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Johannes V. Jensen

HIMMERLANDSGESCHICHTEN

Aus dem Dänischen von Ulrich Sonnenberg

Mit einem Nachwort von
Reinhard Kaiser-Mühlecker

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INHALT

HIMMERLANDSGESCHICHTEN

DER STILLE MOGENS

WOMBWELL

DIE JUNGFER

DIE HOLZSCHUHE DES GUTSHERRN

WEIHNACHTSFRIEDE

DIE SIEBENSCHLÄFER

DER GOLDGRÄBER

ANDREAS OLUFSEN

DONNERKALB

ANE UND DIE KUH

JENS

KIRSTENS LETZTE REISE

ANHANG

ANMERKUNGEN

EDITORISCHE NOTIZ DES ÜBERSETZERS

»DAS LEBEN IST KURZ. DIE ZEIT VERGEHT.«
NACHWORT VON
REINHARD KAISER-MÜHLECKER

BIOGRAFIEN

DER STILLE MOGENS

»Heutzutage lieben die Bauern sich doch genauso zärtlich wie die feinen Leute«, behauptete die Schmiede-Kirsten, die beim munteren vorweihnachtlichen Schlachten inmitten der Frauen saß und Würste speilte. Sie hatte die dicke Messingbrille auf ihr Kopftuch geschoben und sprühte geradezu vor guter Laune und lebhafter Erinnerungen an ihre Jugend.

»Wie gesagt, die Leute sind heute einfach zärtlicher und empfindsamer als früher. Sie haben gelernt, was dazugehört, sie können sich ausdrücken und sprechen offenherzig aus, was sie empfinden. Und als müssten sie es sich beweisen, benötigen sie goldene Ringe, müssen in der guten Stube turteln oder spazieren gehen und den Vögeln lauschen. Die Leute lesen viel in Albenachen, und auch unsere Pastoren sind von einem anderen Schlag als früher. Die Bauern dürfen jetzt keine Sünder mehr sein, in meiner Jugend mussten wir das sein, sonst wäre die Vergebung ja sinnlos gewesen. Durchaus möglich, dass es heutzutage gewissermaßen mehr Gefühl zwischen den Leuten gibt, und meinethalben kann das auch so bleiben, denn heute gibt’s ja weit mehr Menschen als früher, um die wir uns kümmern müssen. Und wie die Zeiten so sind, mögen wir die Leute ja auch, aber in meiner Jugend war das anders. Wir waren ziemlich grobe Gesellen, verwegen geradezu – ja, wahrhaftig, das waren wir, aber wir hatten doch überhaupt keine Ahnung, was sich hinter unseren Rippen tat, was uns lenkt und leitet. Wir waren einfache Leute, außer uns gab’s doch niemanden, der auf uns achtete, und wir kamen übrigens auch ganz gut damit zurecht, solange wir die grobe Arbeit zu erledigen hatten – für das Schlimmste und Beste hier auf Erden hat der Schöpfer schon selbst gesorgt, das braucht man nicht zu lernen, wahrlich nicht, eher fällt’s schwer, damit wieder aufzuhören. Das machte uns zu schaffen, will ich meinen, aber so ist das nicht mehr. Bei den braven Leutchen kommen die Kinder heutzutage nur mit viel Kopfzerbrechen zustande: Lieben wir uns oder lieben wir uns nicht, können wir die Verantwortung übernehmen, und müssen wir das, oder sind wir uns zu gut dafür, und so weiter und so fort, mit vielen Paragraphen. Wir anderen hingegen, wir sind rasch umgefallen …«

Die alte Kirsten unterstrich ihre Rede mit einem deftigen Sprichwort, wobei sie sich wie eine Henne aufplusterte und lautstark gluckte.

»Aber«, fuhr sie klug und amüsiert fort, während sie eifrig eine neue Wurst stopfte und in die Pelle stach, damit die Luftblasen entwichen, »dafür verklagten wir auch niemanden, wenn wir zu Schaden kamen, nein. So viele gröbere Fehler gab’s schließlich nicht, die wir nicht auch selbst hätten machen können. Und wenn nirgendwo geschrieben steht, dass alles so groß und gut zu sein hat, kann es auch nie vollkommen schief gehen. Wenn das, was geschehen soll, geschieht, dann ist es ein Segen für uns, davon bin ich überzeugt. Dabei fällt mir Martine ein, Justs Tochter aus Stenbæk – ja, sie ist nun auch schon viele Jahre tot, und von euch hat sie niemand gekannt oder wird sich an sie erinnern können.

Tja, Martine … aber lasst mich die Geschichte lieber der Reihe nach erzählen. Ihr sollt nicht das Ende zuerst hören, meine Lieben, denn dann wär’s ja keine Lehre mehr für euch, dann wärt ihr alle hinterher genauso klug wie zuvor. Martine war das wildeste und hübscheste Mädchen, nicht nur in Stenbæk, sondern auch in vielen anderen Dörfern der Gegend. Sie hätte jeden haben können, den sie wollte, sie wurde von allen Burschen umworben, und doch gab sie jedem einen Korb. Martine wollte nicht heiraten. Für sie war es noch nicht an der Zeit. Ihre Zeit sollte noch kommen.

Ich diente damals als Magd auf dem Stenerslev-Hof, nicht weil ich es musste, sondern weil ich das Leben der feinen Leute kennenlernen wollte. Ich war eine sechzehn Jahre alte Göre und ich war neugierig, das könnt ihr mir glauben; im Umkreis von vielen Meilen gab es kaum ein Ereignis, bei dem ich nicht lange Ohren bekommen hätte. Ich habe schon immer alles ganz genau wissen wollen, als hätte ich gewusst, dass ich als alte Frau einmal diejenige sein sollte, die davon erzählen würde. Ich kannte Martine gut und bin eine der Ersten gewesen, die Bescheid wussten, obwohl das, was passiert ist, ein Geheimnis war. Und als sich dann später niemand mehr darüber aufregen konnte, kam es in aller Stille heraus; alle wussten es, aber niemand redete darüber, und für Martine war es keine Schande. Ja, und nun sind alle, die damit zu tun hatten, längst tot. Martine wurde in einer Johannisnacht geschändet …«

Kirsten sah sich um und nickte schweigend jedem einzelnen der Mädchen zu, die mit seufzenden Ausrufen ihrem Entsetzen und ihrer Neugierde Ausdruck verliehen. Lange sagte sie kein Wort und genoss das Mienenspiel der Mädchen, in deren Gesichtern sich mehr und mehr eine drängende Frage abzeichnete.

»Ja, das wurde sie«, sagte Kirsten schließlich und nickte noch einmal, ausgesprochen zufrieden über die Wirkung ihrer Worte. »Ja, das wurde sie, meine Lieben, wie in Kriegszeiten wurde sie geschändet, in einer Johannisnacht. Und jetzt passt auf. An diesem Abend zündeten die jungen Leute auf dem großen Hügel in der Heide von Stenbæk das Johannisfeuer an. Das ist jetzt über ein halbes Jahrhundert her. Ich war auch dabei, tatsächlich war es das allererste Mal, dass ich am Johannisabend einen Tanzpartner bekam. Sie hatten mir einen der jungen Knechte vom Hof zugeschanzt, und es vergingen viele Tage, bevor wir uns wieder ansehen konnten, so verschämt waren wir beide. Wie es scheint, waren die Burschen damals schüchterner als heute. Ich könnte euch eine Geschichte von einem Knecht erzählen, der auf die Knie fiel, unter Tränen um Gnade flehte und sich mit einer Flasche Schnaps freikaufen musste, als die Mädchen, mit denen er allein auf der Wiese geblieben war, ihn unbedingt küssen wollten. Solch ein Angsthase war der Bursche auch, den ich als Tanzpartner bekommen hatte; noch lange danach bekamen wir beide einen roten Kopf, wenn wir uns begegneten. Tja, Mogens, von dem ich euch jetzt erzählen will, gehörte nicht zu dieser Sorte, denn man wird wohl kaum einen Kerl als schüchtern bezeichnen können, der es über sich bringt, das zu tun, was Mogens getan hat. Eifersüchtig würde ich ihn aber auch nicht nennen. Allerdings war er ein außerordentlich stiller Mensch. Ja, das war Mogens. Er brachte einfach kein Wort heraus. Er kam von einem stillen Hof. Ich sage euch, in meiner Jugend gab’s Gutshöfe, auf denen tagelang kein Wort gesprochen wurde. Man ging schweigend seiner Arbeit nach und tat, was getan werden musste, und trotzdem kam man gut miteinander aus. Die Leute waren nicht weiter traurig darüber, wieso auch, es gab einfach keinen Grund zu reden, sie vermissten es nicht. Von so einem Hof kam Mogens. Nur übertrieb er es, jedenfalls habe ich nie wieder einen Menschen erlebt, der so wenig geredet hat wie er. Einige behaupteten, er sei stumm gewesen, aber das ist nicht richtig, denn ich habe ihn sowohl ›ja‹ als auch ›nein‹ sagen hören. Aber viel mehr gab es eben nicht zu sagen, wenn ihm erst einmal eines dieser beiden Worte über die Lippen gekommen war. Durch Geschwätzigkeit hat er gewiss niemandem geschadet, aber sich zu erklären, sich auszudrücken, mehrere Worte auf einmal zu benutzen, all das war nicht Mogens’ Sache. Das konnte er nicht. Beredsamkeit war ihm fremd.

Mogens und Martine waren beide zu dem Johannisfeuer gekommen. Sie waren einander nicht als Johannislämmer zugeteilt worden, so hatte es nicht begonnen, und doch hatte Mogens sich an diesem Abend in Martine vergafft, und zwar so, dass er nicht recht wusste, wie ihm geschah. Im Übrigen erging es allen so. Oh, alle wollten ihr nahe sein, alle wollten ihr unbedingt etwas Nettes sagen. Mogens sagte nichts. Er konnte es nicht, der arme Kerl, er wusste sich nicht zu helfen. Schmeicheleien waren seinem Mund fremd. Nun kann man es einem Burschen ja von den Augen ablesen, wenn er Liebesqualen erleidet, und bei Mogens fiel es besonders leicht. Doch um dies tatsächlich zu begreifen, musste man als Mädchen schon aufmerksam sein. Denn schließlich gehört mehr dazu: Galante Worte und ›willst du mich haben‹ und ›du bist so hübsch‹ und all das, na ja, ihr wisst schon. Mogens sagte nichts. O nein.

Und als das Feuer heruntergebrannt war und Martine nach Hause ging, stieß sie in der Heide auf Mogens. Eigentlich war sie zusammen mit ein paar anderen aufgebrochen, doch einer nach dem anderen hatte auf dem Heimweg seine eigene Richtung eingeschlagen, und schließlich war Martine allein. Justs Hof lag abgelegen zwischen den Hügeln am Stenbæk-Bach. Offenbar hatte Mogens damit gerechnet, dass sie das letzte Stück allein gehen würde, denn er war vorausgelaufen und hatte sich in der Heide versteckt. Vermutlich wollte er nur sichergehen, dass sie gut nach Hause kam. Doch mit einem Mal taucht er vor Martine aus dem Heidekraut auf – und brachte doch kein Wort heraus! Sie erschrak, was ja auch nicht verwunderlich war, und stieß einen Schrei aus, der von einigen gehört wurde, die sie begleitet hatten. Allerdings hielten sie es für ein wildes Tier oder irgendein anderes Unding und kümmerten sich nicht weiter darum. Und dann fing Martine an zu rennen.

Es dauerte lange, bevor wieder etwas zu hören war, denn in der Zwischenzeit rannte Martine in der Heide um ihr Leben. Mogens war ihr auf den Fersen. Nur sehr selten kann sich ein Mädchen durch Davonlaufen vor einem Burschen retten, doch Martine gelang es fast eine Stunde. Sie konnte unglaublich gut laufen, diese Martine. Und wenn jemand vor Angst wie von Sinnen ist, hält er lange durch. Schließlich holte Mogens sie aber doch ein. Und war ihm das Sprechen schon vorher schwergefallen, so hatte er nun vollends die Sprache verloren – er war außer Atem und ärgerte sich, dass Martine ihm davongelaufen war, und dann … na ja, dann nutzte er die Sprache, die keine von euch, meine Lieben, verstehen muss, bevor ihr sie nicht gutwillig und in aller Unschuld gelernt habt. Betet zu eurem Gott, dass ihr sie nicht so lernen müsst wie Martine. Euch muss das Lernen nicht einmal schwerfallen, um zu erleiden, was sie erlitten hat. Die Leute, die in Stenbæk in ihren Betten lagen, hörten, wie sie schrie und bettelte, aber sie glaubten, es seien wilde Tiere, die in der Heide bis aufs Blut miteinander kämpften. Sie standen nicht auf, um den Schreien nachzugehen. Sie heulte so grauenvoll, dass niemand ihre menschliche Stimme heraushörte, und sie rang so heftig mit ihm, dass in der Heide eine aufgerissene Stelle zurückblieb, als hätte ein Stück Vieh die Erde aufgewühlt. An dieser Stelle wurden später ganze Haarbüschel eines Menschen gefunden. Dann wurde es still. Eine halbe Stunde später jedoch, als es beinahe schon heller Tag war, hörte man erneut ihr Schreien, und da soll sie so unmenschlich gejammert haben, dass die Leute meinten, unter der Erde läge die Elfenmutter in Wehen. Da hatte Mogens sie herumgestoßen und hinunter zum Bach geschleppt, um sich mit ihr zu ertränken – aus Verzweiflung darüber, nicht mit ihr reden und sein Herz öffnen zu können. Dort war sie ihm jedoch noch einmal entkommen, und er hatte sie zwischen den Hügeln gejagt und nicht gewusst, was er sagen sollte. Sie kämpften miteinander auf Leben und Tod, und es wurden noch mehr Stellen gefunden, an denen die Erde zerwühlt war. Martine war ein starkes und kräftiges Mädchen, aber hier konnte sie nicht bestehen …

Oh, das hätte mir passieren sollen!«, stieß Kirsten aus und sah sich mit Augen um, die hinter den stark vergrößernden Brillengläsern bedrohlich funkelten – »wäre ich es gewesen! Ich hätte ihm die Gurgel durchgebissen … ich hätte ihn geschlagen, gebissen, getreten, ihn zu Tode gekratzt …

Wenn ich ihn nicht bereitwillig geküsst hätte«, fügte sie mit einer plötzlich leiseren Stimme hinzu, schlug die Augen nieder und hielt den Kopf schräg über ihre Arbeit, die ihr unablässig von der Hand ging, während sie erzählte. Kirsten beugte sich vor und kicherte vor sich hin, ohne dass ein Laut zu vernehmen war.

»Nun ja – so ist es Martine ergangen. So eine grausige Johannisnacht hat sie erleben müssen. Aber damit ist die Geschichte noch nicht vorbei. Am nächsten Tag brannte Justs Hof. Niemand wusste, was in der Nacht vorgefallen war. Das Feuer brach um die Mittagszeit aus, als die Leute schliefen, es dauerte also lange, bis jemand kam, um zu löschen. Und der Hof lag ja weit vom Dorf entfernt. Eigentlich war es ein ganz schönes Feuer, wenn man so will. Ich und die Mägde und Knechte von Stenerslev waren auf den Wiesen, um Heu zu binden, wir hielten unseren Mittagsschlaf auf den Schobern, als ich aufwachte, weil ein Hund heulte, als müsste er einen Toten beklagen. Das war am helllichten Tag so sonderbar, dass ich erwachte. Als ich nun in die Richtung schaue, aus der das Geheul kommt, sehe ich an einer Stelle oben in der Heide, hinter den Hängen, schwarzen Rauch in den Himmel aufsteigen. Mir war sofort klar, dass Justs Hof brannte. Im Inneren des Rauchs hüpfte und züngelte das Feuer, es sah grauenvoll aus; ich schrie auf, dann kamen wir auf die Beine. Die Knechte streiften ihre Holzschuhe ab und liefen so schnell sie konnten, ich habe meine Schuhe in die Hand genommen, denn ich wollte nicht mit nackten Füßen in die Glut treten. Wir waren die Ersten, die den Hof erreichten. Er stand von einer Ecke zur anderen in Flammen und brannte lichterloh; es war ein ruhiger Tag, die Sonne schien. Ich glaube, die Flammen schlugen so hoch wie ein Kirchturm, ein reines, helles Feuer, das bei Tageslicht kaum zu sehen ist. Allerdings war der Rauch hässlich und schwarz und wälzte sich schneller in den Himmel, als Vögel fliegen können – gut eine Viertelmeile direkt hinauf in die Luft, es wurde einem allein vom Hinsehen ganz schwindlig und wirr. Die Balken knackten und krachten, das Feuer raste und dröhnte, und, meine Lieben, diese Hitze, als wir uns dem Hof näherten! Man sollte es nicht glauben, aber viele Ellen vom Hof entfernt, wohin weder Feuer noch Rauch reichten, schnitt die Luft wie ein Schröpfmesser in die Wangen und trocknete den Mund aus, dass man nicht sprechen konnte.

Als wir uns dem Hof näherten, hörten wir die Pferde, die nicht aus dem Stall konnten, wiehern und ausschlagen, dass die Trennbalken dröhnten. Die Knechte rannten auf den Hof, über ihnen brannte das Tor, und hier sahen sie den Mann, Just, der mit versengtem Haar umherirrte und sich mit einem Eimer in der Hand abmühte. Er war halb von Sinnen und wusste nicht, was er tat. Mit einem Heubaum stemmten sie die Stalltür auf, und ein kleiner Bursche stürzte in den Rauch und das Feuer und schnitt die Halfterriemen durch. Es war übrigens mein Tanzpartner, hier war er also nicht schüchtern. Es war allerdings auch höchste Zeit, denn wären die Pferde noch wilder gewesen, hätten sie die Stalltür nie gefunden. Jetzt liefen sie ohne Weiteres nacheinander hinaus, beim letzten brannte bereits die Mähne. Und als sie erst einmal im Hof waren, sprengten sie im Galopp durch das Tor auf die Felder, schlugen aus, drehten sich um und wieherten, als würden sie sich bei uns bedanken, bleiben wollten sie auf einem solchen Hof aber auf keinen Fall.

Die Kühe waren auf der Weide, ihnen war nichts passiert. Allerdings verbrannten nicht wenige Schweine, und das mitanzuhören war schrecklich. Sie quiekten und schrien jämmerlich, und wir hörten, wie sie hochsprangen und mit den Hufen am Schweinekoben kratzten, um herauszukommen. Jemand kam auf die Idee, mit einem Balken ein Loch durch die Außenmauer zu stoßen, aber bis auf ein Schwein, das sich alle vier Hufe verbrannt hatte, waren bereits alle tot. Es lief auf Stümpfen, das arme, unschuldige Tier, und man konnte gleichsam am Grunzen hören, wie erleichtert es war, als es abgestochen wurde und sein Leben ließ.

Inzwischen waren eine Menge Leute mit Feuerhaken und Leitern gekommen, ganz Stenbæk, um wenigstens ein bisschen etwas zu retten, löschen war unmöglich. Sie schlugen die Fensterrahmen ein und versuchten, mit den Feuerhaken etwas vom Inventar herauszuziehen, viel war es allerdings nicht. Fast alles brannte. Wir sahen, wie der Tisch in der Wohnstube brannte, bis das Bier im Tonkrug kochte und der Krug zersprang, wo er stand, wir sahen, wie die Schränke und die Bilder an den Wänden brannten, die Betten und alles andere.

Und mit einem Mal fingen die Leute an zu schreien und verstört durcheinander zu laufen, und wir hörten Justs Ehefrau so unglücklich jammern und weinen, dass es kaum zu ertragen war. Sie hatte ohnmächtig im Küchengarten gelegen, seit ihr Mann ihr aus dem Fenster der Schlafkammer geholfen hatte; und als sie wieder zu sich kam, fragte sie die Frauen, die ihr zu Hilfe gekommen waren, wo Martine sei. Martine, wo war Martine? Nun ja, alle glaubten, sie sei mit dem Knecht und der Magd auf der Wiese und schliefe auf einem Heuschober. Nein, nein, nein, Martine hielt ihren Mittagsschlaf im Haus! O lieber Gott, sie mussten die Mutter festhalten, damit sie sich nicht ins Feuer stürzte; es war erbarmungswürdig, wie sie da lag und nach Martine schrie. Nun wussten wir es alle, und es war wirklich ein unerträgliches Grauen. Ich hatte das Gefühl, als wollte sich die ganze Brust durch meinen Mund nach außen stülpen. Martine!, riefen wir. Martine, Martine!

So nah wie nur irgend möglich liefen sie ums Haus, blickten in die Fenster und versuchten sie zu entdecken. Martine war nirgendwo zu sehen. Oh, aber selbst wenn man sie gefunden hätte, wäre es sinnlos gewesen, denn längst hatte das Feuer sämtliche Zimmer des Hauses in ein einziges verwandelt, die Zwischenwände waren eingestürzt und allmählich senkte sich die Decke unter der Last des Korns, das auf dem Dachboden brannte. Das Innere des Hauses war ein weißglühender Feuerofen, und es war kaum vorstellbar, dass Martine noch am Leben sein könnte. Dennoch wunderte man sich, dass sie nirgendwo zu sehen war, sie konnte doch noch nicht völlig verbrannt sein, man hätte doch wenigstens etwas von ihr sehen müssen. Die Mutter erklärte, so weit es in ihrem Kummer und ihrer Verwirrung überhaupt möglich war, Martine hätte sich auf die Bank in der Wohnstube gelegt, nur war dort nichts von ihr zu sehen. In den Nebengebäuden war sie auch nicht, es sei denn im Kuhstall, aber der war bereits eingestürzt und ein einziger Feuerhaufen. Und auf einmal schreit die Mutter:

»Der Keller! Oh, sie ist im Keller!«

Wie sie nun auf diese Idee kam, weiß allein der Allwissende! Sehen konnte sie es nicht. Wie auf den meisten Höfen war der Keller des Hauses ja nur eine Grube im Boden unter der Speisekammer, abgedeckt mit einer Luke und ohne weiteren Ausgang. Aber ganz unten an der Hausmauer zum Küchengarten war ein Loch zum Entlüften, das in den Keller führte, und dorthin kroch einer unter den Funken, der sich gegen die Hitze einen nassen Sack um den Kopf gewickelt hatte, und schaute hinein. Ja, Martines Mutter hatte gefühlt, wo sie war. Martine war im Keller, und sie war am Leben! Mehrere Männer krochen nun dorthin und sahen sie ganz hinten auf einem Bierfass sitzen; sie riefen sie, und sie sah auch zu ihnen hinaus; sie lebte!

Was für ein Trubel und eine Freude, doch auch eine große Angst, Martine nicht retten zu können, obwohl man sie sah. Durch das kleine Loch in der Mauer kam kein Mensch, zumal es eine dicke Feldsteinmauer war. Aber man konnte das Loch ja vergrößern. Gleichzeitig hatten sie die größten Befürchtungen, dass das Dach einstürzte und verhindern könnte, dass sie sich der Mauer näherten; ebenso gefährlich war es indes, wenn die Decke einbrach, denn dann würde der Boden der Speisekammer sofort durchbrennen. Und genau das passierte, während sie noch unschlüssig dastanden und darüber diskutierten. Die Decke stürzte ein, das Feuer loderte fürchterlich auf, und so viel Glut und Funken stoben, dass niemand sich in der Nähe des Hauses aufhalten konnte und sich alle für eine Weile zurückziehen mussten. Alle glaubten natürlich, dass Martine verloren wäre, zumal der ganze Boden des Hauses aus einem einzigen Haufen weißglühender Asche bestand. Aber etwas hat sie dann doch gerettet, und zwar das Korn auf dem Dachboden. Direkt über der Speisekammer lagen zwanzig Tonnen Roggen, die brannten zwar auch, aber durch solch einen Haufen Getreide frisst sich das Feuer dann doch nicht so rasch – und siehe da, das ganze Korn fiel auf den Speisekammerboden und schützte ihn erst einmal. Als wir das sahen, schöpften wir Hoffnung, und als einige Burschen trotz der Gefahr, sich gefährlich zu verbrennen, ein paar Eimer Wasser auf das Korn gossen, damit es nicht so schnell in Flammen geriet, sah es recht gut aus, dachten wir. Nun erwarteten wir allerdings, dass jeden Moment das Dach einstürzen könnte. Aber auch hier wurde ein Ausweg gefunden. Ein Wagen wurde in den Küchengarten geschoben und schräg an die Mauer gekippt, sodass die Räder in der Luft standen und die Ladefläche das Kellerloch abdeckte. Über den Wagen verteilten sie Säcke, die ständig mit Wasser bespritzt wurden. Jetzt konnte man unter den Wagen kriechen, obwohl dort eine Hitze herrschte, in der man hätte Brot backen können. Und sollte das Dach doch einstürzen, konnte es niemanden unter sich begraben und auch das Loch in der Mauer nicht verschütten. Als das erledigt war, holten sie Brechstangen und Hämmer, um die Mauer aufzubrechen …«

Kirsten seufzte tief.

»Ja, das war ein Tag, den ich nie vergessen werde. Ein Bursche nach dem anderen kroch unter den Wagen und hackte auf die Mauer ein, und wir anderen standen drum herum, so nah, wie wir es wagten, gingen in unserer Ungewissheit auf und ab und weinten um Martine. Und wenn die, die vor Hitze und Anstrengung nicht mehr konnten, zurückkrabbelten, vollkommen erschöpft und unkenntlich vom Rauch, war sofort ein anderer zur Stelle, der ungeduldig von einem Fuß auf den anderen trat und zu seinem Gott betete, dass es ihm vergönnt sein möge, Martine zu befreien. Denn alle Burschen aus Stenbæk waren gekommen, und es gab niemanden unter ihnen, der sein Leben und seine Gesundheit nicht für Martine aufs Spiel gesetzt hätte. Und nachdem sie nun alle nacheinander unter dem Wagen gewesen waren und sich mit angehaltenem Atem und Brechstange an der Feldsteinmauer abgequält hatten, war das Kellerloch tatsächlich so groß, dass ein Mensch hindurchkriechen konnte. Wir brachen in Hurra-Rufe aus. Und wir riefen Martine, wir alle waren so froh. Doch dann passierte das Unfassbare. Martine wollte nicht heraus! Nein, sie wollte nicht. Auf gar keinen Fall. Einer nach dem anderen kam rückwärts unter dem Wagen hervorgekrochen und erklärte, Martine wolle nicht zu dem Loch in der Mauer kommen, damit sie ihr heraushelfen könnten. Nicht dass sie festsaß oder eingeklemmt war, auch war sie durchaus bei Sinnen – sie saß wohlbehalten dort unten, denn noch war es ja kühl im Keller, aber sie wollte auf keinen Fall heraus!

Die Leute waren bestürzt und ratlos! Ein solches Gejammer, dass Martine sich nicht retten lassen wollte! Niemand verstand es. Doch sie wollte ihre Schande einfach nicht überleben. Sie war fest entschlossen, lieber zu sterben, als mit dem zu leben, was man ihr angetan hatte. Und nun glaubt ihr vermutlich, dass sie selbst das Feuer im Hof gelegt hat, um auf diese Weise den Tod zu finden. Aber ich kann euch gleich sagen, dass sie es nicht war, denn das hatte Mogens getan. Ja, wahrhaftig, er war es, das weiß ich genau.

Als es Tag geworden war, und er Martine hatte gehen lassen, wurde Mogens klar, was er getan hatte, und ihm graute vor den Folgen. Wenn er angezeigt würde, käme er ins Zuchthaus, davor gab es keine Rettung. Er blieb den ganzen Vormittag auf der Heide, allein mit seinem Entsetzen über das Unglück, in das er Martine und sich gestürzt hatte; und hoffen wir, dass er in diesen Stunden richtig viel durchmachen musste, lasst uns beten, dass er in den Abgrund gesehen hat und ihm ordentlich schwindlig wurde! Gegen Mittag, als weit und breit kein Mensch zu sehen war, schlich er auf Justs Hof, um Martine zu sehen und sie vielleicht um Vergebung zu bitten. Doch als er in die Fenster blickte und sah, dass alles schlief, kam ihm die grauenhafte Idee, sich der Verantwortung und der Folgen zu entledigen, indem er sie verbrannte! Hineinzugehen und Martine zu wecken, um sich mit ihr auszusprechen, war ja ein Gedanke, der für Mogens ebenso unmöglich war wie für das Korn, um Regen zu bitten, wenn es trocken ist, das hatte sich ja gezeigt. Und so verrückt vor Reue und Verzweiflung, wie er war, hat er es getan, bevor die Vernunft die Oberhand in seinem Kopf bekam. Etwas musste schließlich getan werden. Es ist ja so einfach, ein Streichholz anzureißen und an eine Dachtraufe zu halten, und ich frage mich sogar, was uns eigentlich normalerweise daran hindert, es zu tun. Niemand hatte Mogens’ Untat beobachtet, und er konnte auch vom Hof verschwinden, ohne gesehen zu werden. Aber so war der Brand ausgebrochen. Und als Martine erwachte und sah, dass es brannte, erschien es ihr wie ein Wink der Vorsehung. Nun konnte sie sterben, ohne dass auch nur ein einziger Mensch von ihrem Unglück erfahren würde. Um nicht gefunden und herausgetragen zu werden, hatte sie sich im Keller versteckt; er sollte ihr Grab werden, das Feuer sollte sie bedecken.

Oh, nie habe ich solchen Kummer und solche Bestürzung erlebt wie damals, als Martine aus Stenbæk sich nicht hatte retten lassen wollen, und die Burschen bettelten und flehten sie an, sie lagen auf dem Boden und weinten ihretwegen. Noch nie hatte sich alle Welt in ein einziges Mädchen verliebt und nach ihr gesehnt! Hatten die Burschen nicht schon vorher um ihre Hand angehalten, so taten sie es jetzt, und zwar jeder für sich mit all den Bitten, dem Flehen und den Tränen, die einem Menschen gegeben sind. Aber sie wollte nicht herauskommen. Ihre bedauernswerte Mutter kroch auf den Knien zu dem Loch in der Mauer, rief und lockte sie wie damals, als sie ein kleines Mädchen war, es nützte nichts. Sie flehte sie in tiefster Qual und Verzweiflung an und rang die Hände, doch Martine wollte nicht kommen. Einige meinten, sie sei nicht zurechnungsfähig, man müsse hinunterkriechen und sie mit Gewalt herausziehen, aber die kannten schließlich den Grund ihres Entschlusses nicht. Und es tat auch niemand. Niemand wollte Hand an sie legen; und wenn jemand unbedingt sterben will, so soll man ihn auch nicht daran hindern, denn das hieße ja, sich ins Schicksal einzumischen – ebenso wie es das Totenreich öffnet, wenn Menschen wiederbelebt werden, die sich erhängt haben. Als Martines Mutter sah, dass keine irdischen Stimmen sie mehr erreichten, verlangte sie in ihrem untröstlichen Kummer, den Pastor zu holen, damit ihre Tochter die Sakramente empfangen konnte, bevor sie starb. Und es wurde ein Wagen zum Pfarrhof geschickt.

Allerdings gab es jemanden, der ihm zuvorkam. Einer, der seinen Schmerz und seine Furcht nicht ertrug – es war Mogens. Als er von weitem sah, wie der Hof brannte und Feuer und Rauch in den Himmel qualmten, überkam ihn eine unsägliche, unerträgliche Angst, dass Martine wirklich verbrennen könnte. Er warf die Holzschuhe fort und rannte zurück, er lief sich die Strümpfe von den Füßen und den Hut vom Kopf und erreichte den Hof mit Schaum vor dem Mund und Augen, die ihm aus dem Schädel traten. Er kam genau im richtigen Moment.

Nun hört gut zu. Sowie Mogens erfuhr, wie es stand, warf er sich bei dem Loch in der Mauer auf den Boden und rief sie, erst einmal, dann noch einmal, und dann kam sie, dann kam Martine heraus! O ja, meine Lieben, dann kam sie. Weil er derjenige war, der sie gedemütigt hatte, war er auch der Einzige auf der Welt, der ihr Genugtuung verschaffen konnte. Denkt daran, meine Lieben, vergesst es nie! Und außerdem will ich euch noch etwas sagen …«

Alle Züge in Kirstens runzligem Gesicht glätteten sich, still strahlte es vor Liebenswürdigkeit, vor Wagemut und großem Ernst:

»Ich sage euch, sie fand an Mogens Geschmack – und damit war alles andere egal. Für Mogens, der nicht viele Worte machte, wollte sie leben, tja, so war es.

Oh, Mogens hatte Martine dazu gebracht herauszukommen! Glaubt mir, Mogens bot keinen hübschen Anblick, als er sie heraustrug und mit Martine in den Armen bei uns stand. Er warf uns und allen anderen bedrohliche Blicke zu und schnaubte wie ein Pferd, und tatsächlich gab es niemanden, der sie ihm streitig machen wollte, nein, bestimmt nicht.

Nicht damals, und seither auch nicht. Vierzig Jahre lebten sie zusammen, und ich habe nie Menschen gesehen, die im alltäglichen Leben so gut miteinander auskamen wie diese beiden. Viel Gerede und Geturtel kannten wir zu meiner Zeit ja nicht, das war was für die feinen Leute, aber auf Mogens’ Hof, das muss ich schon sagen, wurde besonders wenig geredet. Der Mann litt nicht an Beredsamkeit, also sagten die anderen auch nichts – deshalb waren es trotzdem nette Leute! Sie bekamen hübsche Kinder. Ja, das ist jetzt lange her …

Als sie damals heirateten, saßen die Leute in der Kirche und waren so gespannt, ob Mogens nun ja sagen würde, wenn der Pastor ihn fragte. Vermutlich dachten sie, es sei überflüssig und würde ihm deshalb schwerfallen, aber ha!, er hat’s tatsächlich gesagt. Danach war seine Zunge allerdings so müde, dass er während der Hochzeitsfeier kein weiteres Wort mehr herausbrachte.

Ja, das war Mogens, und nun ist er schon lange tot. Die Zeit vergeht, und ich bin eine alte Frau, die übrig geblieben ist, ja, ja, ja, nichts währt ewig … und nun sitze ich hier und mir kommt es vor, als sei dies alles vor einer Stunde geschehen.«

Kirsten verstummte.

WOMBWELL

Ohne Vorankündigung biegt an einem Hochsommertag das merkwürdigste Gefährt vor dem Wirtshaus in Keldby ein, eine funkelnagelneue rote Gig mit geradezu unangemessen großen Rädern. Die sehr dünnen Speichen maßen von der Nabe bis zur Felge über drei Ellen. Zwischen den roten Deichseln ging ein langbeiniges Pferd einer auffallend ausländischen Rasse mit kurzgeschorener Mähne und Adern, die sich an den Flanken abzeichneten. Auf der schwindelerregend hohen Sitzbank saßen zwei Personen, ein nobler alter Herr, der trotz des Sommertags einen langen, schweren Mantel mit einem großen Kragen trug, und eine junge Frau. Sie war von vornehmem Stand, trug einen Schleier vor dem Gesicht und hatte einen betörenden Blick. Mein Gott, man wurde ganz wirr im Kopf, wenn sie einen ansah.

Es war weder ein Straßenmeister noch ein Handelsreisender auf dem Weg zu seinen Kunden, auch kein Gutsherr auf Reisen, es waren wildfremde Leute. Und wie sich schon bald herausstellte, sprachen sie auch kein Dänisch. Madame Bjørn, die Wirtin, schickte unverzüglich einen Boten zur Lehrerin, die beim Kolonialwarenhändler wohnte und das Mittelschulexamen hatte, sie möge doch bitte kommen und übersetzen, was die beiden Ausländer sagten. Als sie erschien, saßen die Fremden in der Wohnstube, eine Karte lag vor ihnen auf dem Tisch. Die Lehrerin führte nur ein kurzes Gespräch mit ihnen; sie baten um etwas zu essen, und nachdem sie Madame Bjørn dies übersetzt hatte, sprachen sie nicht mehr mit der Lehrerin. Sie kamen aus England. Sie studierten die Karte, und die Lehrerin hörte, wie sie mehrfach den Namen Graabølle mit einer fremden, fürchterlichen Aussprache erwähnten. Der alte Herr hatte feine weiße Hände, in denen er die ganze Zeit eine Schildpattdose hielt. Aufgrund seines Alters war er ein wenig tattrig, im Übrigen aber für einen Greis erstaunlich lebhaft; er führte eine angeregte Unterhaltung, lächelte dabei jedoch nicht ein einziges Mal. Die junge Frau hingegen lächelte umso mehr, sie schien eine ausgesprochen fröhliche Person zu sein. Sie lachte und benahm sich sehr verliebt während der Mahlzeit, sodass die Magd sie für ein frischvermähltes Paar auf der Hochzeitsreise hielt; sie fand es daher angebracht, sich beim Servieren zuckersüß zu verhalten und zu lächeln, als würde sie vor Begeisterung ohnmächtig werden. Sie aßen gebratenen Aal, der ihnen zu Madame Bjørns großer Erleichterung zu schmecken schien. Messer und Gabel aus massivem Silber hatten sie selbst in einem Lederfutteral mitgebracht. Ganz sicher waren es keine Menschen von niederem Stand; ihre Kleidung und das Gepäck, das sie im Wagen hatten, waren teuer und von guter Qualität. Nachdem sie eine Stunde im Wirtshaus verbracht und sich erfrischt hatten, fuhren sie in Richtung Süden nach Graabølle. Ihr Gefährt hatte viele Neugierige in den Kutschstall gelockt, und als die unnatürlich hohe Gig die Landstraße hinunterschwebte, folgten ihr die Augen sämtlicher Zuschauer mit einer unbestimmten Anteilnahme. Nun, da sie wieder allein waren, schien es denen, die den Wagen davonfahren sahen, als würden sie einander allzu gut kennen.

Am darauffolgenden Tag ging das Gerücht um, dass in fünf Tagen eine gewaltig große Menagerie in die Gegend kommen und in Graabølle zur Schau gestellt würde. Sie hieß Wombwell, kam aus England und war eine der größten reisenden Menagerien der Welt. Sie kam aus dem Norden und hatte ihre Pforten zuletzt in Aalborg geöffnet, wo sie alle Welt verblüfft hatte. Nun war die Menagerie auf dem Weg nach Viborg, wollte unterwegs aber an einem einzigen Ort im ganzen Himmerland ihre Reise unterbrechen. Die Wahl war allein der zentralen Lage wegen auf Graabølle gefallen, nicht aufgrund irgendeines anderen Verdienstes. Die Menagerie bewegte sich mit einem ungeheuer großen Tross an Wagen und sollte, wenn sie aufgebaut war, die Einwohner eines ganzen Amtsbezirks aufnehmen können. Sie verfügte über eine Herde ausgewachsener Elefanten, es gab einen Käfig voller Löwen, und die übrigen Wagen enthielten sämtliche erdenklichen wilden Geschöpfe, die sich auf der Erde finden ließen. Der Mann in der hohen Gig war indes nicht Wombwell selbst, sondern ein vertrauter Sekretär, der voraus reiste und in den Orten, in denen die Menagerie aufgebaut werden sollte, alle Vorbereitungen traf.

Zwei Tage nach dem Besuch des Sekretärs in Keldby kamen drei schwere Arbeitswagen mit Material, Bauholz und einer Gruppe Fremder. Angeführt wurden sie von einem Ingenieur zu Pferd, einem wahnsinnigen Engländer, der in der halben Stunde, die er im Wirtshaus verbrachte, Madame Bjørn beinahe zu Tode erschreckte. Schon bald hatte sich herumgesprochen, dass dieser Trupp vorausgeschickt worden war, um Straßen und Brücken für den Zug instand zu setzen. Dass unsere Straßen an vielen Stellen die enorm schweren Wagen nicht tragen konnten, verstand man nur zu gut, und auf die Brücken konnte man sich erst recht nicht verlassen, wenn Elefanten sie betreten sollten. Der Ingenieur besaß die Vollmacht des Bezirksrichters von Løgstør, sich dieser Dinge anzunehmen. Später hieß es, er habe die Brücke über den Moholm-Bach so gut wie neu bauen lassen. Allerdings wunderten sich die Menschen, dass sich derartige Unkosten bezahlt machten, da die Menagerie die Straße doch nur ein einziges Mal befahren würde. Selbst die Großbauern horchten auf, handelte es sich hier doch offensichtlich nicht um irgendeine verbrämte Bettelei. Wombwell sah nicht aus wie dieses Lumpenpack, das mit einem Leierkasten und einem Affen auf den Landstraßen umherzog.