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MOHSEN CHARIFI

Die Kunst
Beziehungen
in den Sand zu setzen

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1. Auflage 2017

© 2017 Windpferd Verlagsgesellschaft mbH, Oberstdorf

Alle Rechte vorbehalten

Kein Teil des Buches darf in irgendeiner Form oder zu irgendeinem Zweck

elektronisch oder mechanisch, einschließlich Fotokopie, Recording und

Wiederherstellung, ohne schriftliche Genehmigung des Verlages wiedergegeben

werden.

Umschlaggestaltung: Jennifer Jünemann | www.bitdifferent.de

Illustrationen: Olivér Svéd © 123rf.de · Napat Polchoke © 123rf.de

Boarini Pictures © turbosquid.com

Satz und Layout: Marx Grafik & ArtWork

Lektorat: Sarah Varga

Korrektorat: Sylvia Luetjohann

eISBN 978-3-86410-165-6

www.windpferd.de

INHALT

1. Wer klopft denn da an meine Tür?

2. Die Reise nach Italien

3. Der erste Fehler liegt schon vor dem Anfang

4. Die Entzauberung der Verliebtheit

5. Mein Bild von dir stammt aus meinem Farbkasten

6. Der Sonnenbrand auf der Seele

7. Was ist überhaupt eine Beziehung?

8. Wie viel „Du“ verträgt ein „Ich“?

9. Vom guten Ruf der Hoffnung

10. „Es“ ist ein Wurm in der Beziehung

11. Vergiss das Glück, Hauptsache du hast recht

12. Vom Verstehen zum Verständnis

13. Von der bitteren Wahrheit und süßen Lügen

14. Fliehen, Gehen oder Bleiben?

15. Von der Unmöglichkeit, nicht logisch zu denken

16. Der Mensch als Schöpfer der Realität?

17. Die wichtigste Beziehung in meinem Leben

18. Die Kunst, die Beziehung zu sich selbst nicht in den Sand zu setzen

19. Meine Goldmine

20. Der verborgene Schatz in meiner Beziehung

Anmerkungen und Quellen

Vom gleichen Autor sind folgende Bücher erschienen

Liebe Bettina,

Dir verdanke ich die Kunst,

Beziehungen nicht in den Sand

zu setzen.

Und Dir, liebe Sarah,

danke ich für Deinen Beitrag,

diese Kunst poetisch

zu gestalten.

1.
Wer klopft denn da an meine Tür?

Ein Mann kam an die Tür seiner Geliebten und klopfte. Eine Stimme fragte: „Wer ist da?“

„Ich bin da!“, war seine kraftvolle und entschlossene Antwort. Er wartete lange, aber die Tür blieb verschlossen. Er kehrte um und dachte ein langes Jahr nach, kam wieder und klopfte.

„Wer ist da?“

„Du bist da“, antwortete er leise und zaghaft und wartete und wartete, doch die Tür blieb verschlossen.

Er kehrte um. Wieder zu Hause, sagte er sich: „Ich habe ein Jahr auf meine Gedanken gehört. Jetzt höre ich, was mein Herz mir zuflüstert.“ Das tat er auch ein Jahr lang, dann ging er wieder zu seiner Geliebten und klopfte.

Wieder fragte die Stimme: „Wer ist da?“

Er antwortete: „Wir sind da.“

Und die Tür wurde geöffnet.1

Der Zauber dieser kurzen Geschichte liegt in ihrer Aussagekraft. Sie schaut durch die vielfältigen Facetten zwischenmenschlicher Beziehungen und reduziert sie auf zwei Fragen und zwei Antworten. Die eine Frage ist das Klopfen an der Tür und die andere: „Wer ist da?“ Und die Antworten sind die verschlossene oder die geöffnete Tür.

In diesen Fragen und Antworten spiegeln sich das Wesen und das Schicksal von Beziehungen wider. Derjenige, der klopft, ist ein Suchender. Er sucht ein Zuhause in und mit einem Menschen. Er will ankommen und bleiben. Er sucht einen Platz für das Haus seines Lebens. Derjenige, der fragt: „Wer ist da?“, ist auch ein Suchender. Er wartet neugierig auf den anderen, mit all seinen Mitbringseln. Auch er will ein gemeinsames Haus und Zuhause auf dem noch leeren Platz in seinem Leben bauen.

Diese Geschichte ist jedoch irgendwie auch unsere Geschichte, deine und meine, denn wir alle sind Suchende, klopfen, fragen und antworten, mit der Hoffnung, dass wir nach dem Öffnen der Tür dem begegnen, mit dem wir verschmelzen und eins werden und Hand in Hand mit einem Lächeln auf den Lippen und Wind in den Haaren durch die Landschaft des Lebens wandern können.

Im realen Leben aber stehen wir, anders als in der Geschichte, nicht immer vor einer ganz offenen oder ganz geschlossenen Tür, wie wir auch selbst die Tür nicht immer ganz offen oder ganz geschlossen halten. Außerdem klopfen wir selbst manchmal ganz zaghaft, manchmal stürmisch, und manchmal fallen wir sogar gleich mit der Tür ins Haus. Manchmal stecken wir nur unseren Kopf durch den Türspalt oder gehen nur ein paar Schritte hinein. Manchmal schlagen wir sogar nur ein Zelt auf, um erst einmal schnuppern und schauen zu können. Und wenn wir doch ein gemeinsames Haus bauen, sitzen oft entweder schon die ersten Steine schief oder wir verwenden einen Mörtel, der sich in den Gewittern des Schicksals und den Regenschauern des Alltags auflöst. Und am Ende vermissen wir eine gemütliche Hütte zum Verweilen. Das ist heutzutage die Geschichte der meisten Beziehungen –Beziehungen, die scheitern. Wir wollen jedoch zu den anderen gehören, die das Glück einer harmonischen Beziehung auf ihrer Seite haben.

Ist all das eine Frage des Schicksals? – Nein! Wir selbst sind der Architekt unserer Beziehungen. Ob sie glücklich und harmonisch verlaufen, zu einer einvernehmlichen Trennung führen, an ewigen Schlachten zerbrechen oder in erduldeter Unzufriedenheit fortgesetzt werden, all das liegt in unserer Hand. Hier taucht natürlich die Frage auf: „Wenn das Schicksal meiner Beziehungen in meiner Hand liegt, warum verlaufen sie dann so oft anders, als ich es will?“ Weil wir immer wieder über die Unebenheiten in unseren eigenen Denk- und Verhaltensmustern stolpern, die wir im dichten Nebel unserer Routinen nicht bemerken. Und so zaubern wir mit bester Absicht das Unerwünschte herbei. Dies gilt natürlich auch für unseren Partner. Das Ziel dieses Buches ist, gerade das zu bemerken, was wir sonst nicht merken, denn erst dann können wir darauf Einfluss nehmen und es verändern.

Übrigens: Wenn wir in diesem Buch von Beziehungen sprechen, sind immer eheliche, feste eheähnliche Beziehungen sowie gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften gemeint. Auch Menschen, die sich gerade nicht in einer Beziehung befinden, haben natürlich eine Vorstellung davon, wie ihre künftige Beziehung sein soll. Somit betreffen die Themen dieses Buches auch diese Menschen mit ihren Beziehungskonzepten.

Wir machen jetzt eine Wanderung durch die Landschaft der Beziehungen, und es ist mir eine Freude, dich bei dieser Wanderung zu begleiten. Der erste Schritt auf diesem Weg wird hier symbolisch als die „Reise nach Italien“ umschrieben.

2.
Die Reise nach Italien

Du kannst dir selbst und vielen anderen Menschen die Frage stellen: „In welche Richtung muss man gehen, wenn man nach Italien will?“ Fast immer ist die Antwort: „Nach Süden.“ Diese Antwort ist natürlich nicht immer richtig, denn wenn sich jemand in Nordafrika befindet und nach Süden wendet, um Italien zu erreichen, muss er sehr, sehr weit laufen und sehr, sehr lange schwimmen, um nach Italien zu kommen. Wie lautet jedoch eine Antwort, die immer richtig und gültig ist? – „Es kommt darauf an, wo man steht.“

Welche Absicht steckt hinter dieser Frage? Italien steht für eine glückliche, stabile und bereichernde Partnerschaft: Das ist der „Soll-Zustand“, also das, was wir erreichen wollen. Aber in welche Richtung müssen wir uns bewegen, um dies zu erlangen? Wir kennen nun die richtige Antwort: Es kommt darauf an, wo wir jetzt stehen, also auf unseren „Ist-Zustand“. Bevor wir also ein Ziel anstreben, müssen wir zuerst einmal unseren Standpunkt kennen. Wenn diese beiden Punkte klar sind, dann ist auch die Richtung klar. Anders als bei einer Reise ist bei einer Partnerschaft der Standpunkt, also der „Ist-Zustand“, oft aber ganz und gar nicht einfach zu erkennen und nicht offensichtlich.

Das hängt damit zusammen, dass der „Ist-Zustand“ eines Paares, also eines Wir, die Summe des „Ist-Zustandes“ eines Ich und des „Ist-Zustandes“ eines Du ist, mit all ihren sich ergänzenden und einander widersprechenden Facetten. Jeder hat seine eigene Geschichte, sein eigenes Leben und seine eigenen Erwartungen, Ziele, Stärken und Schwächen –und nicht zuletzt seine eigenen Gebote und Verbote, sein eigenes Wertesystem. Hinzu kommt, dass die Aspekte, die uns bewusst sind, einen sehr geringen Teil von dem darstellen, was uns treibt. Und was uns wirklich treibt, ist tief in den dunklen Höhlen des Unbewussten verborgen. Die Fülle von all dem Bewussten und Unbewussten ist unser „Ist-Zustand“, der in jedem Augenblick neu entsteht, aber in diesem komplexen Wirrwarr erkennen wir ihn nicht. Der Schlüssel, der eine Tür zu einer harmonischen Beziehung öffnet, ist das Erkennen dieser „Ist-Zustände“. Es macht uns bewusst, an welcher Tür, wie und warum wir klopfen, welche Sehnsüchte in der Frage „Wer ist da?“ und welche Einstellungen in der Antwort „Ich bin da“ beziehungsweise „Wir sind da“ schlummern. Die Klarheit über all diese „Ist-Zustände“ ist die Fahrkarte für die Reise nach Italien.

Der Beginn einer Beziehung ist in Wirklichkeit der Beginn zweier Reisen, deiner Reise und der Reise deines Begleiters. Man geht zwar Schritt für Schritt den gleichen Weg und kommt so von einem „Ist-Zustand“ zum nächsten, doch jeder erlebt diesen Weg anders. Und dieses unterschiedliche Erleben führt meistens dazu, dass die Wege sich trennen, weshalb nur wenige gemeinsam Italien erreichen.

Dieses Buch ist nicht nur eine Lektion über „Ist-Zustände“, über die ewig neue Front und die Grabenkämpfe zwischen einem Ich und einem Du, sondern auch eine Landkarte, die begehbare Wege vom „Ist-Zustand“ zum „Soll-Zustand“ aufzeigt und uns auf die Brücken, Tunnel, Engpässe, Aussichtspunkte, Abgründe und Raststätten auf diesem Weg hinweist. Zwar gibt es unzählig viele Beziehungen und jede hat ihre individuelle Färbung, Dynamik und Entwicklung. Dennoch haben sie alle einiges gemeinsam und folgen gewissen Mustern. Wie wir im vorigen Kapitel erfahren haben, scheitern die meisten Beziehungen. Deshalb widmet sich dieses Buch dem Anliegen, die häufigsten Ursachen des Scheiterns von Beziehungen aufzudecken. Daraus ergeben sich gleichzeitig Hinweise darauf, wie man selbst zum Gelingen seiner Beziehungen beitragen kann. Konkret geht es um den ersten Fehler, den man bereits vor dem Anfang jeder Beziehung begeht, um den Zauber der Verliebtheit und ihre Tücken und den Einfluss, den unsere Einstellungen, Grundbedürfnisse und unsere Persönlichkeit auf unsere Beziehungen haben. Im Weiteren geht es darum, was überhaupt eine Beziehung ist, wie schicksalhaft Beziehungen sind, wie viel „Du“ ein „Ich“ verträgt, welche Rolle recht behalten wird, welche Rolle Wünsche und Hoffnungen und so weiter spielen und welche Beziehung zwischen Verstehen und Verständnis besteht. Schließlich werfen wir einen Blick auf die wichtigste Beziehung in unserem Leben. Im Verlauf dieses Buches wird immer wieder an konkreten Beispielen gezeigt, wie die erwähnten Themen einmal unmerklich, aber nachhaltig ihre Schatten auf unsere Beziehung werfen und wie sie ein andermal als Fackel unseren Weg zu einer erfüllten Beziehung erleuchten.

Auf den Punkt gebracht:

Jede Phase und jeder Augenblick in einer Beziehung vollzieht sich durch eine Auseinandersetzung zwischen einem Ich und einem Du. Aus diesem Augenblick, aus diesem „Ist-Zustand“ entsteht der nächste und daraus der nächste und so weiter. Erst das Erkennen dieser „Ist-Zustände“ ermöglicht es, die in ihnen verborgenen Defizite zu beheben und die vorhandenen Potentiale zu entfalten. Das ist der kürzeste, schönste und im Grunde vielleicht auch der einzige Weg nach Italien.

Das nächste Kapitel gibt die Antwort auf die Frage: Was ist der erste Fehler, der eine Beziehung beeinflusst, bevor sie überhaupt begonnen hat?

3.
Der erste Fehler liegt schon vor dem Anfang

Wir haben Vorstellungen und Überzeugungen, die uns so klar und selbstverständlich erscheinen, dass wir nicht einmal auf die Idee kommen, dass etwas an ihnen nicht stimmen könnte. Ein typisches Beispiel ist die gängige Auffassung davon, was der Anfang einer Beziehung ist. Wenn man Eheleuten oder sonstigen Paaren die Frage stellt: „Wie habt ihr euch kennengelernt? Wie hat eure Beziehung begonnen?“, lautet im Allgemeinen die Antwort etwa so: „Da oder dort haben wir uns gesehen, fanden uns sympathisch, haben dann ein paar nette Gespräche geführt, waren ein paarmal essen und haben Verschiedenes unternommen. So kamen wir uns langsam näher, wurden intim und haben uns verliebt. So hat unsere Beziehung angefangen.“ So oder so ähnlich lauten die Antworten häufig.

Dennoch entsprechen solche Antworten, die sehr naheliegen und sehr plausibel klingen, nicht dem Anfang einer Beziehung. Die Ereignisse und Erlebnisse, die wir für den Anfang einer Beziehung halten, beschreiben lediglich die Abläufe in der Frühphase einer Beziehung, sind aber nicht deren Anfang. Diese Behauptung klingt etwas befremdlich, denn wenn all das, was als Anfang einer Beziehung empfunden wird, nicht deren Anfang sein soll, was ist dann der Anfang einer Beziehung?

Allgemein formuliert: Wenn man mit etwas anfängt, hält man das, was man dann gerade tut, für den Anfang dieser Sache. Bei näherem Hinschauen liegt jedoch etwas vor diesem Anfang, das diesen Anfang überhaupt in Gang gesetzt hat. Zum Beispiel steigt man in einen Zug ein und hält das für den Anfang seiner Reise. Man könnte genauso gut sagen, die Reise hat damit angefangen, in das Taxi einzusteigen, das einen zum Bahnhof gebracht hat, oder die Koffer zu packen, die man mitnimmt. Der eigentliche Anfang ist jedoch in der Absicht zu sehen, die Reise zu machen. Damit wird deutlich, dass alle anderen Handlungen aus dieser Absicht entstehen und dass sie daher nicht der Anfang der Reise sind. Genauso verhält es sich mit dem Anfang einer Beziehung. Die Begegnung mit einem Menschen entspricht dem Zug, den wir nehmen, und die Beziehung ist die gemeinsame Fahrt. Aber worin besteht hier der Anfang, der vor der Reise der Beziehung lag?

Dieses Etwas, das wir als den Anfang einer Beziehung auffassen wollen, ist ein großes Paket, gefüllt mit unserem Wertesystem, unserem Geschmack, unseren Erwartungen, Vorstellungen, Absichten, Denkmustern und damit, wie wir mit unserer Lebenssituation umgehen. Dieses Paket trägt den Namen „Persönlichkeit“.

Unsere Persönlichkeit ist die Quelle und die Basis unseres Fühlens, Denkens und Handelns. Sie bestimmt unsere Grundeinstellung gegenüber uns selbst und gegenüber der Welt um uns herum. Insofern ist unsere Grundeinstellung auch der Ausgangspunkt und die Ursache dafür, warum, mit welcher Absicht und Vorstellung und vor allem mit welchen Menschen wir überhaupt eine Beziehung eingehen.

Demnach sind nicht die Begegnung mit einer Person und die anfänglichen Ereignisse und Erlebnisse mit dieser der Beginn einer Beziehung, sondern unsere Grundeinstellung, die schon lange da ist, bevor wir uns überhaupt auf einen Menschen einlassen. Auf ihr basiert unsere Bewertung und somit unsere Wahl. Also: Nicht eine Person bestimmt unsere Wahl, sondern unsere Wahl bestimmt die Person.

Dass nicht immer unsere bewussten Entscheidungen und plausiblen Erklärungen und Begründungen, sondern weitgehend unsere unbewusste Grundeinstellung – vertrauter formuliert: unser Bauchgefühl – über das Ja oder das Nein zu einer Beziehung entscheidet, soll folgendes Beispiel verdeutlichen: Wir begegnen jemandem, der uns sehr gut gefällt. Aber etwas in uns winkt ab, warnt uns und wir lassen die Finger von dieser Beziehung. Dann begegnen wir einem anderen Menschen, an dem uns vieles stört. Aber irgendwie fasziniert er uns, er zieht uns magisch an und wir entscheiden uns trotzdem für ihn. Zwar begründen wir unser Nein oder Ja mit einer bewussten und für uns selbst plausiblen Erklärung, doch in beiden Fällen folgen wir dem ominösen Bauchgefühl, eben unserer Grundeinstellung.

Dieses Konzept liegt allen unseren Absichten und Entscheidungen zugrunde, und dies gilt nicht nur für lebensentscheidende Prozesse, sondern auch für banale, alltägliche Handlungen. Als eine Analogie zu Partnerschaften schauen wir uns ein entsprechendes Beispiel an, das den Zusammenhang zwischen bewussten Entscheidungen und deren unbewussten Ursachen, eben unserer individuellen Grundeinstellung, verdeutlichen soll. Eine Frau will sich einen Pullover kaufen und geht in ein Einkaufszentrum. Die Auswahl an Geschäften und damit an Pullovern ist riesig. Je nach ihrem Lebensstandard, ihrem Geschmack, ihrem Alter und letztlich, wie sie aufgrund ihrer Einstellung diese Dinge bewertet, sucht die Frau bestimmte Läden auf. Von den unzähligen Pullovern, die dort angeboten werden, nimmt sie ein Dutzend in die Hand, wenige davon nimmt sie mit in die Umkleidekabine mit und am Ende entscheidet sie sich für den einen, der ihr am besten gefällt. Oder sie ist mit ihrer Freundin unterwegs und entdeckt zufällig in einem Schaufenster einen Pulli, der sie besonders anspricht. Sie geht in das Geschäft und kauft ihn direkt, obwohl sie zu diesem Zeitpunkt eigentlich gar keinen Pullover gesucht hat.

Entscheidend ist, dass ihre Grundeinstellung und damit unter anderem auch ihr Geschmack in beiden Fällen schon da waren, bevor sie überhaupt die Absicht hatte, einen Pullover zu kaufen. Allein die Tatsache, dass sie der Meinung war, sie könnte einen neuen Pullover brauchen, ist eine unbewusste Folge ihrer Einstellung, denn bei einer anderen Einstellung würde dieses Bedürfnis vielleicht gar nicht entstehen. Und das Gleiche gilt für jeden weiteren Schritt und jede weitere Entscheidung. Aus der Sicht dieser Frau waren ihr Geschmack, ihr Bedürfnis und ihr Wille die Gründe für den Kauf des Pullovers. Wie schon erwähnt, weiß sie jedoch in Wirklichkeit selbst nicht einmal, weshalb sie diesen Geschmack und diesen Willen hat. Denn ihre Beweggründe sind die Folge der Bewertung von Dingen, die gänzlich unbewusst abläuft.

Dieses Muster weist identische Elemente mit den Überlegungen auf, die wir bei der Suche nach dem Anfang einer Reise angestellt haben. Einem ähnlichen Muster folgen wir auch bei der Wahl eines Partners, und jeder Schritt bei dem Kauf des Pullovers kann im Großen und Ganzen darauf übertragen werden. Das Einkaufszentrum entspricht den Menschen, die es in unserem weiteren Umfeld gibt, und die Läden, welche die Frau aufsucht, unserem Arbeitsumfeld, unseren Hobbys, die wir zusammen mit anderen pflegen, Partys und so weiter. Die Pullover, die sie prüfend in die Hand genommen hat, lassen sich vergleichen mit Gesprächen, ein paar Treffen und gemeinsamen Unternehmungen und vielleicht auch Intimität; jene Pullover, welche die Frau in der Umkleidekabine liegen gelassen hat, entsprechen Beziehungen, die irgendwie doch nicht gepasst haben und beendet sind, und der gekaufte Pullover symbolisiert den Menschen, mit dem wir eine längere Beziehung oder eine Ehe eingegangen sind. Analog zu der Begründung, die diese Frau für die Wahl ihres Pullovers hatte, kreieren wir Begründungen für die Wahl unseres Partners. Häufig hört man als Gründe dafür Sympathie, das Aussehen, den sozialen Status, Sexualität, bestimmte Charakterzüge et cetera. Aber wie wir wissen: Auch hier ist unsere Grundeinstellung die treibende Kraft, die unsere Wahl bewirkt.

Was haben wir durch diese beiden Beispiele erreicht? Durch das erste Beispiel, die Reise mit dem Zug, wurde deutlich, dass ein Anfang nicht eine Handlung, sondern eine Absicht ist. Durch das zweite Beispiel, den Kauf eines Pullovers, haben wir gesehen, dass nicht die bewusste Begründung, warum wir so handeln, wie wir handeln, sondern unsere Einstellung der wahre Grund und die eigentliche Ursache unseres Handelns ist. Aus der Analogie, die jedes dieser Beispiele mit einer Beziehung aufweist, folgt: Der Anfang einer Beziehung ist nicht das, was wir für deren Anfang halten, sondern der Antrieb, unsere bewussten Bedürfnisse zu befriedigen. Zweitens basiert unsere bewusste Entscheidung für eine Beziehung auf unserer Grundeinstellung, die uns wiederum gänzlich unbewusst ist.

Da weder der Anfang noch die Quelle der Absicht, aus der wir eine Beziehung eingehen, klar ist, liegt es nun nahe, davon auszugehen, dass sich Fehler einschleichen. Mit der Auswirkung unserer Absichten auf unsere Beziehung beschäftigen wir uns in den weiteren Kapiteln. In diesem Kapitel liegt der Fokus auf dem Fehler, der sich daraus ergibt, dass wir auf einem Anfang aufbauen, der gar kein Anfang ist. Als Beispiel dafür betrachten wir einen Mann, Herrn Fixiert, und schauen, mit welcher Einstellung und wie er eine Beziehung aufbaut.

Herr Fixiert hat eine klare Vorstellung davon, welche Eigenschaften seine zukünftige Frau haben soll: Er schwärmt von einer Frau, die klassische Musik liebt, Akademikerin ist und pechschwarze, ins Bläuliche schimmernde Haare hat. Es bedarf keiner näheren Erklärung, wie lange es dauert und wie viele Frauen Herrn Fixiert begegnen müssen, bis ein so hochgebildetes musikalisches Geschöpf mit schwarzen Haaren, wie er es sucht, auftaucht. Wir gehen davon aus, dass diese geringe Wahrscheinlichkeit eines Tages doch eintritt und er einer solchen Frau begegnet. Die Euphorie, endlich seine ideale Frau gefunden zu haben, gibt ihm die Kraft und die Entschlossenheit, alles zu tun, um sie für sich zu gewinnen.

Nach ein paar netten Gesprächen kommt es zu einem ersten gemeinsamen Abendessen in einem feudalen Restaurant. Die Freude über das Wiedersehen ist groß; der Rest des Abends verläuft jedoch nicht gerade schön. Sie reagiert auf fast alles genervt und patzig. So regt sie sich unter anderem darüber auf, dass sie wegen des vollen Restaurants einige Minuten auf einen freien Tisch warten müssen und dass anschließend der Ober auch auf das zweite Rufen nicht reagiert. Sie bestellt deshalb den Geschäftsführer und macht ein großes Theater. Darüber hinaus trinkt sie zunächst ein Glas Prosecco, dann ein Glas Wein – und weil dieser ihr schmeckt, bestellt sie eine ganze Flasche, die sie fast alleine leert. Mit solchen und ähnlichen Ereignissen wird Herr Fixiert auch in der folgenden Zeit oft konfrontiert.

Herr Fixiert registriert natürlich schon bei den ersten Begegnungen, dass seine Begleiterin ungeduldig, aggressiv und egoistisch reagiert und auch, dass sie im Übermaß Alkohol trinkt. Aber angesichts seiner Überzeugung, eine Frau mit idealen Eigenschaften und Merkmalen gefunden zu haben, erscheinen ihm all ihre Reaktionen, die er sonst für unangemessen halten würde, als bedeutungslose und unwichtige Kleinigkeiten. Deshalb umhüllt er all ihre Schwächen mit dem Schleier des Verständnisses. Die Anziehung durch ihre idealen Eigenschaften ist eben viel stärker als die Abstoßung durch ihre negativen Wesenszüge.

Erst nach und nach, wenn Zukunft zur Gegenwart wird, verlieren die idealen Merkmale ihren Zauber und das Zusammenleben mit dem realen Menschen bestimmt den weiteren Verlauf der Beziehung. Jetzt hat Herr Fixiert eine Frau mit den gewünschten Eigenschaften an seiner Seite, doch das Leben mit ihr ist nicht das Leben, von dem er geträumt hat. Er fällt in die tiefe Schlucht zwischen dem idealen und dem realen Menschen. Herr Fixiert zahlt den Preis für den Fehler, den er schon vor Beginn der Beziehung gemacht hat: nämlich die Einstellung, dass eine Frau mit bestimmten Eigenschaften eine ideale Partnerin wäre. Durch diese Einstellung war er fixiert auf äußere Eigenschaften und hatte keinen ungetrübten Blick auf den Menschen hinter den Eigenschaften. Diese Einstellung hatte er wohl schon bemerkt, bevor er dieser Frau begegnet ist. Mit anderen Worten: Er hat an eine bunte Tür geklopft, die ihm gefiel, und diese Tür zu seiner Gefährtin gemacht. Doch der Mensch hinter der Tür wurde nicht seine Begleiterin.