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Tobias Korenke

WIDERSTAND
AUS LOYALITÄT

Zum Verständnis
einer deutschen
Freiheitsbewegung

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

1. Auflage Februar 2020

Satz und Layout:

Satzzentrale GbR, Marburg

Umschlagabbildung:

Peter-Otto Ullrich

Umschlaggestaltung:

Ina Zimmermann, Essen

Druck und Bindung:

Majuskel Medienproduktion GmbH, Elsa-Brandström-Str. 18, 35578 Wetzlar

ISBN 978-3-8375-2077-4

eISBN 978-3-2800-9089-3

Alle Rechte vorbehalten ©

Klartext Verlag, Essen 2020

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Jakob Funke Medien Beteiligungs GmbH & Co. KG
Jakob-Funke-Platz 1, 45127 Essen
info@klartext-verlag.de, www.klartext-verlag.de

Für Charlotte, Theresa und Clara

Inhalt

Kapitel 1Schwieriges Erinnern

Kapitel 2Positionsbestimmung

Kapitel 3Schubladen öffnen

Kapitel 4Differenzieren

Kapitel 5Warum erinnern?

Abkürzungen

Literaturverzeichnis

Wenn das neue Deutschland im Zeichen solcher Ereignisse wie des 20. Juli seine Bürger erzieht, und nicht bloß im abstrakten Respekt für die Demokratie als solche, so wäre viel gewonnen. Die Demokratie als solche ist bekanntlich ein recht vager Begriff, der zu Freiheit und Gerechtigkeit nicht automatisch in Beziehung steht. Es bedarf der Spontaneität des Einzelnen, die sich in formalen Prinzipien nicht erschöpft.

Max Horkheimer

(in einem Brief an Hans Bott vom 12.7.1956, in: Max-Horkheimer-Archiv, Abt. 5, Capsel 87, Dokument 240.)

Schwieriges Erinnern

Gut 75 Jahre ist es nun her, das Attentat auf Adolf Hitler am 20. Juli 1944. Das ist eine lange Zeit. Und in der Tat stellt sich die Frage, warum heute überhaupt noch an diesen Tag erinnert werden sollte: Der Anschlag auf den Diktator ist ja schließlich gescheitert. Und all das, was man von den Attentätern und den Menschen, die sie unterstützt haben oder bei der Vorbereitung halfen, so gemeinhin hört, klingt nicht unbedingt so, dass man große Lust hätte, sich mit ihnen näher zu beschäftigen. Schneidige Soldaten und ziemlich graue Männer haben sich offensichtlich viel zu spät überlegt, dass es notwendig sei, Hitler umzubringen – und sich dann nicht einmal sonderlich professionell angestellt. Die Fotos, die von den Attentätern existieren, passen so gar nicht in unsere bunte Instagram-Welt: gescheitelte Männer in Uniform, Männer mit Krawatte und Kragen, die nur dann befreit zu lächeln scheinen, wenn sie gemeinsam mit ihren Frauen und Kindern abgebildet werden – und das alles in Schwarz-Weiß und Sepia.

Historiker haben später versucht, die Menschen, die in irgendeiner Weise – als Vor- und Mitdenker, aktive Vorbereiter oder Durchführende – am Attentat beteiligt waren, mit einem Etikett zu versehen. Dabei kamen dann Kategorien wie „bürgerlich“, „bürgerlich-militärisch“, „konservativ“, „national-konservativ“ oder auch „Widerstand der alten Eliten“ heraus. Manche Publizisten sprechen von „Reaktionären“. Das macht die Beschäftigung mit den Widerständlern nicht gerade attraktiver. Es klingt nicht nur weit weg, sondern auch wahnsinnig verstaubt, irgendwie aus der Zeit gefallen. Wer mag in Zeiten, in denen selbst die von der CDU gestellte Bundeskanzlerin den Begriff meidet und jeder hipp sein möchte, schon noch „konservativ“ sein?

Doch der Eindruck täuscht. Ein genauerer Blick auf die Männer und Frauen des Widerstands zeigt: Es gab Konservative unter ihnen, aber auch Liberale und Sozialdemokraten, Gewerkschafter waren genauso dabei wie Diplomaten, Kirchenmänner und Kaufleute. Und vor allem Menschen, die, wie man heute sagen würde, kommunitaristisch „tickten“. Die Bewegung, die zum 20. Juli 1944 führte, war politisch bunt und sozial lange nicht so high-end dominiert, wie etwa der Adel es nach 1945 so gerne gehabt hätte. Viel wichtiger noch: Wir können viel von ihr lernen. Auch heute. Vielleicht gerade heute, denn in Perioden des Umbruchs kommt es mehr denn je darauf an, sich dessen zu vergewissern, was wirklich wichtig ist in einer und für eine Gesellschaft. Was Bedeutung und Wert hat. Auf welchem Fundament das Zusammenleben beruht.

Die Menschen, die sich zum Handeln gegen die Diktatur entschieden haben, geben auf diese Fragen keine ausformulierten Antworten. Anregungen zum Weiterdenken und vielleicht sogar zum Handeln geben sie aber allemal. Dafür muss man sie allerdings verstehen. Denn vieles an den Widerstandskämpfern sperrt sich einfachen und pauschalen Deutungen, ist komplex und nur aus der Zeit heraus zu verstehen. Schubladen verschließen das Verstehen. Ich möchte ein paar Schubladen öffnen, die Komplexität verstehen helfen und von der Aktualität des Widerstands erzählen. Deshalb dieser Essay.

Positionsbestimmung:
Ursula und Rüdiger Schleicher und die Bonhoeffer-Familie

Lange schon beschäftigt mich der Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Das hat auch familiäre Gründe, meine Großmutter war Ursula Schleicher, die älteste Schwester von Dietrich und Klaus Bonhoeffer. Beide wirkten bei der Verschwörung mit. Dietrich war nun nicht der treibende Konspirateur, als der er heute gerade in Kirchenkreisen gerne dargestellt wird, aber er gab mit seinen Texten dem Widerstand eine Stimme, hier liegt seine historische Bedeutung, deswegen taucht er in diesem Text auch immer wieder auf. Ursula hat Rüdiger Schleicher geheiratet, der sich auch dem Widerstand gegen Hitler anschloss. Eine Schwester von Ursula heiratete Hans von Dohnanyi, der eine bedeutende Rolle im Widerstand spielen sollte. Und ein Vetter meiner Großmutter, Paul von Hase, fand als Stadtkommandant den Weg in den Widerstand. Rüdiger, Dietrich, Klaus, Hans und Paul bezahlten ihren Einsatz mit dem Leben. Deshalb treibt mich diese Geschichte auch noch zwei Generationen später um: Was haben sie getan? Warum handelten sie so? War richtig, was sie getan haben? Und war es wert, dafür den höchsten Preis zu zahlen?

Ich möchte etwas ausführlicher von dieser Familie erzählen. Ihre Geschichte hat meine Sichtweise der Geschichte geprägt. Ich bin davon überzeugt, dass der individuelle Hintergrund immer auch die Perspektive eines Historikers beeinflusst. Das hören wissenschaftlich arbeitende Historiker, die den hohen Ansprüchen der intersubjektiven Überprüfbarkeit verpflichtet sind, nicht gern. Aber schaut, sagen wir, ein Nachkomme eines SS-Mannes nicht anders auf die NS-Geschichte als zum Beispiel der Verwandte eines verfolgten Juden? Das heißt nicht, dass beide nicht das Ziel einer möglichst objektiven Darstellung verfolgen könnten. Natürlich, es gibt geschichtswissenschaftliche Methoden und deren Gebrauch schaltet subjektive Faktoren weitgehend aus. Aber schon manche Frageansätze sind spezifisch biografisch geprägt. Und Wertungen ohnehin. In einem berühmt gewordenen Briefwechsel zwischen den Historikern Martin Broszat und Saul Friedländer über die „Historisierung des Nationalsozialismus“1 aus dem Jahr 1987 behauptete Broszat, Friedländer könne nicht objektiv über das „Dritte Reich“ schreiben, weil er Jude und befangen sei. Friedländer führte vor, in welchem Konstrukt sich Broszat hier bewegte: Wären deutsche Historiker nicht mindestens genauso befangen? Ja, es gibt eine herkunftsbedingte Befangenheit. Deshalb scheint es mir notwendig, etwas weiter auszuholen.

Es mag seltsam klingen in unserer individualistischen Zeit, aber es gelingt mir nicht anders: Meine Großeltern sind nur zusammen zu denken und zu beschreiben. Die vor einigen Jahren auf dem Dachboden meiner Mutter aufgetauchten Briefe der beiden aus den Jahren 1923 bis 1944 führen uns lebendig vor Augen, wie sehr Rüdiger und „Ursel“ – so nannte er sie meistens – in den 22 Jahren, die sie miteinander hatten, aufeinander bezogen waren. Er wurde das, was er war, durch sie. Und sie wurde das, was sie war, durch ihn. Und trotzdem – oder vielleicht auch gerade deshalb – waren sie beide starke und eigenständige Persönlichkeiten, die sich nicht füreinander aufgaben, sondern miteinander wuchsen.2

Rüdiger Schleicher, 1895 als erster von vier Söhnen eines Obermedizinalrates in Stuttgart geboren, wuchs in einer bürgerlichen Welt auf. Er besuchte das „EbeLu“, das Eberhard-Ludwigs-Gymnasium. Es galt als humanistische Kaderschmiede. Auch die Stauffenberg-Brüder, Eugen Gerstenmaier, Fritz Bauer oder später Vicco von Bülow, alias Loriot, gingen hier zur Schule. Schon früh spielte Musik in seinem Leben eine große Rolle. Rüdiger besaß ein absolutes Gehör und er lernte offenbar mit Leichtigkeit Geige. Sehr bald erschloss sich ihm die kommunikative Seite der Musik. Als Mitspieler im Quartett oder auch im Orchester war er sehr beliebt. Offenbar konnte er sich besonders gut in die Mitspieler hineinfühlen, „mitschwingen“, sich zurücknehmen und damit das Gemeinsame voranbringen. Das Abitur war da fast nebensächlich.

Rüdiger hatte die einjährige Militärzeit fast abgeschlossen, als der Erste Weltkrieg ausbrach. Wie so viele Angehörige seiner Generation zog er mit Begeisterung „ins Feld“. Gleich in seinem ersten Gefecht wurde er verwundet: Oberschenkeldurchschuss. Der Wundherd heilte nie aus, bis zu seinem Lebensende litt Rüdiger an plötzlich ausbrechenden septischen Fieberanfällen, immer wieder fesselten sie ihn, oft wochenlang, ans Bett. Es ist charakteristisch für ihn, dass er trotz dieser schweren Behinderung später versuchte, bei der amtsärztlichen Einschätzung als Kriegsversehrter eine möglichst geringe Einstufung zu erlangen. Auf keinen Fall wollte er dem Staat mit einer hohen Kriegsversehrtenrente zur Last fallen.

Dem Staat dienen, einen Beitrag zum Wohl der Gemeinschaft leisten – das war für Rüdiger der selbstverständliche Sinn seines bürgerlichen Lebens. Es hatte wahrscheinlich auch mit dieser Haltung zu tun, dass er sich entschloss, Rechtswissenschaften zu studieren. Als Jurist meinte er, am ehesten einen Beitrag für das Gemeinwohl leisten zu können. Das Recht erst ermöglichte Gemeinschaft. Diese Einstellung war nun nicht mit einer nationalistischen oder konservativen Einstellung verbunden, wie man vielleicht annehmen könnte, wenn man die weit verbreitete, allzu pauschale Etikettierung der Gruppierungen und Personen des 20. Juli 1944 als „national-konservativ“ kennt. Schleicher selbst bezeichnet sich während des Studiums einmal als „süddeutschen Liberalen“. Eine genauere Auseinandersetzung mit seinem Denken zeigt aber, dass auch diese Einordnung nicht zutrifft. Wenn man seine Briefe genau liest und sich anschaut, was er gelesen und wie er seine Lektüre beurteilt hat, dann wird deutlich, wie sehr schon der Student davon überzeugt war, dass es weniger individuelle Interessen als Tugenden und Gemeinsinn sind, die einen politischen Verband zusammen halten. Schleicher kann als Exponent jener national-kommunitären Kultur bezeichnet werden, die von der idealistischen Philosophie über Teile des Frühliberalismus bis hin zu den Radikalen der 1848/49er Revolution, Teilen der Nationalliberalen und hin zu intellektuellen Gestalten wie Max Weber und Friedrich Naumann reicht.3 Insbesondere mit Friedrich Naumann, dem Gründer des National-Sozialen Vereins, hat sich Schleicher seit seinem Studium intensiv beschäftigt. Das Ziel Naumanns, die Arbeiterschaft für Staat und Nation zu gewinnen, teilte Schleicher voll und ganz. Er suchte den Austausch mit Sozialdemokraten und forderte eine größere Aufgeschlossenheit der Kirche gegenüber der SPD. Selbst trat er der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) bei, die die Weimarer Republik voll und ganz bejahte. Die Krisen der Republik verfolgte er mit großer Sorge. „Der niederträchtige Mord Rathenaus“, schrieb der Berliner Doktorand am 30. Juni 1922 an seine Stuttgarter Großmutter, „hat hier wieder eine etwas bewegte Atmosphäre geschaffen; Dienstag Nachmittag war überall frei, auch bei den Behörden. Die Beisetzung war feierlich, ich stand am Reichstag.“

Rüdiger schloss sein Studium 1919 in Tübingen ab, machte sein Referendariat in Stuttgart und hängte eine Promotion an. Sein Thema: „Das internationale Luftrecht“. Das war damals ein geradezu avantgardistisches Rechtsgebiet. Das Gutachten seines Doktorvaters monierte, dass Schleicher sich so gut wie gar nicht mit der fachwissenschaftlichen Literatur auseinandergesetzt habe. Kaum zu glauben bei einer Promotion. Laissez faire war eigentlich nicht sein Ding und so gar nicht vorgesehen in der protestantischen Leistungsethik, zumal in ihrer schwäbischen Ausprägung. Man kann es eigentlich nur mit fehlender Zeit erklären. Zum einen hatte er während seiner Promotionszeit einen Job: Nach einigen Monaten im württembergischen Staatsdienst ist er 1922 als Berichterstatter für Reichstagsangelegenheiten beim Reichsverband für Handel und Gewerbe nach Berlin gegangen, um bald in die Luftfahrtabteilung des Verkehrsministeriums zu wechseln. Viel wichtiger aber war: Er hatte sich verliebt und verbrachte jetzt so viel Zeit wie möglich mit Ursula Bonhoeffer.

Da kommt nun also meine Großmutter ins Spiel: Sie war das vierte von acht Kindern und die älteste Tochter des Psychiaters Karl Bonhoeffer und seiner Frau Paula, geborene von Hase. Geboren wurde sie 1902 in Breslau, wo ihr Vater damals Privatdozent war. Erst 1912, als Karl Bonhoeffer den Ruf auf eine Professur für Neurologie und Psychiatrie an der Charité annahm, zogen sie nach Berlin. Ihr Breslauer Elternhaus steht noch, ganz in der Nähe der Jahrhunderthalle. Bonhoeffer-Kenner aus Wrocław haben dort eine Gedenktafel angebracht.

Ich finde, schon auf den bekannten Familienbildern der acht Bonhoeffer-Kinder fällt meine Großmutter auf – weil sie besonders schön war. Und schön blieb sie bis ins hohe Alter. Sie hatte wunderbare Haare, die auch im Alter noch schwarz waren, und große dunkle, warme, sanfte Augen. Ihre Haut kam mir immer glatt und durchscheinend vor. Und – hier spricht der Enkel – sie roch unübertroffen gut, ich habe diese sanfte Mischung aus Pears-Seife und Eau de Cologne und wahrscheinlich irgendeinem Puder noch immer in der Nase. Ob mein Großvater diesen Geruch auch so mochte?

Auf jeden Fall muss Rüdiger die entschiedene, klare Art von Ursula gefallen haben. Meine Großmutter hasste es, drum herum zu reden. Sie sprach aus, was sie dachte und forderte das auch von ihren Kindern und später auch ihren Enkeln ein. Sie hatte einen wunderbaren trockenen Humor, der Spott und Lästerei durchaus mit einschließen konnte. Und sie liebte die Musik. Sie hatte eine schöne Stimme. Ich erinnere mich noch gut, wie sie sang, auch wenn es in meiner Kindheit nur ganz selten vorkam: Lieder von Schubert, Beethoven, Brahms. Dann stand sie am Flügel in ihrem schwarzen Samtkleid mit der goldenen Bordüre, ihre Haut hatte einen leicht geröteten Ton. So zart und zerbrechlich sie war, die Lasten, die ihr das Leben en masse aufgebürdet hatte, waren nicht mehr zu erkennen. Wenn sie sang, dann wurde sie zum jungen Mädchen, dann wirkte sie frei.

Ursula wuchs in wohlhabenden Verhältnissen auf. Erzieherinnen, Hausmädchen, Privatlehrer, Musikunterricht – all das war selbstverständlich. Die zweifellos privilegierten Verhältnisse waren aber auch gekoppelt an soziale Verantwortung. So wurde Ursula, als sie 16 Jahre alt war, von ihrer Mutter für einige Jahre nach Breslau geschickt, um eine inzwischen verheiratete frühere Haushaltshilfe zu vertreten, die sich in dieser Zeit bei Bonhoeffers in Berlin erholen sollte. Sieben kleine Kinder und ein Mann, der sich als Trinker erwies, waren zu versorgen. Sie schrieb später einmal, wie anstrengend diese Zeit war, wie befriedigend aber auch. Heute würde man „Empathie“ sagen, früher sprach man von Mitgefühl – dieser ausgeprägte Charakterzug meiner Großmutter war die Wurzel ihres sozialen Verantwortungsgefühls. Es war ihr wichtig, denjenigen zu helfen, die es nicht so gut hatten wie sie selbst. Sie hatte ein Gespür für die Ungerechtigkeit der Verhältnisse – und konnte und wollte sie nicht ertragen. Wohl auch deshalb wurde sie Fürsorgerin, heute würde man das „Sozialarbeiterin“ nennen. Ich kann mich noch gut erinnern, wie sie uns Enkeln von ihren Erfahrungen in der Fruchtstraße in Berlin-Friedrichshain berichtete, wohin sie täglich aus dem schönen Grunewald aufbrach, um sozial schwachen Familien zu helfen. Wie schwierig die Verhältnisse dort wirklich waren, habe ich freilich erst bei späteren Recherchen festgestellt. Eine Studie berichtet von gewerblicher Prostitution. Davon hätte meine Großmutter uns nie erzählt …

Rüdiger wurde schnell in den großen Familienkreis der Bonhoeffers aufgenommen. Sein Geigenspiel hat das Entree gewiss erleichtert. Alle Bonhoeffers spielten ein Instrument, jetzt freuten sie sich über einen besonders virtuosen, besonders sensiblen Mitspieler. 1923 heirateten mein Großvater und meine Großmutter.

Die Welt der Bonhoeffers ist heute nur noch schwer zu verstehen. Auch für mich wirkt vieles von dem, was dazu in der Familie kolportiert wird und man in der Literatur findet, allzu heil und schön. Es gibt ja inzwischen eine regelrechte Bonhoeffer-Kitsch-Literatur. Ein besonders hübsches Beispiel dafür ist das Buch „Weihnachten im Hause Bonhoeffer“ – eines der meist verkauften Bücher im Bonhoeffer-Kontext.4 Die Bonhoeffer-Story auf Groschenroman-Niveau. Seltsam, dass es ausgerechnet von der Zwillingsschwester Dietrichs, der klugen Sabine, geschrieben wurde.

Fest steht aber: Die Angehörigen dieser Familie waren eng miteinander verbunden. Auch wenn es Einzelne immer wieder aus Berlin wegzog – die Hauptstadt, erst Grunewald, dann das Westend, blieb ihr Zentrum. Schleichers wohnten ab 1934 direkt neben Ursulas Eltern in der Marienburger Allee. Dietrich Bonhoeffer lebte die meiste Zeit in diesem Haus seiner Eltern. Klaus Bonhoeffer und seine Familie hatten ein Haus im selben Viertel bezogen. Die in der Literatur so häufig gebrauchte Beschreibung als „bildungsbürgerlich-akademisches Milieu“ trifft die Sache nur zu Teilen. Der familiäre Austausch über Politik, naturwissenschaftliche, theologische und auch künstlerische Fragen muss in der Tat aufregend gewesen sein. Es war viel los: Der junge Theologe Dietrich Bonhoeffer, der früh zu Ruhm gekommene Physiker Karl-Friedrich Bonhoeffer, der Jurist Klaus Bonhoeffer bewegten sich in ihren jeweiligen Arbeitsgebieten am Puls der Zeit. Das galt auch für die Rechtswissenschaftler Hans von Dohnanyi und Gerhard Leibholz sowie Pfarrer Walter Dress, die Schwestern Ursulas geheiratet hatten. Sie waren neugierig aufeinander, ständig im Gespräch miteinander.

Aber es war noch etwas anderes, was die Familie eng zusammenrücken ließ. Gewiss war eine selbstverständliche, im Familienkreis übrigens kaum explizit thematisierte, christliche Grundierung wichtig. Vielleicht lässt sich der Umgang miteinander aber am besten mit der Musik, die in der Familie so lebendig war, beschreiben: Selbstlosigkeit, gegenseitiges Entgegenkommen und Unterstützen, aufeinander hören, vom anderen lernen wollen – nur mit diesen Fähigkeiten entsteht gelungenes Zusammenspiel. Von diesen Fähigkeiten – und das sind Fähigkeiten, die einem nicht in die Wiege gelegt werden, sondern die man erlernen kann – muss auch der Umgang im Kreise der Bonhoeffers und ihrer Freunde, zu denen Ernst von Harnack, Justus Delbrück oder auch Erwin Planck gehörten, geprägt gewesen sein. Das heißt nicht, dass der Umgang konfliktfrei war. Ganz und gar nicht: Es muss immer wieder zu harten, temperamentvollen Auseinandersetzungen gekommen sein. Aber es gab einen tragenden Grundton.

Die Familie war politisch nicht übermäßig interessiert und schon gar nicht engagiert. Ich glaube nicht, dass sie Politik wie in bürgerlichen Kreisen üblich für ein schmutziges Geschäft, an dem man sich nicht beteiligte, hielt. Aber politisches Denken, vor allem in der politics-Dimension, der Durchsetzung politischer Ziele also, war ihnen fremd. Da waren sie sehr typisch für bürgerliche Familien des frühen 20. Jahrhunderts. Genau hier liegt ja auch eine Ursache dafür, dass extremistische Kräfte sehr leicht Raum gewinnen und ihre Ziele durchsetzen konnten. Als das geschah, stimmte die Familie weitgehend überein. Lange vor 1933 hatte jeder in der Familie die Nazis abgelehnt. Die „Machtergreifung“ und die weite Teile der Bevölkerung beseelende Aufbruchsstimmung änderten daran nichts. Gerhard Leibholz, der Ursulas jüngere Schwester – Dietrichs Zwillingsschwester – geheiratet hatte, musste 1938 wegen seiner jüdischen Herkunft mit seiner Familie Deutschland verlassen. Klaus und Dietrich Bonhoeffer, Hans von Dohnanyi und eben auch Rüdiger Schleicher entschieden sich für die Opposition. Ich habe mich manchmal gefragt, ob mein Großvater in diesem Umfeld eigentlich die Wahl hatte, nicht in die Konspiration zu gehen. Als Nazi zumindest hätte er keinen Platz in dieser Familie gehabt.

Den Schleichers blieben zehn vergleichsweise friedliche Jahre, bis der Nationalsozialismus über sie hereinbrach. Vier Kinder kamen zur Welt. Es gab Feste im Freundes- und Familienkreis, gemeinsam verbrachten sie die Ferien in Schwaben oder im Bonhoefferschen Ferienhaus in Friedrichsbrunn. Meine Mutter, 1930 geboren, berichtet von einer wunderbaren Kindheit, die die Eltern offenbar auch noch in die Zeit der Diktatur hinüberretten konnten. Für sie und ihre Geschwister gehören zum Schatz ihrer frühen Erinnerungen unter anderem das gemeinsame Musizieren, das Lesen von Theaterstücken in verteilten Rollen, gemeinsame Besuche im Theater, Konzert und Museum, die Feste im großen Familien- und Freundeskreis.

Beruflich tat sich Rüdiger Schleicher längere Zeit schwer. Nach einer anregenden Station in der Deutsch-Amerikanischen Schiedskommission verbrachte er ein halbes, offenbar überaus langweiliges Jahr bei der Reichsbahn in Altona, um dann als Amtmann in die württembergische Verwaltung zurück nach Stuttgart zu gehen. Der Job war nicht wirklich aufregend, aber immerhin war er in Schwaben, seiner geliebten Heimat. Als sich 1927 die Möglichkeit ergab, als Regierungsrat wieder in die Luftfahrtabteilung des Reichsverkehrsministeriums zu wechseln, nahm er diese Chance dankbar an.

Sehr bald nach der Machtübertragung an die Nationalsozialisten wurde die Luftfahrtabteilung in das neu gegründete Reichsluftfahrtministerium überführt. Rüdiger, dessen staatsorientiertes, national-kommunitäres Ethos einen Wechsel in die Privatwirtschaft undenkbar erscheinen ließ – er hatte das gute Angebot einer Privatbank abgelehnt –, blieb im Amt. Um es bleiben zu können, trat er am 1. Mai 1933, dem letztmöglichen Termin vor einer mehrjährigen Aufnahmesperre, der NSDAP bei. Rüdiger muss dieser Schritt sehr schwergefallen sein. Offenbar ist er im Familienkreis eingehend erörtert worden. Besonders Klaus Bonhoeffer soll zugeraten haben. Im vollen Bewusstsein der Problematik sagte Schleicher später, er würde wieder so handeln, weil er dadurch manches Schlimme hätte verhindern können. Fast zwölf Jahre später, vor dem Volksgerichtshof, wurde der Eintritt als besonders gravierender, belastender Umstand bewertet. Er sei ein „ausgemachter Gesinnungslump“ hieß es da.

Mit dem Wechsel ins Reichsluftfahrtministerium begann eine Zeit der ständigen Gewissenskonflikte. Schleicher, im Herbst 1934 zum Ministerialrat befördert, leitete die Rechtsabteilung des Ministeriums. In seinen Veröffentlichungen, so etwa in dem von ihm verfassten Luftrechtskommentar (der übrigens bis heute weitergeführt wird), konzentrierte er sich fast ausschließlich auf das zivile Luftrecht. Zwei Jahre war er aber auch für die Luftwaffenjustiz verantwortlich. Eine Berufung an das Kriegsgericht lehnte er ab, weil er die Entwicklung in der Militärjustiz missbilligte. Im August 1939 wurde ihm die Leitung der Rechtsabteilung wieder abgenommen. Das Verhältnis zwischen Schleicher und Hermann Göring, dem für die Luftfahrt verantwortlichen Minister, war von Beginn an gespannt gewesen; von seinem Recht als Abteilungsleiter, persönlich beim Minister vorzutragen, machte Schleicher zum Beispiel nie Gebrauch. Offenbar hatte er allzu häufig rechtliche Bedenken gegen einzelne Gesetzentwürfe geäußert, um als politisch „zuverlässig“ zu gelten. Und außerdem – manche Quellen legen hiervon in bedrückender Weise Zeugnis ab – konnte er mit den Intrigen und Machtkämpfen im Ministerium nicht umgehen. Das wollte er einfach nicht: aus dem Hintergrund Strippen ziehen, Stimmung machen, sich selbst auf Kosten anderer positiv in Szene setzen. Bald wollte man ihn nicht länger haben. Er wurde abgeschoben – auf eine Honorarprofessur für Luftrecht an der Berliner Universität, wo er gleichzeitig die Leitung des Instituts für Luftrecht übernahm.

Die Situation muss ihn wahnsinnig bedrückt haben. Was für eine berufliche Perspektive konnte es für ihn in einem Staat geben, dessen Recht mehr und mehr unterhöhlt wurde? Rüdiger Schleichers Vorstellung vom Staat als Wahrer des Rechts und der Ethik hatte nichts mit der Realität des NS-Staates zu tun. Das war der Grund, warum er, der von seinem Charakter her für die Konspiration denkbar ungeeignet war – weil ihm das Verstellen schwer fiel, er nicht lügen konnte, ihm das Leben im „Graubereich“ kaum erträglich war – sich dem Widerstand öffnete. Aus eigener Anschauung, aber auch aus dem Familien- und Freundeskreis wusste er viel über den Nazi-Terror. Sehr genau hatte er die Judenverfolgung wahrgenommen. Zahlreiche jüdische Freunde, darunter auch sein Schwager Gerd Leibholz, hatten unter der Verfolgung zu leiden. Wo er es nur konnte, half er jüdischen Bekannten. Sein Schwager Hans von Dohnanyi, der schon früh mit der Sammlung von Dokumenten über NS-Verbrechen begonnen hatte, hielt ihn über die weniger sichtbaren Rechtsbrüche auf dem Laufenden.

Es war für Schleichers selbstverständlich, sich der Bekennenden Kirche anzuschließen, auch wenn ihnen hier einiges allzu orthodox vorkam. Die Familie ging „selbstverständlich“ nach Dahlem zum Gottesdienst, gerade auch 1938 in den Protestgottesdienst nach der Verhaftung des dortigen Pfarrers Martin Niemöller. Meine Mutter wurde hier konfirmiert.

Für die Opposition begann Rüdiger das zu tun, was er vielleicht am besten konnte: Menschen zusammenführen, kommunizieren. Im Schleicherschen oder dem benachbarten Elternhaus der Bonhoeffers, immer wieder auch in seinem Institut, das besonders verkehrsgünstig am Leipziger Platz in der Mitte Berlins gelegen war, fanden konspirative Meetings statt. Gemeinsam mit Klaus Bonhoeffer arrangierte er beispielsweise wiederholt Treffen mit Louis Ferdinand von Preußen, den man als einigendes Element nach einem Umsturz zu gewinnen hoffte, und unterschiedlichen Oppositionellen, unter ihnen Joseph Wirmer, Ewald Kleist-Schmenzin und Ulrich von Hassell. Im Institut führte er Adam von Trott zu Solz aus dem Auswärtigen Amt mit Friedrich Justus Perels, dem Justiziar der Bekennenden Kirche, Heeresrichter Sack und Klaus Bonhoeffer zusammen. Schleicher stand im Austausch mit Ernst von Harnack, der sich wiederum mit Carl Goerdeler, dem Gewerkschaftsführer Leuschner und dem ehemaligen SPD-Reichstagsabgeordneten Julius Leber traf. Er nahm jetzt alte Stuttgarter Kontakte wieder auf, unter anderem mit Eugen Bolz und Robert Bosch. Immer ging es darum, die personelle Basis für die Zeit nach einem Umsturz zu verbreitern. Er deckte konspirative Reisen seines Assistenten Hans John, der wiederum über seinen Bruder Otto John mit zahlreichen Verschwörern in Kontakt stand. Und nicht zuletzt half er Bedrängten und Verfolgten, wo er nur konnte.

Ich bin sicher: Er selbst hätte für diese Aktivitäten nicht das Wort „Widerstand“ gefunden. Der Begriff ist nicht nur viel zu pathetisch, er postrationalisiert auch seine Handlungen. Für ihn war es nichts Spektakuläres, was er tat. Es waren Selbstverständlichkeiten, „Konsequenzen des Anstands“ gewissermaßen. Er handelte nur deshalb so, weil Ursula ihn dabei stützte und unterstützte. Sie war in alles eingeweiht. Mit ihr besprach er die wichtigsten Fragen, die ihn umtrieben. Sie stellte ihr Haus für Besprechungen zur Verfügung, auch wenn ihr Mann im Dienst war. Wäre seine Frau dagegen gewesen, er hätte, da bin ich ganz sicher, alle oppositionellen Aktivitäten sofort eingestellt. Ursula war sich der Gefahren durchaus bewusst. Sie ermunterte ihn aber und hielt ihm den Rücken frei, wo immer sie es konnte. Auch in der Konspiration waren sie ganz aufeinander bezogen – so fremd ihnen alles Konspirative auch war.

Ursulas mitfühlende und zupackende Art kam jetzt verstärkt Verfolgten zu Gute. Sie half, wo immer sich Not zeigte. Sie stand den jüdischen Bekannten von Anna, der wunderbaren Haushaltshilfe über Jahrzehnte hinweg, bei. Sie beschäftigte mit dem Judenstern Gebrandmarkte in ihrem Haus und tat, was ihr möglich war, um Verfolgten das Leben zu erleichtern. Um ihnen zu zeigen, dass sie nicht von allen verstoßen und vergessen waren. Sie griff zu, als die jüdische Freundin einer Freundin Hals über Kopf den Weg in die kaum mehr zu verschleiernde Deportation vorbereiten musste.5

Und sie ließ sich auch in der Diktatur nicht den Mund verbieten. Gestützt auf ihre gute Menschenkenntnis, äußerte sie sich immer wieder erstaunlich offen über ihre Einstellung zum Regime. Überliefert wird in der Familie zum Beispiel, wie sie der Frau des Blockwarts antwortete als diese sich bei ihr beklagte, dass es ihrem siebenjährigem Sohn „wegen seines feinen rassischen Empfindens“ nicht zugemutet werden könne, zusammen mit einem kleinen jüdischen Mädchen in die Schule gebracht zu werden: Ursula empfahl, den empfindlichen Sohn doch lieber selbst zur Schule zu bringen.

Nach der Verhaftung Dietrich Bonhoeffers und Hans von Dohnanyis im März 1943 intensivierten sich Schleichers konspirative Aktivitäten. So war er jetzt in die Entwicklung von Plänen für die Aufrechterhaltung der zivilen Luftfahrt in der Zeit nach dem Staatsstreich eingebunden. Im Falle eines gelungenen Staatsstreichs hätte man ihn wohl mit der Neuordnung der zivilen Luftfahrt betraut. Als das Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 scheiterte und viele Freunde, Verwandte und Bekannte, die an den Umsturzversuchen in irgendeiner Form beteiligt waren, verhaftet wurden, war meinen Großeltern bewusst, dass Rüdiger in großer Gefahr war. Was hätte er tun sollen? Fliehen oder untertauchen und damit seine Frau und seine Kinder in Gefahr bringen? Das war für ihn völlig ausgeschlossen. Freitod, um im Falle der Verhaftung nicht dazu gezwungen zu werden, Aussagen zu machen, die die anderen Verschwörer belasten? Wie müssen meine Großeltern in dieser Zeit gerungen haben um den richtigen Weg. Aber auch die Gefahr hielt sie nicht davon ab, das für sie Selbstverständliche zu tun. Als Deta von Hase, die Witwe des wegen Beteiligung am Attentat hingerichteten Paul von Hase, gerade aus dem Gefängnis entlassen, mit ihren Kindern vor der Tür stand, weil ihr Haus beschlagnahmt war und alle sie ablehnten, war es für Schleichers klar, dass sie sie aufnehmen würden. Der jüngste Sohn Friedrich-Wilhelm von Hase kann sich noch erinnern, dass mein Großvater die Tür mit den Worten geöffnet habe: „Es ist mir eine Ehre.“

Am 4. Oktober 1944 wurde Rüdiger Schleicher dann selbst verhaftet. Aussagen und Aktenfunde nach dem Attentat des 20. Juli hatten die Gestapo auf ihn aufmerksam werden lassen. Es begannen quälende Wochen und Monate im Gefängnis Lehrter Straße. In den harten Verhören ist es ihm gelungen, viele seiner Verbindungen im Verborgenen zu halten. Seine ablehnende Haltung gegen das Regime begründete er laut den Kaltenbrunner-Berichten – das sind die Protokolle des SD aus den Verhören – damit, dass er sich „nicht mit den scharfen Entjudungen und den scharfen Maßnahmen gegen Staatsfeinde (Inschutzhaftnahme, Einweisung in Konzentrationslager) sowie dem Vorgehen gegen die Kirche befreunden“ konnte.