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Über das Buch

Von Liebeskummer geplagt stürzt sich die 14-jährige Amy voller Elan in die Projektwochen an ihrer Schule. Dort laufen die Proben zum Krimitheaterstück »Mord in der Bibliothek« auf Hochtouren und Amy ergattert noch den begehrten Posten der Regieassistentin. Spotlight, der Mörder betritt die Bühne und zielt. Ein Schuss, eine lebensechte Todesszene. Zu lebensecht. Denn wer platzierte eine echte Waffe auf der Bühne? Und warum? Ohne es zu wollen, steckt Amy plötzlich wieder bis über beide Ohren in Mordermittlungen. Und ganz Ashford-on-Sea ist in heller Aufregung …

Der 2. Fall für Amy und Tante Clarissa

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Wer ist wer

Einwohner von Ashford-on-Sea

Amy Fern, Vollwaise, Großnichte von Clarissa Fern, nicht ganz freiwillige Hobbydetektivin

Clarissa Fern, Amys Vormund, ehemalige Direktorin der Ashford Primary School, Besitzerin des Little Treasures und passionierte Hobbydetektivin

Willow Harris, Amys beste Freundin, bekennender Süßigkeitenjunkie und Fashion Victim

Dr. July Harris, Hausärztin, Willows Stiefmutter

Dr. Robert Harris, Tierarzt, in zweiter Ehe mit Dr. July Harris verheiratet, Willows Vater

Nicolas Pears, Besitzer des Smuggler’s Rest, Finns Vater

Meghan Pears, führt mit ihrem Mann Nicolas das Smuggler’s Rest, Finns Mutter

Finn Pears, Amys große Ex-Liebe, aufgrund seiner außerordentlichen Begabung studiert er seit dem Sommer in London Klavier

Matthew Campbell, Vikar, Ehemann von Sophie

Andrew Cox, Ex-Banker, Mitbesitzer des Little Treasures

Sergeant Oliver Oaks, der etwas schusselige Dorfpolizist … und natürlich

Percy, Amys treuer Irish Terrier

Der Ashford-Crime-and-Murder-Club

… besteht neben Tante Clarissa und Amy (Neumitglied) aus:

Lydia Scott, Besitzerin des lokalen Tante-Emma-Ladens

Calinda Bennett, Friseurin

Dorothy Pax, beste Freundin von Tante Clarissa, ehemalige Kunstlehrerin, Malerin und total hundeverrückt

Sophie Campbell, Frau des Vikars

Meredith Dickinson, Buchhändlerin

Ermittler von Scotland Yard

Philipp Elliott, Inspektor

Bilton Boarding School

kleines, schnuckliges Internat in der Nähe von Ashford-on-Sea

Richard Plunkett, Direktor

Poppy Pankhurst, geht mit Amy und Willow in eine Klasse

Virginia Pankhurst, Poppys ältere Schwester

Lucinda, Poppys beste Freundin

Damian, besucht eine höhere Jahrgangsstufe

Keira, geht in die zehnte Klasse

Anthony, besucht die elfte Klasse

Julian Rush, Angus, Greg und Zoe, Mitschüler

Ehemalige Schüler der Bilton Boarding School

Maud Wilkins, bekannte Regisseurin

Olivia Hartcastle, berühmte Krimiautorin

Luke Portland, Abgeordneter des Unterhauses

Betty O’Donald, Richterin am Jugendgericht

Neal Hillmann, Spieleentwickler

Reginald Travers, Finanzmanager

Inhalt

Kapitel 0

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

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Im Theatersaal der Bilton Boarding School herrschte fast absolute Dunkelheit. Nur auf der Bühne brannte eine altmodische Stehlampe. Sie warf ihr Unheil verkündendes Licht auf den Kamin, das Ölgemälde darüber und den leicht schräg vor dem Kamin angeordneten Ohrensessel. Dem aufmerksamen Beobachter entgingen natürlich die übereinandergeschlagenen Beine nicht, die aus dem Sessel hervorragten.

Alles war bereit für die Mordszene in Olivia Hartcastles Theaterstück Mord in der Bibliothek. Genauso wie es das Skript in den Händen meiner im Notfall soufflierenden Freundin Willow vorsah, huschte ein gebückter Schatten auf den Kaminsims zu und öffnete die längliche Schatulle, um ihr das Testament von Lord Willsborough zu entnehmen. Scheinbar unbemerkt, schob sich ein Pistolenlauf hinter der Rückenlehne des Sessels hervor, dann eine Hand, die zu einem Arm wurde, und schließlich die ganze Silhouette des Mörders. Seine Stimme triefte vor Verachtung, als er langsam auf sein Opfer zuschritt und skriptgemäß flüsterte: »Hast du wirklich gedacht, du könntest damit einfach so davonkommen? Danke, dass du es mir so leicht machst!«

Ein Schuss zerriss die atemlose Stille. Ein, vielleicht zwei Sekunden vergingen. Das Opfer schwankte leicht, bevor es sich an die Brust griff. Es sackte auf die Knie und japste nach Luft. Theaterblut quoll zwischen den zusammengekrallten Fingern hervor. Die Augen des Opfers richteten sich auf den Schützen. Das perfekte Mienenspiel wechselte von fragend-erstaunt zu blankem Entsetzen. Ein tastender Griff nach der Kaminwand verfehlte sein Ziel. Das Opfer verdrehte die Augen und fiel auf die Bühne, wo es mit dem Gesicht nach unten regungslos liegen blieb.

Diesmal gab es aber wirklich nichts an der Darbietung zu meckern, fand ich. Doch der markerschütternde Schrei belehrte mich eines Besseren.

Denn der stand nicht im Skript!

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Mal ehrlich! Ich hätte es nicht im Traum für möglich gehalten, dass mich das neue Schuljahr gleich mit vollem Karacho in den nächsten Mordfall katapultieren würde. Wie hätte ich auch? Wo mir doch der Mord an meiner Klavierlehrerin und alles, was danach kam, immer noch tief in den Knochen steckte. Angefangen hatte das Schuljahr sehr verheißungsvoll, nämlich mit dem Auftauchen von Willow. Sie war neu an der Bilton Boarding School und in meiner Klasse. Wie ich war sie eine externe Schülerin aus Ashford-on-Sea, und das, obwohl sie mir noch nie zuvor im Dorf begegnet war.

»Wie das sein kann?«, schmatzte sie zwischen den Bissen, mit denen sie einen Heidelbeermuffin genüsslich verputzte. »Ganz einfach. Scheidungskind, das hauptsächlich bei seiner Mutter in London lebt, wenn es nicht gerade im Internat in Schottland weilt. Mutter Museumskuratorin, die schrecklich viel zu tun hat und meistens auf der Jagd nach Kunstwerken durch die Weltgeschichte jettet. Vater bodenständiger Tierarzt, der sich nach langen Jahren allein in eine Hausärztin aus Ashford verliebt und diese vom Fleck weg heiratet. Das Ergebnis: eine Tierarztpraxis für Ashford, …« (Anmerkung von mir: dass wir seit Neuestem über einen eigenen Tierarzt verfügten, hatte der Dorfklatsch natürlich schon verkündet und ich fand das super, denn bisher hatte Tante Clarissa meinen Irish Terrier Percy und mich immer über die Küstenstraße zu dem alten, brummigen Tierarzt nach St Austell fahren müssen) »… eine voll nette Stiefmutter, ein neues Zuhause und hoffentlich eine neue Freundin, mit einer großen Leidenschaft fürs Backen. ICH habe dich nämlich schon mal gesehen, auch wenn du mich nicht bemerkt hast. Dazu warst du viel zu sehr mit deinem Wutanfall über das bockige Internet beschäftigt. Das war kurz vor den Sommerferien, als ich für ein Wochenende zu Besuch hier war, um mir mein zukünftiges Zuhause anzusehen. Mein Pa hat mich ins Little Treasures geschleift, so heißt doch euer Tearoom, nicht wahr? Dort habe ich die Zitronentarte gekostet. Ein wundervolles Zusammenspiel zwischen süß-sauer und erfrischend. Da hätte ich mich glatt reinsetzen können! Ein Traum von einem Sommerkuchen!« Muffinkrümel blitzten zwischen Willows Zähnen auf, als sie mich mit glitzernden Augen angrinste. »Ich gestehe es besser gleich: Ich bin ein totaler Süßigkeitenjunkie mit Vorliebe für Liebesromane und ein Fashion Victim bin ich noch dazu!«

Ab dem Tag waren wir unzertrennlich. Die unrühmliche Rolle, die meine Schokomousse-Erdbeer-Torte in dem ersten Mordfall gespielt hatte, den Ashford-on-Sea seit über achtzig Jahren gesehen hatte, war Willow natürlich bekannt. Aber von meinem Finn wusste sie nichts. Genauer gesagt: von Finn und mir. Finn Pears und Amy Fern. Als leidenschaftliche Liebesromanleserin lauschte sie mit großen Ohren und glühenden Wangen, als ich ihr davon erzählte, dass die gute Seite an der ganzen schrecklichen Sache die war, dass Finn und ich jetzt zusammen waren. Nachdem ich ihr dann aber ausführte, dass Finn seit dem Sommer in London lebte, um dort Musik zu studieren, verdüsterten Unheil verkündende Wolken ihr Gesicht.

Tja, sie hat es eben gleich geahnt und auch gesagt, dass Liebe auf Entfernung in unserem Alter nicht halten kann. Hat sie auch nicht. Leider! Nach vier Wochen – nach nur vier Wochen! – hat Finn mir erklärt, dass er nicht so häufig nach Hause kommen kann, weil er sich ganz auf sein Studium konzentrieren muss, und dass er fair sein will und sich deswegen von mir trennt.

Wie konnte er mir so was antun? Die Tränen standen ihm in den Augen, als er mir sagte, dass er diese Entscheidung aus Liebe trifft. Aber wenn man jemanden liebt, dann tut man ihm doch nicht weh!! Ich liebe ihn und deshalb wäre es mir gleichgültig gewesen, wie häufig wir uns gesehen hätten. Hauptsache, wir wären zusammen gewesen. Schöne Liebe!

Bitte, dann soll er doch in London bleiben und sich die Finger wundspielen!

Willow hat mich in den Arm genommen und gesagt, der erste Liebeskummer sei der schlimmste. Ich hoffte sehr, dass sie recht damit behält. Ansonsten müsste ich nämlich alles tun, um mich niemals, absolut niemals wieder zu verlieben. Denn mein kleines Herz schreit mit jedem Schlag verzweifelt nach Finn, der nicht kommt, um es zu trösten, und das tut schrecklich weh.

Vor drei Wochen bin ich vierzehn geworden. Endlich. Feiern wollte ich aber nicht. Ohne Finn gab es für mich keinen Grund zu feiern. Nie wieder!

Wie gut, dass ich Percy hatte. Der war immer für mich da, hörte sich mit großen, treuen Hundeaugen mein Gejammer an, legte seine Pfote auf meinen Schoß und schleckte mir die Tränen vom Gesicht. In Hundesprache hieß das: »Ich hab dich lieb! Ganz schrecklich lieb! Und dieser Finn ist ein ausgemachter Idiot!« Percy würde mich niemals verlassen oder mir wehtun. Niemals!

Aber Finn war einfach … ach … Finn war perfekt.

Verdammt! Ich musste aufhören, so etwas zu denken, und mich ablenken. Genauso, wie es mir auch Tante Clarissa geraten hatte.

Zum Glück stand die Ehemaligenwoche unmittelbar bevor, sodass ich etwas hatte, in das ich mich voll reinstürzen konnte, um meine zerschmetterte große Liebe zu vergessen.

»Natürlich hast du keine Ahnung davon, wie sen-sa-tio-nell die Ehemaligenwoche immer ist, Willow. Wie man hört, kommst du ja von so einem Internat mit Massenbetrieb. Da gab es so ein klei-nes, aber fei-nes Event bestimmt nicht. Und ich kann dir versprechen, dieses Jahr wird voll meeee-ga!«, hatte Poppy Pankhurst Willow gleich an ihrem ersten Tag auf der Bilton erklärt. Und da war schon der Beweis, dass Willow und ich zu Seelenverwandten bestimmt waren. Denn eins war für uns beide klar wie Kloßbrühe: Selbst wenn Poppy Pankhurst das einzige Mädchen in unserer Klasse gewesen wäre, niemals käme sie als Freundin infrage! Hielt Poppy das eigentlich für besonders cool, wenn sie mit gespreizten Fingern die Worte in ihre Bestandteile zerpflückte? Poppy war schön wie ein Filmstar und genauso führte sie sich auch auf. Wie in einer Haarshampoo-Werbung schleuderte sie ihre langen schwarzen Pferdehaare in einer gekonnten Bewegung über die Schulter, bevor sie ihre großen Scheinwerferaugen auf mich richtete und kicherte: »Wenn unsere Amy hier weiter so im Dreck anderer Leute wühlt wie die Trüf-fel-schwei-ne, dann wird sie noch zu einer richtigen Be-rühmt-heit werden und wer weiß … vielleicht wird sie dann auch eines Tages bei einer Ehemaligenwoche ihre tri-um-pha-le Rück-kehr an die Bilton feiern und als le-ben-dig gewordene Miss Marple ihren Ruhm genießen. Darauf wetten würde ich allerdings nicht! Schließlich findet ein blindes Huhn sel-ten mehrmals ein Korn.«

Das war wieder mal so typisch Poppy! Als Tante Clarissa und ich anfingen, im Fall Rubinia Redcliff zu ermitteln, war das von meiner Seite aus alles andere als freiwillig und mir ging es bestimmt nicht um Ruhm. Ganz im Gegenteil! Ich hätte alles dafür gegeben, hätte ich mich da fein raushalten können. Es gab aber nun mal Gründe, hauptsächlich einen namens Finn. Seinetwegen habe ich mich da eingemischt und nicht, weil ich zur Dorfberühmtheit von Ashford-on-Sea aufsteigen wollte. Doch genau das war passiert.

Okay, ich würde lügen, würde ich behaupten, dass ich nicht stolz bin und dass ich es mittlerweile nicht cool finde, wenn die Leute mich für eine jugendliche Version von Miss Marple halten. (Oh Gott, ich bin doch wohl keine Schrulle, oder? Das muss ich Willow fragen!) Aber ich brauche das nicht. Ganz im Gegensatz zu Poppy, die gerne im Rampenlicht steht. Hübsch und wahnsinnig gut in der Schule, wie sie ist. All das bin ich leider so gar nicht. Trotzdem hat sie mich als Konkurrenz eingestuft und weil die Detektivarbeit das einzige Feld ist, auf dem sie mich nicht schlagen kann, hat sie beschlossen, wo sie es nur kann, sich darüber lustig zu machen. Und Willow fällt für Poppy ganz offensichtlich unter die Kategorie Sippenhaftung.

Aber nicht nur Poppy fieberte der Ehemaligenwoche entgegen, die ganze Schule war erfüllt von einer flirrenden Aufregung wie die Luft über schwarzem Asphalt im Hochsommer. Und das lag an den Ehemaligen, die dieses Jahr die Schule besuchen würden, um uns von ihrer Arbeit zu erzählen, Vorträge zu halten oder Workshops zu veranstalten. Einer von ihnen war Luke Portland, ein superbekannter Abgeordneter des Unterhauses, dem man große Chancen auf das Amt des Umweltministers voraussagte. Zumindest behauptete Tante Clarissa das.

Die Jungs waren alle total scharf auf die Vorträge von Reginald Travers. »Der Typ ist Finanzberater und hat Millionen mit Aktiengeschäften gemacht. Nicht nur für seine Kunden, sondern auch für sich«, erklärte mir Julian Rush aus unserer Klasse mit tellergroßen Augen. »Mann, wenn ich von dem lernen könnte, wie das geht …!«

Aber das absolute Highlight waren die berühmte Krimiautorin Olivia Hartcastle und ihre Freundin und Regisseurin Maud Wilkins und das Theaterstück, das sie mit einigen Schülern einstudieren würden. Seitdem Tante Clarissa davon wusste, hatte sie vor Aufregung kein Auge mehr zugetan. Olivia Hartcastle kam bei ihr gleich hinter Agatha Christie und P. D. James. Jeden Tag seufzte sie mindestens einmal sehnsüchtig in meine Richtung: »Wie ich dich beneide!«

Das rief sie mir auch an diesem Donnerstagmorgen hinterher, als ich mich auf mein Rad schwang, um Willow zu treffen und mit ihr zur Schule zu fahren.

»Heute Abend erzähle ich dir alles, Tante Clarissa. Haarklein! Versprochen!«, rief ich zurück, bevor ich mit Percy im Fahrradkorb um die Ecke von Meredith Dickinsons Buchhandlung flitzte. Natürlich war das Mitbringen von Tieren an der Bilton normalerweise strengstens verboten. Doch weil Percy die Rolle des Detektivspürhundes übernehmen würde, chauffierte ich ihn, während sich seine Ohren im Fahrwind aufrichteten, zu seinem ersten Engagement.

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Obwohl Willow, Percy und ich pünktlich in den Theatersaal der Schule trudelten, waren die ersten Reihen schon voll besetzt und die anderen füllten sich schnell. Wie nicht anders zu erwarten gewesen war, hatten sich Poppy und ihre nervige, ältere Schwester Virginia die besten Plätze in der ersten Reihe gesichert.

»Hey, weitergehen!«, beschwerte sich ein Mädchen hinter mir, um mich dann einfach zur Seite zu schieben. Sie konnte nicht anders, denn von hinten quetschte sich ein nicht enden wollender Strom von Schülerinnen und Schülern durch die offen stehende Flügeltür.

»Los, komm, wir hocken uns schnell hier hin, bevor alles besetzt ist!« Willow zeigte auf zwei freie Plätze in der Mitte des Saals.

»Die können doch unmöglich alle bei dem Theaterstück mitmachen«, wunderte ich mich, während ich auf den mit rotem Samt bezogenen Klappsitz neben Willow glitt. Percy kroch anstandslos darunter und rollte sich zusammen, um noch ein Ründchen zu schlafen.

»Nö, aber die sind alle neugierig«, brummelte Willow und tauchte zu ihrem Rucksack ab. Aus der Flut ihrer braunen Lockenpracht drang ein gedämpftes: »Wo ist denn nur der Müsliriegel? Ich habe ihn doch eingepackt!«

Manchmal kommt Willow mir vor wie die Hobbits mit ihren fünftausend Mahlzeiten am Tag. Willow muss genauso häufig essen und am besten immer was Süßes. Ob Kuchen, Törtchen, Pralinen, Kekse, Müsliriegel oder dampfender Kakao. Manchmal behauptet Willow lachend, dass sie nur wegen des Little Treasures mit mir befreundet sei. Wie schon erwähnt, ist das Little Treasures Tante Clarissas kleiner Tearoom, in dem es auch meine Kuchen- und Tortenkreationen zu kaufen gibt, und natürlich bekommt Willow bei uns einen Freundschaftsrabatt von hundert Prozent. Aber auch wenn Willow jedes Kuchenstück bezahlen müsste, sie würde uns treu bleiben. Denn – und das soll jetzt nicht unbescheiden klingen – unsere Törtchen und Kuchen sind so yummy, dass sie locker mit den Edeltearooms in London mithalten könnten.

»Auch mal abbeißen?« Willow pustete sich eine gelockte Haarsträhne aus dem Gesicht und hielt mir den Müsliriegel mit der dicken Schokoladenschicht unter die Nase.

»Nee, danke«, schüttelte ich den Kopf. »Wie kannst du um diese Uhrzeit schon was Süßes essen?« Dass ich mich darüber noch wunderte!

Willow zuckte mit den Schultern, biss herzhaft in den Müsliriegel und zitierte glückselig: »Chocolate doesn’t ask silly questions. Chocolate understands!«

Plötzlich brummte es aus meiner Manteltasche. Schnell zog ich mein Handy hervor.

»Finn?«, schmatzte Willow mit einem blitzschnellen Blick auf mein Display. »Ich fass es nicht! Hast du den Idioten nicht blockiert?« Kurz entschlossen nahm Willow mir das Handy aus der Hand und drückte den Anruf einfach weg. »So, erledigt! Was denkt der eigentlich, wer er ist? Erst bricht er dir das Herz und dann ruft er auch noch mitten in der Unterrichtszeit an? Pffft!«

Mein Herz schlug mir bis zum Hals, als ich das Telefon zurücknahm und wieder in meine Tasche schob. Ich hätte ja schon gerne gewusst, was er gewollt hatte.

»Lass das!«, zischelte Willow mir von der Seite zu.

»Was denn?«, schnauzte ich ertappt zurück.

»Na, diesen verklärt sehnsuchtsvollen Ich-werde-ihn-für-immer-lieben-Blick! Du musst ihn vergessen, auch wenn es schwerfällt.« Aufmunternd stupste sie mich in die Seite. »Hey, auch andere Mütter haben nette Söhne!«

Ich zwang mich zu einem Lächeln. Ach, Finn, wärst du doch nur hier!

Ein Räuspern von der Bühne veranlasste uns, nach vorne zu blicken. Es kam von unserem Schuldirektor Mr Richard Plunkett, der Ruhe gebietend die Hände hob und diejenigen, die immer noch quatschten, mit strengem Blick zum Schweigen brachte. Als es endlich so leise war, dass Willow sich nicht mehr traute, das knisternde Stanniolpapier zu berühren, räusperte sich Mr Plunkett ein letztes Mal. »Guten Morgen, ihr Lieben! Ich will gar nicht lange um den heißen Brei herumreden. Wir alle wissen, warum wir heute Morgen hier sind. Nämlich, um unsere diesjährige Ehemaligenwoche mit der Theaterproduktion zu starten. Einen furioseren Start könnte ich mir gar nicht vorstellen, als jetzt die berühmte Krimi-, Film- und Theaterautorin Olivia Hartcastle und die nicht minder berühmte Regisseurin Maud Wilkins ganz herzlich in unserer und ihrer Schule begrüßen zu dürfen!«

Mr Plunkett klatschte laut Beifall und trat zur Seite, um den angekündigten Stars die Bühne zu überlassen. Erst bewegte sich nur der Vorhang, dann kamen sie. Olivia Hartcastle und Maud Wilkins. Freudestrahlend traten sie auf die Bühne und verbeugten sich vor dem tosenden Begrüßungsapplaus.

Wild klatschend reckte ich den Hals, um besser sehen zu können. Wie süß! Der arme Mr Plunkett! Total nervös schritt er jetzt auf die beiden Frauen zu. Als Direktor eines kleinen Internats an der Küste Cornwalls begegnete er eben nur selten richtigen Berühmtheiten.

»Guck mal!«, brüllte Willow mir über den Applaus hinweg ins Ohr. »Wie schüchtern Mr Plunkett ist!«

In der Tat. Mr Plunkett traute sich beim Händeschütteln noch nicht mal, Olivia Hartcastle richtig in die Augen zu schauen.

Ich erkannte natürlich sofort, dass die sportliche Frau mit den kurzen braunen Haaren die Krimiautorin war. Dafür hatte Tante Clarissa gesorgt. Zig Fotos hatte sie mir gezeigt und mir Mrs Hartcastles Lebensgeschichte in allen schillernden Farben nacherzählt. Deshalb wusste ich, dass die schlanke Frau in Jeans, dem legeren Pulli und den Stiefeletten die sportbegeisterte Olivia Hartcastle war, während die etwas fülligere Frau mit den blonden mittellangen Haaren, dem langem schwarzen Wollkleid und den derben Stiefeln Maud Wilkins sein musste.

»Herzlich willkommen, liebe Olivia, liebe Maud, in eurer ehemaligen Schule«, setzte Mr Plunkett an, um noch, bevor ich mich über die persönliche Anrede wundern konnte, hinzuzufügen: »Lange ist es her, dass wir hier die Schulbank gedrückt haben.«

Waaas?

»Lange her, aber unvergessen, Richard!«, lachte Olivia Hartcastle und schüttelte ihm herzlich die Hand.

»Wir freuen uns so sehr, hier sein zu dürfen.« Und so wie Maud Wilkins’ Augen leuchteten, glaubte ich ihr das sofort. »Zum Glück gibt es noch ein paar Orte auf dieser Welt, an denen alles so bleibt, wie es immer war. Aus jeder Ecke strömt einem hier noch der gleiche Geruch nach Schulbüchern, Putzmittel, Turnschuhschweiß und Kantinenessen entgegen. Und unsere alten Zimmer da oben im Turm sehen auch noch genauso aus wie damals, als wir hier unser Unwesen getrieben haben.« Sie lächelte verschmitzt. »Als ich gestern Abend die Pförtnerloge passiert habe, bin ich plötzlich wieder elf Jahre alt geworden. Wunderbar!«

»Aber nur in dem Wissen, das Abitur bestanden zu haben und nie wieder eine Klausur schreiben zu müssen!« Mit einem Schaudern schüttelte Olivia die Erinnerung an gruselige Prüfungen ab und kam dann ohne weitere Umschweife zur Sache. »Okay, liebe Leute, auf all diejenigen, die mit uns einen Mord in der Bibliothek begehen wollen, wartet eine ziemliche Menge Arbeit. Immerhin haben wir nur neun Tage Zeit, um ein ganzes Theaterstück auf die Beine zu stellen. Übernächsten Samstagabend wollen wir damit den Höhepunkt und Abschluss der Ehemaligenwoche feiern. Deshalb sollten wir keine Zeit verschenken. All diejenigen, die nur vorbeigeschaut haben, um uns zu begrüßen, bitte ich jetzt, den Saal zu verlassen. Danke, dass ihr gekommen seid!«

Missmutiges Gemurmel, dumpfes Hochschlagen der Sitzpolster gegen die Rückenlehnen und scharrende Füße erfüllten den Saal. Der Rechtskunde-Workshop begann erst am Nachmittag und die Workshops der anderen beiden Ehemaligen waren für nächste Woche angesetzt – ein Politiker wie Luke Portland und ein erfolgreicher Investmentbanker wie Reginald Travers hatten nun mal nicht unbegrenzt freie Zeit zur Verfügung.

»Olivia und ich sind ja noch über eine Woche hier«, brüllte Maud gegen die Geräuschkulisse an, um die Unzufriedenen zu besänftigen. »Wir werden ganz häufig die Gelegenheit haben, uns zu unterhalten. Bei den Mahlzeiten, auf den Fluren, im Park … versprochen!«

»Dann will ich auch nicht länger stören und entschuldige mich.« Mr Plunkett wischte sich den Schweiß von der Stirn. Da vorne im Licht der Scheinwerfer musste es wirklich sehr heiß sein. Nachdem sich der Theatersaal geleert hatte, klatschte Mrs Hartcastle aufmunternd in die Hände.

»So, jetzt sind wir Theaterschaffende unter uns!« Sie lachte fröhlich. »Und da sich in Künstlerkreisen geduzt wird … sind wir für euch ab sofort nicht mehr Mrs Hartcastle und Mrs Wilkins, sondern einfach nur Olivia und Maud. Alles klar?«

Tante Clarissa würde in Ohnmacht fallen, wenn ich ihr heute Abend erzählte, dass ich ihre hochverehrte Mrs Hartcastle Olivia nennen durfte!

»Seitdem wir dieses Projekt gestartet haben, brenne ich darauf, meine Co-Autoren persönlich zu treffen. Also, kommt auf die Bühne und stellt euch vor!«, rief Mrs Hartcastle, äh, sorry, Olivia.

Die Sache war die … Für eine Schulproduktion mit so wenig Zeit wäre es natürlich viel zu aufwendig gewesen, einen von Olivias dicken Krimiwälzern umzuschreiben. Deshalb hatte sie sich für ihren Kurzkrimi Mord in der Bibliothek entschieden. Den hatte sie dann in den letzten Monaten zusammen mit einigen Schülern online so umgeschrieben, dass er als Theaterstück auf der Bühne aufgeführt werden konnte.

Wohnt man wie Willow und ich in Ashford-on-Sea, dann weiß man, wie es im Mittelalter gewesen sein muss. Ohne Internet. O.k., ich übertreibe. Wir haben schon Internet, aber eben leider nicht immer. Der Netzempfang lässt hier sehr zu wünschen übrig. Was für ein Glück, dass der in der Schule problemlos funktioniert, denn ansonsten wäre es mit dem gemeinsamen Schreiben Essig gewesen.

Als Nächste riefen Maud und Olivia diejenigen auf, die das Bühnenbild gestaltet hatten. Ganz fertig waren sie mit ihrer Arbeit zwar noch nicht, wie sie sagten, aber sie lagen gut in der Zeit und alles würde rechtzeitig bereit sein. Dann waren die Schüler an der Reihe, die die Kostüme nähen würden, die das Schminken der Schauspieler übernehmen wollten, und dann die, die für die Requisiten zuständig waren. Dann kamen die Beleuchter und die Leute vom Ton. Ganz zum Schluss, sozusagen als Tüpfelchen auf dem i, betraten die Schauspieler die Bühne. Weil das Projekt wie alle anderen auch Jahrgangsstufen übergreifend war, hatten sich natürlich Schüler der ganzen Schule um die Teilnahme beworben.

Willow stieß mir den Ellenbogen in die Seite, nickte in Richtung Bühne und verdrehte genervt die Augen. »Guck mal! Das war ja so was von klar.«

Und wie klar das gewesen war! Poppy und Virginia. Die Schwestern standen nicht nur in vorderster Reihe der Schauspieler, sondern sie schubsten auch jeden weg, der ihnen ihren Ehrenplatz neben Olivia und Maud streitig machen wollte. Sie grinsten hochmütig und fühlten sich wahrscheinlich jetzt schon wie Hollywoodstars.

Ich entdeckte noch einige andere aus unserer Klasse. Angus und Greg gehörten scheinbar zu den Bühnenbauern. Poppys Freundin Lucinda, wer hätte das gedacht, stand mit Schminkpalette und Pinseln bereit, um das erstbeste Opfer mit Puder, Rouge und Lippenstift zu malträtieren. Zoe bildete mit einem größeren Jungen das Ton-Team und Keira, aus der zehn, war die Einzige von der Requisite, mit der ich schon mal ein Wort gewechselt hatte.

»Och, guck mal, der da ist aber süß«, schmatzte Willow, während das letzte Stück des Müsliriegels in ihrem Mund verschwand. »Ein echtes Sahneschnittchen!«

Ich folgte ihrem Blick und entdeckte in der Gruppe der Schauspieler einen Jungen, der wirklich ganz nett aussah. Aber kümmerte mich das? Ich war raus aus dem Spiel. Ich hatte mich längst dafür entschieden, als verrückte Alte mit einem Stall voller Hunde einsam und allein zu sterben. So wie Dorothy Pax, die beste Freundin meiner Tante.

Bevor ich noch völlig im Selbstmitleid zerfließen konnte, beschattete Maud ihre Augen und spähte in den fast leeren Publikumsbereich. »Und was ist mit euch beiden?« Sie meinte natürlich uns. Denn sonst war ja kein anderer mehr übrig.

»Ich bin neu«, erklärte Willow. »Die Bewerbungsfrist war schon abgelaufen, bevor ich überhaupt wusste, dass ich auf die Bilton wechseln würde. Könnte ich trotzdem noch mitmachen?«

»Hmm, das wird schwierig«, brummte Maud und warf Olivia einen Hilfe suchenden Blick zu.

Olivia verschränkte die Arme vor der Brust und überlegte kurz. »Die Souffleuse!« Sie schlug sich die Hand vor die Stirn. »Wir haben glatt vergessen, eine Souffleuse einzuplanen, Maud!«

»Was für ein Ding?«, wisperte Willow mir ratlos ins Ohr.

»Jemanden, der den Text mitliest und den Schauspielern aus der Patsche hilft, wenn sie vergessen haben, wie es weitergeht«, erklärte Maud, als ob sie Willows Frage gehört hätte.

»Oh, das wäre was für mich!«, freute sich Willow.

»Gut. Dann ist …« Maud sah sie auffordernd an.

»Willow. Willow Harris.«

»Willow ist dann also unsere Souffleuse. Und du …« Ihr Blick schwenkte zu mir.

»Amy Fern. Ich bin der Hund.« Ich bin der Hund? Was war denn in mich gefahren? Das amüsierte Gelächter hatte ich echt verdient. Aber nicht das hämische Gegacker von Poppy, Lucinda und Virginia, das ich nur allzu deutlich heraushören konnte.

»Ich meine … Also, ich bin natürlich nicht der Hund. Ich habe ihn nur mitgebracht. Denn Mr Plunkett hat gesagt, dass ein Spürhund für den Detektiv benötigt wird, und er meinte, Percy könnte das übernehmen. Percy ist nämlich schlau und sehr gelehrig.«

Kaum hatte Percy seinen Namen gehört, kroch er unter meinem Stuhl hervor und wünschte, präsentiert zu werden. Also stand ich auf und ging mit ihm zur Bühne. Hinter mir hörte ich, wie Willow das Stanniolpapier zusammendrückte.

»Oh, mein Gott, ist der süß!«, riefen Maud und Olivia wie aus einem Mund.

»Ein Irish Terrier, nicht wahr?«

»Aber das sieht man doch, Maud! Und was für ein schöner!« Wenn ich die beiden nicht schon von Anfang an so nett gefunden hätte, spätestens jetzt wäre ich von ihnen begeistert gewesen.

»Das ist mein Percy.«

»Ein Hund aus Gold. Außen wie innen, oder so ähnlich hat es doch der Abenteuerautor Jack London formuliert«, kramte Maud aus ihrem Gedächtnis hervor.

»Und der musste es wissen. Er hatte schließlich eine Menge unterschiedlicher Hunde«, ergänzte Olivia.

Irgendwie waren die beiden wie ein altes Ehepaar.

»Ja, Percy, dann sollten wir dich jetzt mit deinem Bühnenherrchen bekannt machen.« Olivia schaute sich suchend um und winkte einen Jungen aus der Gruppe der Schauspieler heraus. »Damian oder besser Mr Isaac Davenport, der berühmteste Detektiv Londons.«

Damian war ausgerechnet der Junge, den Willow mir vorhin gezeigt hatte. Ob ich wollte oder nicht, ich musste schon zugeben, dass der ziemlich süß aussah. Er ging vor Percy in die Knie und streckte ihm die Hand entgegen, damit Percy sie beschnuppern konnte. »Na, Percy, wir beide rocken das hier, oder?«

Anstelle einer Antwort schleckte Percy ihm die Finger ab und das bedeutete in Percys Sprache: »Ich mag dich. Läuft!«

»Toller Hund, Amy!«, nickte Damian mir anerkennend zu.

Poppys Mund stand vor Neid so weit offen wie die Einfahrt zu einer Tiefgarage.

»Prima, dann wollen wir mal! Erster Akt. Erste Szene. Die Schauspieler bleiben auf der Bühne, bitte. Der Rest … runter mit euch«, rief Maud und klatschte in die Hände.

Wie sich herausstellte, spielte Poppy die Assistentin von Damian. Sie war gewissermaßen sein weiblicher Watson und bildete sich natürlich eine Menge darauf ein. Immerhin hatte sie damit eine der Hauptrollen ergattert.

Ich muss gestehen, es tat mir gar nicht leid, dass ihr großer Auftritt durch die Leute vom Bühnenbau verzögert wurde. Die hatten nämlich eine Überraschung für Maud und Olivia vorbereitet. Die deckenhohe Bücherwand, die im Stück ein wichtiger Bestandteil von Lord Willsboroughs Bibliothek sein würde, war schon fertig. Hinter dem Vorhang wartete sie darauf, von Angus mit einem feierlichen »Tatatataaaa!« enthüllt zu werden.

Natürlich war die Wand aus Spanplatten zusammengezimmert und das edle Holzregal war genauso aufgemalt wie die vielen, vielen Buchrücken, aber es sah wahnsinnig echt aus. Wirklich echt waren sogar die altmodischen Leuchter, die links und rechts und in der Mitte des aufgemalten Regals angeschraubt worden waren. In ihnen steckten künstliche Kerzen mit spitzen Glühbirnen, die gespenstisch flackerten. Jetzt rollte Greg noch einen Orientteppich davor aus und schob einen Ohrensessel aus weinrotem Leder dazu. Als krönender Abschluss fehlte nur noch das kleine Beistelltischchen, das Angus hinter dem Vorhang hervorzauberte und neben dem Sessel platzierte.

»Fantastisch!«, rief Olivia und legte sich die gefalteten Hände gegen die Lippen. »Kinder, das ist ja profimäßig!!! Wow! Genau so hatte ich es mir vorgestellt.«

»Und spätestens am Sonntag ist auch der Kamin mit allem Drum und Dran fertig«, verkündete Greg. Der Stolz stand ihm und den anderen vom Bühnenbau buchstäblich ins Gesicht geschrieben. Und das völlig zurecht. Diese Bibliothek konnte sich sehen lassen!

»Dann sollten wir jetzt aber wirklich loslegen. Nicht dass die Kulisse für unsere Mordszene fertig ist und die Schauspieler gar nicht wissen, was sie zu tun haben«, entschied Maud.

»Oh, ja, ich bitte darum, zügig ermordet zu werden, und mit Rücksicht auf meine Knie möchte ich auch nicht häufiger als nötig zu Boden sinken müssen.« Als Olivia unsere überraschten Gesichter sah, erklärte sie: »Falls ihr es noch nicht wisst, ich spiele die Florence und damit die Leiche. Mein Leben lang habe ich mir gewünscht, auch mal das Mordopfer in einem meiner Filme oder Stücke zu geben, und jetzt mache ich es einfach wahr.«

»Tja, Anthony!« Mit gespielt mitleidig hochgezogenen Augenbrauen betrachtete Maud einen Jungen aus der elf, der ziemlich überrascht aus der Wäsche guckte. »Du hast die Ehre, die berühmte Krimiautorin Olivia Hartcastle ins Jenseits zu befördern.«

Stundenlang hätte ich Maud, Olivia und den anderen bei der Arbeit zugucken können. Wie Maud zum Beispiel mit kleinen überkreuz angebrachten Klebebandstreifen die genauen Positionen der Schauspieler auf der Bühne markierte. Oder wie Olivia, obwohl Maud lachend meinte, das sei ja wohl ihr Job, Poppy erklärte, wie sie es anstellen musste, laut und deutlich in Richtung Publikum zu sprechen und es trotzdem so aussehen zu lassen, als ob sie Damian, und zwar nur Damian, etwas zuflüsterte. Oder welche unterschiedlichen Stimmungen die Beleuchter durch die Einstellung der Schweinwerfer erreichen konnten. Alles irre interessant!

Wir hatten kaum angefangen, da war es schon Zeit zum Mittagessen.

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»Betty O’Donald?« Maud war von ihrem Stuhl aufgesprungen und hatte den Mittagstisch umrundet, um eine elegant gekleidete, zierliche Frau herzlich in die Arme zu schließen. »Meine Güte, Betty! Du hast dich ja total verändert. Wo sind die Stachelhaare, das Hundehalsband und die ganze schwarze Schminke hin?«

»Der Punklook macht sich nicht so gut in der Richterrobe«, antwortete diese Betty fröhlich mit zartem Stimmchen und strich sich eine blonde Haarsträhne hinter das Ohr. »Irgendwann wird doch jeder mal erwachsen.«

»Die ist Richterin?«, wisperte mir Willow ungläubig und vielleicht ein Fützelchen zu laut von der Seite ins Ohr. Ich hob überfragt die Schultern.

Peinlicherweise hatte sie Willows Bemerkung wohl doch mitangehört, warum sonst hätte sie jetzt in unsere Richtung hinzusetzen sollen: »Beurteile niemals ein Buch nach seinem Deckel. Jugendstrafrecht.«

Jetzt war ich beeindruckt, und das nicht nur von ihrer plötzlich Respekt gebietenden Stimme.

Olivia schob ihren Stuhl zurück und schüttelte grinsend den Kopf. »Hattest du früher nicht auch eine Ratte? … Doch hattest du!«, fiel ihr wieder ein. »Wie hieß sie noch gleich?«

»Kleopatra«, kicherte Betty. »An was du dich alles erinnerst! Die hatte ich doch nur zwei Tage lang. Bis unsere Hausmutter mich erwischt und die Ratte ins Tierheim gebracht hat.«

»Stimmt! Genau«, pflichtete Maud lachend bei. Einen kurzen Moment versanken die drei in ihren Erinnerungen, dann brach Betty das Schweigen.

»Ich habe mich riesig über euren Anruf gefreut. Nur traurig, dass erst so etwas Schlimmes passieren musste.«

Etwas Schlimmes? Ich schaute von meinem indischen Curry auf. Olivia und Maud nickten stumm.

»Reginald und Luke kommen am Montag«, sagte Olivia mit Grabesstimme.

»Das ist gut«, brummte Betty.

Es entstand eine lange, unangenehme Pause.

Dieser Luke … das musste Luke Portland sein, der Politiker, überlegte ich. Aber der Name Reginald sagte mir nichts … doch! Jetzt fiel es mir wieder ein. Reginald Travers. Finanzberater. Julian hatte doch so sehr darauf gebrannt, von ihm zu lernen, wie man mit Aktien Millionen scheffelt.

»Wir hatten im Übrigen mit unserer Vermutung recht. Neal hat uns allen den gleichen Brief geschrieben und er ist überall am selben Tag eingetroffen«, fuhr Olivia fort.

Ich gab es auf. Keine Ahnung, wovon sie sprachen.

»Typisch Neal, würde ich sagen«, erwiderte Betty und zwang ein trauriges Lächeln auf ihr Gesicht. »Er war doch immer für eine verrückte Idee zu haben. Ich halte gleich einen Vortrag und muss noch checken, ob die Technik wirklich funktioniert. Wir sehen uns, ja?« Im Weggehen drehte sie sich noch einmal um. »Und denkt an unsere Abmachung! Niemand alleine, immer zusammen! Wie damals.«

»So steht es geschrieben«, gab Maud tonlos zurück.

Was war das für ein komischer Spruch? Niemand alleine, immer zusammen? Klang ja fast wie bei den Drei Musketieren und ihrem Leitspruch Einer für alle, alle für einen. Dieses ganze Gespräch und dann dieser Spruch … in meinen Ohren klang das verflucht nach einem Geheimnis. Für so was habe ich mittlerweile einen Riecher. Seit meinem nicht ganz freiwilligen Ermittlungserfolg im Mordfall Rubinia Redcliff hatte ich – wie soll ich sagen? – na ja, ich war auf den Geschmack gekommen. Und weil in Ashford-on-Sea Morde zum Glück Seltenheitswert haben, hatte ich mich in Tante Clarissas Krimibibliothek gestürzt. Ich verschlang Agatha Christie, P.D. James, Colin Dexter … und lernte so von den Besten. Und hier gab es keinen Zweifel: Ein Geheimnis lag in der Luft.

Bald würde sich herausstellen, dass es sehr viel mehr war als das.

Kaum waren Percy und ich an diesem Nachmittag um die Ecke von Meredith Dickinsons Buchhandlung geflitzt, entdeckte ich Tante Clarissa. In Hut und Mantel, den Kragen zum Schutz gegen den kalten Herbstwind hochgeschlagen, fegte sie die blitzblanken Stufen vor dem Little Treasures ab.

Ich musste grinsen. Bestimmt hatte sie die Warterei nicht länger ausgehalten. Sie würde sich aber lieber die Zunge abbeißen, als das zuzugeben. Und deshalb tat sie jetzt so auffällig unauffällig erstaunt. »Ach, da seid ihr ja! Ist es schon so spät?«

An einem normalen Schultag komme ich früher nach Hause. Aber logischerweise hatten Willow und ich heute noch so viel zu bequatschen gehabt, dass wir Ewigkeiten an der Cherry Laurel Lane, an deren Ende Willows Haus stand, verbracht hatten. Bis uns der kalte Atlantikwind zu ungemütlich geworden war.

Tante Clarissa streifte den Ärmel zurück und warf mit todernster Miene einen Blick auf ihren nackten Unterarm. »Oh, ja wirklich!«, raunte sie.

Ich hätte mich wegschmeißen können. Unglaublich!

Mein armer Percy war von seinem ersten Tag als Schauspieler total erledigt. Schlaff hing er in meinen Armen, als ich ihn aus dem Fahrradkorb hob. Er wollte jetzt nur noch drei Dinge: Wasser, Futter und sein Körbchen, und das genau in dieser Reihenfolge.

Möglichst beiläufig fragte Tante Clarissa zwischen zwei Besenstrichen: »Wie war es denn so?«

»Schön«, spielte ich das Spiel mit.

»Schön?« Der Besen stoppte mitten auf der Stufe. Tante Clarissa legte den Kopf schräg, stützte beide Hände auf den Besenstiel auf und platzte heraus: »Nun spann mich doch nicht so auf die Folter, Amy!«

»Was willst du wissen?«

Bevor Tante Clarissa sich mit dem Little Treasures ihren Lebenstraum von einem gemütlichen Tearoom erfüllt hatte, war sie bis zu ihrer Pensionierung Direktorin der Ashford Primary School gewesen. Da hatte sie reichlich Erfahrung im Würmer-aus-der-Nase-Ziehen sammeln können. Und so saßen wir wenig später bei dampfendem Tee, einer Etagere mit superfrischen Thunfisch-, Gurken- und Hühnchensandwiches und dazu herrlich duftenden, goldgelben Scones in unserer Lieblingsecke am Kamin, wo Tante Clarissa mir Löcher in den Bauch fragte. Hatte Olivia Hartcastle Humor? War sie so hübsch, sympathisch und lustig wie in den Fernsehinterviews, die Tante Clarissa gesehen hatte? War sie bei den Proben streng oder nachsichtig? Hatte sie was darüber erzählt, wie sie an ihre Ideen kam? Oder wo sie am besten schreiben konnte? Und wie war denn Maud Wilkins so? Die hielt sich ja meistens eher zurück und überließ Olivia das Reden.

Geduldig beantwortete ich ihr alle Fragen, so gut ich konnte. Tante Clarissas schwarze Hornbrille wanderte dabei mal in ihr kurz geschnittenes weiß-graues Haar, mal landete sie wieder auf ihrer Nase. Ende Oktober kommen nicht so viele Touristen nach Cornwall und damit nach Ashford-on-Sea wie im Sommer. Deshalb und weil es schon fast sechs war, musste Tante Clarissa nur zwei Mal aufstehen, um den letzten Gästen des Tages die Rechnung zu bringen und abzukassieren. Ihre neue Aushilfe hatte sie schon vor Stunden nach Hause geschickt.

»Du darfst Olivia zu ihr sagen und sie duzen?« Tante Clarissas Teetasse landete scheppernd und begleitet von einem ehrfürchtigen »Dafür würde ich glatt morden!« auf der Untertasse. Hatte ich es nicht gleich gewusst?

Tante Clarissa war echt so was von süß! Wie sie so dasaß mit vor Aufregung geröteten Wangen und leuchtenden Augen. Mit ihren vierundsiebzig Jahren ist sie der Inbegriff einer eleganten, älteren Dame. Eine richtig vornehme Dame, die sich aber durchaus nicht zu fein ist, auch mal das verstopfte Klo zu reparieren, einen Nagel in die Wand zu hauen oder mit Schaufel, Gartenschere und Rechen unseren Rosengarten in Schuss zu halten. Und ich bin heilfroh, dass Tante Clarissa so fit ist. Denn ich liebe sie sehr! Für mich ist sie der wertvollste Mensch auf der Welt, und das nicht nur, weil ich außer ihr niemanden mehr habe.

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»Also, Amy, du müsstest jetzt Percy dazu bringen, dass er Damian und Polly …«

»Pop-py!«, korrigierte Poppy knurrend, und das nicht zum ersten Mal an diesem Freitagvormittag.

Willow saß am Bühnenrand und prustete vor Lachen in ihr Skript.

»Sehr wit-zig!«, schnappte Poppy zu ihr rüber.

»Du. Sagst. Es«, antwortete Willow jedes Wort besonders betonend.

»Poppy, natürlich, tut mir leid.« Maud fasste sich entschuldigend an die Stirn. Dann umschloss sie mein Handgelenk und zog mich zu einem der Markierungskreuze. »Also, Percy muss von hier aus …« Mit großen Schritten führte sie mich in einer Schlangenlinie quer über die Bühne. »… diese Strecke abschnuppern und Damian und …« Hoch konzentriert kniff Maud die Augen zusammen und legte sich wieder die Hand an die Stirn. »… Poppy!«, stieß sie erleichtert aus. »… zu den Fußabdrücken im Rosenbeet vor dem Fenster der Bibliothek führen. Bekommt du das hin?«

Percy, der ohne Aufforderung wachsam neben uns hergetrippelt war, legte den Kopf schräg und schaute Maud aus seinen treuen Hundeaugen vorwurfsvoll an. Ganz so, als ob er sagen wollte: »Geht es noch? Ich bin ein Irish Terrier mit einem Stammbaum großartiger Jagdhunde. Da werde ich ja wohl einen Weg abschnüffeln können!«

Und damit hatte er natürlich vollkommen recht. Hundemenschen sind ja manchmal ziemlich bekloppt. Ständig behaupten sie, was ihre Hunde Tolles können. Dabei stimmt das meistens gar nicht. Aber mein Percy, der versteht wirklich jedes, absolut jedes Wort. Er ist nämlich mit Abstand der schlauste Hund der Welt. Und das behaupte ich nicht nur, das stimmt auch!

»Dieser Hundeblick!« Übertrieben seufzend griff sich Maud an die Brust. »Zum Dahinschmelzen! Hätte ich nicht so ein hektisches Leben, Percy, ich würde dich vom Fleck weg einpacken und mitnehmen. Und bitte entschuldige die blöde Frage.«

Percy entschuldigte und schnüffelte Damian und Poppy wie gewünscht über die von mir mit Leckerli markierte Wegstrecke zielsicher zu den verräterischen Fußabdrücken. Zum Glück spielte er den Spürhund von Detektiv Issac Davenport und nicht von seiner Assistentin. Denn Poppy hätte ich meinen Percy schon aus Prinzip nie im Leben anvertraut. Seine nasse Hundeschnauze musste sich ihr nur auf zehn Meter nähern und schon schrie sie hysterisch irgendeinen Blödsinn, von wegen Percy würde stinken wie ein nasser Teppich! Aber wie gesagt, Percy verstand jedes Wort und Menschenkenntnis hatte er sowieso. Folglich war er schlau genug, um Poppy fortan zu meiden wie der Teufel das Weihwasser.

»Ach, herrje, nicht schon wieder!«, stöhnte Olivia auf, als ich ihr gerade eine Tasse Tee einschenkte. Ärgerlich durchforstete sie den Blätterhaufen auf dem wackligen Holztisch, an dem sie zusammen mit Maud saß, um eine Szene durchzusprechen.

»Dein Kugelschreiber? Diesmal?«, fragte Maud, ohne von ihren Notizen aufzuschauen.

In den zwei Stunden, die wir schon probten, hatte ich Olivias Handtasche aus dem Speisesaal geholt, ihre Brille wiedergefunden (was nicht so schwer gewesen war, denn die steckte in ihren Haaren) und ihr Handy auf dem Waschbecken der Damentoilette aufgespürt.

»Nimm doch einfach meinen.«

»Nein, lieb von dir, aber du kennst mich doch«, lehnte Olivia ab. »Weißt du, Amy, ich habe da so einen kleinen Knall. Ich brauche diesen Kugelschreiber. Er begleitet mich seit dem Studium. Er ist mein Glücksbringer. Er ist dünn, schwarz und der Druckknopf ist ziemlich abgerieben. Kannst du schnell auf mein Zimmer laufen und ihn mir holen? Er liegt bestimmt noch auf dem Nachttisch.«

»Klar«, sagte ich, stellte die Teekanne neben dem Teller mit den lieblos angerichteten Sandwichecken ab und hielt ihr meine Hand entgegen.

»Was? Ach so, der Schlüssel«, nickte Olivia, um dann den Kopf zu schütteln. »Den brauchst du nicht. Ich schließe nie ab.«

Durch den Torbogen, durch die früher mal die Kutschen über das Kopfsteinpflaster gerumpelt sind, gelangt man vorbei an der Pförtnerloge in den ersten Innenhof unserer Schule. Der besteht heute zum größten Teil aus einer Rasenfläche, die so aussieht, als ob die Gärtner sie jeden Tag mir der Nagelschere maniküren würden. In der Mitte treffen die gekiesten Wege aufeinander, die strahlenförmig das Ganze durchziehen. Geht man weiter geradeaus, kommt das nächste Tor, und das führt in den zweiten, kleineren und sehr romantischen Innenhofgarten mit Bäumen, Sträuchern, Rosenspalieren, dem steinernen Burgherrenthron und Efeu, das sich die Wände bis in schwindelerregende Höhen hinaufrankt. Hier und da steht eine einsame Bank und lädt zu einer Pause ein.

Die vier äußersten Ecken des Gebäudes werden von Türmen flankiert. Heute befinden sich die Schlafräume der Schüler darin. Als Externe hatte es mich bisher selten dorthin verschlagen und deshalb kannte ich mich logischerweise auch nicht besonders gut aus.

Den Westturm zu finden war nicht das Problem, Olivias Zimmer dann schon. Nachdem ich über verwinkelte Flure und gewundene Treppen in den obersten Stock gelangt war, irrte ich erst mal eine Weile planlos über den Gang, bis ich endlich die gut versteckten fünf ausgetretenen Stufen entdeckte, die auf einen Nebenflur führten. Er bildete eine Sackgasse mit vier nebeneinanderliegenden Zimmertüren. Links von ihnen kämpfte sich das Sonnenlicht durch ein blindes Fenster. In der Mitte staubte ein Sessel vor sich hin und gegenüber, verborgen hinter einem muffigen grünen Samtvorhang, ein Eimer, ein Schrubber, ein Besen und ein paar Wischtücher in einer mannsgroßen Nische. Die stammten wohl aus den Zeiten, als auch die oberen Stockwerke noch belegt gewesen waren. Wie ich gehört hatte, war das schon eine ganze Weile her. Um Strom und Heizkosten zu sparen, hatte Mr Plunkett sie vor einigen Jahren dichtgemacht.

»Die Tür direkt neben dem Fenster«, hatte Olivia mir erklärt und genau durch diese betrat ich jetzt ihr Zimmer. Ehrfürchtig schaute ich mich in dem länglichen Raum um. Hier hatte also die große Olivia Hartcastle ihre Schulzeit verbracht. Wenig spektakulär und ziemlich zugig. Ein kleines Fenster über dem Bett, ein Schreibtisch an der Außenwand und ein Schrank an der Wand zum Nebenzimmer, daneben ein Waschbecken mit einem gesprungenen Spiegel. Auf dem Schreibtisch entdeckte ich Bücher, Papiere, Klebezettel und einen Terminkalender. Stifte, aber kein dünner, schwarzer Kugelschreiber, ein Laptop … ah … da auf dem Nachttisch, da lag er ja!

Olivia und Maud mussten wirklich ziemlich nostalgisch sein, dachte ich mir, bevor ich fröstelnd die Tür wieder hinter mir ins Schloss zog. Als Bestsellerautorin und preisgekrönte Regisseurin waren sie doch bestimmt tausendmal bequemere Unterkünfte gewohnt.

»Hier, bitte!« Völlig aus der Puste hielt ich Olivia den Kugelschreiber hin.

»Danke dir.« Mit verzweifelter Miene nickte sie auf das Thunfischsandwich in ihrer Hand. »Ich hatte völlig vergessen, wie grauenerregend das Zeug ist, das sie einem hier vorsetzen.«

»Das gehört mal wirklich zu den Dingen, die sich gerne ändern dürften«, stöhnte Maud auf und schob ihren Teller mit dem fast unberührten Gewürzkuchen so weit von sich, wie es nur ging. »Trocken wie die Wüste! Und der Tee ist verwässert, als ob man einen Teebeutel in die Themse gehalten hätte. Widerlich.«

Plötzlich hatte ich eine Idee.

»Bin gleich zurück!«, rief ich, schlüpfte in meinen Mantel und wickelte mir im Rennen den Schal um den Hals. Eklige Sandwiches, trockener Kuchen und wässriger Tee? Dem konnte ich abhelfen! Wenn nicht ich, wer dann? Wie der Blitz würde ich schnell zum Little Treasures flitzen, Scones, Törtchen und Sandwiches in eine Pappbox packen, Tee in eine Thermoskanne füllen und in Windeseile wieder zurücksein. Und morgen Früh würde ich das alles direkt mitbringen. Apfeltörtchen, Schokomuffins, Zitronentarte, Kirschkuchen …

»Hey, du!«