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Atilla Vuran
Moritz Müssig

Mensch
Chef

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Informationen sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

eISBN 978-3-7664-9965-3

Lektorat: Anja Hilgarth, Herzogenaurach
Überarbeitung der Geschichte: Alexander Natter, Wendelstein
Umschlaggestaltung: Martin Zech Design, Bremen, www.martinzech.de
Autorenfotos: moduleplus gmbh, Flurlingen, www.moduleplus.ch
Satz und Layout: ZeroSoft, Timisoara
Druck und Bindung: Salzland Druck, Staßfurt

1. Auflage 2019

© 2019 by Atilla Vuran und Moritz Müssig

Alle Rechte vorbehalten. Vervielfältigung, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung der Autoren.

Für die Mitarbeiter der PONTEA AG und der Müssig AG.

Wir danken Euch sowohl für Euren unablässigen Einsatz als auch für die gemeinsame Zeit, die wir miteinander verbringen dürfen. Ohne Euch wäre dieses Buch nicht möglich gewesen. Vielen Dank Euch allen!

Nach einer wahren Geschichte. Die Namen und Orte wurden jedoch zum Schutz der Privatsphäre der Betroffenen geändert. Zur deutlicheren Darstellung von Emotionen wurden Aussagen und Situationen zum Teil bewusst überspitzt dargestellt.

Inhalt

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

Nachwort

MLS – das Müssig Leadership System

Über die Autoren

Prolog

Moritz konnte nicht ahnen, was ihn an diesem Morgen erwartete und welche Überraschung er gleich erleben würde. Er dachte an nichts Böses und fuhr fröhlich die schmale Straße entlang. Die Felder und Wiesen links und rechts sahen aus wie ein fein mit Zucker überstreutes Gebäck. Es war kalt an diesem Morgen, bitterkalt, und in der Nacht hatte es ein bisschen geschneit. Eine klare Kälte, die einen schönen Wintertag ankündigte. Moritz war gut drauf und voller Erwartung. Seit er in der Firma seiner Familie arbeitete, war Moritz diese schmale Straße unzählige Male entlanggefahren. Jeden Meter des alten und erneuerungsbedürftigen Asphalts kannte er. Die vielen Schlaglöcher der Straße, denen er mittlerweile schon ganz automatisch auswich. Und auch den Blick über das freie Feld auf das Gelände der Müssig AG, wenn man das kleine Wäldchen auf der rechten Seite passiert hatte. Das Gebäude konnte man an dieser Stelle bereits sehen, aber Moritz Müssig nahm den Anblick schon gar nicht mehr bewusst wahr.

Moment – auf einmal stutzte er. Irgendetwas in seinem Blickwinkel fiel ihm auf, irgendetwas war heute anders. Er sah nun direkt zur Müssig AG hinüber, aber dann nahm ihm der große Bauernhof auf der rechten Seite die Sicht. Ein dumpfes, unangenehmes Gefühl machte sich in ihm breit. Moritz konnte es nicht definieren, es fühlte sich an, als würde sich da etwas zusammenbrauen. So ähnlich wie die Ruhe vor dem Sturm. Jetzt wurde Moritz kribbelig. Da war etwas in seinem Inneren, das ihn warnen wollte. Er wusste allerdings nicht, wovor.

Wie jeden Morgen war die Hauptstraße ziemlich stark befahren. Moritz bog erleichtert rechts in die Buchenhölzlistraße ab und fuhr langsam zu seinem Parkplatz. Um diese Zeit kamen viele Angestellte der dort ansässigen Firmen ebenfalls an. Die Leute hatten es in der Regel eilig und achteten daher nicht immer auf vorbeifahrende Autos. Moritz spürte, wie sein Herz noch immer auffällig stark und dumpf klopfte. Die böse Vorahnung, die er vor ein paar Minuten verspürt hatte, war noch immer präsent. Und schien sich zu bestätigen: Als er immer wieder bremste oder anhielt, um Leute über die Straße zu lassen, lachten und grüßten diese nicht wie sonst. Im Gegenteil: Die meisten machten sehr ernste, sogar traurige und teilweise entsetzte Gesichter, als Moritz an ihnen vorbeifuhr. Irgendwas stimmte an diesem Morgen nicht. Moritz konnte es kaum aushalten. Als er in den Rückspiegel blickte, sah er zwei ihm bekannte Personen, die ihm nachschauten und sich eifrig unterhielten. Kleine Gruppen von Leuten schienen ihm tuschelnd zu Fuß zu folgen. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals.

Nach wenigen Metern hatte er sein Ziel erreicht. Die großen Fichten am Rand des Firmengeländes verhinderten einen direkten Blick auf die Gebäude der Müssig AG. Im Schritttempo bog Moritz links nach dem dunkelgrünen Sichtschutz der Bäume auf den Parkplatz des Firmengeländes ein. Er erstarrte und trat instinktiv abrupt auf die Bremse, als sein Blick auf die Parkplätze vor dem Bürogebäude fiel. Alle waren leer! Moritz zitterte. Er begann zu schwitzen, obwohl er sich eiskalt fühlte. Moritz stellte den Wagen ab, stieg langsam aus und schaute sich um. Sonst herrschte um diese Zeit am Morgen bereits eifriges Treiben, doch heute war alles ruhig. Still. Mehr noch, es war gespenstisch still, so, als hätte die Firma Müssig schon vor einiger Zeit dichtgemacht. Alle waren weg! Die Luft hier hatte keinen Geruch und keinen Geschmack. Es war windstill, und die Geräusche aus den umliegenden Firmen klangen gedämpft und kraftlos zu ihm herüber. Ängstlich und angespannt ging Moritz die Stufen zum Eingang hinauf. Er sah durch die großen Fenster in die Büros. Auch hier gähnende Leere. Die Eingangstür war nicht verschlossen, und Moritz ging hinein. Keine Menschenseele weit und breit. Alle weg.

„Haaallo!“, rief Moritz und lauschte angespannt. Keine Antwort! Er ging langsam weiter. Alles machte einen ziemlich düsteren Eindruck. Moritz erschauderte, denn in diesem Moment musste er an den Film „The Langoliers“, einen Science-Fiction-Thriller nach einer Novelle von Steven King, denken. In dieser Geschichte geraten die Passagiere eines Fluges in ein Zeitloch. Ob er auch …? Moritz stand vor seinem Büro. Sein Herz raste. Was würde ihn hinter dieser Tür erwarten? Waren seine schlimmsten Befürchtungen wahr geworden? War er kläglich gescheitert? Hatte er doch nicht das nötige Zeug gehabt, um einen Betrieb zu führen? Moritz öffnete langsam die Tür zu seinem Büro und spähte hinein. Er erstarrte bei dem Anblick …

„Moritz!“, rief eine weibliche Stimme. Moritz schreckte auf und fuhr herum. Es tat einen dumpfen Schlag. Wie benebelt spürte er einen Schmerz am Kopf. „Was ist …, bitte sagen Sie mir …“

„Mooooritz …, du hast verschlaaaaafen!“, rief die weibliche Stimme. Es war Nina Müssig, Moritz‘ Frau. Sie kam ins Schlafzimmer und blieb verdutzt in der Tür stehen. „Wie siehst du denn aus? Bist du krank?“

Moritz Müssig saß in seinem Bett und sah in der Tat aus, als hätte ihn eine fiebrige Grippe erwischt. Er war schweißgebadet und rieb sich den Kopf, denn den hatte er sich gerade am Kopfteil des Bettes angehauen.

„Nein, nein, äh, mir geht es gut!“, antwortete Moritz noch ganz verwirrt. „Ich hab nur schlecht ge…, schlecht geschlafen und verpennt!“

„Frühstück ist fertig! Ich glaube, du brauchst einen starken Kaffee. Heute ist doch dein großer Tag“, meinte Nina.

Moritz saß in seinem Bett und fühlte den kalten Schweiß auf seiner Haut. Langsam kam er zu sich und zwickte sich selbst in die rechte Hand. Das tat weh. Genauso wie sein Kopf. Er war wach! Gott sei Dank war das nur ein Traum gewesen!

1. Kapitel

1.

Erleichtert schoss Moritz aus dem Bett und auf direktem Weg ins angrenzende Bad. Eine Dusche, erst heiß, dann kalt, brachte ihn einigermaßen auf Normalbetrieb. Als Moritz in den Spiegel sah, um sein frisch gewaschenes dunkelblondes Haar zu frisieren, ging ihm der Traum noch einmal durch den Kopf. „Sie sind nicht weg“, sagte Moritz zu sich selbst. „Sie sind alle noch da. Ich habe nicht versagt.“ Doch der Traum hatte seine Wirkung nicht verfehlt. Ein paar Zweifel waren übrig. Moritz sprang regelrecht in seine Klamotten, nahm einen Schluck Kaffee und angelte sich noch schnell ein Croissant vom Frühstückstisch.

„Tschüss!“, rief Moritz, „muss los!“ und verabschiedete sich mit einem Kuss von seiner Frau und mit einigen Streicheleinheiten von seinen Kindern. Er konnte es kaum erwarten, in die Firma zu kommen. Dementsprechend schnell fuhr er in Richtung Oberaach. Moritz fühlte sich gut und voller Tatendrang. Zugegeben, etwas nervös war er schon, schließlich sollte das sein erster Arbeitstag als Geschäftsführer der Müssig AG werden. Und so war das kein Tag wie jeder andere.

Der Weg zum Posten des Chefs war für Moritz Müssig alles andere als einfach gewesen. Und schon gar nicht mühelos. Im wahrsten Sinne des Wortes hatte er sich alles hart erarbeitet. Besser formuliert: erarbeiten müssen! Denn das hatte sein Vater damals von ihm verlangt. Moritz hatte nie zu den strebsamen Kindern gehört, er war ein quirliger, zerstreuter Junge gewesen, der viel zu viel Dummheiten im Kopf gehabt hatte, um sich um die ernsthaften Dinge des Lebens zu kümmern. Frau Müssig senior hatte es nicht immer leicht gehabt mit dem kleinen Hitzkopf, dem der Schalk im Nacken saß. Fleißiger Schüler? Fehlanzeige! Moritz hatte nicht wirklich große Lust auf Schule gehabt und diese geschwänzt, wann immer er konnte. Seine Mutter hatte alle Künste der Erziehung aufwenden müssen, um ihren Sohn bei der Stange zu halten. Manchmal auch mit richtig Druck, damit der Kleine spurte. Aber es hatte geholfen: Auch wenn Moritz nie gesteigertes Interesse am Lernen aufbringen konnte und seine Noten eher mittelmäßig waren, hatte er es aufs Gymnasium geschafft. Doch auch dort hatte Moritz keinen für ihn nachvollziehbaren und vor allem überzeugenden Grund gesehen, an seiner Einstellung etwas zu ändern, und so war es gekommen, wie es kommen musste: Moritz Müssig war im zarten Alter von siebzehn von der Schule geflogen. Als Moritz ohne „ordentlichen“ Schulabschluss und ohne Perspektiven ratlos vor seinem Leben stand, hatte ihn sein Vater, Eberhard Wilhelm Müssig, ein gestandener Unternehmer und Inhaber der Müssig AG, beiseite genommen und ihm die beiden Möglichkeiten vor Augen geführt, die Moritz zu diesem Zeitpunkt noch hatte: so weitermachen und irgendwann untergehen oder von der Pike auf eine Ausbildung im elterlichen Betrieb beginnen. Die Worte des Vaters waren ebenso offen wie eindringlich gewesen, und Moritz hatte verstanden: Der Teenager entschied sich für die zweite Option.

Der Weg durch die Ausbildung war für den 17-jährigen Moritz Müssig gewiss kein leichter gewesen. Sein Vater hatte genügend Lebenserfahrung, um zu wissen, dass bei manchen Charakteren nur „die harten Bandagen“ wirklich etwas bewirken können. „Er lernt es nur auf die harte Tour“, mag sich Herr Müssig senior damals gedacht haben. Dem Einfühlungsvermögen und auch der Intuition des erfahrenen Unternehmers ist es sicherlich zuzuschreiben, dass er seinem Sohn diesen Weg nahelegte. Wie richtig er lag, sollte sich erst viele Jahre später herausstellen.

Die Ausbildung im elterlichen Betrieb hatte sich der Youngster sicher anders vorgestellt. Moritz sollte das Familienbusiness von Grund auf lernen. Die Mitarbeiter schwor der Chef ein, ihn genauso ranzunehmen wie jeden anderen Lehrling auch. Sogar noch etwas härter. Eine ungewohnte Situation für Moritz, der diesen „Ernst des Lebens“ bestenfalls vom Hörensagen kannte. Er musste alle Abteilungen des Familienunternehmens durchlaufen. Alle! Moritz musste sowohl mit den Monteuren auf die Baustelle und körperlich mit anpacken als auch lästige und langweilige Ablagearbeiten in den Abteilungen der Verwaltung erledigen. Morgens gehörte er zu den Ersten, die in die Firma kamen, und abends zu den Letzten, die sie verließen.

Und natürlich kam er immer wieder an die berühmten Punkte, wo er alles hinwerfen wollte. Anfangs war jene innere Stimme, die ständig zu ihm sagte: „Du schaffst das. Du wirst deinen Vater nicht enttäuschen!“, noch ziemlich schwach und der Moritz innewohnende Schweinehund stark. Die ersten Monate waren hart gewesen und für den jungen Mann eine echte Reifeprüfung. Doch mit der Zeit hatte diese besagte innere Stimme immer mehr die Oberhand gewonnen, und irgendwann war dann auch bei Moritz Müssig der Knoten geplatzt. Er entwickelte einen ganz besonderen Ehrgeiz, als sei er an einer Art „Break-even-Point“ angekommen, an dem sich seine innere Haltung zum Leben und vor allem zu seiner Karriere grundlegend änderte. Jetzt war Moritz bereit, sich selbst zu treiben, anstatt sich vom Leben treiben zu lassen. Mit Genugtuung und Stolz beobachtete sein Vater diese wundersame Wandlung.

Moritz wollte von nun an mehr! Er wurde zu einem leidenschaftlichen Karrieremenschen. Nach der Ausbildung, die Moritz mit Auszeichnung abgeschlossen hatte, hatte er fast spielerisch das Abitur nachgeholt und sich an der Fachhochschule Offenburg für ein Studium zum Wirtschaftsingenieur eingeschrieben. Auch dieses hatte er mit glänzenden Noten absolviert. Nach dem Studium war er erneut in die elterliche Firma eingestiegen. Und nun, fünf Jahre später, war der große Tag für Moritz endlich gekommen: Er würde vollverantwortlich die Führung der Müssig AG übernehmen.

Vor Moritz lag keine leichte Aufgabe. Das wusste er. Es gab eine Menge Dinge in der Firma, die nach Veränderung schrien. Dinge, die nur er, also die nächste Generation, bewerkstelligen konnte. Alles Aufgaben und Herausforderungen, die nun auf seiner Agenda standen und auf vordringliche Erledigung drängten. Die Erwartungen, die an den neuen Geschäftsführer gestellt wurden, waren hoch. Erwartungen von Mitarbeitern, von seiner Familie, vom Verwaltungsrat und auch von ihm selbst. Ab jetzt lag die gesamte Verantwortung für das Wohlergehen der Firma, der Kunden, der Zulieferer und natürlich auch der Mitarbeiter auf seinen Schultern. Moritz stand nun alleine im rauen Wind der Wirtschaft der Realitäten seines Marktes und seiner Branche. Und dann noch der Traum in der letzten Nacht. Zugegeben: Das alles erzeugte schon etwas Gänsehaut.

Mit jedem Begrenzungspfahl am Straßenrand, also alle 50 Meter, stieg auch seine Anspannung. Als Moritz schließlich die Buchenhölzlistraße entlangfuhr, erreichte sein Puls den Punkt, an dem es unangenehm und der Atem schneller wird. Wie in seinem Traum bremste er für die Mitarbeiter der Nachbarfirma, die über die Straße gingen und … die ihn freundlich grüßten und ihm zuwinkten. Ein gutes Zeichen. Aber der Puls blieb oben, als Moritz der Rechtsbiegung folgte und auf der linken Seite die großen Bäume vor dem Verwaltungstrakt seiner Firma sah. Moritz hielt den Atem an, als er links auf das Gelände der Müssig AG einbog. Dann fiel ihm ein großer Stein vom Herzen. Ein Blick in die Fenster des weiß-gelben Bürogebäudes verriet: Hier wurde schon fleißig gearbeitet. Moritz lächelte. Er hielt an und betrachtete das rege Treiben auf dem Hof. Zufrieden und vor allem erleichtert nahm Moritz zur Kenntnis, dass alle da waren: die Arbeiter, die Büroangestellten und die Fahrer der Müssig AG. Plötzlich ein Hupen. Er fuhr erschrocken herum. „Grüezi, Herr Müssig!“, rief ein stämmiger Arbeiter, der einen gelben Helm und moderne Arbeitskleidung in den Farben der Firma trug. Er saß in einem Gabelstapler und gestikulierte heftig: „Würden Sie bitte weiterfahren, Herr Müssig! Wir beladen gerade und Sie stehen mitten im Weg!“

„Oh, selbstverständlich!“, antwortete Moritz und fuhr weiter auf seinen gekennzeichneten Parkplatz. Er blieb noch eine Weile im Wagen sitzen. Im Radio spielten sie gerade „Do Not Forsake Me, Oh My Darlin‘“, den Song aus dem Western-Klassiker „High Noon“, auch bekannt unter dem Titel „12 Uhr mittags“. Sofort dachte Moritz wieder an seinen Traum der vergangenen Nacht. 12 Uhr mittags – High Noon! Was konnte dieser Traum bedeuten? War es für ihn auch schon „12 Uhr mittags“? Sollte er der Aufgabe, die nun schwer auf seinen Schultern lastete, doch nicht gewachsen sein? Oder war es am Ende zu spät, um all die notwendigen Veränderungen anzustoßen? „Nein“, beschloss Moritz Müssig in diesem Moment. Vielleicht war es ja schon spät, aber keinesfalls zu spät. Ein „zu spät“ wollte er nicht akzeptieren. Mit „fünf vor 12 Uhr“ konnte sich Moritz anfreunden. Und in diesem Moment kam ihm ein bekannter Werbeslogan eines Kraftstoffherstellers in den Sinn: Ja, es gab viel zu tun … „Also“, dachte sich Moritz, „packen wir es an!“

2.

Sein Traum war für Moritz Müssig eine Art Weckruf gewesen. Er wusste: Gigantische Aufgaben standen an. Und diese musste und konnte nur er bewältigen. Der Familienbetrieb, für dessen Wohlergehen Moritz von nun an die volle Verantwortung trug, lief momentan noch zufriedenstellend. Ernsthafte Probleme, vor allem in finanzieller Hinsicht, gab es ebenfalls noch nicht. Doch das konnte sich ändern. Auch das wusste Moritz. Wirtschaftlich gesehen glich die Müssig AG keineswegs einer kleinen Jolle, die bei rauem Wind durch einen kleinen Handgriff schnell und behände die Richtung wechseln kann. Eher einem mittleren Dampfer, der sehr viel träger ist und bei dem der Kapitän frühzeitig das Ruder herumreißen muss, wenn er ein Riff umfahren will. Die Firma gehörte zwar nicht zur Kategorie „Global Player“, war aber groß genug, dass ihre Führung Weitsicht und rechtzeitiges Handeln erforderte. Erschwerend kam hinzu, dass vieles im Unternehmen bereits in die Abteilung „finsteres Mittelalter“ gehörte.

Die Firma wurde wie ein Handwerksbetrieb geführt, traditionell „händisch“, wie das im Handwerk und damals üblich und richtig war. Aber die Zeiten hatten sich geändert! Modernes Marketing gehörte in der Müssig AG ebenso noch zu den Fremdwörtern wie klare und auf den speziellen Bedarf der Kunden ausgerichtete Vertriebs- und Produktionsstrategien. Eine zeitgemäße EDV-gestützte Ablauforganisation war auch eher exotisch. Die CAD-Programme waren größtenteils veraltet, denn man hatte es versäumt, diese den jeweiligen Anforderungen entsprechend zu aktualisieren. Bei wichtigen Produktionsabläufen wurde die Notwendigkeit übersehen, diese zu optimieren. In vielen Bereichen fehlten die Strukturen, die ein Unternehmen dringend braucht, um für die Anforderungen der Gegenwart und vor allem der Zukunft gewappnet zu sein. Bislang waren diese auch noch nicht erforderlich gewesen. Die Müssig AG hatte bisher in einem Markt operiert, in dem sie gute Renditen erzielen konnte. Und die regelmäßig erzielten Dividenden hatten der Inhaberfamilie vollkommen ausgereicht. So hatte lange Zeit kein Grund bestanden, etwas zu verändern.

Zwei Jahre, nachdem Moritz wieder in den elterlichen Betrieb eingestiegen war, hatte der Markt jedoch begonnen, sich spürbar zu wandeln. Mitbewerber, die auf diese Veränderungen frühzeitig reagiert hatten, konnten nun auf Augenhöhe aufschließen, und weil diese teilweise besser aufgestellt waren, lief die Müssig AG Gefahr, von diesen sogar überholt zu werden. Diese Gefahr würde sich bald zu einer Tatsache wandeln, es deutete sich alles bereits an. Das Auftragsvolumen der Müssig AG stagnierte. Zuerst auf hohem Niveau, doch in letzter Zeit hatten sich die Neuaufträge signifikant reduziert, und die Gewinnmarge folgte diesem Trend, der in Richtung „abwärts“ zeigte. Moritz Müssig, mit seinen gerade einmal 30 Lebensjahren, voller Ehrgeiz, Euphorie und Tatendrang, war klar: Den aktuellen und zukünftigen Anforderungen der Zeit wurde die Müssig AG nicht mehr gerecht. Es bestand dringender Handlungsbedarf!

Eine seiner wichtigsten Aufgaben als neuer Chef bestand also darin, die Müssig AG fit für die Erfordernisse der Gegenwart und vor allem der Zukunft zu machen. Keine Aufgabe, die ein Geschäftsführer mal schnell und nebenbei erledigen konnte. Auch dessen war sich Moritz Müssig vollkommen bewusst. Die Art und Weise, wie produziert und montiert wurde, wie Mitarbeiter, Kunden und Zulieferer kommunizierten und vor allem, wie Aufträge akquiriert und ausgeführt wurden, hielt den Anforderungen des Zeitenwandels sprich des digitalen Wandels nicht mehr stand. Die technologischen Entwicklungen gingen rasant voran. Selbstverständlich auch und gerade in der Branche, in der die Müssig AG tätig war. Dennoch: Der Name „Müssig“ stand für eine gut eingeführte Marke. Das war ein großer Vorteil, den er nutzen wollte!

Die trotz sinkender Gewinnmarge eigentlich immer noch zufriedenstellende betriebswirtschaftliche Situation des Unternehmens basierte mehr oder weniger auf dem Faktor Zufall. Innerhalb der Müssig AG gab es keine strukturierten, plan- und kontrollierbaren Prozesse. Das galt für nahezu alle Bereiche. Jeder Mitarbeiter wurschtelte vor sich hin. Niemand konnte den genauen Status quo definieren. Auch das galt für nahezu alle Bereiche auf allen Ebenen, sowohl für die Führungskräfte als auch für die Monteure. So wusste beispielsweise niemand, wie viele Aufträge man hatte. Der Materialbestand wurde händisch geführt. Dass die Müssig AG trotz allem annehmbare Ergebnisse erwirtschaftete, beruhte zu dieser Zeit lediglich auf der Tatsache, dass das Familienunternehmen hervorragende und fleißige Mitarbeiter hatte. Doch strukturell und inhaltlich waren die Defizite in der Unternehmensführung nicht wegzudiskutieren. Eine strategische Neuausrichtung wurde unweigerlich zur vordringlichsten Aufgabe.

Das alles wusste Moritz. Und nicht nur das! Als gelernter Wirtschaftsingenieur mit dem Schwerpunkt Softwareentwicklung hatte er es sich auf die Fahnen geschrieben, diesen Wandel und die Herausforderungen der Zeit als seine Chance zu begreifen. Ehrgeizig, wie er nun einmal war, wollte Moritz ein modernes, den Anforderungen der Zeit vollkommen angepasstes Unternehmen schaffen. Ein Unternehmen, das effizient arbeitete und so für seine Kunden genauso wie für seine Mitarbeiter mehr Lebensqualität schaffte. Und natürlich wirtschaftlich erfolgreich in seinem Markt operierte.

Moritz’ erste Aufgabe würde es sein, für diese Transformation die nötigen Rahmenbedingungen zu schaffen, das war ihm klar. Für ihn galt die Maxime, die sich mit dem digitalen Wandel bietenden Chancen für die Müssig AG bestmöglich zu nutzen. Doch wie er das alles umsetzen sollte, dazu hatte er noch keine klare Idee. Er wusste, für ihn begann eine schwierige Zeit. Eine Zeit, die es ihm als verantwortlichem Geschäftsführer abforderte, richtige Strategien zu entwickeln. Und das möglichst schnell!

Gedacht, getan! Einen ersten sehr wichtigen Schritt unternahm der junge Chef, indem er die alte ERP-Software durch ein neues, zeitgemäßes System ersetzte. Mit dem Ergebnis war Moritz hoch zufrieden: Das neue System ermöglichte einen 360-Grad-Blick auf das Unternehmen. So konnten beispielsweise von der Lohnbuchhaltung über die Fakturierung usw. die Abläufe im Betrieb erstmals überwacht, kontrolliert und auch gesteuert werden. Rein technisch gesehen eigentlich eine ziemlich einfache, aber effektive Sache. Doch die Mitarbeiter hatten damit enorme Probleme. Sie waren es überhaupt nicht gewohnt, in Strukturen und Prozessen zu denken. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten sie alles manuell von Fall zu Fall erledigt. Egal, ob es sich dabei nur um reine Schreibarbeiten oder um das Erstellen von Rechnungen handelte. Den Umgang mit modernen Schreib-, Rechnungs- und Tabellenkalkulationsprogrammen empfanden viele alteingesessene Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Müssig AG deshalb als abenteuerlich wie einen Flug zum Mond. Und das stieß intern bei vielen auf Widerstand.

Der nächste wichtige Schritt im Rahmen der Digitalisierung bestand in der Umstrukturierung des Verkaufs. Auch den ging Moritz energisch an. Bis zu diesem Zeitpunkt war die Müssig AG ausschließlich auf die Erfolge ihrer Verkäufer angewiesen, die ihre Sache auch stets gut gemacht hatten. Sie waren es, die Kunden auf die Müssig AG und deren individuelle Produktpalette erst aufmerksam gemacht hatten. Eine flächendeckende Markenpräsenz, die sowohl das Unternehmen selbst als auch und vor allem dessen spezielle Produktpalette potenziellen Kunden näherbringen würde, hatte die Müssig AG bislang nicht gehabt. Das musste dringend geändert werden! So baute Moritz in mühsamer Kleinarbeit eine komplett neue Marketing- und Absatzstrategie auf, die alle modernen Instrumente beinhaltete wie produkt- und leistungsbezogenes Verkaufsmaterial und neue effiziente PR-Kampagnen.

Alle diese Schritte zeigten nach einiger Zeit auch ihre Wirkung. In erster Linie konnte man das von den sukzessiv verbesserten Geschäftszahlen der Müssig AG ablesen. Für Moritz Müssig ein erster Erfolg. Die Strategie- und Strukturänderungen sollten allerdings ganz andere, sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht abzeichnende Probleme nach sich ziehen. Doch das ahnte Moritz Müssig noch nicht.

Der junge Unternehmer investierte auch in die Verbesserung der Produktion. Seine Firma, die bislang auf eine externe Produktion gesetzt hatte, sollte ein eigenes, sehr hochwertiges, modernes Produktionsverfahren bekommen: ein laserbasiertes Herstellungsverfahren. Finanziell ein Kraftakt und unterm Strich auch die größte Herausforderung der gesamten Digitalisierungswelle, die die Müssig AG aber mit großen Anstrengungen bewältigen konnte. Dieses laserbasierte Herstellungsverfahren war für Moritz nicht ganz neu. Seit seinem Studium hatte er diese Idee über viele Jahre mit sich herumgetragen. Zum einen wären die Mitarbeiter und die Firma noch nicht so weit gewesen. Und zum anderen hätte es zu viele Gegenstimmen, zu viel Gegenwind gegeben, mit dem Tenor, dass dieses Verfahren doch überhaupt nicht notwendig sei.

3.

Bezogen auf die technischen Aspekte war die gesamte Digitalisierung der Müssig AG erfolgreich. Moritz’ Konzepte gingen auf. Als das neue laserbasierte Herstellungsverfahren endlich in Betrieb genommen wurde, sorgte gleich ein Großauftrag dafür, dass sich die Müssig AG berechtigte Hoffnungen machen durfte, dass sich diese Mammutinvestition früher als gedacht amortisierte. Der unternehmerische Himmel sah für Moritz Müssig strahlend blau aus. Jetzt war „sein“ Unternehmen für die Zukunft gerüstet und perfekt aufgestellt. Doch die dunklen Wolken, die ganz langsam am Horizont auftauchten, waren bald nicht mehr zu übersehen.

Von Anfang an hatte Moritz richtig Gas gegeben. Im wahrsten Sinne des Wortes drückte er seine Entscheidungen und die vielen strukturellen Veränderungen im Unternehmen durch. Er gab ein hohes Tempo vor, zu hoch für manche Mitarbeiter. Denn die technische Realisierung war eine Sache, der praktische Umgang damit eine andere. Und eine ganz wichtige! Dieser praktische Umgang hing jedoch in allererster Linie von den Mitarbeitern der Firma ab. Und diese sahen sich größtenteils neuen und für sie bis dato unbekannten Herausforderungen gegenüber. Große Teile der Belegschaft arbeiteten schon viele Jahre im Unternehmen und waren teilweise in einem Alter, in dem es nicht mehr so einfach war, sich von einer Sekunde auf die andere umzustellen. Bürokräfte, die es gewohnt waren, ihre Briefe mit einem simplen Textverarbeitungsprogramm zu schreiben, wo sie – wie früher mit der guten alten Schreibmaschine – jedes Mal Adresse etc. neu eingaben, sahen sich plötzlich mit einem modernen, datenbankbasierten Schreibprogramm konfrontiert. Buchhaltungskräfte, die seit Jahren ihre Debitoren, Kreditoren oder andere Abrechnungsaufgaben zwar digital mit einer Tabelle, aber ansonsten wie früher händisch mit den gewohnten Listen bearbeiteten, saßen von einem Tag auf den anderen vor Monitoren, die ihnen ein modernes Rechnungswesensystem offerierten. Viele, vor allem die älteren Semester, wussten allerdings nicht, wie sie diese Systeme bedienen sollten, und erlebten statt der versprochenen Arbeitserleichterung nur Unsicherheit und Mehrarbeit.

Die Leute an der Basis, die im Betrieb die Produkte fertigten und draußen auf den Baustellen und direkt bei Kunden Montagearbeiten erledigten, hatten ebenfalls enorme Probleme mit diesen Veränderungen. „Wir sind doch ein traditioneller Handwerksbetrieb“, sagte einmal ein alteingesessener Monteur, der seit Jahrzehnten zur Stammbelegschaft der Müssig AG zählte. „Bei uns wird doch mit der Hand gearbeitet. Was sollen wir mit diesem ganzen Computerzeugs, bei dem eh keiner mehr durchblickt? Da ist doch die Brühe teurer als die Fische!“

Wie recht der Monteur mit diesem Ausspruch hatte, erkannte Moritz Müssig nach einiger Zeit selbst. Allerdings ohne dass ihm richtig bewusst geworden wäre, woran es lag. Moritz saß an einem Vormittag in seinem Büro und kontrollierte die Statistiken der neuen laserbasierten Produktionsanlage. Aus dem technischen Blickwinkel gesehen konnte Moritz sehr zufrieden sein, hatte die Müssig AG mit der neuen Anlage doch einen Volltreffer gelandet. Der erste Großauftrag hatte tatsächlich dafür gesorgt, dass sich die Großinvestition auch rentierte. Eine Tatsache machte ihn allerdings etwas stutzig. Der Zeitaufwand für die Programmierung der Produktionsabläufe war im Verhältnis zum Produktionsergebnis exorbitant angestiegen. Im Klartext: Die Zeiten für die Programmierung der einzelnen Fertigungsschritte wurden immer länger. Mittlerweile war das Programmieren der jeweiligen Aufträge mit fast dem gleichen Aufwand verbunden wie die Produktion selbst. Moritz lehnte sich zurück und dachte nach. Das konnte doch nicht im Sinne des Erfinders sein!

Die Situation in der Fertigung war kein Einzelfall, wie sich an einem Freitagmorgen herausstellen sollte. Moritz Müssig hatte seine verantwortlichen Projektleiter zu einem Briefing gebeten. Solche Briefings gab es nun regelmäßig. Sie fanden immer in einer abgelegenen und ruhigen Ecke in der großen Montagehalle statt. An diesem Vormittag waren die meisten Teilnehmer ganz besonderer Hoffnung auf gute Nachrichten, hatte ihr Chef bei der Mitteilung des Termins doch so erwartungsfroh gelächelt. Die im Eiltempo von Moritz durchgezogene Digitalisierung hatte innerhalb der Belegschaft zu Missmut und zu einem immer schlechteren Betriebsklima geführt, sodass frohe Botschaften allen guttun würden.