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Danksagung

Ich bedanke mich bei der Hrant Dink Stiftung für das Reisestipendium nach Eriwan während des Schreibprozesses für dieses Buch und beim Museum und Institut des armenischen Genozids in Eriwan für den herzlichen Empfang und die tatkräftige Unterstützung.

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Inhalt

Meliha

Istanbul?

Letzter Abend

Nach Jahren

Jacquelines neuester Coup

Eine Reise in die Vergangenheit

Landung

Vahans Geschichte

Weiterleben

Die Trauerfeier

Ach, mein Geliebter!

„Halte durch, mein Sohn!
Es werden auch wieder gute Zeiten kommen“

Der Speicher

Die Bücher meines Vaters

Was ist der Mensch schon anderes als seine Erinnerungen?

Das Eis in uns

Trennung

Wahrheit

Lüge

Unnötiges

Das Foto

Zärtlichkeit

Belma

15. Juli 1983

Die Vergangenheit vergessen

Der Geruch

Das Haus

Erinnerungen

Die, die geblieben sind

Helligkeit

Sorgen

Ein Funke fällt

Nachrichten

Ein Mietshaus in Şişli

Ein Waisenkind

Die Geschichte

Die Stiftung

Das Haus

Eriwan

Das Archiv

Das Institut

Das Tagebuch

Das erste Heft

April

Nacht

Tag

Die Prophezeiung

Unterirdisch

Das zweite Heft

Namen

Orhan

Auswärtiger Dienst

Der Traum

Mündliche Prüfung

Jahre

Später

Schluss

Meliha

Glossar

Meliha

Dass Meliha Saraçoğlu tot war, bemerkten ihre Nachbarn einen Tag darauf. Seit ihr Mann Hamit Bey, Oberstleutnant a. D., pensionierter Bankdirektor und Veteran des Befreiungskrieges, vor zehn Jahren nach einem Herzinfarkt verschieden war, hatte Meliha Hanım allein gelebt. Als sie starb, war sie 79 Jahre alt. Sie hatte keine nahen Angehörigen, und falls doch, so waren diese niemals zu Besuch gekommen. Beigesetzt wurde sie von ihrer Gemeinde an einem regnerischen Tag nach dem Freitagsgebet. Es wurden Fürbitten gesprochen, man ging stumm zum Friedhof, und danach geriet Meliha Hanım wie alle Verstorbenen allmählich in Vergessenheit. Ihr Gesicht schwand aus dem Gedächtnis der Leute, so wie ihre Stimme es längst getan hatte.

Als Meliha Saraçoğlu starb, war ich noch ein Kind. Erst Jahre später, als ich ihre schwarz-weißen Jugendfotos betrachtete, fiel mir auf, wie sehr wir einander ähnelten, und ich wurde von einer eigentümlichen Freude ergriffen. Dabei hatte Meliha Hanım gewiss kein erfreuliches Leben gehabt. Sonst hätte sie sich wohl kaum im Alter von 79 Jahren in ihrem Haus in Şişli, wo sie seit Jahren allein gelebt hatte, erhängt, und noch dazu ganz ohne Abschiedsbrief.

Von Meliha Saraçoğlus Leben und von ihrem Tod erfuhr ich an ein und demselben Tag. Wie auch von einigen anderen Dingen, die ich bis dahin noch nicht gewusst hatte.

Istanbul?

„Warum ich?“, fragte ich. Eigentlich kannte ich die Antwort bereits: Was passiert war, war in Istanbul passiert, und bei der Pariser Zeitschrift, bei der ich während meines Studiums hospitiert hatte und wo ich inzwischen zur Korrespondentin befördert worden war, war ich die Einzige, die Türkisch konnte. Außerdem hieß ich Derin, war also für die anderen naturgemäß immer noch mehr Türkin als Französin.

Insgeheim aber ärgerte es mich, dass ein Ort, an den ich seit Jahren keinen Fuß mehr gesetzt hatte, nach wie vor als meine „Heimat“ angesehen wurde. Außerdem hatte ich von dem Journalisten, der dort ermordet worden war, nie zuvor gehört. Ich kannte überhaupt nur eine Handvoll Armenier, und das waren alles berufliche Kontakte aus Paris. Mit einem hatte ich ein Interview über sein neues Album geführt; er konnte sich partout meinen Namen nicht merken, aber dazu war er natürlich auch viel zu berühmt. Immerhin hatte er an meiner Hautfarbe und meinen schwarzen Locken erkannt, dass ich keine typische Französin war, und mich gefragt, ob ich Maghrebinerin sei. Als ich mit einem schlichten „Nein“ antwortete, ließ er das Thema auf sich beruhen. Ein anderer war ein recht gutaussehender, sehr von sich eingenommener junger Mann gewesen, der damals gerade für den Bürgermeisterposten eines Pariser Vororts kandidierte. Ich hatte ihn auf einer Konferenz kennengelernt und gleich wieder vergessen. Als er dann seine Wahlkampagne startete, warf unsere Redakteurin die Idee in den Raum, eine Titelstory daraus zu machen, und eine Stimme von der anderen Seite des Tisches sagte: „Derin kennt ihn schon, sie waren beide beim Mittelmeerforum in Marseille.“ Das kam natürlich von Emmanuelle, die zwar ständig ihre Haarfarbe, ihren Kleidungsstil, ihre Freunde und ihre Interessen wechselte, ihre Taktlosigkeit aber konsequent beibehielt und dafür jetzt wütend von mir angefunkelt wurde. Sie war neu im Team, hatte nach ihrem Uni Abschluss erst ein Verlagspraktikum absolviert und war dann zur Selbstfindung in eine der französischen Überseekolonien gegangen. Nachdem sie wieder zurückgekehrt war, hatte ihre Mutter, die überall ihre Finger im Spiel hatte, ihr die Stelle bei uns besorgt.

Während mir das alles durch den Kopf schoss, überlegte ich, wie ich den Trip nach Istanbul auf jemand anderen abwälzen könnte. Plötzlich bei einer Beerdigung aufzukreuzen, wo ich doch meine Beziehungen zu Armeniern auf ein Mindestmaß zu beschränken versuchte, und dazu auch noch in eine Stadt zu reisen, mit der mich nichts verband, außer ein paar Leuten, die Kinderfotos auf Facebook stellten und mich darin markierten, obwohl ich sie seit Jahren nicht mehr gesehen hatte und mich nur noch schemenhaft an sie erinnerte – das war so ziemlich das Letzte, was ich wollte. „Warum ich?“, fragte ich also, was eine verkürzte Version von dem war, was ich eigentlich gern gefragt hätte, nämlich: „Mein Gott, wieso halst ihr mir das auf? Bin ich hier die Armenologin vom Dienst, oder was?“

„Weil du die Einzige bist, die Türkisch kann“, platzte es wie üblich aus Emmanuelle heraus. Während unsere Redakteurin eine huldvoll kreisende Bewegung mit der Hand vollführte, die wohl bedeuten sollte: „Bitte, da hast du deine Antwort“, ging mir bloß das türkische Wort für „Plappermaul“ durch den Kopf: Zevzek!

Letzter Abend

Während ich meine Sachen packte, überhäufte mich meine Mutter mit guten Ratschlägen, was ich in Istanbul tun solle und was nicht. Unvorbereitet, wie ich war, würde ich morgen früh an einen Ort fliegen, der mir völlig fremd geworden war, auch wenn dort immer noch mein Vater begraben lag. Worin vielleicht der einzige Reiz an meinem Flug nach Istanbul lag: Zum ersten Mal würde ich sein Grab besuchen. Es war, als könnte ich nach Jahren wieder zu dem Moment zurückkehren, in dem er uns verlassen hatte, als könnte ich ihn umarmen, mit ihm sprechen, wieder sein kleines Mädchen sein.

Denn Töchter, die ihren Vätern begegnen, werden wieder zu kleinen Mädchen, egal, wie alt sie sind; bei der Beerdigung meines Vaters hatte ich beobachtet, wie meine Mutter meinem Großvater um den Hals gefallen war, wie erleichtert sie dabei wirkte und wie sie an seiner Schulter zu schrumpfen schien, ganz so, als hätte sie nie geheiratet, wäre nie ausgezogen, hätte nie Kinder bekommen. Das war das lebendigste Bild, das mir von damals in Erinnerung geblieben war. Ich musste daran denken, dass ich nie wieder einen Augenblick wie diesen erleben würde, in dem ich mich so geborgen und so sicher fühlen konnte.

„Vergiss nicht, deinen Kopf zu bedecken, wenn du auf den Friedhof gehst“, sagte meine Mutter, während ich mir überlegte, welche klimatischen Bedingungen wohl in Istanbul herrschen mochten. Den Telefonhörer am Ohr, lief ich durch die Zimmer meiner Wohnung und suchte meine Sachen zusammen. „Wird gemacht“, sagte ich. „Ich habe ja noch den roten Schal, den du mir geschenkt hast.“

„Wie wäre es mit dem passenden Lippenstift dazu?“, erregte sie sich. „Damit auch jeder sieht, dass du was zu feiern hast? Ich glaube, du hast sie nicht mehr alle. Man geht doch nicht mit einem rosaroten Kopftuch auf den Friedhof! Such dir ein dunkles, dezentes heraus. Zur Not kaufst du dir eins am Flughafen. Takel dich bloß nicht zu sehr auf. Und pass auf, dass man deine Tätowierung nicht sieht.“

„Ich fliege doch nicht nach Teheran, Mama! Und ich habe bestimmt nicht vor, in Istanbul einen Tschador zu tragen.“ Das Thema Tätowierung überging ich geflissentlich. Meine Mutter brauchte nicht zu wissen, dass sich inzwischen zu dem einen Tattoo sechs weitere hinzugesellt hatten, alle größer als das erste. Dieses Geheimnis war bis jetzt nicht einmal Emmanuelles Geschwätzigkeit zum Opfer gefallen. Meine Mutter hatte nämlich bereits beim Anblick meines ersten Tattoos so heftig reagiert, dass wohl selbst Emanuelle sich nicht getraut hatte, ihr die weitere Entwicklung zu schildern. Obwohl das erste noch ganz klein gewesen war. Ein Datum auf der Innenseite meines Arms: 15. 07. 1983.

Nach Jahren

„Und bleib ganz ruhig bei der Beerdigung. Nimm am besten ein Beruhigungsmittel mit.“ Ich hörte, wie meine Mutter am anderen Ende der Leitung innehielt und tief einatmete. „Jeder trauert auf seine Weise, mein Kind“, sagte sie dann und wollte gerade etwas hinzufügen, als es an meiner Tür klingelte. Wer konnte das sein, um diese Uhrzeit? Immerhin war damit der Redefluss meiner Mutter unterbrochen. Ehe ich auflegen und das Paar Stiefel, das ich in der Hand hielt, im Koffer verstauen konnte, klingelte es noch zweimal. Ich ging hin und fragte laut: „Wer ist da?“

„Ich“, kam es zurück. Ich traute meinen Ohren nicht. Es war Emmanuelle!

Als ich die Tür öffnete, stand mir Emmanuelle gegenüber, wie ich sie kannte. Nervös von einem Fuß auf den anderen tretend, die blondierten Haare, die allmählich wieder rauswuchsen, leicht zerzaust, blickte sie mir unsicher in die Augen. Auf ihrem dunkelblauen Trenchcoat lagen Schneeflocken, die noch keine Zeit gehabt hatten, zu schmelzen. Ich schien ein großes Fragezeichen im Gesicht zu haben, jedenfalls setzte sie, noch etwas außer Atem, zu einer Erklärung an. Sie wäre eigentlich gar nicht gekommen, wenn ihre Mutter nicht darauf bestanden hätte. Es sei natürlich nicht so, dass sie nicht gewollt hätte, sie habe sogar sehr gewollt, habe aber befürchtet, dass ich es nicht wolle.

„Na, immerhin hast du in all den Jahren, in denen wir uns aus dem Weg gegangen sind, damit angefangen, erst zu denken und dann zu handeln“, sagte ich.

Sie hätte es eben, fuhr sie fort, einfach nicht ausgehalten, mich vor meiner Abreise nicht noch einmal zu sehen. Außerdem habe sie ein schlechtes Gewissen. Sie habe das Gefühl, als wäre ihr loses Mundwerk schuld daran, dass diese Aufgabe an mir hängen geblieben sei. Dabei wisse sie doch, wie heikel die ganze Sache für mich sei. Bei diesen Worten senkte sie schuldbewusst ein wenig den Kopf.

„Woher hast du meine Adresse?“, fragte ich, vielleicht etwas zu schroff.

„Von Marie Caroline“, sagte sie.

Von unserer Redakteurin also, die sich allerdings niemals in das Privatleben ihrer Mitarbeiter einmischte und auch denen, die ihr davon erzählen wollten, selten Gehör schenkte.

„Sie war eine Kommilitonin meiner Mutter.“ Emmanuelle kicherte leise. „Das ist bei denen ein bisschen wie bei uns: Wenn meine Mutter nur hartnäckig genug ist, dann …“

Während dieses Gesprächs zwischen Tür und Angel öffnete sich plötzlich die Wohnungstür meiner Nachbarin Anne Charlotte, einer mürrischen, einsamen alten Frau, die uns gebot, gefälligst etwas leiser zu sein. Was Emmanuelle offenbar als willkommene Gelegenheit auffasste, um bei mir einzutreten.

„Lass uns noch ein letztes Glas zusammen trinken gehen“, schlug sie vor. Ich lehnte dankend ab, sagte, dass ich noch zu viel zu tun habe und morgen in aller Frühe zum Flughafen müsse. Gleichzeitig freute ich mich, dass sie mich anscheinend noch immer mochte, und merkte, dass ich ihr chaotisches Wesen und ihre Verlegenheit mir gegenüber vermisst hatte.

Sie schaute mich eine Weile an, dann sagte sie: „Weißt du, was? Meine Mutter hat Marie Caroline von sich aus nach deiner Adresse gefragt. Sie will dich nämlich auch noch mal sehen. Und wenn wir jetzt nicht gehen, dann kommt sie hierher, das kannst du dir ja vorstellen. Ob du sie dann allerdings vor dem Morgengrauen wieder loswirst, sei dahingestellt.“

Während sie das sagte, begann sie zu kichern. Im Grunde genommen hatte ich gar nichts dagegen, auszugehen und mich etwas abzulenken. Außerdem war jetzt, wo Emmanuelle und ich den gleichen Arbeitgeber hatten, vielleicht die Zeit gekommen, das Eis zwischen uns zu brechen. Vielleicht könnte ich auch, wenn ich mir die neuesten Eskapaden ihrer Mutter anhörte, meine eigenen Sorgen ein wenig vergessen. Und weil ich nicht einmal den ersten Schritt hatte machen müssen, sagte ich zu, ohne mich länger zu zieren.

Jacquelines neuester Coup

Tief in unsere dicken Mäntel gehüllt, machten wir uns durch die eiskalte Pariser Nacht auf den Weg nach Saint-Germain. Wir waren gerade im Restaurant angekommen und schüttelten die Schneeflocken von uns ab, als uns die gut gelaunte, kristallklare Stimme von Emmanuelles Mutter Jacqueline an die Ohren drang: „Les voilà!“

Beim Näherkommen bemerkte ich einen Herrn, ein gutes Stück älter als sie, der ihr am Tisch gegenübersaß. Wahrscheinlich ihr neuer Verehrer, dachte ich. Jacqueline pflegte nie jemanden aufgrund seines Alters, sondern allenfalls aufgrund seines sozialen Status zu diskriminieren. Der Mann trug einen dunklen Anzug, hatte helle Haut und hielt sich auffällig gerade. Er schien damit der Klasse zu entsprechen, der sich auch Jacqueline zugehörig fühlte. Als wir vor dem Tisch standen, erhob sich Jacqueline und begrüßte mich mit zwei dicken Schmatzern auf die Wangen. Anschließend versuchte sie ungeschickt, die Spuren wegzuwischen, die ihr Lippenstift hinterlassen hatte, wies mir einen Platz an der Wandseite des für vier Personen ausgelegten Separees zu und setzte sich neben mich. Ihr Seidenschal, ihre lange Perlenkette, ihr üppiges Dekolleté – sie schien sich in keiner Weise verändert zu haben. Bloß ein wenig zugenommen hatte sie, aber das konnte nur eine Frau erkennen, denn durch die Wahl ihrer Kleidung war es ihr meisterhaft gelungen, die zusätzlichen Pfunde zu kaschieren.