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Über das Buch

Plötzlich entdeckt der 13-jährige Elias durch seine Handykamera Dinge, die mit bloßem Auge nicht zu sehen sind: ein Hochhaus mit flackernden Lichtern, das nie gebaut wurde. Flügelflossen, die aus dem Rücken einer Mitschülerin wachsen. Und Hörner auf seinem eigenen Kopf?

Er sucht nach Antworten – und stößt auf eine verborgene Parallelwelt voller schillernd bunter Schwellenwesen. Eine Welt, aus der Elias einen digitalen Hilferuf bekommen hat. Denn der ehrgeizige Herr der Spiegel droht die Zwischenwelt zu schwarzem Glas erstarren zu lassen …

Ein fantasievolles Leseabenteuer, das zeigt, wie viel im »Zwischen« verborgen ist

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Inhalt

1 (K)ein Haus in der Dämmerung

2 In-Between

3 Im Labyrinth

4 koenigin@threshold.iz

5 Augen wie Spiegel

6 Im Vier-Winde-Haus

7 Es war einmal …

8 Aus der Tiefe

9 Hinter den Schleiern

10 Durch die Salamanderkeller

11 Graffiti

12 Der Verbotene Park

13 Ein einsamer Pirscher

14 Hörner

15 Das Neue Zwischen

16 Herolde der Schwelle

17 Große Pläne

18 Die gläserne Festung

19 Der Spiegel des Zagreus

20 Ewige Geborgenheit

21 Spiegel und Schwelle

22 Nur eine Scherbe

23 Auf neuen Pfaden

1

(K)ein Haus in der Dämmerung

Kann man ein Foto von etwas machen, das es gar nicht gibt?

Elias hatte vor, genau das herauszufinden.

Er hockte im Schneidersitz auf einem kiesbedeckten Flachdach, von dem aus er gut über die Hinterhöfe des Viertels schauen konnte. Hier war sein Lieblingsplatz, der perfekte Ort, um allein zu sein und in die Dämmerung zu starren. Elias war stolz darauf, ihn entdeckt zu haben.

Das war nicht einfach gewesen. Man musste sich auf eine Garage hochziehen und anschließend eine rostige Feuerleiter hinaufklettern, die in einem dunklen Winkel verborgen lag. Der Weg war umständlich, aber dafür hatte er hier oben auf dem Dach garantiert seine Ruhe. Und die konnte er gerade wirklich gebrauchen.

Elias zog seine Knie enger an den Körper, holte sein Handy aus der Tasche und öffnete die Kamera-App. In den Häusern ringsum gingen die ersten Lichter an. Ein bisschen würde er noch warten müssen. Er ließ seinen Blick über den Hof direkt unter sich schweifen. Dieser war von Balkonen umgeben, die nicht besonders ordentlich aussahen. Klar, sie schauten ja auch nicht zur Straße, wo die Leute gucken konnten. Auf manchen Balkonen wurden Kisten und Gerümpel gelagert, Kinderwagen und ein alter Katzen-Kratzbaum, daneben übervolle Wäscheständer. Andere sollten offenbar ein kleines Naturparadies imitieren, zugewuchert von Topfpflanzen und vollgestellt mit Gartenzwergen und Plastik-Störchen. Elias war sich nicht sicher, was er hässlicher fand.

Er schaute lieber wieder hoch, dorthin, wo der Herbsthimmel hellgrau über den Häusern hing. Elias nahm sein Handy quer zwischen die Hände und fokussierte den Bereich im Display, wo die Dachkanten an den Himmel stießen. Dann drückte er ab. Zur Sicherheit gleich dreimal.

Anschließend betrachtete er seine Fotos in Ruhe. Sie sahen alle gleich aus: graue Flächen, bei denen ganz unten die Dächer als rot-brauner Rand zu erahnen waren. Nichts Interessantes. Nicht einmal ein Vogel. Aber Elias wusste, was er tat. Diese Fotos waren nur als Vergleich gedacht. Das eigentliche Motiv kam erst noch.

Elias streckte die Beine aus und wartete. Die Dunkelheit kam schnell in dieser Jahreszeit. Unten gingen immer mehr Lichter an. Es war kalt, aber er trug eine gut gefütterte Jacke. Außerdem fror er nicht so leicht. Und hier oben, in der Dämmerung auf dem Dach, war es immer noch gemütlicher als zu Hause. Dort packte jetzt sein Vater vielleicht schon seinen Kram zusammen. Oder er stritt mit seiner Mutter herum. Oder sie schwiegen sich an. Nein danke. Hier oben war es besser.

Langsam wurde es richtig dunkel. In den Straßen leuchteten die Laternen. Elias beugte sich gespannt vor und machte sein Handy bereit. Jetzt konnte es nicht mehr lange dauern.

Da! Drüben, jenseits der Dachkanten, gingen weitere Lichter an. Es war eine Reihe von mattleuchtenden Quadraten, sauber übereinandergestapelt. Wie die Fenster im Treppenhaus eines Hochhauses. Links und rechts davon leuchteten jetzt kleinere Rechtecke auf. Die Fenster der Wohnungen, zu denen das zentrale Treppenhaus führte.

Ganz oben, über dem höchsten Quadrat, erschien leicht verzögert noch eine leuchtende Linie. Sie war blau und seltsam geformt: wie ein umgedrehtes Hufeisen, vielleicht auch ein Torbogen. Vermutlich war es eine Art Schild oder Leuchtreklame.

Dann wurde es wirklich abgedreht: Rund um die Fenster begannen leuchtende Nebel durch die Dunkelheit zu tanzen. Manche schimmerten grünlich, andere blassblau oder rot. Elias hatte keine Ahnung, was das sein sollte. Die schimmernden Nebel sahen unwirklich aus. »Nordlichter« war das Wort, das ihm dafür am ehesten einfiel. Natürlich war das Quatsch. Er war mitten in der Stadt und nicht am Nordpol.

Mit zitternden Fingern hielt Elias sein Handy hoch und machte eines der Fotos von eben auf. Darauf war nichts als grauer Himmel zu sehen. Kein Hochhaus, kein Turm, kein Funkmast. Schon gar keine Lichterscheinungen.

»Das gibt es nicht!«, murmelte er. Die beleuchteten Fenster dort drüben stammten von einem Haus, das nicht da war. Jedenfalls nicht im Hellen.

»Und jetzt kommt der Beweis!«, flüsterte Elias aufgeregt und stellte wieder die Aufnahmefunktion ein. Er achtete darauf, dass er die Hände genauso hielt, wie er es eben bei den ersten Fotos gemacht hatte. Vielleicht sollte er das nächste Mal ein Stativ mitbringen. Papa hatte eines bei seinen Foto-Sachen. Ob die schon verpackt waren? Egal.

Elias konzentrierte sich auf das Handy-Display, das jetzt die Lichter jenseits der Dächer anzeigte. Dann drückte er ab, wieder dreimal. Neugierig tippte er auf dem Handy herum, um sich die Bilder möglichst rasch anzusehen. Enttäuscht ließ er die Hand sinken. Sie waren nicht gelungen: einfach nur schwarz. Erst dachte er, dass diese Schwärze reiner Datenmüll war. Dann entdeckte er unten, in der Bild-Ecke, den Schimmer einer Straßenlaterne.

Elias bekam ein flaues Gefühl im Bauch. Die Bilder waren doch etwas geworden – aber sie bildeten einfach nur den schwarzen Abendhimmel ab. Ohne das Haus in der Ferne. Weder die Rechtecke der Fenster waren zu sehen noch die tanzenden Leuchtnebel.

»Das glaub ich jetzt wirklich nicht«, flüsterte er.

Elias richtete das Handy auf eines der anderen Häuser im Viertel. Wieder drei Fotos. Dann prüfte er die Aufnahmen. Sie waren nicht gerade scharf und zeigten verwaschene Vierecke aus Licht. Aber es war auf jeden Fall etwas darauf zu erkennen! Am Handy lag es nicht.

Dann wandte er sich wieder den merkwürdigen Lichtern zu und zoomte sie ganz dicht heran. Als er zum dritten Mal abdrückte, flatterte irgendetwas quer über sein Display. Elias zuckte zurück. Er senkte das Handy und schaute sich misstrauisch um. Nichts. Wahrscheinlich nur ein verspäteter Vogel. Mit gerunzelter Stirn sah er sich die Fotos an. Das Display zeigte ausschließlich Schwärze. Kein vorbeiflatterndes Tier. Keine Lichter.

»Und was nun?«, fragte Elias sich selbst. Was machte man mit einem von tanzenden Lichtern umschwirrten Haus, das gar nicht da war? Zur Polizei gehen und ein paar schwarze und graue Handy-Fotos vorzeigen, damit sie das Haus verhaften konnten? Oder die Story ins Internet stellen und darauf warten, dass ihm irgendein Spinner erklärte, er hätte da einen Ufo-Landeplatz gefunden? Hmm. Er könnte natürlich auch seine Eltern darauf ansprechen. Aber das war die absurdeste Idee von allen.

Elias sprang auf die Füße und tigerte rastlos auf dem Kiesdach herum. Morgen in der Schule hatte er Shaka davon erzählen wollen. Aber ohne Beweis konnte er sich schon denken, welche liebevollen Kommentare über seine geistige Gesundheit sie ablassen würde. Vielleicht hätte sie damit sogar recht? Nee. Er musste einfach herausfinden, was hier los war!

Elias checkte die Uhrzeit. Eigentlich sollte er sich jetzt Richtung U-Bahn aufmachen, um rechtzeitig wieder zu Hause zu sein. Uneigentlich würde es eh niemandem auffallen, wenn er etwas später kam, und mit 13 konnte man seine Zeit ja wohl auch langsam selber so planen, dass es passte!

Er steckte das Handy ein und stieg die Feuerleiter vorsichtig hinunter. Als er gerade über das Flachdach der Garage lief, flatterte etwas über ihn hinweg. Elias schaute auf. Er sah nur noch, wie ein grauer Schemen hinter einer Ecke des Hauses verschwand. Dann war alles wieder ruhig.

Hinter seiner Stirn kribbelte es seltsam. Unwillig schüttelte Elias den Kopf. Wahrscheinlich war er irgendwie überreizt. Das war bestimmt nur eine Taube. Oder eine Fledermaus?

Vom Garagendach sprang er einfach hinunter. Er war nicht gerade der Größte und auch eher schmal gebaut, aber dafür flink und beweglich.

Elias ließ die Garagen rasch hinter sich und schaute sich suchend um, während er die Haare aus seinem Gesicht strich. Er trug sie halblang, und da sie ziemlich widerborstig waren, fiel ihm eigentlich immer eine Strähne irgendwie vor die Augen.

Von oben sah das Viertel einigermaßen überschaubar aus, doch hier unten begrenzten überall hohe Häuserfronten die Sicht. Die Lichter waren so nicht zu erkennen. Aber Elias war sich ziemlich sicher, dass er sie weiter hinten gesehen hatte, wo die Bahnlinie die Stadt zerteilte. Er folgte den Straßen in diese Richtung, so gut es eben ging.

Heute früh hatte es geregnet und überall klebte nasses, matschbraunes Laub auf dem Asphalt. Die Leute hatten ihre Jacken und Mäntel hoch zugeknöpft und beeilten sich, um rasch ins Warme zu kommen. Elias kam sich komisch dabei vor, dass er entgegengesetzt unterwegs war, weg von zu Hause.

Er durchquerte ein Viertel mit Altbauten aus Backsteinen, zwischen denen sich hin und wieder neuere Beton-Gebäude drängten. In den Häusern gab es gelegentlich kleine Läden, die jetzt schon geschlossen hatten, an den Ecken auch Kneipen mit beleuchteter Bierwerbung. Ansonsten war die Gegend ein reines Wohngebiet ohne Ziele für jemanden, der hier niemanden kannte.

Ihm kam ein klapperndes Geräusch entgegen. Eine verwahrlost wirkende Frau schob einen Einkaufswagen voller Zeug vor sich her. Sie bewegte sich seltsam, roch seltsam, summte eine seltsame Melodie vor sich hin. Aus kleinen, wachen Augen schaute sie Elias von der Seite an. Er machte einen Bogen um sie und eilte weiter, ehe sie ihn ansprechen konnte. Dieser eindringliche Blick war ihm irgendwie unheimlich …

Am Ende der Straße stieß er auf den Bahndamm. Nach seiner Schätzung lag das Haus, das es nicht gab, irgendwo dahinter. Allerdings sah er nirgends einen Übergang. Er ging an der Betonwand des Bahndamms entlang, der nun auch noch einen weiten Bogen machte. Elias musste aufpassen, dass er die Richtung nicht endgültig verlor. Schließlich stieß er auf eine Treppe, die zu einem schmalen Fußgängertunnel hinabführte. Mindestens die Hälfte der Leuchtstoff-Röhren, die hier für Licht sorgen sollten, war kaputt. An die Wände hatte jemand Tags aus verzerrten Buchstaben gesprayt. Unbehaglich zog Elias sich die Jacke fester um die Schultern. Dann atmete er tief durch und stieg in die Unterführung hinab. Rasch, aber nicht ängstlich. Genau die richtige Geschwindigkeit für manche Gegenden der Stadt.

Als er den Tunnel etwa zur Hälfte durchquert hatte, war da wieder dieses kribbelnde Gefühl hinter seiner Stirn. Plötzlich war er sich ganz sicher, dass jemand dicht hinter ihm war! Aber er konnte nichts hören, nur seine eigenen Schritte. Ruckartig wandte er sich um. Die Unterführung war leer. Er war allein mit dem flackernden Neonlicht. Oder? Die letzten Tunnelmeter rannte er fast.

Auf der anderen Seite des Bahndamms lag ein Gewerbegebiet. Hier gab es keine Wohnhäuser mehr, sondern Lagerhallen, Autohäuser und Betriebe, die Sanitäranlagen oder Fassadendämmungen verkauften. Auf den Gehsteigen war niemand unterwegs, nur Autos rauschten gelegentlich vorbei.

Elias schaute sich prüfend um. Alle Gebäude ringsum waren vergleichsweise niedrig. Wenn es hier wirklich ein Hochhaus gab, müsste es eigentlich irgendwo über ihnen aufragen. Aber da war nichts. Nur der dunkle Abendhimmel und ganz weit oben der zögerliche Lichtpunkt eines Flugzeugs.

Jetzt hatte er doch die Orientierung verloren! Oder das Haus war wirklich gar nicht da und er hatte sich alles nur eingebildet. Er ging ein paar Schritte eine Straße hinunter, die grob in die Richtung führte, in der er das Haus vermutete. Dann wurde er langsamer und kehrte schließlich um. Das machte so keinen Sinn. Vielleicht sollte er noch mal bei Tageslicht wiederkommen. Aber er hatte das dumpfe Gefühl, dass dann erst recht kein Haus zu sehen sein würde. Ärgerlich kickte Elias ein Steinchen weg.

Etwas Ähnliches war ihm vor einiger Zeit schon einmal passiert. Damals hatte er seinen Lieblingsplatz auf dem Dach noch nicht gefunden. Er war einfach so durch die Stadt gestreift, wenn es sich zu Hause mal wieder nicht wie zu Hause angefühlt hatte. Er hatte sich in die U-Bahn gesetzt, war irgendwo ausgestiegen und in der Gegend herumgelaufen. Dabei hatte er von einem Parkdeck aus Baumwipfel zwischen den Dächern eines Viertels mit stolzen Villen aufragen sehen. Die Bäume hatten weit ausladende Kronen und mussten uralt sein. Elias war losgelaufen und in die Straßen eingetaucht, um den Park zu erkunden. Doch er hatte ihn nicht finden können. Obwohl er kreuz und quer durch alle umliegenden Straßenzüge geirrt war, hatte er lediglich einen winzigen Kinderspielplatz zwischen Hagebuttenhecken entdeckt. Keinen Park, keine weit ausladenden Bäume. Damals hatte er es darauf geschoben, dass offenbar sein Orientierungssinn versagt hatte, und war schulterzuckend nach Hause gefahren. Doch heute fragte er sich, ob irgendein Muster dahintersteckte.

Gab es in der Stadt Orte, die man zwar sehen, aber nicht erreichen konnte? Oder war er einfach nur zu blöd, sie zu finden?

Elias schlurfte zurück zur Unterführung. Das Neonlicht leuchtete ihm kalt entgegen. Er hatte keine Lust, noch einmal durch den Tunnel zu gehen. Aber es gab keinen anderen Weg. Er atmete tief durch. Und hinein. Seine Schritte halten vom nackten Beton wider. Nach zwei, drei Metern war da plötzlich wieder dieses kribbelige Gefühl. Elias wandte sich um und rannte zum Eingang zurück. Er sah gerade noch, wie ein kleiner, grauer Umriss ins Gebüsch huschte. Ohne nachzudenken stürmte Elias weiter und wühlte in den Büschen. Nichts. Nur eine alte Getränkedose und eine zerfetzte Plastiktüte. Keine graue Gestalt. Was hatte er auch erwartet? Wahrscheinlich war bloß irgendein Tier aufgeschreckt. Und doch kam es ihm so vor, als wäre es genau derselbe Schemen, der ihm schon oben auf dem Dach vor die Linse geflattert war. Missmutig suchte er noch ein wenig in den Büschen herum und gab es schließlich auf.

Elias beeilte sich, durch die Unterführung zu kommen, und ging mit schnellen Schritten der U-Bahn-Station entgegen. Jetzt wollte er wirklich nach Hause. Während er das Wohnviertel durchquerte, zog er sein Handy hervor und scrollte noch einmal durch die Fotos, die er vorhin gemacht hatte. Schwarz, schwarz, schwarz. Grau, grau, grau. Nichts. Er überlegte, ob er die Bilder gleich an Shaka schicken sollte. Ganz ohne Kommentar, sie einfach fragen, was sie darauf erkennen konnte. Vielleicht fiel ihr ja etwas Sinnvolles auf.

Er entschied sich dagegen. Das würde mehr als seltsam wirken. So wie die verwaschenen Fotos in dem Forum über Verschwörungstheorien, die Shaka ihm letztens lachend gezeigt hatte – graubraunes Pixel-Wirrwarr, das angeblich Außerirdische zeigte. Nur dass Elias jetzt nicht wirklich nach Lachen zumute war. Die Sache war spannend, aber einfach zu schräg.

»Das gibt es nicht«, murmelte er noch einmal, als er sich der U-Bahn-Station näherte, und meinte es aus vollem Herzen. Er würde Shaka die Bilder morgen in der Schule persönlich zeigen. Dinge, die man nicht erklären konnte, klärte man am besten selbst.

Elias eilte die Rolltreppe zur U-Bahn hinab. Er bemerkte nicht, dass grellgrüne Augen ihm aufmerksam hinterherschauten, bis er unten verschwunden war. Eine kleine, graue Gestalt löste sich aus dem Schatten einer Mülltonne. Dünne Finger mit langen Krallen kritzelten ein paar Zeilen in ein Notizheft und klappten es schließlich zu. Die Gestalt entfaltete ein Paar ledriger Fledermaus-Schwingen an ihren Schultern. Mit flatternden Flügelschlägen verschwand sie in der Dunkelheit über den Dächern.

2

In-Between

»… und dann bin ich immer weiter in die Richtung gegangen, in der das Hochhaus erschienen ist. Bis hinter den Bahndamm. Da war kein Hochhaus! Nichts. Von dort aus hätte ich es sehen müssen! Aber alles war schwarz wie die Fotos hier.«

Elias scrollte seine Aufnahmen noch einmal durch. Erst ein grauer Horizont, dann schwarze Flächen. Natürlich kein Haus.

»Ich denke, es gibt zwei mögliche Erklärungen«, erwiderte Shaka, während sie das Display betrachtete. Dabei lächelte sie auf eine Art, die Elias nicht gefiel. Wenn sie die Lippen so kräuselte, kam selten ein Kompliment heraus.

»Entweder ist das Haus im Boden versenkbar und sie haben es heruntergefahren, bis du da warst«, fuhr sie fort, »oder du hast einen miesen Orientierungssinn und das Haus steht nicht dort, wo du geguckt hast.«

»Schönen Dank auch«, murmelte Elias säuerlich. »Genau das brauche ich jetzt.«

Es war ihm schwer genug gefallen, von der Sache zu erzählen. Den grauen Schemen hatte er sogar ganz ausgelassen.

»Na, hör mal«, sagte Shaka ernst und schaute Elias mit ihren dunkelbraunen Augen an. »Was ist denn wohl wahrscheinlicher: Dass ein Haus einfach so auftaucht und verschwindet oder dass du dich geirrt hast?«

Sie konnte sehr eindringlich schauen, das war ihre Spezialität. Man hatte dann das Gefühl, etwas Kluges sagen zu müssen, um diesen Blick zufriedenzustellen. Hinzu kam, dass sie ziemlich groß war und gerne streng auf Elias herunterblickte. Ihre Haut hatte einen dunklen Teint, das tiefschwarze Haar trug sie immer zu einem dicken, praktischen Zopf gebunden.

Ihre Augen musterten Elias unverwandt, bis er schließlich blinzeln musste. »Ich irre mich aber nicht!«, sagte er. »Ich habe mich nicht von der Stelle bewegt und alle Fotos in die gleiche Richtung gemacht! Die Lichter haben sich nur geweigert, aufs Bild zu kommen.«

Unwillig zog er die Knie an den Körper, um es sich auf seinem Betonsockel bequemer zu machen. Sie saßen in der schmalen Gasse, die vom Hof zu den Fahrradständern auf der anderen Seite des Schulzentrums führte, dicht vorbei an den Werkräumen. Hier war der beste Ort, um die große Pause ungestört von irgendwelchen Deppen zu verbringen, was die Pausenaufsicht mit einschloss. Dafür gab es keine vernünftigen Bänke, nur merkwürdige Beton-Poller. Man konnte eben nicht alles haben.

»Und welche Erklärung hast du dafür?«, fragte Shaka und spielte mit ihrem Zopf herum. Das tat sie immer, wenn sie nachdachte. Ein gutes Zeichen. Shaka hielt nicht jedes Problem für würdig, von ihr beachtet zu werden.

»Ich weiß es nicht«, gab Elias zu. »Keine Ahnung. Aber irgendetwas ist da merkwürdig. Das spüre ich.«

»Stimmen in deinem Kopf?«, entgegnete Shaka belustigt.

»Nein. Ge-füh-le«, sagte Elias langsam und überbetont. »Da drin.« Er zeigte auf die Stelle, wo er unter seiner Jacke sein Herz vermutete. »Das, was dein Rechner immer noch nicht kann, Shaka.«

»Oh, der kann ganz schön viel«, sagte sie und streifte ihren Zopf zurück. »Habe ich dir erzählt …«

Plötzlich brüllte ein Raubtier. Ein dumpfes Knurren hallte durch den Durchgang, mächtig und blutgierig. Elias fuhr zusammen und schaute sich hektisch um. Halb erwartete er, einen großen, grauen Schemen um die Ecke biegen zu sehen, die säbellangen Zähne gefletscht. Dann bemerkte er Shakas kopfschüttelndes Grinsen. Sie zog ihr Handy aus der Tasche. Das Ding brüllte immer noch.

»Bengalischer Königstiger«, kommentierte sie, während sie das Gerät entsperrte. Elias atmete auf. Vielleicht war er wirklich überspannt. Shakas Handy war berüchtigt dafür, die merkwürdigsten Geräusche von sich zu geben.

»Neue Nachricht?«, fragte er so lässig wie möglich.

»Nee.« Shaka starrte mit gerunzelter Stirn auf das Display. »Angeblich ist mein Download fertig. Ich habe doch gar nichts runtergeladen.« Sie tippte auf dem Handy herum. »Aber irgendetwas ist gerade angekommen.«

»Hast du dir einen Virus eingefangen?«

»Quatsch«, schnaubte Shaka, sichtlich empört darüber, dass man ihr solch einen dämlichen Fehler zutraute. »Aber ich habe eine neue App und keine Ahnung, was das sein soll. Hier, guck mal.«

Sie reichte ihm das Gerät. Elias nahm es vorsichtig entgegen. Er wusste, dass es mindestens dreimal teurer war als alles, was seine Eltern ihm erlauben konnten. Auf dem Display waren Reihen von bunten Symbolen angeordnet. Unten links in der Ecke befand sich der Neuzugang.

Kleine, weiße Buchstaben zeigten den Namen der App an: »In-Between«. Darüber war ein neonblaues Zeichen zu erkennen, das wie ein umgedrehtes Hufeisen aussah.

Elias spürte, wie seine Knie weich wurden.

»Das kenne ich«, flüsterte er.

»Was?«

»Dieses Icon. Der Bogen. Der war gestern auf dem Haus, das es nicht gibt. Ganz oben, über den Fenstern. Wie eine große Werbefläche aus Neonröhren.«

Shakas Stirnrunzeln vertiefte sich.

»Na klar«, sagte sie spitz. »Und jetzt hat es sich von deinem Geisterhaus auf mein Handy gebeamt. Das Ding kommt ganz schön viel rum.«

»Shaka, ich meine es ernst!«

Sie schaute ihn misstrauisch an. »Hast du mir diese App geschickt, Elias?«

»Sehe ich so aus, als hätte ich nichts Besseres zu tun?«, erwiderte er gereizt und reichte ihr das Handy zurück.

»Sorry. War nicht böse gemeint. Trotzdem verstehe ich nicht, was das soll.«

»Ich doch auch nicht! Aus diesem Grund erzähle ich es dir schließlich. Und jetzt hast du plötzlich dieses Icon auf deinem Handy.«

»Wir können ja mal schauen, was die App eigentlich macht«, murmelte Shaka mit dem halb-abwesenden Tonfall, den sie immer hatte, wenn sie sich auf ihr Handy oder ihren Rechner konzentrierte.

Noch ehe Elias etwas erwidern konnte, näherten sich schnelle Schritte aus der Richtung der Fahrradständer. Er schaute auf.

Da kam Niniane, die Neue aus ihrer Klasse. Sie schien sich zu beeilen, während sie gleichzeitig bemüht war, es nicht so aussehen zu lassen. Trotzdem stolperte sie so hastig vorwärts, dass sie für Elias wie auf der Flucht wirkte.

Niniane war ziemlich klein und zierlich. Ihr rotblondes Haar fiel ihr offen über den Rücken und verdeckte auch ihr schmales, blasses Gesicht. Nur hin und wieder blitzten große, wässrig-blaue Augen hinter den Strähnen auf.

»Hey! Warte mal!«, brüllte jemand hinter ihr her. Eine massige Gestalt schob sich in die Gasse. Ein Junge mit kurzem, blondem Stoppelhaar, kräftig und fast doppelt so breit wie Elias. Torben Westermann. Elias verdrehte innerlich die Augen.

»Hey! Willste auch ’nen Schluck?«, fragte Torben und schloss mit großen Schritten zu Niniane auf. Dann schwenkte er eine Dose Cola vor ihrem Gesicht herum, während Niniane versuchte, ihn zu ignorieren.

»Komm, trink mal! Ich geb dir doch gern was ab! Wir sind doch Freunde, nech?«

Jetzt schob er sich Niniane direkt in den Weg. Natürlich wollte Torben ihr nicht wirklich irgendetwas abgeben, da war sich Elias ziemlich sicher. Er wollte nerven, warum auch immer. Dafür fand er stets irgendeinen blöden Anlass. Mal fragte er tausendmal, wie spät es war, mal rülpste er einem einfach ins Ohr oder stellte einem beiläufig ein Bein, während er irgendeinen Schwachsinn redete. Hauptsache stören, aber immer hintenrum, sodass er empört »Ich mach doch gar nichts!« rufen konnte, wenn ihn doch mal ein Lehrer darauf ansprach.

»Prost!«, sagte Torben und setzte die Dose mit Gewalt an Ninianes Lippen. Sie schob seinen Arm unwillig beiseite. Die Dose kippte nach vorne und ergoss ihren braunen, klebrigen Inhalt als hässlichen Fleck über Ninianes Pullover.

»Uups«, grinste Torben. »Brauchste ein Lätzchen?«

Niniane drehte sich weg, den Mund zusammengekniffen.

»Was hast du eigentlich für ein Problem, Westermann?!« Shaka war wütend aufgesprungen und schob sich zwischen Torben und Niniane. Elias stellte sich neben sie.

»Kein Problem«, grinste Torben. »Ich kann nämlich trinken. Und wir üben das jetzt noch mal, was?«

Er griff nach Ninianes Arm.

»Lass den Scheiß!«, sagte Elias so fest wie möglich und versuchte zu ignorieren, dass Torben ihn mit seinen Schaufelhänden wahrscheinlich zu einem netten, kleinen Päckchen zusammenfalten konnte.

»Sonst was?«, fragte Torben und baute sich grinsend vor ihm auf. Elias hatte das Gefühl, direkt vor einem dicken Lastwagen zu stehen, der drohend auf ihn zurollte. Er straffte sich, um sich groß zu machen, doch Torben hatte immer noch mindestens einen Kopf Vorsprung.

»Sonst das!«, zischte Shaka. Ihr Bein schnellte vor, die Fußspitze traf zielsicher Torbens Schienbein. Mit einem überraschten Grunzen sackte Torben zusammen. Shakas Schienbein-Kicks waren auf dem Schulhof gefürchtet.

»Du …!«, bellte Torben wütend und richtete sich wieder auf. Für einen Moment sah es so aus, als wollte er auf Shaka losgehen, die ihn streitlustig anfunkelte. Dann grinste er plötzlich abfällig und wandte sich von ihnen ab.

»Du bist die Mühe nicht wert, Steffi«, murmelte er beim Gehen.

Shakas Augen verengten sich gefährlich. Sie hasste den Namen Stephanie, den ihre Eltern ihr verpasst hatten. Schlimmer war nur Steffi. Der Spitzname war vorprogrammierter Ärger – und niemand wollte Ärger mit Shaka. Sie hatte durchgesetzt, dass alle Lehrer sie bei ihrem indischen Zweitnamen Shakuntala nannten. Unter Freunden wurde daraus ein kurzes Shaka.

»Idiot«, brummte sie, während Torbens breiter Rücken um die Ecke verschwand.

Elias schaute nach Niniane, die verlegen ins Gebüsch starrte. Der Cola-Fleck zeichnete sich als hässlicher Umriss auf ihrem türkisfarbenen Pulli ab. »Alles okay?«, fragte er vorsichtig.

»Geht schon«, erwiderte Niniane, ohne ihn anzusehen. Ihre Stimme klang eigentümlich hell, so als würde jemand den Rand eines Glases anschlagen. Elias bemerkte, dass er zum ersten Mal bewusst mitbekam, wie Niniane sich anhörte. In der Klasse sagte sie praktisch nie etwas.

»Mach dir nichts draus«, schnaubte Shaka. »Westermann zählt nicht. Jede Türklinke hat mehr Grips als der.«

»Ich … ich muss jetzt los«, sagte Niniane. Sie wandte sich ab und eilte auf das Schulhaus zu. Diesmal gab sie sich keine Mühe mehr, zu verbergen, dass sie rannte. Elias und Shaka schauten ihr nachdenklich hinterher.

»Es muss sich blöd anfühlen, die Neue zu sein«, murmelte Elias. Er hasste Veränderungen. »Sie hat keine Freunde, oder?«

»Glaube nicht.« Shaka zuckte mit den Schultern. »Ich habe nicht viel mit ihr zu tun. Sie scheint ein bisschen Angst vor mir zu haben.«

»Wie kommt das nur?«, fragte Elias trocken.

»Geht’s deinem Schienbein zu gut?«

»Nö, alles bestens. Schau lieber nach, was diese In-Between-App macht.«

»Stimmt, da war ja noch was.«

Shaka warf ihren Zopf zurück und konzentrierte sich wieder auf ihr Handy. Sie runzelte verwundert die Stirn.

»Da, guck mal. Die App öffnet die Kamera-Funktion. Das ist alles.«

Elias schaute auf das Display. Tatsächlich. Es zeigte ein Bild der Umgebung, sonst nichts.

»Mach mal ein Foto«, schlug er vor.

»Okay. Bitte recht freundlich!«

Sie richtete das Handy auf Elias. Er zog theatralisch eine Grimasse. Gab es wirklich Menschen, die gerne fotografiert wurden?

»Hihi«, kicherte Shaka. »Du hast gebogene Hörner auf der Stirn. Sieht voll echt aus. Warte mal.«

Sie drückte ab. Dann schüttelte sie enttäuscht den Kopf.

»Aber auf dem Foto sind sie nicht zu sehen. Da.«

Sie zeigte Elias das Bild von seiner entzückenden Grimasse. Natürlich sah er bescheuert aus. Das war so gewollt. Lieber mit Absicht bescheuert aussehen als einfach so. Von Hörnern war jedenfalls keine Spur zu erkennen.

»Das verstehe ich nicht«, murmelte Shaka. »Wenn ich dich durchs Display anschaue, bist du gehörnt wie ein Steinbock. Das scheint so eine Witzfoto-App zu sein, die dir ein Hundegesicht macht oder dich Regenbogen kotzen lässt. Mit verdammt cooler Grafik. Aber sie funktioniert nicht richtig. Auf den Fotos erscheint nichts davon.«

»Gib mal her.« Elias schnappte sich das Handy und betrachtete nun Shaka durch das Display. Sie sah so aus wie immer, einmal abgesehen davon, dass sie mit ausgebreiteten Armen als eine Art sterbender Schwan vor ihm posierte.

»Du siehst ganz normal aus, wenn man das bei dir so sagen kann. Keine Hörner«, stellte Elias fest und machte ebenfalls ein Foto. Auch darauf sah Shaka einfach nur aus wie Shaka.

»Komisch«, meinte sie, ohne auf seine Spitze einzugehen. »Bei dir sind immer die Hörner zu sehen, wenn ich durchs Display schaue.«

»Aber wie kann …«

Die Pausenklingel schallte über das Schulgelände. Drinnen, im F-Trakt, wartete eine Doppelstunde Chemie auf sie. Seufzend ließen Elias und Shaka sich von ihren Beton-Pollern gleiten und schlurften in Richtung Eingang. Schon nach ein paar Schritten bewegten sie sich im Strom der anderen Schüler. Wie Fischschwärme im Ozean strebten alle vom Pausenhof und ihren wenig erfreulichen Zielen entgegen. Shaka hatte ihr Handy angelassen und schwenkte es unauffällig, halb verdeckt von ihrer Jacke, über ihre Umgebung. Sie runzelte konzentriert die Stirn.

»So viele Leute auf dem Display, aber du bist der Einzige, dem das Ding Hörner macht«, sagte sie leise.

»Ist halt meine Ausstrahlung«, erwiderte Elias lustlos. Ihm gefiel das nicht.

»Warte mal! Guck doch!« Shaka hielt das Handy etwas höher, damit Elias hindurchschauen konnte. Das Display zeigte Niniane, die gerade aus der Mädchentoilette kam. Offenbar hatte sie mehr schlecht als recht versucht, den Cola-Fleck auf ihrem Pullover mit Papierhandtüchern abzulöschen. Aber das war es nicht, was Shaka meinte. Niniane hatte sich verändert. Auf dem Display trug sie einen Umhang aus funkelnden Schleiern, die in allen Regenbogenfarben schimmerten. Mit jeder Bewegung wechselten sie ihr Farbe: von Korallenrot zu Aquamarinblau, von Smaragdgrün zu Bernstein-Orange, von Perlmutt-Weiß zu Amethyst-Lila.

»Wow«, murmelte Elias. Er blickte vom Display auf. So sah Niniane ganz normal aus, blass und etwas verhuscht. Er schaute wieder auf das Handy. Bunt schillernde Schleier umgaben sie. Nun bemerkte Elias, dass das gar keine Kleidung war. Sie hatte auch auf dem Display Jeans und Pulli an, ihre gewöhnlichen Klamotten. Die bunten Schleier wuchsen aus ihren Ärmeln, ihren Hosenbeinen und ihrem Ausschnitt hervor, um sich dann rund um sie zu ergießen. Sie bewegten sich zum Rhythmus ihrer Schritte. Wie ein Schleierfisch im Aquarium, dachte Elias.

Plötzlich blieb Niniane abrupt stehen und wandte sich um. Sie warf Elias einen ernsten, fragenden Blick zu. Dann ging sie schnell weiter. Shaka klickte ihr aufgeregt einige Fotos hinterher.

»So ein Bockmist!«, raunte sie. »Das Ding funktioniert nicht. Keine Hörner, keine Schleier.«

Frustriert zeigte sie Elias mehrere banale Bilder von Ninianes Rücken.

»Achtung!«, zischte Elias plötzlich, als er eine Gestalt mit dicker Hornbrille im Getümmel ausmachte. »Die Meyer-Greinbaum!«

Shaka ließ ihr Handy rasch verschwinden, ehe es von der Pausenaufsicht konfisziert werden konnte. Unschuldig schlenderten die beiden in Richtung F-Trakt. Als ob Elias jetzt den Kopf frei für Säuren und Basen gehabt hätte! In seinen Gedanken purzelten Häuser und Hörner durcheinander. Und eine App, die sich »In-Between« nannte.

»Ich werde mal schauen, was sich im Web darüber finden lässt«, murmelte Shaka. »So ein abstruses Teil ist bestimmt irgendwo beschrieben. Vielleicht gibt es sogar einen Patch, damit es richtig funktioniert.«

Elias nickte halb überzeugt. »Mach das. Aber am liebsten wäre mir, wenn du dir auch mal das Haus mit den tanzenden Lichtern ansiehst. Hast du heute Abend schon was vor?«

»Du meinst, etwas anderes, als über irgendwelche Dächer zu kriechen?«, erwiderte Shaka. »Da fällt mir bestimmt etwas ein. Mein Zimmer aufräumen, Staubflusen ordnen, die Wand anstarren …«

»Als ob du jemals etwas aufräumst, was nicht deine Festplatte ist«, meinte Elias ungeduldig. »Du musst dir diese Lichter anschauen, Shaka! Wenn du sie nicht selber siehst, glaubst du mir doch eh kein Wort.«

»Falsche Reihenfolge«, versetzte sie. »Ich müsste dir jetzt schon glauben, wenn ich die Mühe auf mich nehmen soll, auf irgendein Dach zu kraxeln. Aber warum sollte ich?«

»Warum sollte ich glauben, dass deine App mir Hörner macht?«

»Das ist nicht meine App«, entgegnete sie. Und seufzte in sich hinein. »Aber es stimmt schon. Das ist beides irgendwie gleich merkwürdig. Vielleicht hängt es ja wirklich zusammen.«

»Also?«, fragte Elias erwartungsvoll.

»Also komme ich mit dir auf dieses Dach und du zeigst mir deine Lichter«, seufzte Shaka wenig begeistert.

»Brave Shaka.« Elias grinste erleichtert.

»Ich kann immer noch Nein sagen«, drohte sie.

»Nee, kannste nicht. Die Sache hat dich neugierig gemacht.«

Sie schüttelte den Kopf. »Da hast du wohl recht. Aber gewöhn dich besser nicht dran.«

Elias nickte zufrieden. Zu zweit würden sie bestimmt etwas herausfinden. Es gab irgendeine naheliegende Erklärung. Er konnte nur keine finden.

3

Im Labyrinth

Irgendwie war es eigentümlich, zusammen mit Shaka auf dem Dach zu sein. Eigentlich hatte Elias diesen Ort nur für sich selbst entdeckt. Um seine Ruhe zu haben und den Kopf klarzukriegen. Aber nun waren sie zu zweit hier oben und dadurch fühlte sich alles anders an. Als würde das Dach ihm nicht mehr wirklich gehören. Egal. Heute war er ja auch nicht zum Nachdenken hier heraufgekommen.

»Das nennst du einfach«, hatte Shaka sich beschwert, als sie sich die Feuerleiter hinaufgezogen hatte. Er hatte es verwundert zur Kenntnis genommen.

Nun rutschte seine Freundin nervös auf dem Kies hin und her, der das Flachdach bedeckte. Erst jetzt fiel Elias auf, wie hoch es hier war. Und Höhe war offenbar nicht Shakas Ding.

»Du hast wirklich nichts gefunden?«, fragte er, während er darauf wartete, dass es endlich dunkel wurde.

»Nicht das Geringste«, brummte Shaka missmutig. »Niemand scheint diese App zu kennen! Man kann sie nirgendwo herunterladen, sie wird in keinem Forum besprochen, es gibt keine Fotos im Netz, die damit erstellt wurden.«

»Vielleicht hast du nicht gründlich genug gesucht?«

Sie warf ihm einen giftigen Seitenblick zu und verzichtete auf eine Antwort.

»Na ja, jedenfalls wird das Haus bald auftauchen. Du musst dann da rüber schauen, links von diesem Schornstein, und …«

Elias’ Handy gab einen leisen Glockenton von sich. Das war ihm lieber als Shakas extravagante Tiergeräusche, nach denen sich immer die halbe U-Bahn umdrehte. Er zog das Gerät aus der Tasche und checkte kurz, was los war.

»Ein Download«, murmelte er mit einem flauen Gefühl im Bauch. »Aber ich habe doch gar nichts …«

Tatsächlich. Eine neue App war auf dem Display erschienen. Ein neonblauer Bogen. In-Between.

»Jetzt habe ich sie auch«, sagte er matt. »Die App, meine ich.«

»Das wird echt langsam komisch«, erwiderte Shaka. »Wenn das irgendein Massen-Spam wäre, den alle kriegen, müsste man doch etwas davon mitbekommen!«

»Ja, allerdings.« Elias tippte das neonblaue Icon an, und das Kamera-Display öffnete sich. Alles genau wie bei Shakas Handy. Er richtete das Gerät auf sie. Shaka winkte gelangweilt in die Kamera. Sie sah aus wie immer – keine Hörner oder sonstigen Veränderungen.

»Hmm … Mal sehen.«

Elias schwenkte das Handy entschlossen herum und fixierte den Horizont jenseits der Dächer, die Stelle, wo abends immer die Lichter erschienen waren. Ein Hochhaus war im Display zu sehen. Es stand weit hinten, auf der anderen Seite des Bahndammes, und sah heruntergekommen aus. Seine Außenwände bestanden aus grauem Beton. Die oberen drei Stockwerke hatte man mit dunkelbraunen Platten verkleidet, die fast noch hässlicher waren als die nackte Wand. Ganz oben, auf seinem flachen Dach, erhob sich ein Sendemast. Es gab offenbar ein zentrales Treppenhaus in der Mitte, von dem aus in beide Richtungen Balkone abgingen, die zu den einzelnen Wohnungen führten. Genau wie Elias aufgrund der Lichter vermutet hatte. Über dem obersten Treppenhaus-Fenster war ein blauer Torbogen aus Neonröhren an der Fassade angebracht. Sie leuchteten noch nicht, waren aber klar zu erkennen. Nun war sich Elias endgültig sicher: Das Zeichen sah exakt so aus wie das Icon der In-Between-App.

Am Haus tat sich etwas. Ein schimmernder Umriss flatterte von einem der Balkone auf, umkreiste einmal den Sendemast, wobei er rötliche Lichtschleier hinter sich herzog, und verschwand durch ein Fenster nach drinnen. Elias zoomte das Ding näher heran – und blinzelte perplex. Hatte er gerade wirklich eine kleine, menschenähnliche Gestalt mit schwirrenden Flügeln gesehen?

»Da. Schau selbst«, sagte er betreten und reichte das Handy an Shaka.

»Ich glaub’s ja nicht«, flüsterte diese. Ihr Blick wanderte immer wieder hin und her: vom Handy, auf dem eindeutig ein Haus zu sehen war, zum Horizont, wo es ebenso eindeutig kein Haus gab, und wieder zurück. Normalerweise hätte Elias jetzt triumphierend gegrinst und irgendeinen coolen Spruch abgelassen. Aber er war viel zu aufgeregt dafür.

»Das ist das Haus«, sagte er. »Ganz sicher. Die Fenster liegen genauso wie die Lichter. Das wirst du ja gleich sehen, wenn es dunkel wird.«

»Es ist da und gleichzeitig auch nicht da«, murmelte Shaka fasziniert. »Und da fliegt … eine verdammte Fee?!« Jetzt hatte sie ausgesprochen, was Elias nicht zu denken gewagt hatte. Shaka drückte den Foto-Auslöser. Erwartungsvoll öffnete sie das Bild. Es war nichts darauf zu sehen. Kein Haus und kein Flügelwesen.

»Genau wie bei dir und Niniane«, seufzte sie. Elias sprang auf und ging einige Schritte über den knirschenden Kies auf und ab. Er konnte jetzt nicht ruhig sitzen bleiben! Nicht mit diesem Gedanken …

»Das ist keine Witzfoto-App«, sprach er es schließlich aus. »Das ist eine App, die Dinge zeigt, die gar nicht da sind. Und die irgendwie doch da sind. Wie dieses Haus. Oder das Flügelding. Oder wie Ninianes Schleierflossen.«

Oder wie meine Hörner, dachte er, sagte es aber nicht. Die Vorstellung war einfach zu absurd. Er hatte keine Hörner, hatte nie welche besessen und wollte auch keine haben! Elias ertappte sich dabei, dass er mit der Hand misstrauisch über seine Stirn fuhr. Nichts, nicht mal der kleinste Huckel. Was denn auch sonst.

Shaka schaute ihn ernst an.

»Ich glaube dir, dass dich das stresst«, sagte sie. »Und ich weiß langsam auch nicht mehr weiter. Falls das irgendein Hoax ist, dann ist er jedenfalls verdammt gut gemacht.«

»Wenn man wenigstens Fotos davon haben könnte«, erwiderte Elias hilflos.

»Warte mal!« Shaka sprang plötzlich auf und zog ihr Handy aus der Tasche. Sie öffnete die »In-Between«-App und richtete das Gerät auf das nicht vorhandene Haus. Es erschien brav auf dem Display.

»Und jetzt machst du ein Foto von mir, wie ich das Handy da draufhalte!«, rief sie. »Und pass auf, dass das Display gut zu erkennen ist! Wir haben leider kaum noch Licht.«

Elias verstand. Er öffnete seine Kamera-App, zoomte Shakas Hand mit dem Handy heran und drückte ab. Dann öffnete er das Foto. Hand und Handy waren darauf zu sehen. Das Haus nicht. Das Handy-Display auf dem Foto zeigte einfach nur ein dunkelgraues Stück Abendhimmel.

Wortlos reichte Elias das Gerät an Shaka. Sie schüttelte entgeistert den Kopf.

»Das Ding erscheint noch nicht mal auf dem Foto von einem Foto!«, schimpfte sie dann empört, als sei das Haus nur verschwunden, um sie persönlich zu ärgern. »Wie haben die den Mist bloß programmiert?«

»Keine Ahnung«, brummte Elias. Ihm war plötzlich kalt, trotz seiner gefütterten Jacke. »Gleich kommen übrigens die Lichter, es ist schon fast dunkel.«

»Eigentlich habe ich für heute genug gesehen«, meinte Shaka müde.

Sie standen stumm nebeneinander, während die herbstliche Abenddämmerung immer grauer und schließlich schwarz wurde. Dann flammten jenseits der Dächer die Lichter auf. Ein Stapel aus hellen Quadraten für das Treppenhaus in der Mitte, nach und nach auch kleinere Umrisse für die Fenster der Wohnungen ringsum. Ganz oben erschien als Letztes der neonblaue Leuchtbogen. Bunte Leuchtnebel tanzten durch die Dunkelheit. Die schimmernden Lichter erinnerten Elias verdächtig an das Flattergeschöpf, das er auf dem Display gesehen hatte. Leuchtende Flügelwesen? Echt jetzt?

»Da«, sagte Elias leise.

»Was?«, fragte Shaka und sah ihn irritiert an.

»Na, die Lichter«, gab Elias zurück. »Dafür sind wir doch hier.«

»Wann kommen die denn endlich? Ich muss langsam nach Hause. Mein Vater ist heute früher daheim.«

»Die sind doch schon lange an! Guck doch!« Elias zeigte direkt darauf. Shaka kniff konzentriert die Augen zusammen und starrte ins Dunkel hinaus. Dann schaute sie Elias an.

»Da sind keine Lichter, Elias.«

»Natürlich sind da welche! Ich sehe sie doch!«

»Ich nicht.«

»Ja, aber …«

Shaka hob ihr Handy hoch und richtete es mit der »In-Between«-App auf das Haus. »Meinst du diese Lichter? Hier auf dem Display?«

»Natürlich! Das Ding zeigt sie auch an. Aber ohne Handy …«

»… kann ich sie nicht erkennen, Elias. Offenbar siehst du mehr als ich.«

Für einen Moment wusste Elias nicht, was er sagen sollte. Andere konnten die Lichter nicht sehen? Er war plötzlich sehr dankbar, dass sie die »In-Between«-App hatten. Nicht auszudenken, wenn er Shaka ohne das Teil hier raufgeführt und ihr irgendwelche Lichter gezeigt hätte, die nur er sehen konnte!

»Das liegt wahrscheinlich an meinen Hörnern«, schnaubte er, um witzig zu sein. Zu allem Überfluss kitzelte es nun auch noch hinter seiner Stirn.

»Ja, vielleicht«, erwiderte Shaka, ohne zu lächeln. Die beiden schwiegen unbehaglich.

»Langsam macht mich das nervös«, gab Elias schließlich zu. Er musste an den grauen Schemen denken, den er gestern aus dem Augenwinkel gesehen hatte.

»Und mich macht es neugierig!«, erwiderte Shaka entschlossen. »Solche Sachen passieren nicht einfach so. Da steckt irgendetwas dahinter. Und wir werden herausfinden, was das ist!«

»Ja, das sollten wir wohl«, erwiderte Elias, der versuchte, sich von Shaka anstecken zu lassen. »Forschen wir gleich morgen weiter?«

»Jupp. Wir durchforsten das ganze Web danach. Auch zweimal, wenn es sein muss. Aber jetzt muss ich langsam los. Du weißt ja, mein Vater.«

Er nickte. Shakas Vater arbeitete bei einer großen Software-Firma und kam meist erst spät nach Hause. Wenn er es doch mal früher schaffte, legte er Wert darauf, die ganze Familie Thapar einträchtig um sich versammelt zu sehen. Elias war ein bisschen neidisch, auch wenn Shaka nicht allzu begeistert wirkte.

Gemeinsam stiegen sie über die Feuerleiter vom Dach. Elias sprang wieder direkt von den Garagen und wartete dann einen Moment, während seine Freundin sich fluchend bäuchlings vom Garagendach rutschen ließ.

An der nächsten Straßenecke trennten sie sich. Shaka musste mit dem Bus in eine andere Richtung. Elias ging nachdenklich die Treppe zur U-Bahn-Station hinunter, die Hände in den Jackentaschen vergraben.

Unten erwartete ihn ein gewölbter, weiß gekachelter Gang mit stechend-greller Beleuchtung. Grüne und blaue Streifen auf den Kacheln sollten das Ganze wohl auflockern. Elias schenkte ihnen keinen zweiten Blick und trottete in Gedanken versunken weiter in Richtung Bahnsteig. Erst als er an eine Abzweigung kam, blieb er stehen. Der Gang teilte sich hier auf. Man konnte nach links oder rechts weitergehen. Auf beiden Seiten gab es weiße Kacheln und grelles Licht. Elias schaute sich irritiert um. Seit er seine Zuflucht auf dem Dach gefunden hatte, stieg er fast jeden Tag hier in die Bahn. Es war nur eine kleine Station mit direktem Weg zu den Bahnsteigen – ohne Abzweigungen. War er gedankenverloren zu einer falschen Station gestiefelt? Elias trat einen Schritt zurück und schaute hoch. An den größeren Umsteige-Bahnhöfen hingen für gewöhnlich Hinweisschilder an den Abzweigungen, die den Weg zu den einzelnen Bahnlinien zeigten. Hier hing gar nichts. Über ihm war nur die nackte Kacheldecke. Er blickte in beide Richtungen. Auf der linken Seite beschrieb der Gang nach einigen Metern einen Bogen nach rechts. Blaue Streifen liefen als Muster über seine Kachelwände. Auf der rechten Seite kam schon bald eine Treppe, die noch tiefer in die Erde hinabführte. Hier waren die Zierstreifen rot. Vom Bahnsteig war nichts zu sehen.

Erst jetzt wurde Elias bewusst, dass er allein war. Kein Mensch war mit ihm hier unten, um die Bahn zu erwischen, kein einziger von den Pendlern, die sich am Abend sonst immer in die überfüllten Züge drückten. Nicht einmal Schritte oder Stimmen waren zu hören. Um ihn herum war es völlig still.