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Felix Schmidt

AMELIE

Roman

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Erste Auflage 2020

für meine Kinder

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

1

In ein paar Stunden werde ich Amelie wiedersehen.

Ich stehe neben mir, schiebe den Tag vor mir her, lausche dem Stakkato der Regentropfen auf dem Balkon der Wohnung im vierten Stock, von dem ich zur Straße blicken kann. Ich halte es weder am Schreibtisch vor dem Balkonfenster noch im Lesesessel vor dem Bücherregal länger als fünf Minuten aus. Keine Chance, einen Zeitungsartikel zu Ende zu lesen. Das Buch, das ich vor ein paar Tagen begonnen habe, eine dicke Bach-Biografie, schlage ich gar nicht erst auf.

Seit ich mich aus dem Bett gequält habe, drehen sich meine Gedanken in einer Endlosschleife um die Begegnung heute Abend. Ich bin längst bei Amelie. Ich sehe sie wie früher leichtfüßig wie ein junges Mädchen auf mich zueilen, obwohl sie nun auch schon Mitte fünfzig ist, höre das Klacken ihrer Stiefeletten, sehe ihren leicht rot geschminkten Mund, der sich bei der Begrüßung zu einem lautlosen Lächeln öffnet. Ich sehe den spöttischen Blick, die kleinen, unter einem dicken Pullover versteckten Brüste.

Als ich dem Ansturm der Gefühle nicht mehr standhalten kann, ziehe ich den Morgenmantel aus und stelle mich unter die kalte Dusche. Ich habe das Gefühl, ich müsse mich abhärten für das, was mich erwartet.

Ich lasse mir unter der Dusche Zeit. Als sich das Durcheinander in meinem Kopf einigermaßen beruhigt hat, drehe ich den Wasserhahn entschlossen zu und trockne mich mit einem schweren Handtuch übertrieben lange ab. Den mindestens zehn Jahre alten italienischen Anzug, der immer noch sitzt, und ein weißes Hemd habe ich mir schon heute früh zurechtgelegt. Ich überlege, ob ich eine Krawatte umbinden soll, lasse es aber, weil mir Amelie einmal gesagt hat, dass ich mit offenem Hemdkragen jugendlicher wirke. Das habe ich nicht vergessen und mir seither keine neuen Krawatten mehr gekauft, auch nicht die schmalen, die jetzt in Mode sind.

Es ist früher Abend und allmählich Zeit, mich auf den Weg ins Restaurant zu machen, in dem ich mich mit Amelie verabredet habe. Ich bin ein wenig zu früh dran, aber ich kann es kaum erwarten. Ich richte mich auf, ich weiß nicht, wie lange ich still an meinem Schreibtisch gesessen und überhaupt nichts getan habe. Durchs Fenster habe ich den Wolken zugeschaut, wie sie immer eiliger vorbeisegelten und schließlich den blauen Himmel freilegten. Es hat nur vorübergehend aufgehört zu regnen. Jetzt nieselt es.

Aus einer Eingebung heraus greife ich auf dem Weg zur Tür nach den zwei mit Aufzeichnungen gefüllten Kollegheften, die ich hinter Bücherrücken im Regal versteckt hatte. Ein leichtes Frösteln kann ich dabei nicht unterdrücken. Wie lange habe ich die nicht angesehen! Jetzt überkommt mich das vage Gefühl, dass ich sie als eine Art Talisman bei dem bevorstehenden Gespräch dabeihaben sollte. In den blauen Kollegheften habe ich alles festgehalten, was vor drei Jahren passiert ist.

Es nieselt weiter, als ich am Breitscheidplatz, zu dem ich von meiner Wohnung in fünf Minuten gelaufen bin, in den Bus steige, um ins »Ritz Carlton« am Potsdamer Platz zu fahren. Ich versuche in den blauen Kollegheften zu lesen, blicke jedoch alle paar Sekunden fahrig hinaus ins Schmuddelwetter. Die Scheiben sind beschlagen, die Fassaden huschen wie im Nebel vorbei, ich erkenne nicht viel, nur Schemen mit Regenschirmen.

Als der Bus die Haltestelle erreicht, steige ich voller Ungeduld aus und betrete wenig später die Lobby des Hotels. Wie lange ich nicht mehr hier gewesen bin! Alles ist noch am gewohnten Platz. Es ist wie vor Jahren, als ich dann und wann im Bistro des »Ritz« gegessen habe.

Auf der Karte steht wie damals der Blaubeerpfannkuchen. Und das Wiener Schnitzel mit Spargel gibt es auch noch. Ebenso die Sylter Austern, die vermutlich noch immer nach nichts schmecken. Nur die Preise haben sich geändert. Die Bistrotische stehen so eng nebeneinander, dass man hört, was die Nachbarn erzählen, auch wenn man es nicht hören will.

Ich muss zehn Minuten warten, bis der Tisch an der Ecke, an dem ich so oft mit Amelie gesessen habe, frei wird. Von hier aus kann man durch die großen Glasscheiben in das aufkeimende Grün des nahen Parks und in den Himmel sehen.

Als Amelie und ich vor ziemlich genau drei Jahren das letzte Mal hier an diesem Tischchen Milchkaffee tranken und Croissants aßen, die so gut schmeckten, als kämen sie direkt aus einer Pariser Pâtisserie, fielen die Sonnenstrahlen eines schon warmen Märztages in das Bistro. Wir waren damals noch verheiratet, hatten gerade Silberne Hochzeit gefeiert und zogen die Aufmerksamkeit des Kellners auf uns, weil wir uns über das Tischchen hinweg küssten. Er war wohl neidisch gewesen auf diesen Anblick von Glück.

Nun sitze ich wieder an diesem Ecktisch, warte auf Amelie und fürchte mich ein wenig vor der Begegnung. Es ist die erste nach Jahren der Entfremdung und der Kontaktsperre, die ich uns beiden, die ich mir auferlegt hatte.

Ich lehne mich zurück und gerate schon nach wenigen Minuten ins Grübeln. Immer wieder stehe ich von meinem Tisch auf, gehe durchs Lokal und schaue, ob es nicht doch noch einen besseren, geschützteren Platz für uns gibt.

Ich habe lange darüber nachgedacht, wo dieses Wiedersehen stattfinden könnte. Eine Begegnung in meiner Wohnung kam nicht in Frage, das wäre zu intim gewesen. Schwankender Grund. Das Bistro im »Ritz«, neutral und doch vertraut, schien mir das angemessene Terrain zu sein.

Es ist gut eine Stunde vor der verabredeten Zeit, die Tische werden eingedeckt. Mit geübten Griffen und flotten Zurufen bringen die Kellner Bestecke, Gläser und Teller auf die Tische. Das Klappern, das dabei entsteht, übertönt das Dudeln der Musikanlage mit französischen Chansons. Der Ober, den ich zu mir winke, um einen Whiskey zu bestellen, schaut mich mit einem schwer zu entschlüsselnden Lächeln an, dann sagt er: »Schön, dass Sie auch wieder einmal hier sind.«

Ich erinnere mich, dass wir uns früher, wenn ich hier gegessen habe, über Musik und Literatur unterhalten haben. Ich erinnere mich an seine samtene Stimme, den französischen Akzent und daran, dass er es musikalisch mit der Romantik hielt, vor allem mit den Liedern von Schubert. Dafür haben die Franzosen nun mal eine Vorliebe. Ich habe ihm gerne zugehört, wenn er von Paris schwärmte. Er hatte bei »Fouquet’s« gelernt und war einige Jahre dort geblieben, bevor er in Berlin Karriere gemacht hatte, wie er spöttelte. Er hatte es immerhin zum Restaurantchef gebracht und war jetzt ein Mann kurz vor der Rente, der sich mit einigem Optimismus schadlos durch die Jahre gekämpft hat.

»Wo ist denn Ihre Frau?«, fragt er mich unvermittelt.

»Ich warte hier auf sie, aber sie ist nicht mehr meine Frau.«

Der Ober dreht an seinem Ehering. »Das tut mir leid«, sagt er.

Ich lege unwillkürlich die Hand auf die beiden Kolleghefte, die ich bei meiner Ankunft im Restaurant aus der Aktentasche geholt habe. Ich nehme eines der Hefte in die Hand und lasse die Blätter über meinen Daumen rascheln. »Da steht alles drin, was mir in den letzten drei Jahren widerfahren ist.« Ich atme einmal tief durch. Dann lege ich es wieder zurück. »Ja, ich habe einiges hinter mich gebracht, seit ich zuletzt hier war.«

Die Hand, die wieder auf den Notizheften liegt, wird immer schwerer und breiter, als wolle sie zudecken, was ich den Seiten aus meiner jüngsten Vergangenheit anvertraut habe. Der Ober macht ein paar mitfühlende Bemerkungen zu dem, was er als Missgeschick bezeichnet. Ich sehe ihm an, dass er gern mehr wüsste, aber er akzeptiert mein Schweigen und macht mich auf den Vorzug dieses und jenes Gerichts auf der Speisekarte aufmerksam. Ich höre nur halb hin und sage dann: »Nachher können Sie mir ein Wiener Schnitzel servieren, aber vom Kalb.«

Als ich diese, in einem gehobenen Restaurant gewiss unangebrachte Bitte ausspreche, tappe ich in die Nostalgie-Falle: So hat Amelie hier stets ihr Leibgericht bestellt.

Wenn ich ehrlich bin, geht es mir gar nicht so sehr ums Essen, sondern eher um solche Erinnerungen. Und dann nehmen die Bilder aus der Vergangenheit Kontur an. Als ich das Glas mit dem Bourbon hebe, zittert meine Hand heftig. Es ist einerseits die freudige Unruhe, Amelie wiederzusehen, die ich, auch wenn ich es mir nicht eingestehen will, seit der Trennung vermisse. Andererseits kann ich mit dem Whiskey die Wut nicht hinunterspülen, die mich packt, wenn ich wie jetzt darüber nachdenke, mit welcher Hemmungslosigkeit sie mich hintergangen hat.

Begonnen hatte alles mit dem sexuellen Kick einer Sommerliebe, die sie als Signal für ein neues Leben verstanden hat und mit der sie das Glück der Familie aufs Spiel setzte. Die Sommerliebe hat dann Jahresringe angesetzt, die heiße Affäre hat sich abgekühlt: »Das hat gar nichts mit dir zu tun«, hat mir Amelie ihren Ausbruch aus der Ehe einmal erklärt. »Ich hatte das Gefühl, im Leben etwas zu verpassen, deshalb habe ich Neues gewagt.«

Ich bin trotz aller Aufwallung, die derlei Tagträumereien in mir wachrufen, jetzt eher weich gestimmt, die Hoffnung, das anstehende Gespräch mit Amelie könne vielleicht eine Wende bringen, ist schwer zu unterdrücken.

Ich bin nicht sicher, ob es richtig war, auf Amelies Bitte um ein Gespräch überhaupt einzugehen. Sie hat geschrieben, dass sie meinen Rat und meine Hilfe brauche. Ich kann sie doch nicht abweisen wie einen unliebsamen Besucher, der an der Tür steht, dachte ich, als ich letztlich einwilligte.

Das Warten setzt mir zu. Ich schrecke hoch, als der Kellner mich fragt, ob ich noch etwas trinken möchte. »Bringen Sie mir bitte noch einen Bourbon, dann ist aber genug.«

Die Gedanken und Gefühle von damals sind wieder da, das Echo, das sie auslösen, wird sich auch mit Whiskey nicht vertreiben lassen. Die in den Kollegheften gehütete Vergangenheit wird wieder lebendig. Die Bilder von damals ziehen wie ein wackliger Film vor meinen halb geschlossenen Augen vorüber. Sie kommen aus einem Paradies, aus dem ich vertrieben worden bin und in das ich jetzt am Bistrotisch vor dem Whiskeyglas wie ein melancholischer Zuschauer wieder flüchte. Es sind Bilder, in deren Fluchtpunkt stets eine Frau ist, noch schmaler und zarter als in meiner Erinnerung.

Ich sehe, wie ich nach unserem letzten gemeinsamen Aufenthalt hier mit ihr die paar Schritte zur Philharmonie hinüberging. Sie trug das schwarze Kleid mit den weißen Punkten, das ich ihr zu diesem Anlass geschenkt hatte.

Wir kamen wenige Minuten vor Beginn des Konzerts an. Die Sitzreihen waren längst gefüllt und die Musiker bereits auf der Bühne, sie stimmten ihre Instrumente. Wir drängten uns auf unsere Plätze in der dritten Reihe, Block A.

Die teuren Karten waren ein Geschenk unseres Freundes Paul Meissenberg, der an dem Abend die Berliner Philharmoniker dirigierte. Das Adelsprädikat vor dem Nachnamen hatte er während eines längeren Aufenthalts in Indien abgelegt, wo er bei einem Guru musikalische Erleuchtung gesucht hatte. Er war fortan nur noch Meissenberg, der internationales Ansehen genoss, vor allem als Interpret von Gustav Mahlers Symphonien. Für den heutigen Abend hatte er die Achte gewählt, die den Beinamen »Symphonie der Tausend« bekommen hatte, weil bei der Münchner Uraufführung eintausendunddrei Musiker auf der Bühne waren.

In einem Rundfunk-Interview hatte Meissenberg tags zuvor über die gewaltige Personalanforderung für dieses Werk gesprochen: acht Sängerinnen und Sänger, drei Chöre, ein Riesenorchester und eine Orgel. Wegen dieses ausladenden Anspruchs und der geistigen Dimension – einer komplizierten Mixtur aus Glauben, Verzeihung und Erlösung – habe Adorno die Achte eine »Riesenschwarte« genannt. Meissenberg nutzte das Radio-Gespräch auch, um darauf hinzuweisen, dass es nicht vielen Dirigenten gelinge, die ganze Klangpracht und Dramatik dieses musikalischen Monsters zu meistern. Schon an der Balance zwischen Solisten, Chören und Orchester würden manche scheitern.

»Das wusste ich nicht«, hatte Amelie zu mir gesagt, als unser Freund auf die Lebensumstände einging, in denen Mahler sein gewaltigstes Werk schuf. Obwohl seine Frau Alma längst mit Walter Gropius eine Affäre hatte und die Ehe zu scheitern drohte, habe er ihr die Symphonie gewidmet.

Meissenberg wurde mit großem Applaus begrüßt. Im modisch hochgeknöpften Anzug ging er das Treppchen zum Podium hinauf, nein, schwebte hinauf, in der Gewissheit, dass ihm eine unvergleichliche Interpretation gelingen würde. Als er sich mehrfach verbeugte, glaubte ich ein leichtes Nicken in unsere Richtung zu bemerken. Amelie jedenfalls lächelte zurück. Mit zwei, drei Fingerschlägen der rechten Hand gab er den Musikern den Takt an. Dann reckte er beide Arme zum Einsatz.

Meissenberg war ein Romantiker, als Dirigent und als Mensch. Die eben erst wiederentdeckte Musik Mahlers mit ihrem Getose hatte in seinem Programm eine Bleibe gefunden. Wochenlang hatte er, wie er uns immer wieder erzählte, Nuance um Nuance überdacht.

Deshalb hörten Amelie und ich nun nicht nur die Interpretation, sondern auch, wie sie zustande kam. Der Abend war für Meissenberg ein Erfolg. Er musste sich wieder und wieder verbeugen. Dabei fielen seine langen Haare vornüber, was einige Zuhörer so belustigte, dass sie noch wilder klatschten.

Nach der Aufführung reihten Amelie und ich uns in die Schlange der Gratulanten ein, die sich vor Meissenbergs Garderobe versammelt hatten. Hier hatte auch Herbert von Karajan einst die Huldigungen seiner Fans entgegengenommen.

»Nein, das muss doch nicht sein«, sagte ich zu Amelie, »das dauert doch eine Ewigkeit.«

»Du kannst ja schon ins Hotel zurückgehen«, entgegnete sie. »Ich komme nach.«

Auf dem kurzen Rückweg an den lichterblinkenden Hochhäusern des Potsdamer Platzes vorbei stellte sich nicht jenes Glücksgefühl ein, das ich sonst nach Konzerten empfand. Die Darbietung der Mahler-Sinfonie hatte mir nicht sonderlich zugesagt. Trotz Meissenbergs intensiver intellektueller Vorbereitung hatte er die Armee von Streichern, Schlagzeugern und Bläsern mit den Chorkompanien nicht in die Balance bekommen.

An der Hotel-Bar nahm ich einen Drink und wartete auf Amelie. Sie kam seltsam leicht, fast übermütig in den Raum, so wie ich sie sonst nur im Urlaub erlebt hatte. Erst jetzt sah ich die grauen Strähnchen, die sie sich am Nachmittag ins blonde Haar hatte machen lassen. Beim späten Abendessen – Amelie ließ sich ein Wiener Schnitzel servieren, »aber vom Kalb« – überraschte sie mich mit der Frage: »Wollen wir nicht ein paar Tage nach Sardinien fahren? Paul hat für den ganzen Sommer ein Haus am Meer gemietet.«

»Woher weißt du das?«

»Er hat es mir vorhin gesagt. Er lädt uns ein.«

Ich erinnerte mich vage daran, dass Paul auch mir seine Absicht, den Sommer auf Sardinien zu verbringen, bereits mitgeteilt und die Mitteilung mit der Frage verbunden hatte, ob wir dort nicht unseren gemeinsamen Auftritt für das Gesprächskonzert vorbereiten könnten, das für den Herbst in Göttingen geplant war. Ich habe ein Leben lang über Musik geredet, geschrieben und Filme gedreht.

Meissenberg schätzte es, wie ich die Musiker ins Gespräch bekam. Deshalb hatte er mich schon vor einiger Zeit gebeten, einige seiner Konzerte zu moderieren. Es sollte über die Wiederentdeckung der Musik Gustav Mahlers mithilfe der stereophonen Aufnahmetechnik gesprochen werden. »Du bringst am besten Amelie mit nach Sardinien, dann verbinden wir das Nützliche mit dem Angenehmen.«

Am Tag darauf, als wir wieder in unserer Wohnung in Hamburg waren, schnitt Amelie das Thema erneut an. Sie gab mir eine ausgedruckte Mail, die sie von Paul bekommen hatte und in der er nachfragte, ob wir uns schon entschieden hätten. Ich stand am Herd und bereitete das Abendessen vor, deshalb legte ich das Papier beiseite. Ich war unschlüssig und sagte es ihr auch.

Beim Essen erzählte Amelie dann von ihrer Lektüre über die Bergschönheiten Sardiniens, die sie beeindruckt hätten. Sie zeigte mir am Computer die steil ins Meer abfallenden Bergrücken, Strände mit einem Geranke von Kakteen, Bougainvilleen und Oleanderbüschen. Damit überzeugte sie mich.

Der Ausblick auf die üppige südliche Landschaft weckte meine latente Sehnsucht nach dem Naturerlebnis. Sie geht zurück auf intensive Naturerfahrungen in meiner Kindheit, als ich sinnend und staunend auf dem Hang hinter meinem Elternhaus gelegen und unvergessliche Stimmungsbilder in mich aufgenommen hatte: Wolkengebilde, die sich über den Hügeln auftürmten, der in der mittäglichen Hitze gerinnende Himmel, die glitzernden Matten, wenn die ersten Sonnenstrahlen auf das Gras fielen.

Ich bat Amelie, eine Verabredung mit Paul zu treffen, »aber mehr als vier Tage müssen es nicht werden.«

»Acht sollten es schon sein, sonst lohnt es sich nicht«, entgegnete sie.

Amelie buchte noch am gleichen Tag Flüge nach Olbia, von Nizza aus, denn wir wollten ja bereits im März in die Vaucluse fahren, wo wir ein Sommerhaus hatten. Sonst ließ sie sich für das Buchen immer viel Zeit, sie flog nicht gerne, sie hatte Platzangst und stieg nur ins Flugzeug, wenn sie einen der vorderen Gangplätze reservieren konnte, was ihr dieses Mal nicht gelang. Aber dieses Mal war es ihr offensichtlich gleichgültig.

»Sardinien interessiert mich sehr, da nehme ich schon mal eine Strapaze auf mich«, sagte sie.

Es war dann ein angenehmer, ruhiger Flug. Der blaue Himmel, den ich durch das Kabinenfenster wahrnahm, ging schon ins Abendrot über, als der Pilot zur Landung ansetzte.

Amelie, die vor sich hingedöst hatte, räkelte sich wach. »Du kannst dich um die Koffer kümmern. Ich hole den Leihwagen ab. Paul wartet dort auf mich. Er fährt dann mit seinem Wagen voraus.«

Ich nickte. Die sorgfältige Planung, von der Amelie sonst nicht viel hielt, weckte in mir vorübergehend das beunruhigende Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte, dass die Rollen falsch verteilt waren. Ich nahm die Koffer vom Laufband und schob sie zum Ausgang, wo ich auf Amelie und Paul wartete.

Eine endlose halbe Stunde stand ich da. An- und abfahrende Autos rollten an mir vorbei, und als ich ins Dämmerlicht des Abends hineinblinzelte, tauchte Amelie als verschwommene Silhouette vor meinen halb geschlossenen Augen auf.

»Du bist so weit weg«, hatte ich in den letzten Monaten immer wieder zu ihr gesagt. Ich hatte das Empfinden, dass sie mit ihren Gedanken und Gefühlen fern von mir war. Wie jetzt wieder, als sie sich aus ihrem Schemen löste und mir zurief: »Steig ein.«

»Wo ist Paul?«, fragte ich.

»Er ist schon vorausgefahren.«

»Aber warum ist er denn überhaupt gekommen?«

»Er wollte mir beim Mieten des Wagens behilflich sein.«

»Deshalb fährt er eigens hierher? Das verstehe ich nicht.«

Amelie antwortete nicht.

Paul sei eben, so sagte ich mir, immer für eine Überraschung gut. Er beachtete kaum Regeln, hielt sich nicht an Verabredungen, setzte sich über Umgangsformen hinweg. Sein unmäßiges Selbstbewusstsein, mit dem er sich Abstand zu allem Konventionellen verschaffte, verteidigte er mit dem Hinweis, dass sich der künstlerische Mensch außerhalb der gesellschaftlichen Norm bewege.

Während der Fahrt blieben wir die meiste Zeit stumm. Nur mit gelegentlichen Hinweisen auf vorüberziehende Naturschönheiten unterbrach ich die Stille. Nach einer Stunde Fahrt erreichten wir das Haus. Der erste Blick trog. Hinter einer anspruchslosen Fassade und einem mit Mülleimern verstellten Eingang lag ein wahres Paradies: ein gepflegter Park mit Oleander, Rosen und Pinien, durch den man direkt ans Meer kam.

Und erst das Haus! Zehn auf zwei Stockwerke verteilte Zimmer, die meisten mit Balkon und weitem Blick übers Meer, eine geräumige Halle, die Wände mit Palisanderholz getäfelt und mit alten Stichen verziert – vorwiegend Jagd- und Schäfermotive –, was den Eindruck von Gediegenheit und Wohlstand vermittelte.