und half mir heimlich. Seine Art, mich zu unterstützen, fand ich sehr charmant. Nach der Arbeit redeten wir oft noch ein paar Minuten miteinander. Unser Chef sah den Flirt zwischen uns nicht gern. Deswegen versetzte er Tom in eine andere Abteilung. Wir trafen uns privat in einem Park und redeten stundenlang, bis unsere Körper schließlich zueinanderfanden. Unser erster Kuss schmeckte nach Aschenbecher mit Kaugummi. Tom war Kettenraucher und Alkoholiker. Das Kribbeln in Herz und Bauch verschwand so schnell, dass ich es kaum bemerkte. Anfangs war ich auch skeptisch, weil er sieben Jahre älter war als ich. Doch dann war der Altersunterschied reizvoll für mich. Ich dachte, dass ein älterer Mann eine gewisse Reife hätte und mir nicht wehtun würde. Er war so erwachsen und ernst – das komplette Gegenteil von mir. Nach dem Aushilfsjob in der Bekleidungsfabrik bewarb er sich als Immobilienmakler und hoffte auf das ganz große Geld. Durch seinen überschwänglichen Lebensstil verschuldete er sich jedoch haushoch und ich durfte diesen Prozess miterleben. Seine Wohnung stattete er mit teuren Ledersesseln aus. Tom trug plötzlich schicke Klamotten und kaufte sich einen Sportwagen. Jedes Mal, bevor ich in sein neues Auto einsteigen wollte, kam er angerannt, riss mir die Tür auf und machte einen Knicks. Anfangs schaute ich irritiert, dann fand ich es ganz nett und wenig später nervte mich seine überdrehte Art. Für andere schien Tom ein erfolgreicher Mann zu sein, der mitten im Leben stand. Doch in seinem Wesenskern war er sehr zerbrechlich. Tom brauchte mich, weil er sich von seiner Mutter nie geliebt gefühlt hatte. Auch er suchte verzweifelt nach Liebe, trug dabei allerdings eine schreckliche Wut in sich. Einmal, als Tom sauer auf mich war, nahm er einen Topf mit Tomatensoße vom Herd und schleuderte ihn durch die ganze Wohnung. Ich war im ersten Moment schockiert, im zweiten glücklich, dass die Soße nicht mich getroffen hatte, und im dritten Moment habe ich daran gedacht, wie ich die Sauerei beseitigen könnte. Ein paar Tage später nahm ich Pinsel und Farbe und strich die Wohnung neu. Ich hatte nicht die Kraft zu gehen – noch nicht.

Ein paar Tage nach diesem Vorfall fuhren Tom und ich von einem Möbelladen außerhalb der Stadt mit dem Auto nach Hause. Tom wurde mal wieder von einer Sekunde auf die nächste wütend, weil ich ihm erklärte, dass er Dinge verkaufen müsse, um von seinen Steuerschulden herunterzukommen. Tom stoppte das Auto, öffnete meine Tür und forderte mich auf, auszusteigen. Ich stieg aus, wanderte im Regen ein paar Kilometer bis zu seiner Wohnung, in der er bereits wartete und mich keines Blickes würdigte. Lautlos schnappte ich meine Sachen und fuhr mit dem Rad nach Hause.

Nach sechs Jahren kranker Beziehung war Tom trocken, rauchte nicht mehr, hatte 30 Kilogramm Körperfett in Muskeln umgewandelt und war schuldenfrei. Eigentlich das, was ich mit meiner aufgedrängten Hilfe erreichen wollte. Doch meine Kräfte waren am Ende angelangt. Dieser Energievampir hatte mich komplett ausgesaugt. Ich wollte nur noch meine Ruhe haben. Daraufhin stalkte Tom mich. Plötzlich stand er auf meiner Terrasse und rief durch die Scheibe: „Ich vermisse dich. Komm zurück zu mir.“ Dabei hielt er einen Blumenstrauß in der Hand. Ich zitterte mit einer Mischung aus Wut und Angst: „Hau ab! Ich will dich nie wieder sehen.“ Tom hatte mich verstanden. Die nächsten Jahre träumte ich davon, dass wir noch zusammen wären und ich mich nicht von Tom trennen könnte. Erst als ich träumte, dass er Suizid begehen und sich vor einen Zug werfen würde, endete meine Qual. Die Frage, ob es Liebe war, erübrigte sich schnell. Wenn ich heute an Tom denke, empfinde ich rein gar nichts. Weder Liebe, noch Mitleid, noch Reue. Es war ein harter Weg, den ich gehen musste, um zu erkennen, dass ich mich definitiv in einer Sackgassenbeziehung befand.

Eines Nachts – kurz vor Ostern – träumte ich von meiner Oma. Sie verabschiedete sich von mir, weil sie starb. Ein letztes Mal nahm sie mich in die Arme und wir hielten uns fest. Im Hintergrund sah ich, wie die anderen Familienmitglieder sich um das Erbe stritten, und ich wurde wütend: „Oma, sie streiten und du stirbst. Keiner interessiert sich für dich!“ Meine Oma sah mich an und sagte: „Das ist mir egal, Liebes. Ich muss dir jetzt etwas Wichtiges mitteilen: Verlerne niemals zu lachen!“ Dann gab sie mir ein selbstgemaltes Bild mit Schmetterlingen und ging fort. Die Schmetterlinge waren wunderschön. Die Symbolik, die sich dahinter verbarg, verstand ich jedoch erst viele Jahre später: Sie teilte mir mit, dass ich mich irgendwann transformieren würde – von der Raupe zum Schmetterling. Verwirrt wachte ich damals aus diesem Traum auf. Wenige Stunden später rief mich mein Vater an. Er weinte am Telefon und sagte: „Deine Oma ist heute Nacht gestorben.“ Geschockt ließ ich den Hörer vom Ohr sinken. Meine erste Vision hatte sich bewahrheitet. Ein paar Monate später starb der Verlobte meiner besten Freundin. 2000 Kilometer von uns entfernt. Ich sah vor meinem Geist, wie er auf ein Bettlaken schrieb, dass er noch nicht sterben wollte. Er war gerade erst 23 Jahre alt und wurde von einem Insekt während einer Wanderung in den Bergen gestochen. Die Infektion tötete ihn. Angstgefühle kamen in mir hoch und ich versuchte, weitere Visionen zu verdrängen. Ich wollte keine Menschen mehr sterben sehen. Mit dieser Verdrängung lebte ich fortan dreidimensional aus meinem Verstand heraus und unterdrückte meine Intuition oder nahm sie einfach nicht wahr.

Nach der Beziehung mit Tom ging ich immer mal wieder mit Männern aus, aber es entwickelte sich zunächst nichts. Bis ich kurz vor meinem 25. Geburtstag Baza gegenüberstand. Er kam aus Kurdistan und war vor vielen Jahren als Achtjähriger mit der Familie seines Bruders nach Deutschland geflüchtet. Baza studierte in Hamburg Sport auf Lehramt. Wir arbeiteten damals zusammen in einem Sportverein. In den Abendstunden unterrichtete ich Yoga und Baza betreute Mitglieder an den Trainingsgeräten. Von Anfang an hatte dieser Mann mich fasziniert. Vielleicht war es die Gefahr und Mystik, die er ausstrahlte. Wir verabredeten uns und lachten den ganzen Abend. An diesem Abend spürten wir sofort, dass wir uns wie Magnete anzogen. Kurz darauf fuhr ich in den Urlaub nach Italien und starrte ständig auf mein mobiles Telefon, in der Hoffnung, dass wieder eine SMS von Baza kam. Meine ganze Aufmerksamkeit galt ihm, während ich an diesem wundervollen weißen Sandstrand lag. Ich verpasste den gesamten Urlaub und war nicht bei mir. Als ich wieder zu Hause war, trafen wir uns noch am selben Abend. Wir schliefen miteinander und begehrten uns, wie ich es noch nie zuvor gespürt hatte.

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Doch ich spürte auch, dass diese Verbindung zu Baza sehr gefährlich und nicht ehrlich war. In unserer ersten Nacht, die wir gemeinsam verbrachten, schliefen wir mehrmals miteinander. Baza schien genau zu wissen, wo er mich anfassen musste, um mich besinnungslos glücklich zu machen. Es war das erste Mal, dass ich multiple Höhepunkte erlebte. Die Entspannung danach führte mich in einen Trancezustand. Plötzlich kamen Bilder in meinen Kopf: Drei Männer standen um mich herum. Sie waren komplett verschleiert und sprachen kurdisch. Sie befahlen dem Mann in der Mitte, mich mit einem Schnitt durch die Kehle zu töten. Er schaute mir mit einem traurigen kalten Blick in die Augen, legte das Messer an meine Kehle und tötete mich. Dieser Mann in der Mitte war Baza, der nun im Bett neben mir lag und friedlich einschlief.

Mir lief es kalt den Rücken herunter. Für einen Moment hatte ich Angst vor ihm. Warum hatte ich diese Situation gesehen? Konnte diese Liebe mich wirklich in Gefahr bringen? Ich blendete diese Gedanken schnell wieder aus. Es war schön, mit Baza intim zu sein und mit ihm Zeit zu verbringen. Wir waren die nächsten Wochen unzertrennlich, flogen auf die Kanaren, gingen ins Kino, trieben Sport oder trafen uns mit lieben Freunden. Wir hatten gleiche Interessen und waren unzertrennlich. Jeden Tag verbrachten wir Zeit miteinander, umarmten uns, hielten uns an den Händen oder schliefen miteinander. Abends wurde Baza immer emotional und erzählte mir Ereignisse aus seinem Leben. Er berichtete von seinem Bruder, der ihn wie ein Vater großgezogen hatte. Doch dann wurde sein Bruder von einer anderen Familie getötet – es ging um Geld. Die Familie seines Bruders verlangte von ihm, dass er den Mord rächen solle, weil er der einzige Mann in der Familie war, der keine Frau und Kinder hatte. Traurig erzählte er mir, dass er sich eine Zukunft mit mir wünschte und nun diese Tat anzweifelte. Ich hoffte, dass unsere Liebe stärker sein würde als der Hass. Sie war es nicht. In den folgenden Wochen und Monaten veränderte sich etwas zwischen uns. Baza wollte, dass ich abends in meinen Yogastunden meinen Kopf und Körper mehr bedecken sollte. Er erzählte jedem, dass ich ihm gehörte. Als er mich fragte, ob ich ihn heiraten würde, damit er die deutsche Staatsbürgerschaft erlangen würde, schrie etwas in mir auf. Ich stellte mir vor, wie wir verheiratet sein würden, Kinder bekämen und Baza mich wie sein Eigentum behandeln würde. Es machte mir Angst. Ich zögerte eine Antwort hinaus und er fragte mich zum Glück nicht mehr danach, weil er kurz darauf die deutsche Staatsbürgerschaft erhielt. Sein Studium ging in die Endphase und er begann seine Examensarbeit zu schreiben. Sein Thema hatte mit seiner Religion zu tun.

Aus heiterem Himmel trennte er sich von mir, nachdem wir sechs Monate nach unserem ersten Treffen immer noch wie Frischverliebte durchs Leben liefen. Baza teilte mir mit, dass er seine Cousine heiraten würde und dass diese Verbindung von Anfang an festgestanden hätte. Er zeigte mir sein zweites Gesicht und ich sah zum ersten Mal die kalten Augen, die mir bereits in der Vision begegnet waren. Fassungslos stand ich vor ihm. Tränen liefen aus meinen Augen: „Warum? Ich liebe dich. Das kann doch nicht alles von heute auf morgen weg sein?!“ „Du bist wunderschön, wenn du weinst.“ Er schaute mir tief in die Augen und küsste mich. „Baza, hör auf damit. Du willst deine Cousine heiraten? Dann hör auf, mich zu küssen, hör auf, mit mir zu schlafen. Du kannst uns nicht beide haben.“ Ich wurde wütend und schrie ihn an: „War denn alles eine Lüge? Du hast die ganze Zeit gewusst, dass du sie heiraten würdest, und erzählst mir, dass du dir eine Zukunft mit mir wünschst?“ „Karla, du bist eine Deutsche. Sei nicht so naiv. Ich komme aus einer anderen Welt. Es war schön mit dir, aber meine Familie würde dich töten, wenn sie von dir wüsste.“

In meiner Wut verließ ich die Wohngemeinschaft. Stundenlang lief ich orientierungslos durch den Wald, bis ich zusammenbrach und mich an einen Baum lehnte. Dort weinte ich, bis keine Tränen mehr kamen. Meine Vision bewahrheitete sich – nur anders, als ich es zuvor gesehen hatte. Kurz nachdem Baza sich von mir trennte, übte er die Bluttat aus Rache für seine Familie aus. Er erschoss einen Menschen aus seinem Kulturkreis, verkleidet als Postbote vor den Augen von Erwachsenen und Kindern. Die Tat hatte Baza viele Jahre lang geplant. Auf meinen Schultern lastete ein übergroßer Rucksack. Zentnerschwer, weil ein Mensch sterben musste. Wieder war ich am Boden zerstört, bekam Schuldgefühle und fragte mich, ob ich es hätte verhindern können. Und wieder kam mir in den Sinn: „War es wirklich Liebe, die uns verband? Oder war es einfach Leidenschaft? Ist Leidenschaft nur das, was Leiden schafft? Wo ist sie nur, die Liebe? Wo finde ich diesen einen Menschen, der mich komplett macht und mit dem ich gemeinsam die Welt retten kann?“ Das Schlimmste war jedoch, dass ich Baza hörig war und zu ihm zurückgekommen wäre, wenn er es gewollt hätte. Ich dachte ernsthaft, ich würde ihn lieben, und war abhängig von diesem Gefühl, das uns beide verband. Die Vision, die ich anfangs hatte, wurde zu einer symbolischen Realität. Er tötete mich – innerlich. Mein Herz fiel in zwei Hälften und hörte auf zu schlagen. Ich wollte auf der Stelle sterben. Meine Seele verließ meinen Körper. Knapp zwei Jahre meines Lebens habe ich versucht, die Ereignisse zu verarbeiten. Ich sah keinen Sinn mehr im Leben. Die Stunden und Tage verliefen wie in einem Albtraum und ich konnte daraus nicht aufwachen. Meinen Job als Kauffrau kündigte ich. Dann schrieb ich mich an der Uni ein und studierte BWL, um mich später selbstständig zu machen. Außerdem wollte ich mich ablenken und einen kompletten Neuanfang wagen. Nun saß ich im Hörsaal, aber die Worte der Dozenten drangen oft nicht zu mir durch. Meine Gedanken waren bei Baza und dem Leid, das ich fühlte. Schließlich kam die erste Studentenparty. An diesem Abend zog ich es vor zu arbeiten, anstatt zu feiern. Die ganzen fünf Jahre, die ich studierte, habe ich mich um Partys und fröhliche Menschen gedrückt. Ich habe nur gearbeitet und funktioniert. Herzschmerz zog sich viele Jahre durch mein Leben, weil ich nicht wusste, dass Liebe einfach ins Leben kommt, wenn ich mich von dem Gedanken löse, nach ihr zu suchen.

Meine Freunde haben mich immer wieder aufgerichtet und mir die Augen geöffnet. Einer davon ist mein jetziger Ehemann. Er hat mich wahrlich gerettet und auf Händen durchs Leben getragen, als ich den Mut verlor und mich selbst aufgab. In der Zeit, als ich mit Baza eine Beziehung führte, waren Marcel, Baza, Ingo und ich eine befreundete Clique, die viel zusammen unternahm. Nach unserer Trennung war es für uns schwierig, damit umzugehen. Die Jungs hatten mich alle sehr gern. Ingo versuchte mich aufzuheitern und zu stützen. Er gestand mir, dass ich seine Traumfrau wäre. Doch ich konnte nur müde lächeln: „Ingo, du wirst deine Traumfrau treffen. Ich bin es nicht!“ Marcel ging in dieser Zeit erst einmal auf Abstand. Alle hatten Angst vor Baza, weil er immer noch erzählte, ich wäre sein Mädchen. Baza kündigte Ingo die Freundschaft, weil er spürte, dass er sich zu mir hingezogen fühlte. Mich beschimpfte er als deutsche Schlampe, weil er dachte, ich würde mir gleich den nächsten Freund suchen. Die Zeit mit Ingo lenkte mich ab und tat mir gut. Manchmal saßen wir nur stundenlang in der WG, hielten uns in den Armen, kuschelten miteinander und sprachen über das Leben. Die Auflösung der Clique war für alle eine Art Trennung, die wir verarbeiten mussten. „Du bist eine Egobraut“, Ingo lächelte, als er das sagte. „Wie meinst du das?“ „Hey, ganz ehrlich: Du nutzt mich voll aus!“ „Du hast doch einen freien Willen. Du musst dich nicht mit mir treffen.“ „Ist aber schön mit dir.“ Ingo wurde sentimental und etwas traurig, weil auch er die Richtige