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Rinny Gremaud

Verkaufte Welt

Eine Reise
zu fünf Tempeln des Megakonsums

Aus dem Französischen von Andrea Spingler

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Übersetzerin und Verlag danken für die Unterstützung

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REIHE
Literatur aus der Schweiz in Übersetzung

 

Dieses Buch erscheint mit Unterstützung der ch Stiftung für eidgenössische Zusammenarbeit dank der Beteiligung aller 26 Kantone. Die Übersetzung wurde von Pro Helvetia subventioniert.

Der Verlag edition bücherlese wird vom Bundesamt für Kultur mit einer Förderprämie für die Jahre 2019–2020 unterstützt.

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Die Originalausgabe ist 2018 unter dem Titel
Un monde en toc bei Éditions du Seuil erschienen.

© 2018 Éditions du Seuil, Paris
© 2020 edition bücherlese, Luzern
www.buecherlese.ch

Lektorat: Christiane Schmidt

eISBN 978-3-906907-36-9

Für Pierre, Ulysse und Lucile

INHALT

Vorwort von Olivier Rolin

Vorbemerkung

Lausanne

Edmonton

Vancouver

Peking

Singapur

Kuala Lumpur

Bangkok

Dubai

Istanbul

Casablanca

Lissabon

VORWORT

Als ich Rinny Gremauds Manuskript las, war ich sofort angetan. Zunächst von der ungewöhnlichen Idee: eine Reise um die Welt in fünf Stationen zu unternehmen, fünf Städte auszuwählen, weil sie eins jener Monster des globalisierten Handels beherbergen, eine Megamall. Was ist eine Mall? Vielleicht muss man es erklären, denn wir Franzosen, die wir die Welt großzügig mit Super- und Hypermärkten überzogen haben, sind vom Phänomen der Mall verschont geblieben. Eine Mall also ist so etwas wie eine Kreuzung aus Gigamarkt (ich wage den Neologismus) und Disneyland. Es ist die Sphäre des Gigantischen, des Übermäßigen, des absurden Rekords. Hunderttausende Quadratmeter, so groß wie 68 Fußballfelder, etwas größer als der Vatikan soll eine sein, in eine andere würden auf die Erdgeschossfläche zwei Containerschiffe der Triple-E-Klasse passen (jedes 400 Meter lang und 60 Meter breit, sei denjenigen erklärt, die in maritimen Dingen nicht so bewandert sind). Darin halten Hunderte von Geschäften oder vielleicht auch Tausende, was soll’s, für eine fiktive internationale Mittelschicht Produkte feil, die sich auf der ganzen Welt gleichen und von Kanada bis Malaysia, von Peking bis Casablanca unter denselben Markennamen verkauft oder jedenfalls angeboten werden.

Doch das ist nicht alles. Damit es funktioniert, braucht es weitere Attraktionen, gigantische natürlich: der größte tanzende Brunnen der Welt (in Dubai), das größte Wellenbad (in Edmonton), die größte Hallenachterbahn, spektakuläre Aquarien, in denen Haie und manchmal Meerjungfrauen schwimmen, Skipisten mitten in der Wüste. Es gibt Kinos, Minigolfanlagen, Restaurants und »typische Straßen«, Hotels mit geografisch inspirierten Themenzimmern (Palmen oder Schneeverwehungen aus Pappmaché, je nach gewähltem Klima). Denn die verrückte Logik der Malls will nicht nur, dass sie die Stadt, deren Schmarotzer sie sind, in sich einsaugen, sondern dass sie die Außenwelt vollkommen fakultativ machen, wie Rinny Gremaud so schön formuliert. In der Mall soll man nicht nur kaufen, sondern tendenziell auch leben, denn leben ist konsumieren. Man kommt von weit her, man macht dort alles, essen, schlafen, sich vergnügen (na ja, wer es mag), sich fotografieren (die Mall ist das große Reservat der Selfies); eventuell sterben, obwohl das Einzige, was nicht vorgesehen ist, Friedhöfe sind, aber das kommt vielleicht noch. Man ist dort überall und nirgends. Man denkt an die neuen chinesischen Städte, die Paris (Eiffelturm inbegriffen) oder London, also die schicken Orte des Planeten nachzubilden behaupten. Man denkt sogar an die berühmte Geschichte, in der Jorge Luis Borges sich eine »Karte des Reichs« ausmalt, »die die Größe des Reichs besaß und sich mit ihm in jedem Punkt deckte«. Es ist eine künstliche Welt, die da erschaffen wird.

Bemerkenswert ist nun, dass Rinny Gremaud diese Welt der Maßlosigkeit und Schaumschlägerei in einem Ton beschreibt, der, im Kontrast dazu, von Zurückhaltung und Ironie geprägt ist – – durchaus literarischen Eigenschaften. Sie macht zwar kein Hehl aus ihrer Verwunderung, aber sie zieht nicht die Register der Empörung, alles wird sotto voce gesagt. Was sie uns bietet, ist weder eine soziologische Abhandlung (auch wenn manche Überlegungen natürlich an Marc Augés Nicht-Orte erinnern) noch eine architekturkritische, urbanistische oder ökonomische, und es ist auch kein militantes Antiglobalisierungspamphlet. Nichts liegt ihr ferner als die Selbstgewissheit des Fachmanns oder der Eifer der Anklägerin. Sie betrachtet diesen künstlichen und zugleich ganz realen Plunder mit neugierigem, etwas fassungslosem und zunehmend bestürztem Blick. Sie ist so ehrlich, Gelungenes anzuerkennen (die Dubai Mall), ihre Zweifel auszudrücken (am Sinn dieser Reise etwa), ihren wachsenden Verdruss auf ihrer Wanderung durch die glitzernden Paläste dieser weltweiten Bauernfängerei mitzuteilen. Wir aber, wir sind nicht verdrossen, vor allem dank ihres feinen Humors und einiger ätzender Porträts (ein Consultant hat während seiner Tätigkeit in Singapur vor allem gelernt, »Nuttenbars von Touristenbars zu unterscheiden«, ein Architekt, Gewinner wer weiß welcher Preise, »sieht aus wie ein von Tex Avery gezeichneter Versicherungsmakler«). Sie sorgt sich um die Lebensbedingungen der philippinischen Bedienung in Dubai, aber vor allem beunruhigt sie das, was sie die »Verhässlichung der Welt« nennt (womit die Lebensbedingungen der philippinischen Bedienung zusammenhängen). Sie hat recht, glaube ich. Aber selbst an solchen Stellen macht sie sich ein wenig über sich selbst lustig – sie komme schließlich aus einem »Post-68er-Boboland«. Wir brauchen, um die Welt, unsere Welt, zu erkennen, diesen zugleich scharfen und diskreten Blick.

Ich könnte noch viele Gründe nennen, weshalb ich diesen Bericht einer Reise durch die globalen Kommerzwunderwelten gemocht habe (nicht einfach geschätzt): die skizzierten Stadtporträts, die angedeuteten Schicksale, die Spitzen gegen den Homo touristicus (Reisen, ein Klischee sein). Aber ich werde es nicht halten wie die Kartografen bei Borges und Rinny Gremauds schönen melancholischen Text mit meinem Vorwort in jedem Punkt abdecken. Nur ein Letztes: Er rührt mich, weil Gremaud gesteht, dass ihr manchmal die Tränen kommen, wenn sie an die eingesperrten Pinguine im Untergeschoss der Mall of the Emirates in Dubai denkt, aus dem sie nur entlassen werden, um in einem gekühlten Aquarium mit Idioten in Neoprenanzügen (die wir sein könnten) herumzuschwimmen, die für einen Augenblick mit ihnen umgerechnet 340 Euro bezahlen.

Olivier Rolin

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Reisen. Kleidung für große Kälte, Kleidung für die Tropen und Kleidung für die Klimaanlage in einen Koffer packen. Einen Badeanzug, Strumpfhosen aus Merinowolle. Sich vorstellen, dass man Stunden im Flugzeug sitzt – bequeme Kleidung –, dass man Leuten in Anzug und Krawatte die Hand schüttelt – repräsentative Kleidung –, dass man stundenlang in Industriegebieten am Rand von Autobahnen herumläuft – geländegängige Allwetterschuhe, Multitaschenjacke. Ich reise um die Welt, ich bin Journalistin.

In den Waschbeutel milde Seife, Gesichtslotion, Wattepads, Feuchtigkeitsgel, Augencreme, antioxidative Tagescreme, Antifalten-Nachtcreme, Make-up, Reinigungsmilch. In ein Extratäschchen Augenkonturenstift, Augenbrauenstift (mit einer kleinen Bürste am Ende), Abdeckstift, eine kleine Lidschattenpalette mit verschiedenen Beigetönen, Mascara, eine Pinzette, Blush, heller Lippenstift. Ich bin diese Frau von bald 40 Jahren.

Ein kleiner Junge und sein Vater sind zum Abschied auf den Bahnsteig gekommen. Mein Sohn und der Mann, den ich liebe. An allen Tagen des Jahres, seit sie in mein Leben getreten sind, denke ich an sie wie an mich selbst oder vielmehr anstatt an mich selbst. Ich vergesse mich. Liebe als Selbstaufgabe. Sie sind mein größtes, bestes, schwierigstes Projekt, für das ich alles gebe. Der Zug entfernt sich. Reisen, entfliehen.

Am Flughafen von Genf, der mir vertraut ist. Zwischen dem Ausgang des Bahnhofs und dem Eingang der Abflughalle führt am Parkplatz entlang ein von breiten gelben Streifen markierter Gehweg mit abwechselnd glattem und rauem Asphalt. Das Geräusch, das der Rollkoffer hier plötzlich macht, kenne ich auswendig, es hat einen binären Rhythmus, rau, glatt, rau, glatt – »rrr«, »sss«, »rrr«, »sss«. Es dauert keine 30 Sekunden, um von einem Gebäude ins andere zu kommen und sich im Gehen eine Portion frische Luft einzufangen. Genau in diesem Moment, geheimnisvolle Synästhesie, genau in diesem Moment weiß ich, dass ich abgereist bin.

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Im Januar 2014 habe ich die Welt umrundet, in westlicher Richtung alle Zeitzonen durchquert, eine davon zweimal. Ich habe versucht, mich in fünf Etappen umzustellen, ohne es je zu schaffen: Edmonton, Peking, Kuala Lumpur, Dubai, Casablanca und nach Hause. In etwas weniger als einem Monat zählten fünf meiner Tage weit mehr als 24 Stunden. Aber irgendwo über dem Nordpazifik habe ich in der Willkür der Längengrade einen Tag verloren; es war ein Samstag. Es gibt im Französischen den Ausdruck »im Westen sein«, was so viel bedeutet wie »neben der Spur sein«. Ich war 23 Tage dort.

In dieser kurzen Zeitspanne bin ich auf 14 Flughäfen gewesen, wo ich insgesamt 42 Stunden verbracht habe. Ich habe meine Stiefel ausgezogen und 17-mal meine elektronischen Geräte aus dem Handgepäck genommen, um 18 Sicherheitskontrollen zu passieren – die Abweichung hat mit den kleinen kulturellen Unterschieden zu tun, die noch in den genormtesten Umgebungen überdauern. 13-mal bin ich in ein Flugzeug ein- oder aus einem Flugzeug ausgestiegen. Fast 59 Stunden habe ich in der Druckkabine verbracht, in über 10 000 Meter Höhe, mit trockenen Nasenschleimhäuten und geschwollenen Füßen vor dem maroden Bildschirm der immer gleichen über dem Klapptisch eingebauten Unterhaltungskonsole dösend. Ich habe mit dem Treueprogramm einer Luftfahrtallianz 23 800 Meilen angesammelt, das heißt, ich bin 38 300 Kilometer geflogen.

Ich umrundete die Welt, und bevor ich aufbrach, wollten manche Leute in der Liste der Hauptstädte, die mir als Roadmap diente, etwas irgendwie Exotisches sehen. Schließlich würde ich über drei Kontinente fliegen, extreme Klimaunterschiede erleben, minus 23 Grad in Alberta, plus 31 Grad in Malaysia, Menschen aller Religionen begegnen, fünf Sprachen hören. Mit Superlativen in der Stimme und Ausrufezeichen in den Augen wünschte man mir eine gute Reise und viel Vergnügen. Das hatte ich nicht, aus verständlichem Grund: Ich brach zu einer Reise in die größten Einkaufszentren der Welt auf. Die konstante Temperatur während der ganzen Reise lag bei 21 Grad Klimaanlagenluft.

Das ist natürlich eine kuriose Idee. Denn in aufgeklärten Kreisen gehört es zum guten Ton, Einkaufszentren zu verachten. Man sagt, Malls seien trostlose Orte, kulturelle und ästhetische Wüsten, in denen die toten Seelen einer zur Konsumreligion konvertierten Bevölkerung umherirrten. Man sagt und hofft insgeheim, Malls seien ein Auslaufmodell, Dinosaurier, denen der erstarkende Onlinehandel den Garaus mache. Man sagt, Malls seien die Friedhöfe der einheimischen Kulturen und der schlimmste Auswuchs der Globalisierung. Überhaupt hat jeder eine Meinung, und im industrialisierten und französischsprachigen Europa findet man vor allem, dass die Malls uns eigentlich nichts angehen, jedenfalls Intellektuelle, Ästheten, Leute, die was auf sich halten, denn die kaufen in den Läden und Feinkostgeschäften ihres Viertels ein. Niemand käme auf die Idee, sich mit diesem Thema zu beschäftigen; eine Bestandsaufnahme der Vermallung der Welt wäre zu langweilig.

Doch die Mall ist weder so exotisch noch so peripher, wie man denkt. Sie ist das Konzentrat einer Geschäftsstraße, die Reduzierung der Stadt auf ihre merkantile Funktion. Sie ist wie ein Labor, das uns zeigt und ein Modell davon liefert, was uns allen in den Stadtzentren widerfährt.

Die Mall ist ein Extrakt der Welt. Auf ihre Art ist sie eine Utopie.

LAUSANNE

Ich lebe in Lausanne, am Schweizer Ufer des Genfer Sees. Soweit meine Erinnerung reicht, hat mich die Hässlichkeit seiner Straßen immer bedrückt. Ich sage es ohne Snobismus, denn diese Hässlichkeit, davon bin ich überzeugt, ist nicht relativ. Nicht weil ich eindeutig schönere gesehen habe, finde ich die Straßen hier so hässlich. Die Straßen Lausannes und besonders die im Zentrum besitzen eine ihnen eigene, ich würde sogar sagen, eine objektive Hässlichkeit. Die Verkettung katastrophaler architektonischer und städtebaulicher Entscheidungen seit den 70er Jahren verband sich über lange Zeit mit einer bemerkenswert dürftigen Geschäftslandschaft und ließ ein scheußliches und in seiner Abwesenheit von Eleganz offenbar unrettbares Stadtzentrum entstehen. Was noch nicht heißen will, dass das Ganze ohne Charme sei. Aber ich habe beim Gehen durch die Straßen eine Verdrießlichkeit entwickelt, eine Niedergeschlagenheit, wie nur gebaute Umgebungen sie hervorrufen können: Sie wirken so endgültig und nicht wiedergutzumachen.

Ich habe immer gedacht, Lausanne sei zu klein für mich. Kam ich von einer Reise zurück, sprang seine Hässlichkeit mich an. Diese Stadt, die ich liebe, die ich vielen anderen vorziehe, erschien mir im Weltmaßstab nur noch voller Unmöglichkeiten und geistiger Enge. So, als schlüge sich das Duckmäusertum, das ich diesem Teil der Schweiz im Allgemeinen vorwerfe, in der Bebauung nieder und spiegelte sich in den Schaufenstern. Armselige Innenstadt, armselige Fußgängerzone, armseliger Marktplatz, die nichts zu bieten haben als verstaubte Café-Restaurants und fantasielose Geschäfte.

Vor bald zehn Jahren begann ich in Lausanne ein irritierendes Phänomen zu beobachten: Alle leer stehenden Ladenräume verwandelten sich früher oder später in Schuhläden. Ein Betrieb machte zu – egal was, Metzgerei, Schokoladengeschäft, Modeboutique, Geschenkartikel- und Souvenirladen, Eisenwarenhandlung, Buchhandlung, Handarbeitsgeschäft, Hifi- oder Handy-Shop, Deko-, Firlefanz- oder Billigladen, was weiß ich –, und innerhalb eines Jahres eröffnete dort ein Schuhladen. Selbst die Schuhläden wurden durch Schuhläden ersetzt.

Ohne Ausnahme Geschäfte des mittleren Preissegments, die in belanglosem Rahmen qualitätslose Schuhe anboten. Manchmal handelte es sich um Filialen bekannter Ketten, die man auch in allen anderen Städten des Landes, wenn nicht des Kontinents fand. Aber oft waren es unabhängige Läden von der Sorte, die nur eine oder zwei italienische Damen reifen Alters beschäftigt und eine Auswahl von Schuhen mit halbhohem Absatz aus chinesischer Produktion feilhält.

Ich stellte mir vor, diese seltsame Veränderung des Stadtbilds zu untersuchen. Bei der Gewerbepolizei und den Immobilienverwaltungen anzurufen, in der Fußgängerzone von Haus zu Haus zu gehen, die Nachbarschaft zu befragen. Nicht um zu verstehen, warum die anderen Geschäfte aufgaben, sondern um zu verstehen, aufgrund welcher systemischen Anomalie oder Anomalien die Schuhläden sich so vermehrten, ohne anscheinend zu florieren, denn auch sie verschwanden schließlich wieder.

Soweit ich weiß, bietet der Handel mit Schuhen mittlerer Preisklasse keine großartigen Gewinnspannen. Die Branche ist vom Wirtschaftsklima sehr abhängig. In Krisenzeiten gehen die Käufe typischerweise zurück zugunsten eher punktueller Ausgaben im Hochpreisbereich. Wenn das Geld rar wird, ist ein teures Paar guter, haltbarer klassischer Schuhe offenbar mehr wert als mehrere modische Wegwerfpaare für eine Saison.

Aus konjunktureller Sicht war eine solche Vermehrung also vollkommen widersinnig. Sie ließ sich nur durch eine lokale Eigentümlichkeit, eine einheimische Abweichung von den Marktgesetzen erklären. Etwas in der hiesigen wirtschaftlichen Realität begünstigte die Zunahme von Schuhläden.

Ich stellte mehrere Hypothesen auf. Die erste besagte, dass diese Läden weniger dazu bestimmt waren, Schuhe zu verkaufen, als die Gelder aus schattenwirtschaftlichen Aktivitäten zu waschen. Der kleine Einzelhandel ist bekanntlich die einfachste Art, schmutziges Geld in Umlauf zu bringen. Wer wird prüfen, ob die von einem Schuhladenbesitzer auf sein Bankkonto eingezahlten Beträge tatsächlich vom Schuhverkauf stammen?

Meine zweite Hypothese war, dass Hausverwalter bei gleicher Miethöhe grundsätzlich die Eröffnung eines Schuhladens bevorzugten, was die Alternativen auch immer sein mochten. Weil eine solche Nutzung vielleicht nur wenig Umgestaltung notwendig machte, konnten sie damit rechnen, dass eine spätere Neuvermietung einfacher und kostengünstiger sein würde.

Die dritte lautete, dass die zahllosen Bestimmungen, Hygienevorschriften und andere Handelsbetriebe betreffende Verordnungen jedes Unternehmen abschreckten, das nicht die Absicht hatte, Schuhe zu verkaufen. Der belgische Besitzer einer Boutique in der Altstadt berichtete mir ausführlich von seinem Verdruss und seiner Frustration über die Gewerbeaufsicht und ihr kastrierendes Vorgehen, das ihn täglich von Neuem überrascht habe. Nach fünf Jahren ermüdenden Kampfes war seine Boutique, für die er innovative und durchgehend nicht mit den Vorschriften zu vereinbarende Gestaltungsideen gehabt hatte, von einem Schuhladen abgelöst worden.

Schließlich die vierte Hypothese: Lausanne ist weltberühmt für die spektakulären Höhenunterschiede seiner Topografie auf drei Hügeln. Die Erklärung wäre dann schlicht eine mechanische: Auf seinem Pflaster gehen Schuhe schneller kaputt als anderswo. Dies war von den vier Hypothesen die einfachste und zugleich die unrealistischste. Aber da sie als einzige auf einer eventuellen Nachfrage beruhte, verdiente sie es, in Betracht gezogen zu werden, und sei es nur der Form halber.

Zusammen oder einzeln hätten diese vier Optionen wahrscheinlich erlaubt, das Geheimnis der Ausbreitung zu lüften. Aber die Idee zu dieser Untersuchung hat in einem Winkel meines Gehirns Staub angesetzt. Wie viele andere auf bessere Tage verschobene Pläne hat sie sich irgendwann in meinem Körper aufgelöst, ich habe sie verstoffwechselt, verdaut, assimiliert, bis ich mir schließlich einbildete, sie umgesetzt zu haben. Das ist das Privileg der Unentschlossenen, diese Fähigkeit zu glauben, zwischen dem Hervorbringen einer Idee und ihrer Realisierung liege ein so kleiner, im Grunde so vernachlässigbarer Schritt, dass es vollkommen unnötig sei, ihn zu tun.

Und dann haben sich mit der Zeit die Dinge in Lausanne verändert. Einerseits hat eine gewisse Gentrifizierung vereinzelt eine neue Art unabhängiger und mutiger, auf eine bestimmte Klientel abzielender Händler hervorgebracht. Andererseits ist eine große Zahl pleitegegangener Schuhläden durch Immobilienmakler oder Filialen bzw. Franchisenehmer von Weltmarken ersetzt worden. Hier wie anderswo sind sie die Einzigen, die überhaupt auf Dauer die Mieten in den Einkaufsmeilen der Innenstädte bezahlen können und wollen.

Innerhalb von 30 Jahren hat Lausanne seine einzigartige Hässlichkeit gegen eine globale Hässlichkeit eingetauscht, die aus ihm jetzt den Klon der Stadt von nebenan und aller anderen Städte dieser Größe macht. Lausanne, gestern zu klein für mich, ist nun für meinen Geschmack zu global geworden.

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Ich staune immer wieder über den Fatalismus, mit dem die Leute es hinnehmen, in derartiger Hässlichkeit zu leben. Es ist, als beträfe diese tägliche Qual, diese deprimierende, ätzende Aggression, die vom Körper zugleich passiven und permanenten Widerstand fordert, in Wirklichkeit bloß eine Handvoll müßiger und empfindlicher Ästheten, die ja nur umzuziehen brauchten, denn im Allgemeinen gehören sie auch der Klasse der Reichen an. Sollen sie sich doch Architektenvillen am Stadtrand bauen, sollen sie sich doch ein Loft in einem angesagten Viertel kaufen und aufhören, uns mit diesen Luxusklagen in den Ohren zu liegen! Das Volk hat weder die Zeit noch das Geld, sich mit gutem Geschmack zu beschäftigen.

Nun spreche ich aber nicht von gutem oder schlechtem Geschmack. Ich spreche von der Hässlichkeit, wie sie sich auf Flaniermeilen oder Plätzen darbietet, wenn dort nur noch Markenläden, Modeketten und Supermarktfilialen anzutreffen sind. Von diesen einheitlich knalligen Schaufenstern, über denen die immerselben Markennamen prangen und die die Erdgeschossfront stillos und geistlos erbauter oder renovierter Gebäude einnehmen. Von diesem kriminellen Mangel an Vision oder Originalität, der weniger clevere Unternehmer veranlasst, mit einfältigem Optimismus ständig neue Franchiseläden zu eröffnen, über die sich nur die Hausverwaltungen freuen.

Wenn es bloß eine Geschmacksfrage wäre! Aber die mittelmäßigen Unternehmer des Einzelhandels sind, genauso wie die Omnipräsenz der Weltmarken, nur ein Symptom. Sie zeugen vom Zustand eines Systems, einer Kette von Verantwortungslosigkeiten, einer Summierung von Eigennutz, Feigheit, Vernachlässigung und tiefer Gleichgültigkeit. Ich spreche von den Bauträgern, die auf Rentabilität setzen, und den Bauplanungsbehörden, die ihre Hände in Unschuld waschen. Ich spreche von einer Form von Liberalität, die nur mühsam das Laisser-faire verbirgt, und von der Bevölkerung dieser scheußlichen Städte, die das noch nicht einmal empört.

Wie kommt es, dass das kommerzielle Angebot der Innenstädte kein größeres politisches Thema ist? Es wird nicht genug betont, dass die städtische Landschaft sich auf das Wohl der Bürger auswirkt. Und es wird nicht genug betont, weil der Konsum, Kauf und Verkauf von irdischen Gütern bei denen, die mit Ideen umgehen, ein etwas schmutziges Thema ist, an das keiner rühren will, oder nur, um Beeinflussung, Massenmanipulation anzuprangern.

Ich aber glaube, dass die Verflachung des kommerziellen Angebots der Städte ganz konkrete Folgen hat, die über das bloße unreine Vergnügen des Konsumenten hinausgehen und das Gefühl von Macht und Ohnmacht des Bürgers betreffen.

Die kommerzielle Landschaft ist ein wesentlicher Teil der physischen Realität, die wir bewohnen. Wenn sich in ihr kein Ort und keine Gemeinschaft mehr ausdrückt, sondern nur noch ein System – das der Ketten und Markenläden, das an uns vorbeigeht und uns ignoriert, für das wir nichts sind und das nichts für uns ist –, dann ist es gleichgültig, ob man hier oder anderswo ist. Oder eben nirgendwo – zum Beispiel im Internet.

Gleichzeitig erodiert das Gefühl für das, was möglich wäre. Kommerz und Handel sind nur noch die Sache einer Handvoll großer Firmengruppen. Etwas zu unternehmen im Dienst der Gemeinschaft, ein lokales Angebot zu schaffen, das sich nach den Bedürfnissen einer spezifischen Bevölkerung richtet, wird zu einer wirklichkeitsfremden Idee, dem Modell aus einer anderen Zeit.

Woher kommt das Gefühl, zu Hause zu sein? Woher kommt die Verwurzelung, der Gemeinsinn und der gesellschaftliche Zusammenhalt? Und die Lust, unsere Umgebung zu beeinflussen, die schiere Intuition, dass es machbar ist? Die städtischen Landschaften, durch die wir uns bewegen, und alles, was unsere Augen automatisch aufnehmen, die Straßen, in denen wir mit unseren Kindern spazieren gehen, alles lagert sich ab. Und wenn alles hässlich ist, einheitlich hässlich, wenn nichts möglich ist, was nicht hässlich ist, dann gibt es auch keinen Raum mehr für Kühnheiten und Wünsche.

EDMONTON

Der Bundesstaat Alberta beschreibt auf der Karte praktisch ein Rechteck, fantasielos gezeichnet entlang dem 49. und dem 60. nördlichen Breitengrad und dem 120. und dem 110. westlichen Längengrad, mit einem großen Ausrutscher links unten, wo der Stift an die Rocky Mountains gestoßen ist, um diese schartige geometrische Figur zu bilden. Im Inneren Prärien und klirrende Winter. Wäre sie ein eigenes Land, würde sich diese kanadische Provinz in puncto Petrodollars pro Einwohner irgendwo zwischen Katar und Norwegen einreihen. Man findet dort die weltweit größten Vorräte an Ölsand, diese neuen Goldminen, wo Wanderarbeiter mit starken Armen hinströmen. In Alberta ist es kalt, aber es gibt keine Arbeitslosigkeit.

Kalt, minus 23 Grad Celsius. Doch außer, dass sie Fernsehkommentatoren und begeisterte Wetterberichtfans in Aufregung versetzt, ist diese Zahl für den Körper bedeutungslos. Die Innenräume, in die sich im Winter alle Menschen verkriechen, sind überheizt, und die Folge ist, dass man unentwegt schwitzt, weil man zu viel anhat.

Ich warte am Schalter für vermisstes Gepäck des Flughafens von Edmonton, zwei Stunden vergehen im Dunst des Jetlags. Rund 40 andere Gepäcklose stehen mit mir Schlange, wie ich Überlebende des von einem eisigen Sturm aus der Arktis verursachten Flugchaos. Die Medien mit ihrem Sinn fürs Spektakuläre haben das Phänomen »Polarvortex« genannt, wie in einem Katastrophenfilm von Roland Emmerich. Und in diesen ereignislosen ersten Januartagen, Tagen der slow news, ist die Wetteranomalie das beherrschende Thema der Fernsehnachrichten.

Der ganze Norden des amerikanischen Kontinents liegt paralysiert unter Schnee und Eis. Nur eines von zehn Flugzeugen hebt ab. In allen großen Flughäfen der Region schlafen Leute zusammengerollt auf ihrem Handgepäck, improvisieren Biwaks. Die Wartehallen stinken und gleichen einem Flüchtlingslager. Das erbärmliche Schauspiel des aufgeschmissenen Touristen und des gestrandeten Geschäftsmanns aber geht uns nahe, zumal jeder sich darin wie im Spiegel sieht. Seit der Tourismus hyperdemokratisch geworden ist, gehört der Flughafen zu jenen vertrauten Orten, wo der Eintritt der Katastrophe Stoff für Fantasien bietet. Also, Stoff für die Medien.

Um die Flughäfen wieder freizubekommen, sind die Flugzeuge, die noch fliegen, alle mit Passagieren überladen. Die technische Folge ist, die Frachträume werden entsprechend geleert. Eine zufällige Auswahl von Koffern wird vor jedem Flug ausgeladen und wartet so lange wie nötig auf den nächsten Anschluss, während die Schalter für vermisstes Gepäck pausenlos die Klagen von mehr als einem Drittel der Reisenden aufnehmen.

Vor mir wartet ein junger Mann, 26, dunkelhäutig, von indischer Herkunft, Kapuzensweatshirt und Jeans. In anderen Breiten oder in einem Film wäre er Informatiker. Hier ist er Maschinenbauingenieur und auf dem Weg nach Fort McMurray, einem Zentrum der Ölsandförderung mitten im borealen Nadelwald, einer Ölplattform in Gestalt einer Stadt, wo man ein sechsstelliges Jahresgehalt beziehen kann, ohne seine Pflichtschuljahre absolviert zu haben, wo Alkohol und Prostitution die einzigen Zerstreuungen sind, wo man zwei Monate arbeitet und dann zwei Monate zu Hause ist – zu Hause oder anderswo. Alberta ist noch ein bisschen Wilder Westen.